Werner Jauk Musikalisches Sprechen Interaktion - Strukturierung durch kommunizierendes Verhalten Einleitung »Musik als Sprache« impliziert meist die Betrachtung von Musik als Wortsprache, die ein eindeutiges Codesystem zur Vermittlung von Gedan- ken darstellt und letztlich Denken repräsentieren dürfte. Die schriftlich fi- xierte Sprache als der am meisten kontrollierte Code, legt formalisiertes Denken frei u n d ermöglicht exakten forschenden Zugang. Das Werk ver- leitet zur Analogiebildung und damit zur Untersuchung des mit der schrift- lichen Fixierung von Musik en t s tandenen vollkommensten Code e iner musikalischen Idee, oftmals willkürlich algorithmisch geregelt. Unabhängig voneinander ge fundene Parallelen in zutiefst l iegenden Strukturen der Sprache u n d Musik verstärken die experimentel l or ient ier te Forschung darin, j ene im Umfeld von absolutem Verständnis der Musik postulierten Gemeinsamkeiten prüfend zu erforschen. N. CHOMSKY'S (1957,1965, 1968) generative Grammatik basiert dar- auf, daß »at a deep level, all natural languages have the same structure, and this structure tells us something universal about the human intellect« (J. SLOBODA 1985 S. 12), H. SCHENKER's (1935) wertende analytische Be- trachtung von Musik führ t zu dem Schluß, daß »at a deep level, all good musical compositions have the same type of structure, and that this struc- ture reveals to us something about the nature of musical intuition« (J. SLO- BODA 1985 S. 12). Die Tiefe und Allgemeingültigkeit j ene r Gemeinsamkeit in Sprache und Musik läßt vermuten, daß es sich um allgemeine menschliche Äußerun- gen handelt , denen Denken zugrundeliegt. Die Analyse beider, auch der Musik, legt Denken frei. »The same relationship to a musical sequence as a thought bears to a linguistic sequence« (J. SLOBODA 1985 S. 20) ist in der t reibenden Kraft von Spannung — Lösung zu vermuten, wie sie narrativen Strukturen zugrun- deliegt. Im SCHENKER'schen (1935) Ursatz sei dieses Verhältnis (für die abendländische Musik) optimal verwirklicht. Vom Dreiklang der Grundstu- fe, dem »ultimate resting place in music« (J. SLOBODA 1985 S.21) ausge- hend drängt es nach motivierter Irritation wieder zu diesem zurück. Diese Filozofski vestnik, XX (2/1999 - XIVICA Supplement), pp. 349-200 191 Werner Jauk »creation and resolution of motivated tension« (ebd. S. 22) sei die zutiefst- l iegende musikalische Universalität, vergleichbar dem Gedanken in der Sprache. Vor allem die Suche nach parallelen Strukturen impliziert oftmals die Suche im Werk, da »the grammatical structure is actually made more expli- cit in the notated form than in the spoken form (J. SLOBODA 1985 S. 19). Satzzeichen übe rnehmen diese Strukturierung, andere Ordnungsgrößen sind dem Text explizit vorangestellt, die aus dem Sprechen erst zu extrahie- ren sind. Dieser lesende Zugang zur musikalischen Sprache unterschätzt den Informationswert interpretatorischer Größen. Die psychologische Bedeutsamkeit ist Kriterium für den Erklärungswert de r Anwendung des Modells der Wortsprache auf Musik, theoret ischer Annahmen wie experimenteller Befunde über die emotionale Expression im Musikalischen (vgl. W. JAUK 1995) wie schließlich der Über t ragung nonverbaler Kommunikat ion auf das Musizieren. Die Beobachtung des Werdens von Struktur und ihrer Regelhaftigkeit ist der methodische Nut- zen der Analyse freier kollektiver Musizierformen. Auf die Computersimu- lation nonverbaler Kommunikation als Gestaltungsmittel und die Genese künstlerischer Ereignisse durch Interaktion in den technoiden elektroni- schen Künsten soll hingewiesen werden. Musik als Wortsprache f In Anlehnung an J. SLOBODA (1985) wird die psychologische Rele- vanz des hierarchischen Modells