UDK 17.111.83 Die Krise des Humanismus und das Gefahrdetsein des menschlichen Ethos VALENTIN KALAN, SLOWENIEN POVZETEK KRIZA HUMANIZMA IN OGROŽENOST ČLOVEŠKEGA ETOSA Beseda humanizem izgublja svoj pomen s spoznanjem, da je bistvo humanizma metafizično, kar tukaj pomeni, da metafizika zapira vprašanje po resnici biti ter vztraja vpozabljenosti biti. Kakor pa se v etiki vprašanje človekovega etosa vedno določa kot vprašanje delovanjske resnice, tako se mora kriza etike uzreti najprej skozi krizo pojma resnice. To krizo na znamenit način evocira Pilatovo vprašanje "Kaj je resnica?", filozofsko pa tematizira v Niet&chejevem soočenju Z nerešljivostjo problema resnice. Nietzschejevo kritiko pojma resnice in njegovo teorijo pravičnosti je Heidigger dojel kot razpad ontologije in razpad etike. Ako ni več mogoče določiti pozicije filozofa, tedaj razpade ontologija in tedaj tudi ni več možna etika. Zato je Heidigger v znamenitem "Pismu o 'humanizmu'" usmeril pozornost k vprašanju resnice biti. Status neke filozofske discipline je mogoče ustrezno rešiti šele na podlagi rekonstrukcije temeljne človekove odprtosti za prebivanje v svetu. Tudi fenomen resnice je treba prikazati sledeč človekovo prebivanje v svetu. Premislek o resnici biti šele omogoča preseganje nihilizma. Mišljenje, ki misli resnico biti, je v sebi že "izvorna etika". To pomeni: Če je človekovo bistvo prdksis, tedaj zato, ker je človek bitje, ki ohranja skrb za bit. Skrb je podlaga za ethos kot eksistencial. Skrb za izvorne možnosti tubiti se v bitnozgodovinskem mišljenju razširi v skrb za odprtost biti kot take. takšno mišljenje nam šele omogoča približevanje drugačnim načinom tubiti in mišljenja ter s tem tvori podlago za neizogiben pogovor z drugimi kulturami. MHTCKE MERMnrOTL E3LE "Die Uberwindung der Metaphysik = eine Sache der hochsten Anspannung menschlicher Besonnenheit", (F.W.Nietzsche, Werke, XIV, S. 388). "Wie viel Einer aushalt von der Wahrheit, ohne zu entarten, ist sein MaBstab." (F.W.Nietzsche, Werke, XIII, S. 41, Nr. 94). Einige Tage vor seinem Tod schrieb Martin Heidegger seincm Kollegen Bern-hard Welte GruBworte, die als der letzte handschriftliche Ausdruck seines Denkens blieben. Der letzte Satz lautet: "Denn es bedarf der Besinnung, ob und wie im Zeital-ter der technisierten gleichformigen Weltzivilisation noch Heimat sein kann."1 Die Weltzivilisation, inwiewcit sic in der Entwicklung der Wissenschaft grund-iert und damit auf der westeuropaischen Philosophic, bedeutct Vollcndung der Metaphysik und mit diesem das "Ende der Philosophic"2. Die beiden konscquenten Beschliisse der Philosophic sind die Herrschaft der Technik und des Nihilismus. Dieser Zustand wird von der Krise des Humanismus begleitet, wclche cbenso auf der Ebene der Theorie crkennthch ist - darin, daB die philosophische Ethik in der Krise ist - wie auch auf der Ebene der Geschichte dadurch, daB Europa im 20. Jahrhundert "den Wclt-Biirgerkrieg" iiberstehen muBte. Diesen Zustand hat F.W. Nietzsche vorhergesagt: "Uberstolzer Europacr des ncunzehnten Jahrhunderts, du rasest! Dein Wissen vollendet nicht die Natur, sondcrn totet nur deine eigene"3. Wie M.Riedel erschopfend entwickeltc, so diagnostizicrte Nietzsche die dreifache Hybris Europas und sagte eine ungchcuerc Krise voraus, welche die europiiische UnmaBigkeit in ihrer Bezichung zur Natur (1), zu Gott (2) und zum Menschen selbst (3), betrifft: "Hybris ist heute unsere ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hilfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkcit; Hybris ist unsre Stellung zu Gott, will sagen zu irgendeiner angeblichen Zwcck- und Sittlichkeits-Spinne hinter dem groBen Fangnetz-Gewcbe der Ursachlichkeit - (...) Hybris ist unsere Stellung zu uns, denn wir experimentieren mit uns, wie wir es uns mit keincm Tierc crlaubcn wiirden, und schlitzen uns vergniigt und neugierig die Scelc bci lebendigem Leibe auf: (...)"4. Den prophetischen und kiinstlcrischen Wortcn Nietzsches gab Heidegger das philosophische Zertifikat dc civisme. Das Wort Humanismus aber verliert seine Bcdcutung mit der Erkenntnis, daB das Wesen des Humanismus metaphysisch ist, was jetzt bedcutet, daB die Metaphysik die Fragc nach der Wahrheit des Scins einschlieBt und in der Vergesscnheit des Seins verharrt5. Wie sich aber in der Ethik die Frage des menschlichcn Ethos immer als Fragc der praktischen Wahrheit bestimmt, so muB sich die Krise der Ethik zuerst durch die Krise des Sinncs der Wahrheit erblicken. Dicse Krise wird auf eine beriihmte Art durch Pilatus Frage evozicrt "Was ist Wahrheit?" (Jn 18, 38), sie wurde von F.Bacon in seincm 1. Essay beschrieben, philosophisch aber in der Auseinandcrsetzung mit der 1 Dcnkerfahrungcn, ed. M.Heidcggcr (1983) S.187. 