Original scientific paper Izvirni znanstveni članek DOI: 10.32022/PHI28.2019.108-109.2 UDC: 141.319.8 Die Gesichter der Welt Darstellung einer anthropologischen Kritik der Sinne Marco Russo University of Salerno, Via Giovanni Paolo II 132, 84084 Fisciano (SA), Italy mrusso@unisa.it The Faces of the World. The Presentation of an Anthropological Critique of Senses Abstract The Die Einheit der Sinne (The Unity of Senses) by Helmuth Plessner is an "Aesthesiology" that is a philosophy of culture upon perceptual and phenomenological grounds. It is even presented by Plessner as a fourth Critique—a Kritik der Sinne (Critique of the Senses)—, as an exploration of that world of concrete praxis, and Phainomena 28 | 108-109 | 2019 its articulations in different kind of languages, to which Kant alluded by outlining the different territories of reason and facing the concrete "fulfillment" of categories, but which had never been deepened. The essay therefore exposes the features of the aesthesiology using the Kantian theory of transcendental schematism as a common thread. On this basis, we also show the centrality of aesthesiology in Plessner's anthropological project. Keywords: Plessner, Kant, senses, aesthesiology, anthropology. Obrazi sveta. Predstavitev antropološke kritike čutov Povzetek 36 Delo Die Einheit der Sinne (Enotnost čutov) Helmutha Plessnerja je »esteziologija«, ki je obenem filozofija kulture na perceptivnih in fenomenoloških temeljih. Plessner jo celo predstavi kot četrto kritiko - kot Kritik der Sinne (Kritiko čutov) -, kot obravnavo sveta konkretne prakse in njegovih artikulacij v različnih jezikih, na kakršno je namigoval Kant s tem, ko je v spoprijemanju s konkretno »izpolnitvijo« kategorij začrtal različna območja uma, a kakršne nikdar ni uspel poglobiti. Razprava skuša zatorej z uporabo Kantove teorije transcendentalnega shematizma kot skupne vezi razgrniti poteze esteziologije. Na takšni osnovi pokažemo tudi osrednji položaj esteziologije znotraj Plessnerjevega antropološkega projekta. Ključne besede: Plessner, Kant, čuti, esteziologija, antropologija. Marco Russo 1. Der Weg von Kant zu Goethe 1923 bezeichnet Plessner seine Forschung über die Sinne als „ Ästhesiologie des Geistes" oder mit Bezug auf Goethe als „Kritik der Sinne" (Plessner 1923a, 31-32).1 Diese letzte Bezeichnung ist besonders aufschlussreich, da sie die Ambitionen von Plessners Sinneslehre zeigt: Sie will so etwas wie eine vierte Kritik sein, die schließlich die Idee der Erfahrung, deren Modalitäten Kant untersuchen wollte, erneuert. Wie Goethe erkennen ließ, erwiesen sich die Sinne nicht als eine einfache Ergänzung zum kantischen Formalismus, sondern als ein ganzer neuer Kontinent der Philosophie. Die Aufgabe, einen einheitlichen Schlüssel für das Reale zu finden, indem die Modalitäten der Erfahrung analysiert werden, mit denen wir die Phänomene entschlüsseln und sinnvoll gestalten, sollte eine tiefgreifende Umwandlung erfahren. Es sei daran erinnert, dass diese Aufgabe schon im Laufe des 19. Jahrhunderts, mit der Entwicklung der Humanwissenschaften neben den Naturwissenschaften, mit der wachsenden Dynamisierung der Gesellschaft, die sich immer mehr artikuliert und keine absoluten Bezugszentren hat, 37 zunehmend komplizierter wurde. Die Vielfalt der empirischen Realität hatte sich als so reich erwiesen, dass sie einerseits fließend und interkommunikativ wurde, andererseits mit Nachdruck eine Festlegung der Unterschiede und Besonderheiten verlangte. Wir befinden uns vor einem echten Protest der Empirie gegen den Empirismus, wie es Graf Yorck von Wartenburg sehr passend auf den Punkt gebracht hatte. Oder mit anderen Worten, wir haben es mit dem Bedürfnis nach einem einheitlichen, aber offenen Verständnis der unzähligen Gestalten der Welt in ihrem beweglichen Werden zu tun: Ein hegelianisches Ziel, das mit kantischen Mitteln zu erreichen ist, das heißt mit solchen, die eine 1 Später spricht Plessner auch von einer "Hermeneutik der Sinne" und "Anthropologie der Sinne" (Plessner 1970). Zusammen mit den theoretischen Ungewissheiten betonen die verschiedenen Nomenklaturen nicht vollkommen identische Forschungsrichtungen. Kritik der Sinne ist vielleicht die umfassendste und an Nuancen reichste Definition für den Bezug auf Kant, wo Kritik mehrere Dinge bedeutet: eine Erkenntnismethode, ein ganzes philosophisches System, eine Haltung, mit praktischmoralischen Implikationen, gegenüber der Realität. Den ästhesiologischen Begriff würde ich dagegen dem analytischen und phänomenologischen Teil der Philosophie vorbehalten; dazu neigt auch Plessner, wenn auch auf sprunghafte Weise. Phainomena 28 | 108-109 | 2019 gewisse Dehnung zwischen Denken und Realität (Phänomena und Noumena) und zwischen den verschiedenen Formen des Wissens zulassen. Dies ist der Kontext, in dem Plessners Sinneslehre und, allgemeiner, sein Projekt einer philosophischen Anthropologie entstanden ist. Während der Körper mit seiner differenzierten, aber integrierten Sinnlichkeit zur Inkarnation der vielfältigen Einheit der phänomenalen Welt wurde, nahm das menschliche Subjekt diese Einheit in sich auf und projizierte sie auf einen noch weiteren Horizont. Und gleichzeitig ließ es mit neuer Klarheit die in der menschlichen Erfahrung seit ihrem biologischen Ursprung oft innewohnenden schmerzhaften Spannungen erkennen. Jeder Mensch war eine Totalität, ein Mikrokosmos, die Vereinheitlichung der empirischen Vielfalt, aber er bewahrte ohne Endsynthese alle Fehler, Einseitigkeiten und Spaltungen des einzelnen bestimmten Individuums. In „Die Einheit der Sinne" gibt es noch keine klare und kohärente Anthropologie, aber es zeichnet sich darin ihre theoretische Grundlage ab, beginnend mit zwei fundamentalen Elementen, nämlich der handelnden Person und der sinnlichen Dimension. 