von Phonetik, Syntax und Semantik an Parallelen in der Wahrnehmung von Wortsprache und Musik geprüft. Phoneme gelten als kleinste Klangteile der Sprache; sie werden kate- gorial wahrgenommen. Als die Wahrnehmung von Zei tphänomenen ist die W a h r n e h m u n g eine beziehende. Einschwingvorgänge werden erst nach dem Hören des folgenden stationären Anteils »bedeutsam« für die katego- riale Erkennung von Phonemen (I. E. MATTINGLEY, A. M. LIBERMAN, A. K. SYRDAL und T. HAWLES 1971) wie musikalischen Klängen (J. E. CUT- TING, B. S. ROSNER u n d C. F. FOARD 1976). Grundklassifikationskonzepte von musikalischen Klängen sind Tonhö- he und Tondauer. Auch diese werden kategorial wahrgenommen; sprachli- che und musikalische Grundkategorien unterliegen Lernprozessen, abso- lutes Tonhöhen-Hören ist die gelernte Assoziation von Kategorien mit pro- totypischen Frequenzbändern. 350 Musikalisches Sprechen. Interaktion - Strukturierung durch ... Zusätzlich zu diesen Parallelen erhält bereits die Wahrnehmung von kleinsten Einheiten in der Musik eine spezifische Bedeutung. In ihrer Funktion liegt der Unterschied zwischen den kleinsten Teilen der Sprache u n d der Musik. Für Sprache ist das Phonem Mittel zum Zweck, zum Transport von Information, für Musik ist diese kleinste Einheit Mittel zum Selbstzweck. Bei kontextueller Mitbestimmung beider entstehen Bedeu- tungen sprachlicher Einheiten durch das Zusammenfügen der Bedeutun- gen der Elemente, mögliche Bedeutungen musikalischer Einheiten sind nur durch die Stellung der Elemente zueinander, durch Beziehungen gegeben. Die Reihung von Phonemen wie Klängen unterliegt einer sinngeben- den syntaktischen Ordnung. Experimente sowohl mit Sprache (J. A. FO- DOR, T. G. BEVER 1965 und P. LADEFOGED, D. E. BROADBENT 1960) als auch mit Musik (A. H. GREGORY 1978 und J. SLOBODA, A. H. GRE- GORY 1980) belegen die prinzipiell gliedernde Wahrnehmung von Reihen in der Zeit. In der Musik kann die Akzeptanz willkürlich bestimmter musik- theoretischer Ordnungsgrößen durch Lernen nicht ausgeschlossen werden. Wahrnehmung ist prinzipiell relational (G. Th. FECHNER 1859). Die beziehende Wahrnehmung von Tondauerunterschieden sequentieller Töne (H. WOODROW 1951) ist die Wahrnehmung von Rhythmus. Musik ist in ihrer Zeitstruktur durch Beziehungen bestimmt, aber auch in den anderen Dimensionen ihres Gefüges. »Its the relationship of elements to one another within...structures, rather than their temporal or spatial proximity that determines whether or not they are psychologically close« (J. SLOBODA 1985 S 66) Diese Conclu- sión untermauer t j e n e Postúlate wahrnehmungsmäßig, die spätestens seit H. RIEMANN (1914/15) (absolute) Musik als »beziehendes Denken« sehen. Freiheitsgrade in der Sprache bedeuten die Gefahr des Mißverständ- nisses; im Musikalischen können diese Freiheitsgrade das spannungsreiche Spiel mit Erwartungen sein. Für Sprache »is Syntax a vehicle for communi- cat ing knowledge. Art music, in contrast , has no such clearly de f ined function. Syntax becomes, in itself, an object of aestehetic awareness« (J. SLOBODA, 1985 S 38). BERLYNEs experimentelle Ästhetik (1971, 1974) führ t »beziehendes Denken« und die lustvolle Besetztheit von Spannungs-Lösungs-Prozessen zusammen. Im ästhetischen Wohlgefallen ist die subjektive Empfindung von Struktur dem Spannungs-Lösungsprinzip unterworfen. Syntax hat also direkt Bedeutung: Musik kommuniziert Emotion durch kompositorische Strukturarbeit. Zunehmende Komplexität - indiziert als Neuheitswert, als Grad der Abweichung von der Erwartung - der Struktur bewirkt steigende Erregung, 351 Werner Jauk die von Langeweile bis zur Überforderung führt . Ästhetisches Wohlgefallen steht über diese Erregung und entsprechende