2 Vgl. M.IIeidcgger I »a fin dc la philosophic ct la tache dc la pensde, in: Kierkegaard vivant, Paris: Gallimard 1966, S.168,170,179 (iiber Wissenschaftcn) und 180. 3 F.W.Nictzsche, Unzeitgcmasse Bctrachtungcn, II. Vom Nutzen und Nachtcil der Historic ftir das I.chen, c.9, ZiL nach M. Riedel, M.Heideggers europaische Wcndung, in: Europa und die Philosophic, Schriftcnreihe der Martin-Hcideggcr-Gcsellschaft 2, Frankfurt: Klostcrmann 1993, S.57. 4 7jl. nach M.Riedel, o.c. S.57 und F. Nictzsche Zur Gcncalogie der Moral, III. 9, Kritische Studicnausgabe 5, S. 357. 5 Vgl. M.IIcideggcr, Wegmarken (1967), S.175. Unlosbarkeit des Problems der Wahrheit von Nietzsche thematisiert. In "Der Wille zur Macht" (fr.616) auBert sich Nietzsche: "Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, d.h. ist kein Tatbestand, sondem eine Ausdichtnng und Rundung iiber einer mageren Summe von Beobachtungen; sie ist "im Flusse", als etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nahert: denn - es gibt keine "Wahrheit"". Die Welt, fiir die wir sorgen, ist in Wahrheit eine veranderhche Verlogenheit, welche sich der Wahrheit niemals annahert. Diese Erfahrung von F.W.Nietzsche ist eine Radikalisierung des "romantischen" Empfindens fiir den Verlust der Werte, welches man auch in der 2. Strophe "Abschied von der Jugend" von F.Preseren in etwa so ausgedriickt finden kann: (...) "Hab erfahren, daB das saubere Gcwissen, eine gute Tat, die Welt zu verabscheuen, er sich versprochen hat. (...) Weisheit, Gerechtigkeit, Gelehrtheit, Jungfrauen ohne Mitgift, trauem sah ich Einsame"6. Das Wesen der Wahrheit ist fiir Nietzsche die Wertschatzung, welche fiir das Leben unentbehrlich ist. Die Welt in ihrer Verstandlichkeit, Ubersichtlichkeit, Praktibilitat, Schonheit und Ordnung ist eine Illusion, welche sich bei griindlichem Ansehen auflost und verliert: "...die Verehrung der Wahrheit schon die Folge einer Illusion ist" (WzM. fr. 602). Die Schonheit der Dinge ist die Folge der "Stumpfheit des Blickes". Die Wahrheit ist nicht mehr der hochste Wert, sondem ist nur die Bedingung, das Leben geltend zu machen. Die Welt selber ist heuchlerisch, grausam, gegensatzlich usw.: deshalb brauchen wir die Liige, um diese "Wahrheit" durchzuhalten und zu leben (fr. 853). Metaphysik und Moral, Religion und Wissenschaft sind die Formen der Flucht vor der grausamen Wahrheit, die nur die Kunst allein wiedergeben kann: " ... daB die Kunst mehr wert ist als die Wahrheit". Wissenschaft und Metaphysik sind somit sogar nur die Formen des menschlichen Willens, daB er der "Wahrheit" entfliehen konne, "seines Willens (...) zur Verneinung der "Wahrheit"" (fr. 853). Die Wahrheit ist eine solche Art von Irrtum, iiber welchen der Wert des Lebens entscheidet (fr. 493): " Die Wertschatzung "ich glaube, daB das und das so ist" als Wesen der "Wahrheit" (...). Wir haben unsere Erhaltungs-Bedingungen projiziert als Pradikate des Seins iiberhaupt" (fr. 507). Das Leben ist das MaB der Bewertung, was Sein und was Nicht-Sein ist. Mit unserem Vertrauen in die Dialektik ist nur ihre Zweckdienlichkeit fiir das Leben bewiesen, nicht aber die "Wahrheit" der Dialektik (ib). Jedoch ist die Wahrheit das Fundament fiir das Leben: man muB an die Wahrheit glauben, nicht aber, daB etwas wahr sei7. Die Bedingungen der Erhaltung des Lebens sind "Pradikate des Seins". Die Wahrheit ist "Illusion", wenn die Welt "werdend" ist: Das Werden ist iiber dem Sein - "man darl" nichts Seiendes iiberhaupt zulassen, - weil dann das Werden seinen Wert verliert und geradezu als sinnlos und iiberfliissig erscheint" (fr. 708). Das Leben selbst ist ein "Chaos" (fr. 515), welchem wir mit Pradikaten bezie-hungsweise mit Kategorien "soviel Regularitat und Formen auferlegen, als es unserem 6 Poezije, Ljubljana 1985, S.72. 