Klaus Held ZUR PHÄNOMENOLOGiSCHEN REHABILITIERUNG DEs ETHOS Die Überlegungen, die ich Ihnen vortragen werde, sind von einer einfachen 7 Überzeugung getragen: Auch in einer künftigen, „global" zusammengewachsenen Menschheit wird die Humanität auf einem Ethos beruhen, d. h. auf einem Zusammenhang von Tugenden. Diese Überzeugung steht im Gegent atz zu einer heute von vielen Philosophen vertretenen Auffassung: Sie glauben, das, was in der alten europäischen Tradition „Ethos" genannt wurde, werde in der „globalisierten" Welt verschwinden; denn jedes Ethos sei an eine bestimmte Kultur gebunden. Weil damit zu rechnen sei, daß in der künftigen Welt auf lange Sicht alle Unterschiede zwischen den Kulturen eingeebnet werden, sei nur noch eines zu verlangen und vielleicht zu erwarten: die Befolgung schlechthin allgemeiner, für alle Kulturen gleichermaßen verbindlicher moralischer Normen. Die Begründung der Verbindlichkeit solch universaler Normen war eine zentrale Aufgabe der neuzeitlichen Moralphilosophie, die ihren Höhepunkt in Kant hatte. Die besagten Phil osophen fühlen sich dieser Tradition verpflichtet. Sie sind überzeugt, daß das aus dem vorneuzeitlichen Europa stammende Ethos der Tugenden dazu verurteilt sei, zugunsten der „Moral" und ihrer transkulturellen Normen zu verschwinden. Aber ist diese Auffassung haltbar? Um dies zu prüfen, ist es als erstes notwendig, die terminologische Beliebigkeit zu überwinden, die heute in der auf das menschliche Ethos bezogenen philosophischen Literatur herrscht. Das kann nur gel ingen durch eine historische Besinnung auf die Be- deutung, mit der die tragenden ethischen oder moralphilosophischen Begriffe ursprünglich in der Philosophie auftauchten. Deshalb möchte ich im ersten Teil meiner Überlegungen zunächst die griechischen Begriffe und danach ihre lateinit chen Übert etzungen erläutern. Damit hoffe ich zugleich klären zu können, welcher fundamentale sachliche Unterschied zwitchen klasrirchem griechischem „Ethos" und neuzeitlicher „Moral" besteht. Im zweiten Teil möchte ich auf den erwähnten Eindruck eingehen, das „Ethos" müsse und werde zugunsten der „Moral" verschwinden. Seit Alasdair MacIntyres „After Virtue" haben verschiedene Philosophen, die man den sogenannten Kommunitariern zurechnet, Versuche unternommen, das alte Ethos der Tugenden gegenüber der neuzeitlichen Moral zu rehabilitieren. Den Wert dieser Versuche möchte ich heute nicht diskutieren, sondern stattdessen einen neuen und anderen Versuch dieser Art machen, und zwar mit Hilfe der phänomenologischen Methode des Rückgangs auf originäre Erfahrungen. Meine These wird sein, daß das „Ethos" die lebensweltliche Normalität darstellt. Die „Moral" der Neuzeit stützt sich auf einen Grenzfall dieser Normalität, erhebt ihn aber zum Normalfall. Abschließend möchte ich eine phänomenologische Erklärung für diese geschichtliche Entwicklung anbieten. Die historische Besinnung auf die antike Herkunft der moralphil osophischen Terminologie findet ihren ersten Anhalt an der eindeutigen Herkunft des Begriffs „Ethik" aus dem Denken des Aristoteles. Der Gegenstand seiner ethike pragma-teia, der „ethischen Abhandlung", war, wie das Attribut ethike anzeigt, das ethos. Im vorphilosophischen Griechisch verstand man unter ethos ursprünglich den beständigen Aufenthaltsort von Lebewesen. Weil wir Menschen im Unterschied zu den übrigen Lebewesen auf dieser Erde handeln können, kann das Wort ethos auf uns bezogen eine Bedeutung bekommen, die über den räumlichen Wohnort hinausreicht. Wie diese Bedeutung entsteht, zeigt eine phänomenologische Betrachtung des Handelns, d.h. eine in der ersten Person vorgenommene reflexive Beschreibung des Bewußtseins, das ich beim Handeln habe. Mein Tun ist dann kein bloßes Verhalten, sondern Handeln, praxis, wenn ich mich bewußt von bestimmten Absichten leiten lasse. Der erste Grundzug solchen Tuns liegt darin, daß es vom Bewußtsein meiner Entscheidungsfreiheit begleitet ist. Dieses Freiheitsbewußtsein wird aber dadurch eingeschränkt, daß ich jeweils nur über eine beschränkte Zahl von Handlungsmöglichkeiten verfüge. Diese Möglichkeiten sind mir durch die Horizonte meines Handelns vorgezeichnet, die mir ihrerseits durch entsprechende Gewohnheiten ungegenständlich vertraut sind. Der zweite Grundzug meines Handl ungsbewußtseins besteht darin, daß ich weiß: Mein Handeln vollzieht sich im Umgang mit Anderen, die handeln- 8 de Wesen sind wie ich. Das gilt unabhängig davon, ob bei einer bestimmten von mir vollzogenen