Hemmprozesse in umgekehrt u-förmiger Beziehung zur Komplexität. Das Erwartete ist das internalisiert Regelhafte. Gerade die Abweichung vom Regelhaften ist es, die nicht nur psychologische Bedeutsamkeit hat, sondern auch allgemein den ästhetischen Wert einer künstlerischen Arbeit bestimmt. Es ist das unterschiedliche Ziel von Sprache und Musik als Informati- onsmedium bzw. Ausdrucksmittel, das bei vagen Parallelen auch auf der Ebene der Syntax wesentliche Unterschiede markiert. Dieses unterschied- liche Ziel wird auf der Ebene der Semantik letztlich deutlich. In Anlehnung an semiotische (Sprach) Theor ien unterscheidet L.B. MEYER (1956) in der Musik »designative meanings« und »embodied me- anings«. Thematische Figuration ist willkürliche Zuweisung von Bedeutung zu einem Symbol; diese »designative meaning« kann ikonisch gestützt sein. Programmatische Musik baut auf ikonische Codes, die im Klanglichen das ausdrücken was sie bedeuten; Ikone markieren den Ubergang von »designa- tive meanings« zu »embodied meanings«. Mit der Untersuchung von Konnotationen der Musik, ihren »embodied meanings«, verläßt man den Wirkungsbereich des Modells der Wortsprache. Konnotat ionen übertragen nicht Informationen, sie drücken unmittelbar aus. Musik als Sprache der Emotion Zusätzlich zu wortsprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten von Gefühlen und der erregenden kompositorischen Strukturarbeit ist ein unmittelbarer Ausdruck von Emotion durch Klang, Rhythmus u n d Melodie als de ren Konnotation zu beachten. In G. KNEPLERs (1977) Vorstellung von der Genese der Musik aus einem ursprünglichen, vorsprachlichen Kommunikationssystem ist Musik die kulturelle Übe r fo rmung j ene r klanglichen Laute, die eine Emotion begleiten. Sprache hat fü r den Ausdruck dieser Zustände Zeichen gewählt, sie kommuniziert sie mittelbar. Musik kann j ene Bedeutungen als Mitbedeu- tungen unmittelbar ausdrücken und ist deswegen nicht nur im metaphori- schen Sinn Sprache der Gefühle. Emotionen sind der experimentellen empririschen Forschung prinzi- piell nicht direkt zugängig. Zwei methodische Zugänge erlauben sie indi- rekt zu beobachten. 352 Musikalisches Sprechen. Interaktion - Strukturierung durch ... Physiologische Erregung als Korrelat von Gefühlszuständen ist ein In- dikator, der mit hoher Reliabilität die Intenstität von Gefühlen anzeigt und leicht zugängig ist. Als zirkuläre Phänomene dürf ten diese Maße körperli- che Aktivierung durch zeitliche Gl iederung gut abbi lden. Methodisch schwierig hingegen ist die Isolation der Bestimmungsgrößen auf der Seite der Musik. Die beobachtete Steigerung der Respirationsfrequenz (D. ELLIS & G. BRIGHOUSE 1954) bzw. der Puls-und zugleich Atemfrequenz (G. HARRER 1975) geht beim Hören komponier ter Musik mit Temposteigerung u n d damit stets mit der allgemeinen Zunahme dynamisch-klanglicher Elemen- te einher. Dieses Konglomerat wird bei der Verwendung von an- u n d ab- schwellenden Trommelwirbeln als Stimuli reduziert, bei schneller werden- den Klicks völlig eliminiert, ihr möglicherweise erregender außermusikali- scher Bezug ausgeschaltet. In Analogie zur synchronen Aktivitätssteigerung durch Lichtblitze nenn t man die Wirkung von Tempo bzw. seiner Verände- rung auf die physiologische Erregung »acoustic driving«. Funktionale wie techno-music ist Komposition von driving effects und kommuniziert durch Ausdruck Erregung, was zur Mitbewegung, zum Mitbewegtsein führt . Die inhaltliche Komponente von Gefühlen wird mit dem semantischen Differential gemessen. L. E. OSGOOD et. al. (1957) entwickelten diese Methode aus der freien Assoziation und leisteten damit die Objektivierung und Standardisierung subjektiver, nicht bewußter Konnotationen. Adaptio- nen