38 Der „Weg von Kant zu Goethe" (Plessner 1923b, 384) bedeutete eine Neubewertung der Erscheinungen, das heißt, der enthüllenden und nicht nur informativen Funktion der Sinne; dieser Weg bedeutete eine nicht physischmathematische Annäherung an die Natur und konnte daher ihre qualitativen, erlebten und mit der menschlichen Geschichte verbundenen Aspekte erkunden. Es war also der Weg, auf dem die Natur Welt wird und sich mit dem symbolischen Handeln der Menschen kreuzt. Unsere Sinnlichkeit ist mehr als eine reine physische Grundlage: es ist der Kern des In-der-Welt-Seins. Auf dem Hintergrund dieser radikalen Weltlichkeit ist der Körper das Möglichkeitsfeld des Geistes nicht trotz seiner Einschränkungen und Opazität, sondern gerade deshalb. Nicht nur wenn es um praktische Philosophie, sondern auch wenn es um theoretische Fragen geht, „wird der Mensch zum Organon unserer Beobachtung" (Plessner 1923, 153) ohne Angst vor subjektivistischen Stürzen. 2. Das Gesicht der Welt Wie es sich etwa 20 Jahre später mit der Phénoménologie de la perception von Merleau-Ponty zeigen sollte, bedeutet das Nachdenken über die Sinnlichkeit, Marco Russo den Zugang zu einer neuen Ontologie zu finden (Plessner 1923b, 385), das heißt über das epistemologische Interesse für die Sinne hinauszugehen, um mit diesen stattdessen das Gesicht der Welt zu entdecken. Die Sinne offenbaren die Welt, ihre Seiten, ihre Aspekte: Vielfältigkeit der Materie, Vielfältigkeit der Erlebnisse und der Auffassungsweisen verweisen gegenseitig aufeinander. Würden die Sinne, wie man oft glaubt, nur signalisieren und informieren, würden sie eine auf Reiz-Reaktion begrenzte Umwelt beschreiben und keine Welt öffnen. Weltoffenheit bedeutet hier nicht ungebundene Transzendenz, so etwas wie ein höchstes Reich des Geistes, weil wir als empfindende Lebewesen stets in die Materie eingebettet bleiben. Noch scharfer gesagt: in direkter Weise, zum Beispiel mit der Stimme, oder in indirekter, zum Beispiel mit den Lichtern, sind wir selbst Materie, sind wir Ton, Kontakt, Geruch, Helligkeit, Finsternis ... Wir gehören zum Weltstoff; ihre Phänomenalität ist auch die unsrige. Das bedeutet eine wesentliche Überarbeitung dessen, was wir unter dem Begriff des Geistes verstehen, weil sich dieser - weit davon entfernt, eine höhere Region der Kultur und des Verstandes zu bezeichnen - durch unser ganzes körperliches Dasein hindurchzieht. 39 Es geht dann nicht darum, nach einem fortschreitenden Abstraktionsprozess von unten nach oben, von den Sinnen zum Geiste zu gehen, weil der Geist erscheinen, sich immer wieder versinnlichen muss. Statt einem einzigen Abstraktionsprozess gilt es vielmehr, die pluralen Konkretionsprozessen zu verfolgen: das Wie und Wo des erscheinenden Geistes - des embodied mind - mit gleicher Aufmerksamkeit zu analysieren. Am besten stellt man die Erfahrungsmodi nicht pyramidal bottom-up, sondern parallel, d.h., alle gleichzeitig wirkend wie in einem Netzt dar (Russo 2011). Auch die nicht konzeptualisierbaren, oder sogar kurz vor dem Irrationalen und Sinnlosen stehenden Seiten drücken eine Bedeutung oder eben die Unmöglichkeit aus, eine zu finden, aus. Deshalb gehören auch die weniger edlen oder kognitiv rigorosen Seiten der Erfahrungen zum Geist, verstanden erstmal als Inbegriff von allen Akten, wodurch wir etwas als etwas verstehen und mitteilen können (Plessner 1923a, 207-208). Im als verschränken sich - in vielen Konfigurationen - Körper und Vernunft, fassbarer und unfassbarer Sinn. Die Welt erscheint auf verschiedene Weise: Licht, Farbe, Klang, Druck, Temperatur, Geschmack . Aber auch der Modus, wie wir uns zu diesen Phainomena 28 | 108-109 | 2019 Phänomenen verhalten, ist unterschiedlich: Man beobachtet, man hört zu, man berührt, man bewertet. In jeder Epoche und an jedem Breitengrad haben die Menschen innerlich unterschiedliche Kulturen entwickelt, denen bestimmte Verhaltens- und Ausdrucksregeln entsprechen: Wissen, Glaube, Kunst, Sexualität, Gerüche, Geschmäcke, Kontakt. Vielleicht gibt es einen Strukturzusammenhang zwischen dem, wie die Dinge erscheinen, und dem, was wir tun, zwischen unseren Sinnen und dem Sinn, der wahrgenommenen Materie und wie wir sie formalisieren. Von der Sinnesunterscheidung hängt die Vielfalt der weltlichen Erscheinungen ab, daran besteht kein Zweifel; schwieriger ist es festzulegen, dass auch die Sphäre des Geistes davon abhängt. Der entscheidende Punkt ist, dass alles, was man unter „Geist" - das Denken, die Vernunft, die Kultur, die Transzendenz -2 versteht, sich materialisieren, sich wahrnehmbar machen und den Regeln der Sinnlichkeit folgen muss. Das ist nun die synthetische Einheit, die relationale Verflechtung, zu der man gelangt: Zur Ergründung der Sinnlichkeit werden wir auf die geistigen Operationen, zur Ergründung solcher Operationen auf die Sinnlichkeit verwiesen. Das 40 Äußere muss sich verinnerlichen, das Innere sich entäußern. In der Mitte sind unsere Verhaltensweisen, die, wie Scheler schon bemerkte, psychophysisch indifferent sind: ebenso sehr wie die Zeichensystemen, die symbolischen Formen, die verbalen und nicht verbalen Sprachen, mit denen wir handeln und mitteilen. In den Handlungen und ihren Mitteln ist tatsächlich nicht genau zu unterscheiden, wo die physische und wo die psychische Sphäre beginnt (Plessner 1923a, 20). Dieser gegenseitige Verweis der beiden Sphären öffnet den Sinnesraum, erschließt die Bedeutung eines Phänomens, das Verstehen von etwas als etwas, indem es in einer Relationskette eingefügt wird: von der Mindestschwelle eines augenblicklichen Signals - ein Schrei, eine Miene, ein Schlag - zu komplexeren Zeichensystemen - Worte, Melodien, Figurationen, Ziffern, Rituale. 