Handlung Andere zugegen sind oder ob ich in Abwesenheit Anderer handle. Von den Anderen, die deshalb bei meinem Handeln immer mit im Spiel sind, bin ich unaufhebbar dadurch getrennt, daß ihre Gewohnheiten und Horizonte andere sind als die meinen. Wäre das nicht so, wäre der Andere kein „Anderer", sondern ein Duplikat meiner selbst. Deshalb fehlt meiner Erwartung von künftigen Handlungen der Anderen prinzipiell die Sicherheit. Ich kann nur im Vertrauen darauf handeln, daß die beabsichtigten Zukunftsfolgen meines Handelns sich normalerweise auch einstellen. Durch die Einbettung des Handelns in intersubj ektive Zusammenhänge sind diese Zukunftsfolgen aber von den Anderen mitabhängig und deshalb ungewiß. Diese Ungewißheit kann nur dadurch ausgeglichen werden, daß die Andeten mit einer gewissen Verläßlichkeit die Erwartungen erfüllen, die ich ihrem Handeln entgegenbringe. Da den Anderen die Horizonte, denen sie ihre Handlungsmöglichkeiten entnehmen, durch ihre Gewohnheiten bewußt sind, kann mein Vertrauen in ihre Verl äßl ichkeit sich nur darauf gründen, daß ihnen bestimmte Gewohnheiten zur festen Selbstverständlichkeit, d. h. zu einer ihr Handeln tragenden Haltung geworden sind. Haltungen, die durch ihre Beschaffenheit das Vertrauen in die Verläßlichkeit des Handelns der Anderen von vornherein untergraben, kommen hierbei nicht in Betracht, während Haltungen, die dieses Vertrauen stärken, intersubjektiv auf besonderen Beifall stoßen. Für solche intersubjektiv mit Lob bedachten Haltungen gab es nicht nur bei den Griechen der Antike, sondern gab und gibt es auch bei vielen anderen Völkern in Ost und West die Bezeichnung „Tugend", griechisch arete. Wenn die Menschen in einer Gesellschaft durchschnittlich gemäß den Tugenden handeln oder sie zumindest als das anerkennen, was bei der Habitualisierung von Gewohnheiten anzustreben ist, entsteht dadurch ein intersubjektiver Spielraum der Verläßlichkeit. Ein solcher Spielraum ist kein fester Aufenthaltsort in der räuml ichen Bedeutung von ethos, wohl aber bietet er den geeigneten Platz dafür, daß die Menschen bei ihrem Handeln so miteinander kommunizieren können, daß ihr Zusammenhandeln geSingt. In diesem Sinne bildet er den spezifischen Aufenthaltsort, das ethos, der Menschen als handelnder Wesen. Dieser phänomenologisch aufweisbare Zusammenhang wird in auffälliger Weise durch Sprachverwandtschaften innerhalb des Altgriechischen, des Deutschen und des Lateinischen bestätigt. Schon Aristoteles beobachtete in der „Nikoma-chischen Ethik" (1103 a 17/18) die Verwandtschaft des griechischen Wortes ethos mit dem Wort für „Gewohnheit", ethos. Das ethos, der Wohnort des handelnden Wesens „Mensch", besteht in den Haltungen der Tugend als lobenswerten Ge- 9 10 wohnheiten. Das hat eine Parallele im Deutschen: In dem Wort „wohnen", womit das Leben an einem beständigen Aufenthaltsort bezeichnet wird, steckt die gleiche Stammsilbe „wohn" wie in dem Wort „Gewohnheit". Der Zusammenhang zwischen ethos und menschlichem Wohnen zeigt sich auch bei dem lateinischen Substantiv für „Hall ung": habitus, das mit dem Verb habere, „haben, halten", zusammenhängt. Habitare, das Intensivum von habere, bedeutet nicht zufällig „wohnen". Die Ethik bezieht sich auf das menschliche Leben. Sofern dieses Leben von Handeln geleitet wird und dadurch „geführtes Leben", bíos, ist, kann es als ein zielgerichtetes Geschehen betrachtet werden. Das deutsche Wort „gut" und das entsprechende griechische Wort agathós bezeichnen in ihrer uriprüngl ichen und weiten Bedeuiung das, was das Gelingen eines zielgerichieien Geschehens ermöglicht und in gewissem Umfange auch garantiert. Deshalb kann man im Deutschen sagen, daß etwas für etwas anderes „gut steht", z. B. ein Bankguthaben für die Zahlungsfähigkeit des Konto-Inhabers. Die Tugenden, die aretaí, werden, wie erwähnt, mit Lob bedacht, weil sie beim Miteinanderhandeln Verläßlichkeit und so das Gelingen des „geführten Lebens" gewährleisten. Aus dem gleichen Grunde dürfen sie und das von ihnen getragene Ethos als „gut" bezeichnet werden. In diesem Sinne handelt die Ethik nach Aristoteles von dem „für den Menschen Guten". Als Cicero in großem Stil daranging, griechisches Denken in die lareinir che Sprache zu transponieren, bekam die Ethik die Bezeichnung philosophia mora-lis, „Moralphilosophie". Das Adjektiv moralis ist von mos, mores, „die Sitte, die Sitten" abgeleitet. Die abstrakre Substantivbildung zu moralis lautet moralitas, eingedeutscht „Moralität" oder „Moral" oder als äquivalentes deutsches Abstrac-tum: „Sittlichkeit". Moralitas wurde zur lateinischen Übersetzung von ethos. Diese Übersetzungen wurden möglich, weil das ethos aus Gewohnheiten besteht und weil auch die Sitten etwas sind, woran wir uns gewöhnt haben. Aber diese Übersetzungen griechischer Begriffe ins Lateinische sind nicht so harmlos, wie sie auf den ersten Blick erscheinen könnten. Wenn wir in phänomenologischer Reflexion darauf achten, wie uns die guten Gewohnheiten als Tugend-Haltungen und wie uns die in einer Kultur als gut anerkannten Sitten originär bewußt sind, zeigt sich ein Unterschied. Wir können von dem ausgehen, was beide Arten von Bewußtsein gemeinsam haben. Indem un s er Handeln von Tugenden getragen ist und indem wir gewohnheitlich gemäß den als gut geltenden Sitten leben, sind uns dadurch die normativen Maßstäbe des Handelns vertraut, die für unsere jeweilige Kultur verbindliche Geltung haben. Die Maßstäbe sind uns bewußt, indem wir ihnen in unserem Handeln mit Selbstverständlichkeit entsprechen. Diese Selbstverständlichkeit schützt die lobenswerten Gewohnheiten davor, in kritischen Lebenssituationen verloren zu gehen, und gewährleistet dadurch beim Zusammenhandeln die erwähnte Verläßlichkeit. Die Tugenden sind uns als gute Gewohnheiten selbstverständlich, weil wir sie im Normalfall nicht zum Gegenstand unserer Aufmerksamkeit machen. Es ist zwar möglich, daß wir uns bei Gelegenheit einer bestimmten Handlung - zumeist, weil uns die Handlung schwerfällt - ausdrücklich der Frage bewußt werden, ob wir einer geforderten Tugendhaltung treu bleiben oder von ihr abweichen. Wir können sogar allgemein die Frage diskutieren, ob eine bestimmte Tugend für das geglückte Leben hilfreich oder notwendig ist. Aber das Aufkommen solcher Fragen ist für unser Tugendbewußtsein sekundär; denn daß wir überhaupt ein solches Bewußtsein haben, verdankt sich gerade dem Umstand, daß wir uns normalerweise die besagten Fragen nicht stellen müssen, weil es uns zur Gewohnheit geworden ist, gemäß den Tugenden zu handeln, ohne daß sie zum Thema werden. Auch bei der anfänglichen Einübung eines gewohnheitl ichen Handelns gemäß den Tugenden bzw. den als gut geltenden Sitten durch die Erziehung bilden die guten Gewohnheiten im Normalfalle nicht den Gegenstand der Aufmerksamkeit derer, die erzogen werden, sondern sie werden ihnen allmähl ich selbstverständlich, indem sie von Fall zu Fall das Handeln ihrer Erzieher und der für sie vorbildlichen Personen in ihrer Umgebung nachahmen und, falls erforderlich, die mehr oder weniger nachdrücklichen Ermahnungen der Erzieher befolgen. Diese Ermahnungen sind im Regelfall auf die besondere Situation, auf das jeweilige Handeln hier und jetzt, und nur im Ausnahmefall auf das Allgemeine, eine Haltung, die das Handeln überall und immer leiten sollte, bezogen. So kann man sagen: Die „originäre Erfahrung" von dem, was in unserer jeweiligen Kultur als gut gilt, unser ursprüngliches „Wissen" vom Guten besteht darin, daß wir es als Gewohnheit mit Selbstverständlichkeit in unseren Tugenden leben bzw. in unseren Lastern habituell verfehlen. Die Durchbrechung dieser Normalität, indem wir das Gute in Form von allgemeinen Normen thematisieren und uns gegenständlich bewußt machen, ist eine sekundäre Erfahrung. Aber bezüglich dieser sekundären Erfahrung läßt sich bei einem Leben gemäß den in einer Gesellschaft als gut geltenden Sitten eine Besonderheit beobachten. In der Habi-tualisierung einer Lebensführung nach Maßgabe solcher Sitten liegt eine gewisse Tendenz, sie als gegenständliche Normen zu thematisieren. Eine Gesellschaft kann dieser Tendenz in solchem Maße nachgeben, daß die Thematisierung den Charakter verliert, die Ausnahme vom Normalfall zu sein. So wird die Sitte zum 11 „Gesetz" in einer weiten Bedeutung dieses Wortes, sie wird als Gebot, Norm, Imperativ, Wert usw. zur Vorschrift, nach der wir uns bei jeder Handlung neu zu richten haben und die wir uns dafür immer wieder vor Augen führen müssen. Die Rezeption der griechischen Ethik durch das lateinische Denken ereignete sich unter geschichtlichen Umständen, die einer solchen Vergegenständlichung günstig waren. Deshalb ist es kein Zufall, daß die „Sitten", mores, Cicero den sprachlichen Anhalt für die Übersetzung der ethischen Terminologie boten. Mir fehlt die Zeit, um auf alle jene geschichtlichen Umstände einzugehen, aber entscheidend dürfte gewesen sein, daß auch philosophisch schon der Weg dafür geebnet war, das Gute als