7 Bei dicscr Darstellung des Begriffs der Wahrheit bei Nietzsche, stiitzen wir uns auf M.Heidegger Nietzsche I, Pfullingen 1962, S.473 ff., d.h. den ganzen III. Teil: Der Wille zur Macht als Erkcnntnis. praktischen Bediirfnis genug tut" ("Der Wille zur Macht", Nr. 515). Das praktische Bediirfnis ist das Bediirfnis nach einem Schema, welches uns dadurch gegeben ist, daB wir Horizonte und Perspektiven gestalten. Die Praxis und das Chaos gehoren zue-inander. Die Erkenntnis zielt auf Verstandigung und Berechnung. Des Menschen Verstand ist nur die "Idiosynkrasie", die Oberempfindlichkeit (fr. 515). Aber das ganze Denken muB sich nach der Regel des Satzes vom Widerspruch abspielen. Jedoch aber enthalt der Satz vom Widerspruch "kein Kriterium der Wahrheit, sondern einen Imperativ iiber das, was als wahr gelten soil" (ft. 516). Die Wahrheit als Irrtum ist die Vcrfehlung der Wahrheit: "die Verfiihrung der Wahrheit ... Der "Wahrheit"? Wer legtc das Wort mir in den Mund? Aber ich nehme es wieder heraus; (...) wir habcn auch sie nicht notig, wir wiirden auch noch ohne die Wahrheit zur Macht und zum Siege kommen" (fr. 749). Bleibt nach der Aufgabe der wirklichen Welt nur die unsichtbare Welt iibrig? (fr. 566-568) Nein: mit der wahren Welt haben wir auch die unsichtbare beseitigt8. Mit dem Entfernen des Unterschieds zwischen der wirklichen und scheinbaren Welt fangt der Niedergang der Philosophic als Metaphysik, wie auch der Untergang des Philosophen an. Die Erkenntnis, "daB es gar keine Wahrheit gibt" (WzM, Nr. 598), welche das Wesen des Nihilismus ist, bedeutet nicht Pessimismus, denn die Welt ist tatsachlich grausam, ihre Wahrheit aber widrig und haBlich (Nr. 598). Diese Wahrheit auszu-halten und zu ertragen, ermoglicht uns nur die Kunst (fr. 853). Die Kunst und die Erkenntnis erreichen abwechselnd die Erhaltung und Sicherung der chaotischen Welt des Lebens: "Die Welt als ein sich selbst gebarendes Kunstwerk - - " (Nr. 797). Die Erkenntnis, welche traditionell verstanden wird als die Abstraktion in der Wissenschaft oder die Idealisierung in der Kunst (vgl. Aristoteles), ist aus der Sicht der Bewertung des Lebens, aus der Sicht des Lebens Berauschtheit, Angriff, Aufdrangung, Herausfordcrung ( ): "Aus diesem Gefiihlc gibt man an die Dinge ab, man zwingt sic von uns zu nehmen, man vergewaltigt sie, - man heiBt diesen Vorgang Idcalisieren. Machen wir uns hier von einem Vorurteil los: das Idealisieren besteht nicht, wie ge-meinhin geglaubt wird, in einem Abziehen oder Abrechnen des Kleinen, des Ne-bensachlichcn. Ein ungeheueres Heraustreiben der Hauptzligc ist viclmchr das Entscheidcnde, so daB die andern dariiber verschwinden"9. Wie ist es moglich, in einer solchen Welt cine ethische Position einzunehmen? Hier gedenke ich nicht, die Satze von Nietzsche iiber den Ubermenschcn, iiber die Ethik des "Jenseits von Gut und Bose" zu wiederholen. Die europaische Moraltheorie seit Hesiod und Platon hat die ethische Frage als Frage des Rechts und der Gerechtig-kcit thematisiert. Die oben angefiihrten Verse von F.Preseren lesen sich beinahe wie eine Paraphrase der Hesiodschen Beschreibung der ethischen Problematik in "Werke und Tage": "Der heilige Schwur, Gerechtigkeit, Giite - all dies wird ohne Preis sein."10 Aber die Frage der Unlosbarkeit des Problems der Gerechtigkeit und mit diesem des menschlichen Ethos war nicht nur den Dichtcrn ersichtlich, sondern noch viel mehr den Philosophen. Aristoteles spricht ausdriicklich von einem fundamentalen Zwiespalt hinsichtlich der Gerechtigkeit: "Edle und gerechte Dinge, welche die Politik bearbeitet, enthalten so viel Zwiespalte und so viel Irrtiimer, daB sie sogar urteilen, 8 F.W.Nietzsche, Gotzendammcning, Wic die "wahre Welt" cndlich zur Fabel wurde, Werke VIII, 1904, S.82f. 9 F.W.Nietzsche, Gotzendammerung (1989), Strcifzilge eines UnzcitgemaBem, c.8, o.c. S.123. 