2 Der Geist ist „die Einheit der Sinngebung und des Sinnverständnisses" (Plessner 1923a, 278). Er ist der typische Raum, der sich zwischen der wahrnehmenden Tatsache und seiner Einspeicherung in ein pattern, das ihm logische Konsistenz verleiht, öffnet. Was dieses pattern ist - die klassische Nomenklatur reicht von Form zu Kultur, von Logos zu Geist unterschiedlich -, worin dieser Raum besteht, ist eine der Fragen, auf die die Reflexion über die Sinne eine Antwort zu geben versucht. Marco Russo Der Sinnprozess ist weder rein geistig noch rein physisch, und doch, um seine zwischen Geist und Körper vermittelnde, verweisende Funktion entwickeln zu können, braucht er immer ein materielles Mittel, also sich nach den sinnlichen Modalitäten auszurichten. Es gibt, mit anderen Worten, ein ontologisches Primat der Natur, weil wir von ihr als Lebewesen abhängen; es kann eine Materie ohne Geist geben, aber keinen reinen Geist. Wenn wir in figurativer Weise sagen, dass der Kreis zwischen Sinnlichkeit und Intellekt ein Ganzes darstellt, dann ist dieses Ganze die natürliche Welt, von der wir als rationale Tiere ein Minderheitssegment sind. Der Kreis teilt sich nicht in zwei gleiche, sondern ungleiche Hemisphären, deren Verbindung oder „Wiedervereinigung" problematisch ist. Daher ist die Beziehung zwischen Natur und Geist nicht direkt und harmonisch, sondern eher umwegig, entzweit, prekär. In dem späteren Werk Die Stufen des Organischen und der Mensch werden die Konsequenzen dieser Asymmetrie folgerichtig deduziert und in der Figur der Exzentrizität, der vermittelten Unmittelbarkeit, der künstlichen Natürlichkeit, kondensiert.3 In der „Einheit" überwiegt eigentlich die symmetrische Korrespondenz 41 Geist-Materie, die wohl auf die Idee des Mikrokosmos - der Mensch als Spiegel des Alls - zurückgeht (Plessner 1923a, 293 ff.). Das Naturprimat heißt hier einfach Sinnesdifferenzierung, nicht mehr, aber auch nicht weniger; in der Tat ist die moderne Philosophie „dem Problem der sinnlichen Materie in ihrer Differenzierung nicht gewachsen gewesen, hat es nicht einmal als philosophisches Thema erkannt." (Plessner 1923a, 32) Es ist offensichtlich, dass die Worte nicht das ausdrücken, was Musik oder Tanz ausdrücken, mit denen es andererseits schwierig ist, wissenschaftliche Nachweise anzustellen, oder auch einen Geruch, Geschmack oder eine Liebkosung wiederzugeben. Aber wenn es darum geht, zu erklären, weshalb die Dinge so sind, erweisen sich diese Tatsachen als nicht mehr so offensichtlich. Die Tatsache der sinnlichen Spezialisation, die heute auch 3 Hier liegt der fortdauernde Kantianismus Plessners, trotz aller Nähe zu Schelling und Hegel. Die idealistische Naturphilosophie, die Idee einer metaphysischen Identität Natur-Geist wird durch die Hervorhebung der unheilbaren Spaltung aufgelockert, die der Mensch innerhalb der Natur einführt: um dann ewig diese Diskontinuität einebnen zu müssen. Phainomena 28 | 108-109 | 2019 neurologisch bewiesen ist, ist der einzige Boden, um eine Lösung zu finden. Wie bei den Fremdsprachen gibt es auch hier eine Grenze der Übertragbarkeit unter den Kulturformen wie unter den Sinnregionen. Alles kommt darauf an, diese merkwürdige Ähnlichkeit zu ergründen. Kant versuchte, die jeweiligen Grenzen des Verstandes und der Sinnlichkeit, wie auch die Legitimität ihrer Verknüpfung, aufzuzeigen. Hier gilt es dieses Programm erweiternd fortzuführen, indem der Verstand nicht bloß als Kategorienapparat, sondern als Inbegriff von Sinnproduktionen, die Sinnlichkeit nicht als neutraler Informationsträger, sondern als Offenbarung des Realen interpretiert werden. Dazwischen stehen die Kulturbildungen, die von den unterschiedlichen Verknüpfungsmöglichkeiten Form-Materie Beleg geben. Daher gilt: Die Ästhesiologie des Geistes ist die Wissenschaft von den Arten der Versinnlichung der geistigen Gehalte und ihrer Gründe. Sie zeigt, dass zu bestimmten Sinngebungen bestimmte sinnliche Materialien 42 nötig sind und warum keine anderen möglich sind. Infolgedessen ist sie der gegebene Weg zur Deutung der Mannigfaltigkeit der sinnlichen Modalitäten. (Plessner 1923a, 278). 3. Topik des Sinns Einen ähnlichen Ansatz, wie Plessner wiederholt erklärt (1923a, 190; 283-305; 1970, 381),4 stellt das kantische Schematismusproblem dar, also die Stelle der ersten Kritik, wo versucht wird, über die transzendentale Deduktion des Zusammenhangs, der die Kategorien mit der Intuition verbindet, hinauszugehen, um den Prozess ihrer tatsächlichen Anwendung zu erklären. In der Anwendung kann man zwei Aspekte unterscheiden; 4 Der Einfluss Kants, erinnert Plessner im Rückblick, „zeigt sich deutlich an der Rolle, die der Schematismus der Einbildungskraft in der Einheit der Sinne spielt." (Plessner 1975, 318). Dennoch übergehen umfassendere Studien zur Sinneslehre das kantische Modell, dem Plessner gefolgt ist (Schneider 1989; Muhl 1997; eine Andeutung nur in Lessing 1998). Wie ich zu beweisen versuche, geht es nicht um ein philologisches Bedenken, sondern um einen entscheidenden Leseschlüssel für das korrekte Verständnis des Plessner'schen Projekts. Marco Russo die Zusammengehörigkeit aufgrund einer Gleichartigkeit von Begriff und Perzept, und die operative Regel, in der sich diese Zusammengehörigkeit zeigt. Zwischen der extremen Allgemeinheit der Kategorien und der extremen sinnlichen Vielfalt muss es ein vermittelndes Element geben, das ihre gegenseitige Übereinstimmung und die entsprechende Verwendung einer bestimmten logischen Form garantiert, um das Sinnesmaterial sinnvoll zu konfigurieren. Zwischen dem Begriff des universellen Dreiecks und den empirischen Dreiecken ist das Schema des