gegenständliche Norm vorzustellen, und zwar durch die Stoa. 12 Zenon von Kition, der Gründer dieser Philosophenschule, konnte davon ausgehen, daß wir für ein Handeln gemäß den Tugenden von den Anderen gelobt und für ein Handeln gemäß ihrem Gegenteil, den Lastern, getadelt werden. Dadurch sind wir Menschen gewohnheitlich damit vertraut, daß das Gute uns in Anforderungen, Ansprüchen begegnet, denen wir entsprechen sollen. Das erlaubte Zenon, das griechische Wort kathekon - im Plural kathekonta — zu einem Leitbegriff seiner Ethik zu machen. Die kathekonta sind die „An Forderungen", in lateinischer Wiedergabe officia, „Pflichten", die uns sagen, wie wir handeln sollen. Für eine Klassifikation menschlicher Handlungen hinsichtlich ihrer ethischen Qualität kommt es in der Sicht der Stoa darauf an, die für das Gelingen unseres Lebens wesentlichen Anforderungen oder Pflichten von den unwesentlichen zu unterscheiden. Mit der Einführung der kathekonta beginnt die systematische Interpretation des Guten als eines Gesollten. Auch bei der Rezeption der griechischen Ethik in lateinischer Sprache bleibt die Ethik der Bereich der Philosophie, der von dem für den Menschen Guten handelt. Aber mit dem Rückgriff auf die Sitten beginnt dieses Gute seinen Charakter grundlegend zu ändern. Aus dem gewohnheitlich gelebten Guten, das im Normalfall unthematisch bleibt, wird das gesollte Gute, das in Gestalt von sittlichen Vorschriften ausdrücklich gegenständlich vorgestellt wird. Diese Transformation der Ethik in Moralphilosophie bzw. des Ethos in Moralität oder Moral vollendet sich erst in der Neuzeit bei Kant. Was sich mit der stoischen Differenzierung der kathekonta angebahnt hatte, bringt Kant zur Klarheit, indem er - in dieser Hinsicht ein Phänomenologe avant la lettre - fragt: Wie kann mir bei einem Handeln, das auf das gesollte Gute, die „Pflicht", bezogen ist, dieses Gute bewußt sein? Kant zeigt: Für das Bewußtsein, mein Handeln sei moralisch gut, genügt es nicht, wenn es einer Norm entspricht, die mir Gutes vorschreibt. Solches „pflichtgemäße Handeln" ist zwar von dem Bewußtsein begleitet, daß es Gutes gibt, das mich unbedingt verpflichtet und das verlangt, um seiner selbst willen getan zu werden, aber es ist nicht durch dieses Gute selbst motiviert, sondern hat andere Beweggründe zur Triebfeder, die alle aus unserem Streben nach Eudämonie, aus „Neigung" entspringen. Deshalb ist von solchem Handeln das „Handeln aus Pflicht" zu unterscheiden. Es geschieht nicht aus solch eudämonistischen Beweggründen, sondern um des Guten willen. Wenn das Gute um seiner selbst willen getan wird, muß es dafür eigens als solches vorgestellt werden, d.h. es tritt dem Bewußtsein des Handelnden als Gegenstand, als ein „du sollst", als Imperativ vor Augen, und das Motiv für seine Befolgung ist nicht das Gefühl der Neigung, sondern das der „Achtung vor dem Gesetz". Ich komme damit zum zweiten Teil meiner Überlegungen, der kritischen Gegenüberstellung von klassischem Ethos und neuzeitlicher Moral, und beginne mit der bekannten Kritik der ethischen Tradition in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten". Die Neigungen konkretisieren sich in Wünschen, deren Erfüll ung wir zur Absicht unseres Handelns machen. Solange wir das Gute nicht um seiner selbst willen tun, eri cheint uns die künftige Erfüllung solcher Absichten als das Gute. Kant wirft der klassischen Ethik vor, sich an dieser Auffassung des Guten orientiert zu haben, und stellt ihr die These entgegen, wahrhaft gut sei allein ein guter Wille. Gut ist der Wille desjenigen, der uneingeschränkt dem Anspruch eines „kategorischen" Imperativs entspricht, also eines Gebots, dessen Befolgung nicht unter der Bedingung steht, daß ich damit eine meinen Neigungen entsprechende Absicht erreichen kann. Die „Neigung" heißt so wegen ihres passiven Charakters: Wenn ich einer Neigung folge, lasse ich es zu, von der Anziehungskraft abhängig zu sein, die ein möglicher Gegenitand meiner Wünsche auf mich ausübt. Ich lasse mich in meiner Handlungsmotivation von Kräften außerhalb meines eigenen Willens bestimmen und unterliege so einer Fremdbestimmung. Befolge ich hingegen unbedingt geltende Imperative um ihrer selbst willen, so wird mir damit meine Selbstbestimmung, die Freiheit meines Willens bewußt. 