dieses Meßinstruments zur Bestimmung von Gefühlen kommuniziert durch Musik wurden im Umfeld der experimentel len Ästhetik von J . B. CROZIER (1974) vorgenommen. Faktorenanalytische Studien erbringen, daß Gefühle unabhängig auf den Dimensionen evolution und activity laden. Diese Angenehmheitsemp- findungen und Erregungen stehen in der Musik allgemein Strukturempfin- dungen bei. (vgl. W. JAUK 1982) Sowohl die Indizierung über physiologische Erscheinungen als auch die verbale Bekundung von Gefühlen bringen eindeutige Ergebnisse. Vor- rangig rhythmisch dynamische Parameter der Musik sind mit activity asso- ziert. Abseits der zeichenhaften Darstellung von Gefühlen, ihrer ikonischen Abbildung und der unmittelbar von der Strukturempfindung hervorgeru- fenen emotionalen Empfindungen sind gefühlsmäßige Assoziationen beob- achtbar, die möglicherweise Reste j ene r lautlichen Äußerungen sind, die einen gefühlsmäßigen Zustand begleiten und ein vorsprachliches Kommu- nikationssystem repräsentieren, von dem heraus sich Musik entwickelt ha- ben könnte. 353 Werner Jauk Nur vom Blickpunkt der Wortsprache und dem absoluten Denken des finished work aus betrachtet ist die Bemerkung Musik als Sprache der Ge- fühle sei metaphorisch und Sache der Dichtkunst und nicht der Wissenschaft (J. SLOBODA 1985) verständlich. Die Vorstellung absoluter Musik hat die Idee des Werks geprägt; seine Einmaligkeit und schriftliche Fixierung haben zur Anwendung des Modells der Wortsprache zur Erklärung des kommunikativen Charakters von Musik verführt . Für die Übermitt lung von Konnota t ion/Gefühlen erweist sich die Wortsprache als unzureichend; nonverbale Kommunikationsformen stellen dafür direktere Bedeutungsvermittler dar. Musik ist allgemein ein parawort- sprachliches Ausdrucksmedium, das unmittelbar kommuniziert . Musikali- sches Sprechen ist eine Vorstellung, die diesem Charakter entgegen kommt, die nonverbale Kommunikation dürf te als basale und ursprüngliche Kom- munikationsform diese Art des unmittelbaren Sprechens modellhaft abbil- den . Die Anwendung des Modells der nonverbalen Kommunikat ion auf Musik mag dem parawortsprachlichen Ausdruckscharakter von Musik ad- äquat sein. Mit der Verschiebung des Fokus von der Sprache des Werkes zum Spre- chen des Musizierens wird die Diskussion des kommunikativen Charakters der Musik aus der ideologisierenden Dichotomie von absolutem Verständ- nis von Musik und der Anwendung des Modells der Wortsprache auf sie u n d ihrem funktionalen Verständnis in der Nähe der Sprache der Gefühle her- ausgeführt. Musizieren als nonverbale Kommunikation Interaktion als gestaltendes Verhalten nonverbaler Kommunikation Das Verständnis von informellem Musizieren als nonverbale Kommu- nikation und die Gestaltung aus ihr heraus durch Interaktionen eröffnet den alternativen Blick auf Musik als ein in sich kommunikatives System und damit auf ihr Werden wie ihre Einbindung in die Neuen Künste. Die Beobachtung informeller Kommunikation legt nicht nur Regeln der Kommunikation dar, sondern auch ihr Werden und j ene damit einher- gehenden Gestaltungsprozesse. Die Gruppenpsychologie wertet Kommunikationsvorgänge als Interak- tionen u n d erachtet sie als Gestaltungsmechanismen einer Gruppe (R. F. BALES 1950). Interaktionen sind dabei Handlungen, die nicht bloß Infor- mationen von einem Sender zu einem Empfänger verständlich übermitteln, sondern die bei den kommunizierenden Agenten etwas verändern. 