Dreiecks, ein Prototyp, dank dem ich nicht nur die verschiedenen empirischen Dreiecke erkennen, sondern auch unzählig viele andere zeichnen kann, weil ich die Regel für die Konstruktion dieser Figur beherrsche (Kant 1787, B 179-180). Die Schemata sind ein Produkt der Einbildungskraft; dank ihrer synthesis figurata vom empirischen Stoff wird nicht ein mentales Bild hervorgebracht, sondern ein „allgemeines Verfahren", um alle möglichen bildlichen Varianten eines Begriffs zu ermöglichen. Diese Schemata „realisieren" den Intellekt, verwandeln die auf Sinnlichkeit angewandten Kategorien und Begriffe in modulierbaren Typen, Modellen, Klassen, Serien, Graphemata, also in bezeichnende Einheiten, deren 43 Grammatik, also deren Kodierungs- und Dekodierungsverfahren bekannt sind (oder eben durch diese Operationen bekannt werden).5 Da Kant die mathematische Wissenschaft der Natur als Modell hatte, konnte er die Materie neutralisieren und nur die epistemischen Kategorien einbeziehen, die bei der quantitativen Bestimmung von Menge, Maß, Gestalt, Aufeinanderfolge der Materie nützlich waren. Betrachtet man dagegen andere Formen des Wissens und andere Kodierungsarten, so tauchen die qualitativen Aspekte der Materie wieder auf. Einer größeren Vielfalt der Materie entspricht eine größere Vielfalt der Sinneseigenschaften. Es darf also nicht verwundern, „dass es gerade die Geisteswissenschaften sind, deren Erkenntnistheorie zu einer Theorie der sinnlichen Materie hinführt und uns den Sinn für die physische 5 Es muss gesagt werden, dass bei Kant wie auch bei Plessner eine explizite Thematisierung der Schemata als Zeichen- oder Symbolsystemen fehlt. Aber solche kognitiv-semiotische Lektüre ist die einzige kohärente Folge des ganzen Schematismusproblems (die Suche nach einem konkreten Mittelglied zwischen Geist und Körper), wie andererseits an der Konkordanztafel zu merken ist und noch deutlicher in dem späteren Begriff der Verkörperung. Phainomena 28 | 108-109 | 2019 Organisation des Menschen aufschließt" (Plessner 1923a, 284). Die Analyse der Kultur verbindet uns wieder mit der Natur, da sie diese der mathematischen Abstraktion entzieht und ihr die ganze lebendige Vielfalt zurückgibt. Hinter Plessner steht die ganze kantische Tradition von Herder bis zu Husserl, die versucht hat, sowohl die Metaphysik als auch die Wissenschaft in eine ihnen beiden zugrundeliegende Theorie der Erfahrung zu verwandeln. Man sieht also die Herder'sche Logik des Sinnlichen, wo der Übergang der sinnlichen zu den begrifflichen Prototypen verfolgt wird, die eine Spur ihrer Herkunft in den verschiedenen Arten von Zeichen (sprachlichen, akustischen, visuellen usw.), in denen sie sich äußern, bewahren. Man sieht die neukantische Forschung über die verschiedenen Werte und logisch-kategorialen Bedingungen, die die Natur- und Geisteswissenschaften untermauern. Man sieht gleichfalls die phänomenologische Analyse der Stile der Erfahrung, das heißt, die regionalen Typologien, mit denen das Sein zum Ausdruck kommt und dem wir einen Sinn mit den entsprechenden intentionellen Richtungen zuteilen. Im Schematismus erblickt Plessner ein gemeinsames Motiv, sowohl 44 in der Fragestellung als auch in der Antwort, das Moment der Synthesis dieser Instanzen, also die faktische, operative Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Intellekt. Die kulturellen Formen sind Schematisierungen, Synthesis zwischen Begriffen und Wahrnehmungen, aufgrund einer Gleichartigkeit. Die Schematisierungen sind Symbolisierungssysteme, die aber eine sinnliche Verwurzelung haben, wie die Tatsache beweist, dass sie nur begrenzt übertragbar sind. Grenzstellend ist nicht die prote hyle, die verworrene UrMaterie, sondern, im Gegenteil, ihre qualitative Ausdifferenzierung. Der kantische Zusammenhang aufgrund einer Gleichartigkeit zwischen Kategorie und Empirie wird von Plessner verallgemeinert. Neben der Kategorientafel wird eine Haltungstafel und eine Sinnentafel aufgestellt, und das wird auf die Tatsache bezogen, dass seit je die menschliche Kultur in Sphären (Wissen, Kunst, Sprache) eingeteilt ist und dass wir jeden Tag eine Grundtastatur von Zuständen (Emotion, Abstraktion, Kommunikation) erleben. Was Kant über die Verbindung via Schematismus von Kategorien und Sinnlichkeit sagte, macht Plessner zu einem allgemeinen Muster aller Erfahrungsmodi. Marco Russo Das Ergebnis ist eine komplexe Konkordanztafel, die so etwas wie eine universale Topik des Sinns6 darstellt: die Bestimmung der wesentlichen modi significandi, d.h., der verbalen und nicht verbalen Modi, in denen ein Sinn entsteht und verstanden wird. Etwas steht nicht einfach da, um rezipiert und verarbeitet zu werden, sondern präsentiert sich auf eine bestimmte Weise und in einem bestimmten Kontext, zu dem wir mit-gehören und -machen. Deswegen sind Kulturformen, Auffassungsmodelle und Verhaltensweisen nicht rein konventionell und willkürlich. Gewissen Zügen der wahrgenommenen Realität entsprechen gewisse Sinnkonfigurationen: die Weisen des In-der-Welt-Seins. Angenommen, dass unter „Sinn" das Ganze der jeweiligen Relationen zu verstehen ist, könnte man die vereinfachte Konkordanztafel folgendermaßen darstellen: Typologie der Auffassung Kodierungsform/ Methodisches Verfahren Typologie des sinnlichen Gehalts Haltungen Kulturelle Formen Identifikation durch strenge Begrifflichkeit Schema/Konstruktion Darstellbar (Gestalten) Handlung Wissenschaft 45 6 In Wirklichkeit spricht Plessner von einer „Topologie des Bewusstseins" (Plessner 1923, 54; 303). Dieser Ausdruck bietet sich für subjektivistische Missverständnisse geradezu an. Ich bevorzuge deshalb Topik des Sinnes, da er die doppelte, sinnliche und geistige Bedeutung von Sinn ausschöpft. Plessner