13 In diesem Sinne sind meine Handlungen gut, wenn in ihrer Motivation die Erfahrung meiner Freiheit uneingeschränkt zum Zuge kommt. Dann können aber meine Handlungen nicht mehr deshalb gut sein, weil sie aus den Tugenden als guten Gewohnheiten hervorgehen; denn es kann zwar ein freier Entschluß sein, der bei mir zur Entstehung einer guten Gewohnheit führt, aber wenn sie mir erst einmal „in Fleisch und Blut übergegangen" ist, ist sie gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht mehr von meiner Freiheit abhängt. Eben dies verleiht den 14 guten Gewohnheiten die schon erwähnte Selbstverständlichkeit, auf der die in-tersubj ektive Verl äßlichkeit beruht, durch die das Ethos das für den Menschen Gute ist. Diese Qualifikation als gut aber muß das Ethos für die Moralphilosophie, in der alles auf das uneingeschränkte Bewußtsein der Freiheit ankommt, verlieren, weil der Gewohnheitscharakter der Tugenden eine Einschränkung der Freiheit bedeutet. Das verurteilt die Tugenden in moralphilosophischer Sicht letztlich zur Bedeutungslosigkeit. Die Faszination der Freiheit ist einer der Gründe, die erklären, warum in der Neuzeit die Moral allmählich das Ethos überlagert hat. Ein anderer Grund ist der Vorzug, den die gegenständlich vorgestellten Vorschriften der Moral in den Augen der Moralphilosophie aufweisen: Solche Vorschriften erlauben, ja verl angen die Frage, woher sie ihre Verbindlichkeit nehmen. Ein gesolltes Gutes läßt sich immer als ein Imperativ formulieren, und bei einem „Gesetz" solcher Art ist grundsätzlich der Versuch denkbar, seine Geltung als universal berechtigt zu erweisen. Bei einer ungegenständlich gelebten Gewohnheit besteht diese Mögl ichkeit nicht. In diesem Sinne gehört zur Moralphilosophie die Normenbegründung. Dieser Zug erklärt eine Überzeugung der Moralphilosophen, die ich schon eingangs erwähnt habe: Sie glauben, ihr Denken entspreche den Anforderungen unseres Zeitalters, das im Zeichen des fortschreitenden Zusammenwachsens aller Kulturen steht. Jedes Ethos ist als Geflecht von Gewohnheiten ein geschichtlich bedingtes Produkt einer bestimmten Kultur. Welche Haltungen als gut angesehen werden, hängt von der jeweiligen Gesellschaft ab. Für eine Tugend-Ethik scheint es unvermeidlich, alle in den verschiedenen Kulturen als gut geltenden Gewohnheiten als legitim anzuerkennen, so daß die Philosophie in einen ethischen Relativismus gerät. Davor scheint die Moralphilosophie durch den gegenständlichen Charakter der von ihr untersuchten Normen geschützt. Apel und Habermas bringen den Geist der Moralphilosophie zum Ausdruck, wenn sie von der „konventionellen Moral" sprechen und damit das Ethos meinen. Auf die Dauer wird und muß nach ihrer Überzeugung an die Stelle des kulturell variablen Ethos eine alle Kulturen übergreifende „postkonventionelle Moral" treten, die wegen ihrer Unabhängigkeit von allen in den Traditionskulturen vorgefundenen ethischen Konventionen eine universale, nicht relativierbare Geltung hat. Diese Möglichkeit der Rechtfertigung eines universalen Geltungsanspruchs scheint zusammen mit dem ausgeprägten Freiheitsbewußtsein der modernen „Moral" eine Stärke zu verleihen, die das Ethos zu seinem Verschwinden in der künftigen Menschheitsgeschichte verurteilt. Aber es deutet einiges darauf hin, daß damit die Stärke der Moral überschätzt wird. Was die moralphilosophische Begründung von universal gültigen Normen angeht, so gibt es zwar tats ächl ich in der Welt zahlreiche „kontinental" oder „analytisch" orientierte Philosophen, die den Versuch machen, bestimmte moralische Normen als universal gültig zu erweisen, aber über die geeigneten Beweise werden sie sich nicht einig, und es ist absehbar, daß es dazu auch in Zukunft nie kommen wird, weil es in der Moralphilosophie keine mit der Sicherheit der Mathematik vergleichbaren wissenschaftlichen Beweise geben kann - und dies gerade deshalb nicht, weil sie im Bewußtsein der Freiheit verankert ist; die Freiheit ist „unberechenbar". Das bedeutet aber, daß wir die erste Bekanntschaft mit dem gesollten Guten nicht auf solche Weise machen können, daß wir es als bewiesene Vorschrift wie einen Lehrsatz lernen. Dann bleibt aber nur die Möglichkeit, daß uns die Maßstäbe unseres Handelns zunächst dadurch bekannt werden, daß wir mit guten Gewohnheiten vertraut sind, die uns selbstverständlich wurden, indem wir sie, angeleitet durch Erziehung, als Tugenden habitualisierten. Hierin zeichnet sich bereits eine Priorität des Ethos vor der Moral ab, die deutlicher werden wird, wenn wir nun noch einmal darauf zurückkommen, daß „gut" seiner Grundbedeutung nach das bezeichnet, was für ein Gelingen Gewähr bietet. Es stellt sich die Frage: Warum ist eigentlich der gute Will e gut, was wird durch ihn gewährleistet? Es kommt nur eine Antwort in Betracht, die Kant auch selbst gegeben hat: Der gute Wille gewährleistet, daß wir beim Zusammenhandeln die Anderen nicht als bloßes Mittel zur Verwirklichung unserer neigungsbedingten Wünsche mißbrauchen und so die Personwürde, die ihnen durch ihre Freiheit zukommt, verletzen. Das Motiv der Verläßlichkeit, das hinter der Idee des Ethos als des genuin menschlichen Aufenthaltsortes stand, kehrt hier mit einer eigenartigen Färbung wieder: Wir bedürfen der Verläßlichkeit der Anderen primär deswegen, weil wir ihnen mißtrauen; denn sie könnten uns für ihre Wünsche instrumentalisieren. 