10 Hesiod, Werke und Tage, Vers 190; oude tis cuorkou charis cssetai oude dikaiou/ out'agathou ... iNDKKE MERHTOHi ESLE daB sie nur nach dem Gesetz bestehen, nach der Natur aber nicht." (EN, A 1, 1094b 14-16). In der Zweiten "Unzeitgemassen Betrachtung", (Nr. 6), stellt Nietzsche an die Stelle der "Objekti vi tat" der historischen Wissenschaften die Gerechtigkeit mit der Ur-teilskraft: "Der Wahrheit dienen wenige in Wahrheit, weil nur wenige den reinen Wil-len haben, gerecht zu sein, und selbst von diesen wieder die wenigsten die Kraft, gerecht sein zu konnen"11. Uber die Moglichkeit der Gerechtigkeit in der Welt des Willens zur Macht sprach Nietzsche auch im Fragment des neuen Vorworts zu "Menschliches, Allzu-Menschliches"12: "Es geschah spat, daB ich dahinter kam, was mir eigentlich noch ganz und gar fehle: namlich die Gerechtigkeit. "Was ist Gerechtigkeit? Und ist sie moglich? Und wenn sie nicht moglich sein solite, wie ware da das Leben auszuhalten?" - (...). Es beangstigte mich tief, iiberall, wo ich bei mir selber nachgrub, nur Leidenschaften, nur Winkel-Perspektiven, nur die Unbedenklichkeit Dessen zu finden, dem schon die Vorbedingungen zur Gerechtigkeit fehlen: aber wo war die Besonnenheit? - namlich Besonnenheit aus umfanglicherEinsicht." (Werke XIV, S. 385) Aus der Sicht des Willens zur Macht ist natlirhch zuerst offensichtlich, daB die rechtlichen Gesetze ledighch Wertschatzungen sind, aufgestellt aus der Sicht der Perspektive eines Staates (XIII, Nr. 614, S. 256): "Erst der Herrschende stellt nachher "Gerechtigkeit" fest, d.h. er miBt die Dinge nach seinem MaBe: ,.."13. Die Gerechtigkeit ist so in der Funktion der Macht, welche bestimmt, was niitzlich ist: Die Gerechtigkeit ist "Funktion einer weitumherschauenden Macht, welche iiber die kleinen Perspektiven von Gut und Bose hinaussieht, also einen weiteren Horizont des Vorteils hat" (XIV, A. 158). Das Leben ist Wollen und Schiitzcn des Wertes14, aber iiber den Preis und den Wert, iiber die Gerechtigkeit und Niitzlichkeit soil der Geschmack entscheiden: "Geschmack - nicht Nutzen - gibt den Wert"15. Eine solche Gerechtigkeit solite die Weisheit und die politische Macht verbinden, ein Problem, iiber welches viel in der gesamten Tradition der politischen Philosophic gesprochen wird, jedoch soli die Verbindung jetzt als das Funktionieren der Macht wirken. Auch die "Wege der Freiheit" sind das Funktionieren dieser Macht: "Gerechtigkeit als bauende, ausscheidende, vernichtende Denkweise, aus den Wertschatzungen heraus: hochster Reprasentant des Lebens selber." (Werke, XIII, Nr. 98, S. 42) Diese Begriffsbestimmung interpretiert Heidegger in "Holzwege", sowie in beiden Biichern iiber Nietzsche. Denken iiber die Gerechtigkeit, die dem Willen der Macht entspricht, ist erstens: "banend", weil er neue Dinge wicdereinsetzt; zweitens: ausscheidend, weil er iiber das MaB entscheidet; drittens: "vemichtend", weil er jenes beseitigt, was bis jetzt die Existenz des Lebens sicherte. Eine solche Gerechtigkeit soli "alle philosophisch-moralischen Kosmo- und Theodizien" (WzM, Nr. 707) verhindern. Die gewohnliche Rede iiber die "tiefe Ungerechtigkeit" in der Gesellschaft ist aus der Sicht dieser Theorie vollkommen un-annehmbar. Der Welt des Werdens ist nur moglich ihren Wert zu lassen, wenn wir uns von dem "Entrtistungs-Pessimismus" befreien. Dariiber ist in "Der Wille zur Macht" (af. 765) die Rede, wo er die Entstehung der Position, die "Schuldigen" fiir ein 11 F.W. Nietzsche, o.c. S. 105-6. 12 Zit nach M.Heidegger: Nietzsche II, o.c. S.330f. 13 F.W.Nietzsche, Werke XIV, S.181, ZiL nach Heidegger, Holzwege (1963), S.228. 14 F.W.Nietzsche, Werke XIII, A. 395, Zit nach M.Heidegger, Holzwege, S.219 . 