musste außerdem die Stelle vor Augen haben, wo Kant von der Wichtigkeit spricht, die Bedeutung eines Wortes angemessen zu verwenden. Die Herkunft eines Begriffs und der Gebrauch, den wir von diesem machen, müssen immer genau angegeben werden: seine sinnliche und rein geistige, reale oder figurative, direkte oder indirekte Position: „Auf solche Weise wäre die Beurteilung dieser Stelle, die jedem Begriff zukommt, und die Anweisung nach Regeln, diesen Ort zu bestimmen, die transzendentale Topik." (Kant 1787, B 324) Kant verweist seinerseits ausdrücklich auf die logisch-rhetorische Tradition, wo die Topik die Kunst ist, für ein bestimmtes Thema die geeignetsten Argumente zu finden. Es ist hinzuzufügen, dass die Topoi sich in Formeln, Schemata, Modulen, Tropen verdichten, die den Gedankengang einer Rede, also ihren Ton und ihren Gesamtsinn, lenken. Es ist, u.a., zu erinnern, dass Thomas von Erfurt im 14. Jahrhundert De modis significandi schrieb, also eine artikulierte Lehre der Modalität, wodurch ein Wort etwas bedeuten kann, in Bezug sowohl auf die modi essendi als auch auf die modi intelligendi. Phainomena 28 | 108-109 | 2019 Konturierung durch diskursive Bedeutungen Syntagma/Glie-derung Präzisierbar (Phoneme, Schriften) Kundgabe durch Zeichen Sprache Deutung durch Assoziationen Thema/Proportion Prägnant (erfüllende Empfindungen) Ausdruck Kunst Es sei darauf hingewiesen, dass hier der Schematismus nur einer der Konfigurationsmodi, und zwar der wissenschaftliche, des Sinns geworden ist. In den anderen kulturellen Formen nimmt die Schematisierung verschiedene Namen an, da sie sich unterschiedlich vollzieht, sowohl als Organisationsverfahren des sinnlichen Materials als auch als Interpretation dieses Materials. Die Wissenschaft versucht alles in abstrakte Zeichen, Diagramme, Formeln, Nummern zu übersetzen; es handelt sich um ein überwiegend darstellendes Verfahren, das die Dinge auf möglichst klare Weise vor Augen führt. Die Sprache benutzt dagegen einen phonetischen Code, 46 dessen Stärke in der flexiblen Gliederung und kombinatorischen Vielfalt seiner Zeichen liegt, weshalb sie nicht nur die verschiedensten Inhalte, sondern auch deren verschiedensten Nuancen auszudrücken vermag. Die Kunst schöpft schließlich alle Möglichkeiten der Materie aus, mit der sie arbeitet, deshalb verfügt sie über keinen festgesetzten Code, sondern nimmt teil und lässt sich von den innersten Eigenschaften der Materie führen. Daher arbeitet sie mit Proportionen, Symmetrien, Assoziationszusammenhängen, durch die das Thema des Werkes (das offensichtlich auch eine reine Idee sein kann) in aller Prägnanz sichtbar wird. Die kulturellen Formen übermitteln unterschiedliche Sinnarten, die unterschiedliche geistige und physische Leistung verlangen, und verweisen letztendlich auf ein Grundspektrum von Aspekten der materiellen Welt. Es handelt sich natürlich nicht um eine strenge Einteilung; im Gegenteil, es gibt meistens einen beständigen Übergang von der einen zur anderen Ebene. Die Sinne wirken synästhetisch; die kulturellen Formen, die Verhaltensweisen verständigen sich untereinander, gleichen sich aus und bestätigen sich gegenseitig. Aber immer innerhalb bestimmter Grenzen, denn wissenschaftliche Methoden und Begriffe sind nicht mit den künstlerischen Marco Russo Methoden und Ideen vergleichbar, während der verbalen Grammatik sowohl in der wissenschaftlichen Darstellung als auch im künstlerischen Ausdruck kommunikative Grenzen gesetzt sind. Unser Erlebnis, die Art, wie wir uns einstellen und verstehen, ändert sich sehr, je nach der kulturellen Form, in der wir gerade handeln. Die Kunst ist emotionaler und suggestiver, die Wissenschaft unbeteiligter und strenger, das hängt von den entsprechenden operativen Vorgehensweisen ab, davon, wie sie ihre Inhalte bearbeiten. Und dies hängt zuletzt vom Wesenszusammenhang zwischen Wissenschaft und Vorstellung, zwischen Exaktheit und Eigenschaft der optischen Materie ab. Während sich die Kunst durch jedes Sinnesfeld ausdrückt, weil sie die materischen Komponenten hervorhebt, die mit unserem individuellen Erlebnis am meisten in Resonanz geraten: So wie in der Sphäre der Propriozeption,7 lässt sie die pathische Schicht, die Befindlichkeit hervortreten, die das Dasein im Hintergrund begleitet. Unter den Künsten ist diejenige, die am empathischsten die Materie durchdringt, die Musik, aufgrund der besonderen Eigenschaften der Töne. Deshalb bekommen Auge und Ohr bei Plessner die Bedeutung 47 einer transzendentalen Deduktion auf ästhesiologischen Grundlagen des Zusammenhangs von Wissenschaft-Exaktheit-Abstraktion-zielgerichtete Aktion und Kunst-Ausdruckskraft-Empathie-emotionale Bewegung. Zum Beweis dieses Strukturzusammenhangs dienen die Geometrie und die Musik, zwei Grenzfälle, wo die Verarbeitung der Sinneinheit direkt in den Qualia wurzelt, in den phänomenalen Modalitäten der Materie. Somit gelangen wir zur folgenden Tabelle: 7 Kutane Sensibilität, Druck, Temperatur, Geruch, Geschmack, Berührung, Schmerz, Genuss ...: „ihr Feld ist das körperliche Sein des eigenen Leibes und der fremden Dinge. Ihre Weise ist die Vergegenwärtigung des Seins im Erleben. [...] In der bloßen Vergegenwärtigung, im bloßen Affizieren des Bewusstseins, wie der alte Schulausdruck lautet, liegt ihr Sinn." (Plessner 1923, 285) Phainomena 28 | 108-109 | 2019 Akustische Eigenschaften Visuelle Eigenschaften Impulsivität, Voluminosität, Vibration, Rhythmus Strahligkeit, Linearität, Unbeweglichkeit, Planarität Räumliche Unbestimmtheit (Vibration) Räumliche Genauigkeit: Punkte, Geraden, Figuren, Konturen Umhüllende, einkreisende Ausdehnung durch Überlagerung von Registern Frontale Ausrichtung, Direktionalität des Lichtstrahls, Kombinationen