15 Dieses für die Moral konstitutive Mißtrauen setzt eine individualistische Vorstellung vom Wesen des Menschen voraus: Der menschlichen Existenz fehlt eine intersubjektive Verfassung vorab zu den konkreten Beziehungen mit Anderen; die Existenz gibt sich erst nachträglich eine solche Verfassung, indem das „von Natur" isoliert lebende Individuum eigens solche Beziehungen stiftet. Ganz anders beim Ethos: Bei meinem Handeln sind von vornherein die Anderen im Spiel; mein Handeln ist immer, auch wenn ich allein bin, ein Zusammenhandeln mit ihnen. Das Ethos ist das für den Menschen Gute, weil es das Gelingen solchen Zusammenhandelns gewährleistet. Mein Grundverhältnis zu den Anderen hat hier nicht den negativen Charakter, daß ich mich mißtrauisch gegen die mögliche Instrumentalisierung durch sie sichere. Ich nehme vielmehr, indem ich auf 16 die Verläßlichkeit ihrer guten Gewohnheiten vertraue, zu ihnen das positive Verhältnis ein, daß ich sie damit gerade in ihrem Anderssein anerkenne. Das besagte Mißtrauen konnte solange für das Verständnis des Ethos nicht maßgebend werden, als die Polis, die städtische Lebenswelt der Bürgergemeinde, ihren Bewohnern ein Lebensgefühl der Geborgenheit vermittelte. Darin hatte die klassische Ethik ihren geschichtlichen Rückhalt. Erst als mit dem Übergang vom klassischen Griechentum zum Hellenismus das Vertrauen in die Polis schwand, konnte das Mißtrauen, das natürlich auch die klassische Ethik als eines unter vielen ethischen Phänomenen kannte, fundamental den Sinn des Guten bestimmen. Diese Möglichkeit zeichnete sich schon im Ansatz der frühen Stoa ebenso wie im Epikureismus ab, aber in der latinisierten Stoa kam das Mißtrauen nicht zum Zuge, weil sich noch einmal die typisch römische Bereitschaft zum politischen Engagement durchsetzte. Doch wenn in der frühen Neuzeit Hobbes den Naturzustand der Menschen rekonstruiert und ihn als Krieg aller gegen alle bestimmt, tritt das Mißtrauen wieder voll zutage. Aus der Perspektive des Ethos stellt sich die Isolation des Menschen als Individuum, die mit dem Mißtrauen gegen die Anderen einhergeht, als eine Verleugnung der vorgegebenen intersubj ektiven Verfassung unserer Existenz dar. Zufolge dieser Verfassung ist die Normalität der menschlichen Lebenswelt durch die Gemeinsamkeit des Zusammenhandelns bestimmt. Wenn jemand diese Gemeinsamkeit durch sein Mißtrauen untergräbt, erscheint dies deshalb den Anderen als eine Ausnahme von jener Normalität, als eine Möglichkeit am Rande der Gemeinsamkeit des Zusammenhandelns, als Grenztall und nicht als Normalfall. Daß die Anderen darauf eher mit Tadel als mit Lob reagieren, treibt den Mißtrauischen in eine Isolation. Es läßt sich einwenden, ein Mensch könne nicht nur durch die Haltung des Mißtrauens in eine solche Situation kommen. Es könne auch sein, daß jemand sich durch ein Handeln isol iert, das die Anderen am Ende als des Lobes wert, vielleicht sogar als höchster Ehre wert betrachten. Um ein klassisches Beispiel zu wählen: Wer in einer gewalttätigen Diktatur unter dem Druck von polizeilicher Verfolgung oder gar von Folter das Versteck seiner Freunde nicht verrät, kann damit in eine extreme Einsamkeit geraten und hat doch Anspruch auf die moralische Anerkennung der anständig Gebliebenen, weil er - wie wir mit einem bezeichnenderweise aus der Stoa stammenden Begriff sagen - seinem „Gewissen" folgt. Es ist keine Frage, daß wir in Grenzsituationen wie der gerade genannten eine authentische Erfahrung vom Guten machen können, und Kant hat für diese Er- fahrung mit der Beschreibung des Handelns aus reiner Achtung vor dem Gesetz eine adäquate philosophische Interpretation geliefert. Wie seine eigenen Beispiele ill ustrieren, treten die Züge solchen Handelns genau in den Grenzfäll en am deutlichsten hervor, in denen der Handelnde auf jede Befriedigung