354 Musikalisches Sprechen. Interaktion - Strukturierung durch ... Dieser Interaktionsbegriff geht einher mi t j enem der interaktiven Kün- ste, wenn man diesen von seiner kinetischen Vergangenheit (F. POPPER 1991) und somit mechanistischen Bestimmung sowie von seiner technolo- gischen als man-machine-in ter face (R. ROWE 1993) löst u n d seine politisch- ideologische Motivation zusätzlich sieht. Interaktion ist von Reaktion als die Auslösung determinierten Verhaltens wie von Partizipation zu unterschei- den, die die Teilhabe am »künstlerischen« Ereignis als soziales Ereignis meint und sich pointiert im Happening-Konzert von einer im Verein mit dem Werk entstandenen passiven bürgerlichen Kunstrezeptionsform abhebt (vgl. W. JAUK 1995). Interaktion ist Gestaltungsgröße in einem Kommunikations- system. Die freie kollektive Musizierform des Free-Jazz, die Avantgarde der wir- bestimmten 60er Jahre , nutzt diese informelle Kommunikationsform zur musikalischen Gestaltung; sie ist >Komponieren< aus der »musikalischen Interaktion« (W. KNAUER 1996 Sp. 1410). Abseits zuvor festgelegter Regeln führ t die Beobachtung des klangli- chen und verhaltensmäßigen Status Quo in einer frei musizierenden Gruppe und die stete Interpretation dieses Geschehens am Hintergrund persönli- cher Erfahrung das musikalische Gesamtgeschehen weiter. Die subjektive Interpretation des Beobachteten dient dabei als Basis neuerlicher Eingaben in das musizierende Kommunikations-System, zugleich modifiziert die Be- obachtung das Reservoir an Erfahrungen. Das kognitionstheoretische Drei- speichermodell der Informationsverarbeitung (U. NEISSER 1967) liegt die- ser Kommunikation zugrunde. Kommunikationsinhalt u n d Kommunikati- onsstruktur stehen über Interaktion in einem reflexiven Bezug. Das kommunizierende Musizieren der Spieler führ t zur informellen Herausbildung einer musikalischen Gruppenstruktur, wobei j ede r Spieler ein Kommunikations-Node, entpersonifiziert ein als »Stimme« in e inem kompositorischen Prozess bezeichenbarer Repräsentant wird. Die Interaktionsanalyse legt diese informell entstandene Kommunika- tionsstruktur frei, wo hingegen die Werkanalyse die zuvor angewandten Regeln bzw. spannungsreichen Abweichungen davon freilegt. Eine Formalis ierung des Gestaltungsprozesses durch musikalische Kommunikation geschieht in der »Gruppe 01« (http://gewi.kfunigraz.ac.at/ grel le .musik/gruppeOl/gruppe01.html) . Die kollektive freie Improvisation der Free Jazz Gruppe ist dabei Modell der informellen Gestaltung wie Aus- gangspunkt der Simulation. Ein Computersystem beobachte t u n d über- n immt allmählich die Kommunikationsstrukturen frei improvisierender Akteure und formalisiert somit den von ihnen vollzogenen Gestaltungspro- zess. 355 Werner Jauk Einheiten der Beobachtung sind entsprechend dem verhaltensbasier- ten Modell von Musizieren nicht nur die hervorgebrachten musikalischen Strukturen, sondern die Art des Spielens als ein Maß des musikalischen Ausdrucks; der mit dem Spannungs-Lösungs-Prinzip e inhergehende Indi- kator dafür ist die körperliche Bewegung. Score-Follower beobachten die musikalische Hervorbringung, Bewe- gungsdetektoren die musikantische Aktion. Die Informationen über Struk- tur und Aktion werden gewichtet zueinandergestellt. Häufig Beobachtetes wird als bedeutsam erachtet und in einen Speicher geschrieben, neu ein- langende Information wird im Arbeitsspeicher stets mit abgelagerten Infor- mat ionen verglichen u n d interpret iert . Erkennens-/Vergleichsprozesse basieren auf hierarchischen Mustererkennungsprozessen. Die aktuellen Informat ionen verändern permanent auch die Basis ihrer Interpretation: die in einer Art Langzeitspeicher abgelagerten Informationen, die als stän- dig sich änderndes Regelsystem zur Genese von Neuem verwendet werden. Neuere Generat ionen von Systemen lösen ältere in einem Evolutions- prozess des Erfahrungswissens ab und generieren Musik als Prozeß. Schluß Die Anwendung des Modells der Wortsprache auf Musik mag aus der Orient