durch Kontiguität Emotionale Resonanz mit der Stimme, dem Atmen, der Muskelspannung, dem Rhythmus der Bewegungen. Affektions-zustand, Zustand der Ergriffenheit. Geringe empathische Resonanz, panoramatische Erfassung des Blicks. Die Figuren führen zum Unterscheiden, Verbinden, Messen, Bewerten Freie Bewegung des Körpers, die sich nach der Tonentwicklung richtet. Mimisches, gestisches, pathisches Handeln Zielgerichtete Bewegung des Körpers, der als Instrument dient, um einen Zweck zu erreichen. Rationales und funktionelles Handeln Geringe zeitliche Beständigkeit, keine Kopräsenz Ganzes-Teil: keine Objektivierung, deskriptive und illustrative Ungenauigkeit Zeitliche Beständigkeit, Kopräsenz Ganzes-Teil: Objektivierung, Bildung von beständigen Entitäten, deskriptive und illustrative Genauigkeit 48 4. Verkörperung Für eine Darstellung von Plessners Sinneslehre bleibt die systematische Fassung von 1923 wegweisend. Auch wenn einige Probleme auf ihr lasten, die sie verworren erscheinen lassen, sind ihr theoretischer Kern, ihre Ziele und Entwicklungsmöglichkeiten hier am reichsten fassbar. In der „Anthropologie der Sinne", dem einzigen Text, der das Jugendwerk ausdrücklich wieder aufnimmt, erkennt Plessner die scholastische Beklemmung der „Einheit", und trotzdem unterstreicht er unberührt ihren Grundansatz, der mit der Schematismusfrage identisch ist, die nun die konkretere Bezeichnung „Verkörperungsfunktion der Sinne" erhält. Wenn der Mensch der Ort ist, an dem sich Natur und Geist begegnen, müssen die Bruch- und Nahtstellen untersucht werden, in denen das Ineinandergreifen naturhafter und geistiger Gefüge stattfindet. Deshalb muss die Hermeneutik, die Handlungen, mit denen wir die Bedeutungen der Dinge interpretieren, auf das sinnliche Substrat ausgedehnt werden. Welche Rolle spielen die Materialien der sinnlichen Empfindungen beim Aufbau geistiger Gefüge? Und nun: Eine Marco Russo solche „Frage nach den Bedingungen der sinnlichen Verkörperungen des Geistes wäre leer, wenn keine inneren Bindungen zwischen sinnlichem Substrat und geistigen Gebilden beständen, wenn die sinnlichen Modi im Hinblick auf ihre Verkörperungsfunktion an geistigen Gebilden einander beliebig vertreten könnten." (Plessner 1970, 371) Das Erforschen, wie sich der Geist verkörpert, wird durch das Vorurteil verhindert, dass die Sinne mit der abgeschlossenen Übertragung des physischen Signals in der geistigen Tätigkeit keine Rolle mehr spielen; und sie ist auch verhindert worden, weil Sinne und Bedeutungen nicht an besondere Wahrnehmungen gebunden scheinen. Bei jeder Tätigkeit, die wir ausüben, erscheinen die Dinge mit dem Material unserer Empfindungen „wie mit einem Zeug überzogen und gepolstert" (Plessner 1970, 379). Ein neutraler hyletischer Überzug des Objekts, das in ein Netz von geistigen Bedeutungen eingespeichert ist. Auf diese Art und Weise wird der physich-geistige Zusammenhang Natur-Kultur aber noch rätselhafter. Daher die erneute Aufforderung, die Grenzfälle zu betrachten, in denen die Besonderheit des Materials nicht vernachlässigt werden darf und die 49 Modalitäten des Bedeutens nicht untereinander austauschbar sind. Und daher der erneute Verweis auf Kant. Schreiben, Zeichnen, Schematisieren, graphisch Darstellen und verwandte Operationen bergen ein eminentes Problem, das Kant im Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft berührt hat [...] Wird die Phantasie nicht zu anderen, der Schematisierung verwandten, nur andersartigen Methoden der Vermittlung, Verdichtung, Konkretisierung aufgerufen und auch imstande sein, wenn es sich um Durchführung einer Idee im künstlerischen oder praktisch-politischen Sinne handelt? Fällt aber dann nicht, wie im Falle des Schemas auf die bildhafte Anschauung Licht auf andere Modi, für die der Ausdruck Anschauung nicht passt? (Plessner 1970, 381). Für Kant ist der Schematismus das Studium der Verwirklichung der Kategorien; für Plessner ist die Verkörperung das Studium der Verwirklichung Phainomena 28 | 108-109 | 2019 des Menschlichen in seiner ganzen Tragweite (Plessner 1970).8 Im Vergleich zu 1923 fehlt das systematische Gerüst, aber die Idee einer materialen Topik des Sinns bleibt unberührt. Plessner bezeichnet sie nun auch als radikale Poetik des Noein, nicht weil er einen effektvollen Titel geben, sondern weil er den pragmatischen Aspekt betonen will, mit dem sich der lebendige Geist formt und umformt (Plessner 1970, 382). In den Vordergrund rückt nun die Sensomotorik, die Relativität der Sinne zur Handlung, dem performativen Moment, das heißt, das, was wir eigentlich tun, wenn wir sprechen, schreiben, zuhören, darstellen, wenn wir die zahlreichen Rollen des alltäglichen Lebens als Liebende, Freunde, Berufstätige, Zuschauer, Zuhörer usw. annehmen. Die Verkörperung ist die alltägliche Menschenwerdung: bei sich selbst im Anderssein, würde man mit Hegel sagen, ohne aber niemals zur Ruhe kommen zu können. Die Identität bleibt das unstabile Gleichgewicht zwischen unterschiedlichen Faktoren, das Ergebnis einer Dialektik ohne Synthese (genau Hegels schlechte Unendlichkeit!). Sogar die physische Identität erfordert ein langes Training, durch das wir in ein richtiges Gleichgewicht mit unserem Körper kommen. 