von Neigungen verzichtet, um das Gute rein um der Pflicht willen zu tun. Das zeigt: Die Moral in ihrer eigensten und höchsten Möglichkeit orientiert sich am Grenzfall und nicht am normalen lebensweltlichen Zusammenhandeln. Aus der Perspektive des Grenzfalls erscheint die lebensweltliche Normalsituation als ein Zustand des Schwankens zwischen Pflicht und eudämonistischen Beweggründen; ein Gefühlsgemisch aus Neigungen und Achtung motiviert unsere Handlungen: Wir hören die Gewissensstimme des um seiner selbst willen zu befolgenden gesollten Guten, aber zugleich läßt uns die Bereitschaft, den Neigungen zu folgen, diese Stimme überhören. Aber phänomenologisch stellt sich die Frage, ob diese Beschreibung dem normalen lebensweltlichen Handlungsbewußtsein gerecht wird. Meine Antwort ist: Kant unterschiebt diesem Bewußtsein ein Element der Rigorosität, das es zunächst nicht enthält. Für den Grenzfall des reinen moralischen Bewußtseins ist sein „rigoroser" Charakter konstitutiv: Es gibt nur das Entweder-Oder: entweder ich tue das Gute um seiner selbst willen oder ich lasse eudämonistische Beweggründe in der Handlungsmotivation zu, wobei es keine Rolle spielt, „wieviel" Einfluß ich den Neigungen einräume. Hinsichtlich des kategorisch gebotenen Guten gibt es kein Mehr oder Weniger; ich kann moralisch nicht „ein bißchen gut" sein. Kant unterstellt rigoristisch, daß mir auch beim normalen Handeln jederzeit die Möglichkeit vorschwebt, ich könnte das Gute ohne Beimischung von Neigung rein aus Achtung vor dem Gesetz tun. Bezeichnenderweise hat dieser Rigorismus in der Philosophie immer wieder Anstoß erregt. Phänomenol ogisch läßt sich dies sich daraus erklären, daß für das normale lebensweltliche Handlungsbewußtsein gerade ein Mehr oder Weniger hinsichtlich des Guten konstitutiv ist. Das gelebte Gute wird erfahren im intersubjektiven Wechselspiel zwischen Lob und Tadel für tugendhaftes bzw. lasterhaftes Handeln. Dieses Wechselspiel ist nicht durch die reinliche Alternative von Anerkennung oder Verwerfung eines bestimmten Handelns gekennzeichnet, sondern es gibt eine Gradualität der Beurteilung, etwa wenn jemand dafür gelobt oder getadelt wird, daß sein Verhalten sich nunmehr gegenüber früher „gebessert" bzw. „verschlechtert" habe. Solche Phänomene des „moralischen Aufstiegs" oder „Abstiegs" aber können nur im Rahmen der Erfahrung des Ethos auftreten, bei der die Möglichkeit besteht, daß Gewohnheiten sich durch neue Habituali-sierungsprozesse graduell in eine Richtung weiterentwickeln, die intersubjektiv Lob einträgt, oder in die Gegenrichtung, die den Tadel der Anderen hervorruft. 17 18 Das zeigt: Die genuin ethische Erfahrung vom Guten enthält normalerweise gerade kein rigoristisches Bewußtsein der Möglichkeit einer reinen, gänzl ich neigungsfreien Handlungsmotivation. Ein solches Bewußtsein läßt sich zwar unzweifelhaft in den erwähnten Grenzfällen beobachten, aber die phänomenologische Frage lautet, welches Bewußtsein - das ethische oder das moralische - die originäre, ursprüngliche Erfahrung vom Guten enthält. Welche Erfahrungen die originären sind, entscheidet sich phänomenologisch durch den Kontrast mit Erfahrungen, die einen derivativen, abkünftigen Charakter haben, d.h. die durch ihren Sinn auf die Fundierung in einer originären Erfahrung verweisen. Phänomenol ogisch betrachtet läßt sich in Kants Rigorismus ein solches Verweisungsverhältnis finden: Die Uneindeutigkeit des lebensweltlichen moralischen Normalbewußtseins, das den Gewissensruf der Pflicht hört, aber bereit ist, dem Lockruf der Neigungen zu folgen, verweist auf die Eindeutigkeit einer rein durch die Achtung vor dem Gesetz bestimmten Handlungsmotivation, die erst durch die Beimischung eudämonistischer Motive getrübt wird. Das Normalbewußtsein mit seinem uneindeutigen, zwischen Pflichtgehorsam und Nachgiebigkeit gegenüber den Neigungen schwankenden Mot ivat ionszustand erscheint so als derivat iv und das Handeln aus Pflicht als originär. Aber obwohl eine solche Beschreibung des Normalbewußts eins zunächst einzuleuchten scheint, kann sie phänomenologisch nicht überzeugen, weil die vermeintliche Uneindeutigkeit dieses Bewußtseins nicht als ein Schwanken zwischen Pflicht und Neigung interpretiert werden muß. Sie kann vielmehr zwanglos so verstanden werden, daß sich in ihr die Gradual ität des Wechselspiels von Lob und Tadel im Rahmen der ethischen Erfahrung bekundet. Das läßt die Konsequenz zu, daß die ethische Erfahrung vom Guten das originäre Bewußtsein