ierung am schriftlich fixierten Werk geleitet gewesen sein, Musik als die Sprache der Gefühle begriffen, führ t bereits zu j enen originären para- oder vorsprachlichen Ausdrucksformen, die Musik als Kommunikationssy- stem erachten, das allumfassend in einem Modell der nonverbalen Kommu- nikation beschreibbar ist. Dieser Zugang hat Erklärungswert abseits j enes schmalen Ausschnittes der europäischen Kunstmusik und bietet zugleich auch Grundlage für eine die technologiegeprägten Kunstformen unserer Zeit integrierende Sicht. Es sind dies Kunstformen die wesentlich von einem Verständnis von Musik aus betrieben in der Musik aber nur unzureichend rezipiert und der Domäne der bildenden Kunst überlassen wurden, die mit e iner an das Verhalten von Gegenständen gebundenen mechanistischen Sicht operiert und deswegen zu deren Bestimmung eines Paradigmenwech- sels bedarf. Sprache als Kommunikationsmittel ermöglicht eindeutige Informati- onsübertragung, Musik kommuniziert direkt Konnotationen ihres Mediums Struktur. Das Paradigma von Spannung - Lösung ist ihre Triebfeder, Zeit- gestalt, kompositorische Verarbeitung sind erregendes Spiel mit strukturel- len Erwartungen u n d dem Neuheitswert von Informat ion. Ästhetisches 356 Musikalisches Sprechen. Interaktion - Strukturierung durch ... Wohlgefallen ist dann j ene angenehm erlebte Spannungserhöhung, die durch eine leichte Irriation des Gewohnten, durch die mäßige Störung der subjektiven Vorhersagbarkeit des strukturellen Ablaufs syntaktischer Elemen- te, eintritt. Der SCHENKERsche Ursatz wie die experimentel le Ästhetik BERLYNEs basieren auf der Aktivierungstheorie W. WUNDTs; Musikstruk- tur wie ihre unmittelbare Kommunikation von Emotion werden dadurch erklärt. Interaktion ist Verhalten, das durch wechselseitigen Informationsaus- tausch zur laufenden Modifikation von Information und deren Träger führt. Damit wirkt Interaktion gestaltend im reflexiven Gefüge von Inhal t u n d Struktur der Kommunikation. Interaktion als Akt der nonverbalen Kommu- nikation ist somit ein grundlegendes Kommunikations- und zugleich Gestal- tungsmittel, das selbstorganisierend gestaltet ohne das willkürliche Setzen von Regeln der Gestaltung. Regeln sind letztendlich Ausdruck von Wertig- keit; Wertigkeiten von innen entstanden, s indjenen von außen vorzuziehen. Als Teil einer gesellschaftlichen Entwicklung hat der Free Jazz diese Strukturierung erprobt, haben die interaktiven Künste sie formalisiert und in technoiden Formen verfügbar gemacht, bringt Net-Art dieses Paradigma wie Abbild informeller sozialer Strukturbildung adäquaterweise mit dem unstrukturierten Netz des World-Wide-Web zusammen u n d schafft breites Bewußtsein fü r informelle Demokratisierung. Den kommunikativen Charakter von Musik nicht von der Vorstellung der Musik als Sprache aber des Musizierens als nonverbales Sprechen prü- fend zu bet rachten kann neue Akzente selbst in der Diskussion um die Genese von Mehrstimmigkeit auch im außereuropäischen Sinn setzen, Gestaltung f indet in der musikalischen Gestalt seine Manifestation. Dies führ t zurück - nach einem Verständnis von Kunst als Gesetztes u n d Vollen- detes im Werk - zu Kunst als Prozeß, sie bringt Musik als die Kommunikati- onskunst ins Zentrum der Erklärungsansätze Neuer Künste. Literatur R. F. BALES, Interaction process analysis (Cambridge 1950). D. E. BERLYNE, Aesthetics and psychobiology (New York 1971). D. E. BERLYNE, The new experimental aesthetics. In: (D. E. BERLYNE ed.) Studies in the new experimental aesthetics (Washington 1974 S. 1 - 26. N. CHOMSKY, Syntactic structures (The Hague 1957). N. CHOMSKY, Aspects of the theorie of syntax (Cambridge MA 1965). N. 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