50 Mit diesem Sich-Hineinversetzen in etwas wird das Dasein im wörtlichen und symbolischen Sinn konkret, im Sinn des Sich-Materialisierens und in dem Sinn, eine Form anzunehmen (Plessner 1961, 195-209). Auch die niedrigen Sinne - die mit einer geringeren kognitiven Auflösung und geringeren Objektivierung, wie Geruch-, Geschmack- und Tastsinn, das Spüren des eigenen körperlichen Zustands verschaffen - werden in diese Analyse einbezogen, mit der expliziten Aufforderung, wirklich jeden kulturellen Ausdruck zu betrachten, vom Sport bis zur Kleidung, von den veränderlichen und atmosphärischen Situationen bis zu den stark kodifizierten Ritualen (Plessner 1970, 383-384). Auch wenn alle diese Aspekte 1923 schon auftauchen, können sie erst jetzt aufgrund eines bewusst anthropologischen Ansatzes hervortreten, der sogar in das Gebiet der kulturellen Anthropologie vordringt und nicht nur die innere Vielfalt der Kultur erfasst, sondern auch die verschiedenen Kulturen miteinander vergleicht (Plessner 1961, 188-189). 8 „Also sind die Schemata der reinen Verstandesbegriffe die wahren und einzigen Bedingungen, diesen eine Beziehung auf Objekte mithin, eine Bedeutung zu verschaffen [...]. Diese Bedeutung kommt ihnen von der Sinnlichkeit, die den Verstand realisiert, indem sie zugleich restringiert." (Kant 1787, B 185-187) Marco Russo Dieser Ansatz spiegelt sich auch in der ausgewählten Methode wider, in der Tat Plessner bemerkt, dass die Sinne verstummen, wenn eine starre Methode uns nur dazu führt, Theorien über sie aufzustellen oder sie Laborforschungen zu unterziehen. Da die Sinne an die sensomotorische Praxis gebunden sind, kann ihr Sinn nur am Werk entdeckt werden. Auch derjenige, der sie analysieren will, muss wissen, dass er daran nicht unbeteiligt ist, dass er sich in gewisser Weise aufs Spiel setzen, den richtigen Einklang zwischen Abstraktion und Empathie, Unbeteiligtheit und Teilnahme finden muss. Nur so kann das performative Element der Sinne erfasst werden. „Als Modalität des Daseins geben die Sinne ihr Geheimnis nicht preis. Erst in der Arbeit mit und an ihnen zeigen sie, was sie können und was ihnen verwehrt ist." (Plessner 1970, 393) Wenn diese kulturanthropologische Offenheit eine philosophische Grundlage behalten soll, muss sie im Bereich der Kritik der Sinne eingegliedert bleiben. Die philosophische Grundlage ist das Problem der Verbindung zwischen Körper und Verstand, Natur und Kultur; der Schematismus ist der Versuch, eine Antwort zu finden, indem er analysiert, wie und wo der Verstand Gestalt annimmt, wie und wo die Natur Sinn bekommt. Die kulturellen 51 Performances - d.h., alles was wir von Natur und Geist vorhanden haben -9 kommen in ihren semiotisch-hermeneutischen, aber auch ontologischen und epistemischen Aspekten in den Betracht. Schon in der Topik von 1923 verflechten sich das Mind-Body-Problem mit der Kulturphilosophie, die klassischen Erkenntnisfragen mit Fragen nach den Verhaltens- und Kommunikationsweisen. Töne, Lichte, Gerüche, Härte, Weiche, Temperatur, aber zugleich Graphien, Zahlen, Wörter, Bilder, Gesten, Mimik, und noch Ideen, Begriffe, Phantasie, Emotionen, Diskurse: alles müsste synoptisch überdacht werden. 9 Hierin liegt die Bedeutung der an Kant angelehnten indirekten Methode, der den direkten Realismus durch eine Forschung über die Erkenntnisformen ersetzt hatte. Anstatt die sinnlichen Qualitäten oder die geistigen Fähigkeiten abstrakt zu isolieren, gilt es zu beobachten, was die menschliche Kultur im Laufe der Geschichte realisiert; dann hat man „nicht stumme Rückstände einer Analyse, sondern lebensfähige, sinnvolle Produkte einer Synthese von Geist und Sinnesmodalität" vor Augen (Plessner 1923a, 295). Phainomena 28 | 108-109 | 2019 Das scheint zu viel auf einmal. Aber ein breitgefächerter Einblick ist das Proprium der Philosophie. Ferner bietet der Schematismus ein einheitliches Aufbauschema. Es ist übrigens kein Zufall, dass dieses kantische Kapitel im kognitivistischen Paradigma, das den Zusammenhang zwischen Physiologie, Biologie, Neurologie und geistigen und kulturellen Patterns untersucht, an Aktualität gewinnt (Brooks 1996). Begriffe wie Modell, bildliche Darstellung, Handlungsschema, sensomotorische Korrelation dienen zur Darstellung sowohl der inneren Aktivität des Verstands als auch der äußeren Operationen, Verhaltensweisen und Manipulation von Symbolen. Das, was dagegen fehlt, ist eine Erweiterung der Schematisierungen, die über die rein kognitiven Leistungen hinausgehen. 5. Die Kritik der Sinne als anthropologische Bestimmung der Biophilosophie Es ist bekannt, dass Plessner seine Philosophie der Sinne und Lebensphilosophie in den Stufen einheitlich darstellt. Ob diese einheitliche Ebene solide ist, ist fraglich. Ich vermute, dass es im theoretischen Aufbau zwar eine starke Einheit gibt (was Lessing 1998 sehr gut belegt hat), die aber nicht entsprechend artikuliert worden ist, weil die Lebensphilosophie als Begründung der Anthropologie, also einer eigenständigen philosophischen Richtung, vermutlich den ganzen Bereich belegt hat. Unter diesem Gesichtspunkt mussten sich die überschwänglichen Ambitionen der Sinneslehre mehr als ein Hindernis als eine Hilfe erweisen. Darüber hinaus erscheinen meines Erachtens in keiner späteren Arbeit, weder in „Sensibilité et raison" (1937) noch in der „Anthropologie der Sinne", wo Plessner auf die Ästhesiologie eingeht, Anmerkungen zu den systematischen Zusammenhängen mit den Stufen. Somit ist es besonders bezeichnend, dass Plessner in der „Anthropologie der Sinne" und umfassender in „Die Frage nach der Conditio humana" einen genauen begrifflichen Zusammenhang zwischen Exzentrizität und Verkörperung herstellt. Exzentrisch ist das Wesen, das „sich nur im Umweg über andere und anders als ein Jemand hat." Vor dem Umweg existiert es buchstäblich nicht, es bleibt im Zustand der tierischen Unbewusstheit. Der Umweg besteht in einer Reihe von Verkörperungen, im Eintreten in ein Netz von Vermittlungen, unter denen Plessner „Sprechen, Handeln, variables Marco Russo Gestalten" nennt, das heißt, die klassischen ästhesiologischen Beispiele, und dann allgemeiner die Institutionen und die sozialen Rollen (Plessner 1961, 190). Über