darstellt. Diese Konsequenz wird erhärtet durch Beispiele wie das vorhin angeführte vom Nichtverrat des Freundes in bedrohlicher Situation. Alle solchen Beispiele haben nämlich gemeinsam, daß diejenigen, die rein aus Achtung vor dem Gesetz handeln, sich damit einer Einsamkeit aussetzen, die ihnen und den Anderen als Ausnahme von der Normalität des Zusammenhandelns, als Grenzfall, erscheint. So verweist die neigungsfreie Handlungsmotivation als Grenzfall auf den Normalfall, die ethische Erfahrung, und hat in diesem Sinne einen derivativen Charakter. Die Normalität der ethischen Erfahrung gründet sich auf die Intersubjektivität der menschlichen Existenz. Der Individual ismus der Moral erweist sich so als Grenzfall der intersubjektiven ethischen Normalität. Wenn die neuzeitliche Moralphilosophie erklärt, das Ethos stehe gegenüber der Moral auf verlorenem Pos- ten, ereignet sich damit das Erstaunliche, daß der Grenztall zum Normalfall wird, indem er zum Muster der Erfahrung des Guten überhaupt aufsteigt. Wie war dieser Aufstieg mögtich? Ich schlage vor, ihn phänomenotogisch mit Hilfe von Husserls Konzept der Idealisierung aus seiner „Krisis" - Abhandlung zu erklären. Die Operation der Idealisierung vollzieht sich in drei Schritten: Erstens, die Graduat ität einer lebensweltlichen Ertahrung wird gedanklich in die lineare Ordnung eines Steigerungsprozesses gebracht, dessen Ziel - das Optimum, auf das sich die Steigerung hinbewegt - im Unendt ichen liegt. Zweitens, obwohl das Optimum nicht anschaulich, sondern nur gedanklich faßbar ist, weil der Steigerungsprozeß ins Unendliche geht, wird dieser Prozeß als „durchlaufen gedacht", wie Husserl in einer „Krisis" - Beilage formuliert („Die Krisis der europäischen Wissenschaften ...", S. 359), wodurch es mögtich wird, das Optimum als limes, als Grenzwert des Prozesses zu vergegenständlichen. Drittens, mit dem so gewonnenen, nicht anschaulich gegebenen, sondern nur gedachten - „idealen" -Gegenstand wird fortan so verfahren, als stünde er mit den anschaulich gegebenen Gegenständen auf einer Ebene. In der Tat läßt sich für die Entwicklung des philosophischen Nachdenkens über das für den Menschen Gute seit der stoischen Ethik eine solche IdealisierungsOperation rekonstruteren. Der erste Schritt findet seinen Anhalt daran, daß es im ethischen Normalbewußtsein trotz des ungeregelten Wechselspiels zwischen Lob und Tadel doch die erwähnte Gradualität gibt, die darin besteht, daß man beim intersubjektiven Austausch von Urteilen über das eigene Handeln oder das der Anderen Prozesse der Steigerung von Tugend- oder Lasterhaftigkeit konstatiert. Diese Gradualität erlaubt es, eine sich ins Unendliche steigernde ethische Optimierung zu denken. Sie besteht darin, daß die Anforderungen, die kathe-konta, die uns durch das Gelobt- und Getadeltwerden zu Bewußtsein kommen, immer mehr auf diejenigen eingeengt werden, auf die es letztlich für das Gelingen des Lebens ankommt. Den Grenzwert dieses Prozesses kann nur eine Pflicht bilden, die nur noch ein von allen Ablenkungen oder Beimischungen gereinigtes „du sollst" enthält. Dies aber ist nichts anderes als die rigorose Verpflichtung durch das Gute selbst. 19 Den Gehorsam gegenüber dieser Verpflichtung gibt es im Rahmen der ethischen Normal ität nur als den Grenzfall, der unvermeidlich die erwähnt e Vereinsamung zur Folge hat, weil die Verpflichtung die in der intersubjektiven Gestalt von Lob und Tadel anschaulich ertahrbaren Mögtichkeiten des ethischen Normalbewußtseins ins bloß Gedachte, Ideale transzendiert. Der Idealisierungsprozeß findet nun aber seinen krönenden Abschluß gerade darin, daß die ide- ale Verpflichtung als ein Gebot anges ehen wird, das mit den aus der normalen lebensweltlichen Handlungsmotivation vertrauten Anforderungen auf einer Ebene liegt, weil es mit ihnen in einen Wettstreit treten kann. Beide werden als miteinander konkurrierende Imperative interpretiert: das von allen eudämonisti-schen Beimischungen freie „du sollst" als „kategorischer Imperativ" und die nor-maten Anforderungen als „hypothetische Imperative", die ihre eigene Geltung durch eudämonistische Bedingungen einschränken. So wird aus der Gradualität des ethischen Normalbewußtseins durch Idealisierung ein rigoristisches Entweder-Oder herausdestilliert, die Alternative: entweder bin ich bereit, dem kategorischen Imperativ zu gehorchen, oder ich handle so, als hätten alle Imperative nur hypothetische Geltung. Und damit ist die neuzeitliche Moral geboren. 20