15 F.W.Nietzsche, Werke XIII, Nr. 620 (S.257). geschichtliches Geschehnis zu suchen, analysieit, was die Position des gcschichtlichen Tribunals ist: "die Geschichte zu richten"16. Diesen Standpunkt vertreten die "Atheisten aus Ressentiment". Die Beurteilung des Werdens aus der Sicht der Gleich-heit, stammt aus dem "Instinkt der Rache", aus dem "Bazillus der Rache". Aber: "Es fehlt jeder Ort, jeder Zweck, jeder Sinn, wohin wir unser Sein, unser So-und-So-Sein abwalzen konnten". Vergeltung als "Vernichtungs-Durst" hat "die ganze Metaphysik, Psychologic, Geschichtsvorstellung, vor allem aber die Moral" gekennzeichnet. In der Arbeit "Zur Genealogie der Moral" beschreibt Nietzsche mehr-mals, wie auf der Welt die Ideale fabriziert werden (1. Abhandlung, Paragraph 14), wo er sagt: "(...) - was sie verlangen, daB heiBen sie nicht Vergeltung, sondern den "Triumph der Gcrechtigkeit""17. Im Paragraph 11, 2. Abhandlung iiber ""Schuld", "Schlechtes Gewissen" und "Verwandtes"", welcher die Kritik der moralen Philosophic von E. Diihring enthalt, entdeckt Nietzsche in dem damaligen Suchen nach Gerechtigkeit das Ressentiment. Die Aufgabe der Gerechtigkeit ist aber gerade dies "dem unsinnigen Wiiten des Resscntiments ein Ende zu machen"18. Nietzsche versuchte die Gerechtigkeit vor der Vergeltung zu retten. So sagte er in der Aufzeichnung "Ober Tarantellen": "Denn, daB der Mensch erlost wcrde von der Rache: das ist mir die Briicke zur hochsten Iloffnung Nietzsche bestimmt das wcsentliche der Vergeltung als "Widerwille": "Dies, ja dies allcin ist Rache selbcr: des Willcns Widerwille gegen die Zeit und ihr "Es war."20 Heidegger intcrpretiert in der Abhandlung "Wcr ist Nietzsche's Zarathustra?" (1953) diesen Satz in dem Sinn, daB die Rache ein Widersetzen des Willens gegen die Zeit ist und damit gegen das Vergehen und Allemverganglichen, was Nietzsche auch "Erde" nennt. Jedoch besteht die tiefste Rache in denjenigem Dcnken, das die "iibcrzeitlichen Ideale als die absoluten ansetzt, an denen gemessen das Zeitliche sich selber zum eigentlich Nicht-Seienden hcrabsetzen muB"21. Ontologisch bedeutet die Rache eine strenge Ablchnung des Werdens, des Vergehens und der Zeitlichkeit, was Nietzsche mit der Vorstellung iiber das Sein des Seienden als cine ewige Wiederkehr des Gleichen erreicht, dessen Kehrreim so lautet "Nur die Liebe soli richten" - (die schaffende Liebe, die sich selber iiber ihren Werken vergiBt")22. Jedoch Nietzsches Einwilligung in das Vergehen und die Zeitlichkeit ist nur bei der These iiber die "Ewigkeit" des Werdens moglich. So ist in Philosophic Nietzsches wieder die wirkliche Zeitlichkeit vcrloren, die Rache ist nicht iiberwunden. Die Lehre iiber die ewige Wiederkehr ist noch immcr eine Form der Rache: "Oder verbirgt sich in diesem Aufpragen, das alles Werden in die Obhut der ewigen Wiederkehr des Gleichen nim-mt, nicht doch und auch noch ein Widerwille gegen das bloBe Vergehen und somit ein hochst vergeistigtcr Geist der Rache?"23. Die Lehre von Zarathustra bringt keine Erlosung von der Rache, da sie in den Aporien der mctaphysischcn Lehre iiber die ewige Wiederkehr des Gleichcn gefangen bleibt. Was man aber aus dieser Darstellung ersehen konnte, ist das, daB Nictzschc iiberhaupt kein Anreger des Willens zur Kraft und des Kampfes fiir die Macht, des Krieges und der Politik der Gewalt ist. 16 Obcr den Fundamcntalismus jener Philosophiegeschichtc, welche sich als Tribunal aufstcllt, Bcispicl O.Marquard, Das Ober-Wir, Poctilc und Ilermencutilc XI, Das Gcsprach, Miinchen 1983, S.36. 17 F.W.Nietzsche, o.c., Goldmann cd, S.35. 18 O.c. Goldmann, S.58. 19 Also sprach Zarathustra, Goldmanns Taschenbiibcer, S.77. 20 O.c. Goldmann, S.l09. 21 M.Heidegger, Vortragc und Aufsatzc, Pfullingen 1967, S.109. 22 ZiL nach M.Heidegger, Vortragc ..., S. 110 (Werke XIV, S.276). 23 M.Heidegger, o.c. S. 113. Nietzsches Kritik an dem Begriff Wahrheit und Nietzsches Theorie der Gerechtigkeit, sagen eine groBe Frage der Uberwindung der Metaphysik im Namen eines anderen Denkens vorher, welches Nietzsche "Besonnenheit" benannte. Sogar der Ausdruck "Uberwindung der Metaphysik" kommt bei Nietzsche vor: "Die Oberwindung der Metaphysik = eine Sache der hochsten Anspannung menschhcher Besonnenheit."24 Die Situation des Verlustes der Wahrheit ist im I. Dionysos Dithyrambus und im "Lied der Schwermut", aus dem Werk "Also sprach Zarathustra", dargestelt; die letzten Sonnenblicke sprechen schadenfreudig durch schwarze Baume, wenn es zu dammern beginnt: "Der Wahrheit Freier - du? so hohnten sie -nein! nur ein Dichter! ein Tier, ein listiges, raubendes, schleichendes, das liigcn muB, das wissenthch willentlich liigcn muB, nach Bcute liistern, bunt verlarvt, sich selbst zur Larve, sich selbst zur Beute, das - der