den Zusammenhang Exzentrizität-Verkörperung sagt er nicht viel mehr, noch erklärt er, wie die Verkörperungen zu betrachten sind, ob mehr aus einer soziologischen oder ästhesiologischen Perspektive, mehr unter dem Aspekt der geschichtlichen Anthropologie oder unter dem der Analyse der symbolischen Formen. Trotzdem haben wir hier einen wichtigen Anhaltspunkt, um einige Überlegungen zum Zusammenhang der beiden grundlegenden theoretischen Werke Plessners anzustellen. Ich habe schon an anderer Stelle die These vertreten, dass die Kritik der Sinne der anthropologische Bestimmungsort der in den Stufen dargestellten Logik des Lebendigen ist (Russo 2007). Es sind die Stufen, sagte ich zur Provokation, die sich in den von der „Einheit" geöffneten theoretischen Rahmen einfügen und nicht umgekehrt. Es war eine Provokation, um die Bedeutung der Sinneslehre für das Verständnis der Plessner'schen Philosophie zu betonen, während die „Einheit", von der wesentliche Teile in die Stufen eingegliedert worden sind, für gewöhnlich als 53 Jugendversuch betrachtet wird. Ich glaube nicht, dass dem so ist, und deshalb habe ich mich mit dem theoretischen Kern des Werkes von 1923 näher befasst. Wenn Plessners Arbeit auf einer Erneuerung der Naturphilosophie gründet, auf der Suche nach Instrumenten, um sich die Verflechtung von Biologie und Kultur bewusst zu machen, bleibt die „Einheit" zweifellos ein Schlüsselbuch. Nicht nur wegen des Themas, sondern auch wegen ihres Aufbaus: Die Schematismusfrage soll Aufschluss darüber geben, wie sich der Austausch mit der Natur, über das rein physiologische Niveau hinaus, tatsächlich vollzieht. Abgesehen von der Zwangssystematik bleibt die Verflechtung der Modalitäten zwischen Verstand, Körper, Materie und kulturellen Formen bei Plessner ein unabdingbares theoretisches und analytisches Motiv, und aufgrund der Vielfalt der Interpretationsebenen, die sie gleichzeitig zulässt, weiterhin aktuell. Abgesehen von der Provokation, glaube ich, dass die menschlichen Verhaltensweisen in den unmittelbaren wie in den kultivierten Formen auf dem von der „Einheit" eröffneten Weg interpretiert werden. Das bedeutet, dass der kategoriale Aufbau der Logik des Lebendigen seine anthropologische Realisierung in der Sinneslehre findet. Was aus der Natur wird und wie sie Phainomena 28 | 108-109 | 2019 vom Menschen erfahren wird, können wir nur verstehen, wenn wir die geschichtlichen Mikroweiten in Betracht ziehen. Wenn wir als Beispiel die drei anthropologischen Gesetze nehmen, haben wir ein allgemeines theoretisches Modell, das es in der Praxis zu überprüfen gilt, indem man beobachtet, wie sie sich und wo sie sich umsetzen: Was die Menschen tun, wie sich die Kulturen in Zeit und Raum gestalten. Dazu müssen die Besonderheiten der kulturellen Erscheinungen wahrgenommen werden: was die sinnliche Materie, was der Gedanke wird, wie buchstäblich eine menschliche Welt in der Natur entsteht mit allen Entsprechungen und Brüchen, die wir stets verzeichnen. Ohne Sinneslehre hätten wir eine kulturelle Anthropologie, aber keine philosophische Anthropologie. Oder wir hätten eine allgemeine Theorie des Menschen - die Stufen -, die an einem Übermaß an explikativer Kraft leidet. Die Biophilosophie könnte zwar jedes Phänomen erklären, aber als ihre logische Konsequenz. Sie würde sich auf abschließend-theoretische Strukturformeln versteifen, denen ein aufschließend-theoretischer Wert fehlt, weil ihm die konkreten menschlichen Lebensformen mit ihren inneren Gliederungen und 54 ihren charakteristischen Lücken, Einschnitten und Umwandlungen fehlen. Und das gilt auch für die autoreflexive und hermeneutische Komponente der deskriptiven Modelle. Sie ist zwar in der Form eines Paradoxes in den Formeln der Biophilosophie vorhanden, aber sie müsste von Mal zu Mal in den jeweiligen Kontext eingefügt werden. Sonst wird das Paradox ein Sophismus ohne Eindringungskraft. Das Paradox muss eine faktisch-theoretische Verwicklung zeigen, indem man sich jedes Mal fragt: Was beschreibe ich gerade, mit welchen begrifflichen, semiotischen Instrumenten, mit welchen Ausdrucksmitteln, mit welchem Verallgemeinerungsgrad .. .10 Die jeweiligen Verkörperungen der Exzentrizität aufzuzeigen: das ist meines Erachtens die wahre Antwort zum Zusammenhang von „Einheit" und 10 Damit hat sich Krüger (2009, 144-145) eingehend beschäftigt. Und dennoch unterschätzt er meines Erachtens den theoretischen Aufbau der „Einheit", der sich in der Schematismusfrage zusammenfassen lässt, mit dem daraus folgenden Ungleichgewicht auf der semiotischen und geschichtlichen Seite. Handelt es sich immer noch um eine Sinneslehre oder nicht? Und wenn ja, dann warum, mit welchen Folgen, auf welcher Grundlage? Marco Russo Stufen.11 Sie ist der Punkt, wo sich die exzentrische Logik des Lebendigen im realen Dasein, im bestimmten Kontext zeigt, immer an der schwankenden Grenze zwischen Universalem und Besonderem, Natur und Geschichte, Sinn(lichem) und Unsinn(lichem). Wir sollten diese Spur wiederverfolgen und sie dazu benutzen, die von Plessner zurückgelegten Wege und „Holzwege" wieder zusammenzuführen. Nur so kann sein Weg weiterführen. Bibliography | Bibliografija Brooks, Andrew. 1996. Kant and the Mind. Cambridge: Cambridge University Press. Lessing, Hans Ulrich. 1998. Hermeneutik der Sinne. Freiburg/München: Alber. Kant, Immanuel. 1787. Kritik der reinen Vernunft. Hamburg: Meiner, 1990. Krüger, Hans Peter. 2009. Philosophische Anthropologie als Lebenspolitik. Berlin: De Gruyter. Mühl, Martin. 1997. Die Handlungsrelativität der Sinne. Bodenheim: Philo 55 Fine Arts. Plessner, Helmuth. 1923a. „Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes." 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