Wahrheit Freier? ... Nur Narr! nur Dichter! Nur Buntes redend, aus Narrenlarven bunt herausredend, herumsteigend auf liignerischen Wortbriicken, auf Liigen-Regenbogen zwischen falschen Ilimmeln herumschwcifend, herumschlcichend - nur Narr! nur Dichter! ,.."25 Nietzsches Auffassung der Wahrheit als "herumschweifen auf Liigen-Regenbogen zwischen falschen Ilimmeln", wie er dies im I. Dionysos - Dithyrambus sagt, faBte Heidegger als Lossagung und Abweisung der Wahrheit des Seins auf. So wurde Nietzsches letzte Erfahrung Heidcggers erste Erfahrung26. Der Philosoph ist nicht mehr "Freier der Wahrheit", wie Nietzsche die Benennung des Philo-sophen iibersetzt, sondern ist "verbannt von aller Wahrheit". Diese Verbannung von der Wahrheit muB als ein Zug der Wesentlichkcit der Wahrheit gedacht werden. Bei der Frage des Verhaltnisses zwischen "Ontologie" und "Ethik" miissen wir fragen, was ist "Ontologie" und "Ethik". Dies behandelt Heidegger in der beriihmten Ashandlung "Brief iiber den "Humanismus", wo er unsere Aufmerksamkeit auf die Frage iiber die Wahrheit des Seins richten will27. Den Status einer philosophischen Disziplin zu losen, ist erst auf der Grundlage der Rekonstruktion der menschlichen Offenheit fur die Existenz in der Welt entsprechend moglich. Es ist auch notwendig, das Phanomen der Wahrheit der folgenden menschlichen Existenz in der Welt darzustellen. In "Sein und Zeit" entwickelt M.Heidegger eine These iiber die Wahrheit als Existential (S. 226), was bedeutet Wahrheit als Entdeckung. Die Tatigkeit des 24 F.W.Nietzsche, Nachgelassene Werke, Bd. XIV. Leipzig 1904, S.388. 25 Werke VIII, S.409-10. 26 Vgl. den Vortrag von Frau Prof.Dr.Ingeborg Schiifller (Lausanne) "Zur Frage der Wahrheit bei Nietzsche und Heidegger", gehalten auf der 7.Tagung der Martin-Hcidcgger-Gesellschafl, am 3. Oktober 1993 in McQkirch. 27 Vgl. Brief iiber den "Humanismus", Wcgmarken (1967), S.l 84. ;nhkke MEFtHEDJli B3LE Entdeckens ist die Art der Existenz des Daseins: "Wahrheit "gibt es" nur, sofern und solange Dasein ist" (S. 226). Zum Unterschied von der Entdeckung des Daseins ist das Seiende nur entdeckt. Die Offenheit aber basiert auf der Aufgeschlossenheit der Welt. Zur wesenthchen Geworfenheit des Daseins in die Welt gehort, daB unbedingt die Wahrheit vorausgesetzt werden muB (S. 228). Die grundlegende Struktur des Daseins erfaBt die Sorge, welche von drei Existentialien bestimmt wird: Existentialist oder Entwurf, Geworfenheit oder Faktizitat und Verfallenheit. Der Entwurf zeigt das Hervortreten des Daseins zu seiner wesentlichen Moglichkeit, wie sie die Angst entdeckt; die Geworfenheit zeigt ein unausweichliches Ausgeliefertsein des Daseins seines eigenen In-der-Welt-Seins, wahrenddessen driickt die Verfallenheit die konkrete Situation aus, wie sich das im Befinden artikuhert und im Verstchen und der Rede erfaBt. Die Sorge ist das Wesen des Daseins, erfaBt in seiner zergliederten Einheit. Heideggers Begriffsbestimmung der Sorge lautet: "Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)" (SuZ, Paragraph 41, S. 192). Die Sorge ist die fundamentale Struktur des Daseins, welches sich existential-apriorisch vor jeder Haltung und Situation befindet und iiberholt in diesem Sinn ebenso Wollen und den Willen, wie den Wunsch, sowohl die Theorie als auch die Praxis: "Das nur anschauende Bestimmen eines Vorhandenen hat nicht weniger den Charakter der Sorge als eine "politische Aktion" oder das ausruhende Sichvergniigen. "Theorie" und "Praxis" sind Seinsmoglichkeiten eines Seienden, dessen Sein als Sorge bestimmt werden muB." (SuZ, Paragraph 41, S. 193) In diesen seinen Bestimmungen ging Heidegger aus der Thematisierung des Be-griffs Wahrheit von Aristoteles aus, was besonders aus den Vorlesungen iiber Platons "Sophist" in Marburg mit der Einfiihrungsinterpretation der "Nikomachischen Ethik"28 ersichtlich ist. Ohne die Thematisierung von Aristoteles Begriff des Seienden als des Wahrseins (on qua alethes) sowie ohne die Beschreibung von Aristoteles Konzept des moralischen Ideals des Menschen als authekastos ("jencr, welcher das ist, was er ist") und aletheutikus ("jenem, der wirkhch ist") (EN, IV 13, 1127a 23) wiirde die Moral der Authentizitat iiberhaupt nicht moglich sein. Die politische Philosophic von Aristoteles ist iiberhaupt erst die Grundlage der praktischen Wahrheit, d.h. der tatigen wirkenden Wahrheit (aletheia praktike, Nikomachische Ethik, VI, 1, 1139a 26-27). Fiir die griechische klassische Philosophic gibt es die Wahrheit nicht ohne Seele: ""Seele" dient als Name fiir das Verhaltnis zu Sein (Anwesung des Aussehens) und damit zur Unverborgenheit. In dieses Verhaltnis eingelasscn sind der Leib und das Lebewesen, worin der geschichtliche Mensch ist"29. Nach der Theorie von Aristoteles bestehen in der Seele drei Fahigkeiten, welche entscheidend (kyria) fiir das Wirken und die Wahrheit sind: Wahrnehmung, Verstand oder Erkenntnis und Wollen oder Wunsch (EN, VI 1, 1139a 17-18). Das Erreichen der Wahrheit ist iibrigens Arbeit jeder Wahrnehmung und jeder Erkenntnis, jedoch bei der wirkenden Wahrheit, bei der "praktischen" Wahrheit, muB die Gesinnung mit dem richtigen Wunsch abgestimmt sein. Im entscheidenden Sinne existiert die Seele in der Wahrheit nur in den sogenannten dianoetischcn Tugenden: "Soli man dann annehmen, daB diese, mit welchcn die Seele in der Wahrheit, nach Aussprechen und Verzicht existiert, zahlenmaBig fiinf sind: Kunst, Wissenschaft, Beurteilung (phronesis), Weisheit und Verstand" (EN, VI 3, 1139b 15-17). 28 Gesamtausgabc, Bd.19, Platon: Sophistes, Hg. Ingcborg SchiiBlcr, Franlcfurt/Main 1992. 29 Vgl. M.Heideggcr, Gesamtausgabc II, Bd.34, Vom Wcscn der Wahrheit, Zu Platons Hohlengleichnis und Theatet( 1988), Frankfurt Klostermann, S.178. Entscheidend fiir die praktische Wahrheit ist die Besonnenheit, welche die menschliche Existenz in ihrer Einmahgkeit betrifft: die sittliche Einricht auf diese Art betrifft das menschliche Dasein, jedoch ist aber fiir Aristoteles die Weisheit die hohere Form der Wahrheit30. Das Denken, daB die Wahrheit und die Unwahrheit der menschlichen Existenz bzw. des menschlichen Ln-der-Welt-Seins und damit auch des Seins denkt, ist in sich schon eine "urspriingliche Ethik"31. Das heiBt: 1. Wenn das Wesen des Menschen Praxis ist, dann deshalb, weil der Mensch ein Wesen ist, das die Sorge fiir das Sein hat. Die Sorge ist die Grundlage fiir das Ethos als Existential. 2. Wenn Heidegger die europaische Geschichte als die wesentliche philosophische denkt, was auf eine klassische Art in der Abhandlung "Was ist das - die Philosophic?" ausgedriickt ist: "Das Wort Philosophic sagt uns, daB die Philosophic etwas ist, was erstmals die Existenz des Griechentums bestimmt. Nicht nur das - die Philosophic bestimmt auch den innersten Grundzug unserer abendlandischen-europaischen Geschichte. (...) Der Satz: die Philosophic ist in ihrem Wesen griechisch, sagt nichts anderes als: das Abendland und Europa, und nur sie, sind in ihrem innersten Geschichtsgang urspriinglich "philosophisch""32. Das bedeutet nicht nur, daB sich fiir den europaischen Menschen die Aufgeschlossenheit der Welt als die Auslegung des Seins durch die Geschichte der Metaphysik geschieht, sondern auch dieses, daB die europaische Geschichte etwas fragliches ist, ist "Irmis" und "Verhangnis", wie er in der Abhandlung "Uberwindung der Metaphysik" sagt33. Erinnerung in die Metaphysi, ist Integration der Erinnerung der Vergangenheit, welche aber in ihrer Geschichtlichkeit erfaBt werden muB. Erinnern in die Metaphysik ist Destruktion der Tradition und die Aneignung ihrer Wahrheit. Erst eine solche Ein-sicht in die Geschichte der sich offnenden eigenen Welt ermoglicht uns die An-naherung an anderen Weisen des Daseins und Denkens. Erst das Erinnern in die Metaphysik iibertrifft die Ebene der Ausspiclung des Ethos der chinesischen oder der indischen Philosophic gegeniiber dem jiidisch-christlichen Ethos oder dem klassischen Humanismus34. Aber der Einbhck in die Geschichte des Offnens der eigenen Welt ermoglicht uns die Annaherung der anderen Weise des Daseins und des Denkens. In diesem ist die "europaische Wende" Heideggers Denkens fundiert, wie sich Manfred Riedel ausgedriickt hat, welchen Heidegger Mitte der dreiBiger Jahre auf den Spuren des jungen Nietzsche und bei der Interpretation Holderlins gemacht hat35. Ein wirkliches Treffen mit anderen Weisen des In-der-Welt-Seins ist nicht nur Angelegenheit der Kenntnis, welche aus der Erkenntnis hervorgcht (SuZ, S. 134), sondern ist nur moglich, wenn wir die tagliche Existenz in der durchschnittlichen Bewertung iiberwinden: "Das vor-laufende Freiwerden fiir den eigenen Tod befreit von der Verlorenhcit in die zufallig 30 Heidigger Platon, sophist, gesamtausgabc Bd. 19 (1992), S. 165 f. 31 Vgl. Wegmarkcn, o.c. S.187. 32 ZiL nach; vgl. H.Vcttcr, Ursprung und Wicdcrholung, in: Europa und die Philosophic, o.c. S.175f. 33 Vortragc und Aufsatzc, S. 84-85,69. 34 Solchc Standpunlctc nivcllisicren zuerst die curopaische Philosophic auf irgendwclche Weltanschauung, die Weltanschauung auf das einzelne Charakteristikum, z.B.: die curopaische Philosophic ist imperialistisch, die christliche Religion ist aggressiv und repressiv usw.. Ein solcher Slandpunkt, welchen man mit der Tcrminologie von Nietzsche als "unvollendeten Nihilismus" bezeichnen konntc, tritt bei uns in disku rsiven Strategic der Diskredition der Erinnerungsvcrsuchen in die Metaphysik auf und drapiert sich gewohnlich in die Pose des Progressivitat. Dabei wird haufig die Diskussionstalctik "Hintcihalt in der letzten Minute" angewendet, was eine adaquate Thematisicrung und Erlautemng unmoglich macht. 35 Cf. M.Riedel, Heideggcni europaische Wcndung, in: Europa und die Philosophic, o.c. S.43f. sich andrangenden Moglichkeiten (...). Frei fiir die eigensten, vom Ende her bestimm-ten, das heiBt als endhch verstandenen Moglichkeiten, bannt das Dasein die Gefahr, aus seinem endlichen Existenzverstandnis her die es iiberholenden Existenzmoglich-keiten der Anderen zu verkennen oder aber sie miBdeutend auf die eigene zuriickzuzwingen - um sich so der eigensten faktischen Existenz zu begeben" (Paragraph 53, S. 264). Erst dann, wenn sich das Dasein der Grenzen seines eigenen Seins bewuBt wird, damit, daB es seine Endlichkeit, Sterblichkeit und Geschichtlich-keit tibernimmt, offnet es sich die Moglichkeit das Andere zu verstehen: "Die Entschlossenheit zu sich selbst bringt das Dasein erst in die Moglichkeit, die mit-seienden Anderen "sein" zu lassen in ihrem eigensten Seinkonnen und dieses in der vorspringend-befreienden Fiirsorge mitzuerschheBen. Das entschlossene Dasein kann zum "Gewissen" der Anderen werden. Aus dem eigentlichen Selbstsein der Entschlossenheit entspringt allcrerst das eigentliche Miteinander, nicht aber aus den zweideutigen und eifersiichtigen Verabredungen und den redseligen Verbriiderungen im Man und dem, was man unternehmen will." (SuZ, Paragraph 60, S. 298). 3. Die Sorge fiir die urspriinglichen Moglichkeiten des Daseins wird durch das seinsgeschichtliche Denken zur Sorge fiir die Offenheit des Seins als solches erweitert, das eo ipso eine Vorbereitung fiir die "Moglichkeit eines gewandelten Weltaufenthalts des Menschen" ist36. Der Einblick in die Grenzen der Neuzeit und in die Reichweite des griechischen "ersten Anfangs" bildet die Grundlage fiir "das unausweichliche Gesprach" mit anderen Kulturen37. Die Kehre von der Verweigerung der Wahrheit des Seins zum Ereignen seiner "Wahmis"38 ist die Grundlage fiir eincn neuen Begriff der Welt. 4. Nur durch die Vermittlung des Verstehens der Anderen in ihren urspriinglichen Moglichkeiten wird unsere eigene Existenz durchsichtig sein. Europa kann nicht nur auf den (griechischen) Wissenschaften begriindet sein, wie Heidegger am 27. Mai 1933 in seiner Rektorrede noch meinte, in welcher die Wissenschaft auf prometheische Weise als ein "Grundgeschehnis" (S. 13) unserer gcschichtlichen Existenz erfaBt wur-de. Mitte der dreiBiger Jahre stellte sich Heidegger die Frage, ob es ausreiche, das Wesentliche der Wissenschaft zu wollen, um das "Abendland" zu retten. Bei der Beschaftigung mit Holderlin erkannte er, daB keine Wicderkehr zum griechischen An-fang mehr moglich ist, da die Geschichte durch Vermittlungen und Abbriiche gebildet wird. Bei den Vorlesungen in den Jahren 1941/42 zitiert er die bekannte Stelle aus dem Gedicht "Brot und Wein" von Holderlin: "... namlich zu Haus ist der Geist Nicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Ileimat, Kolonie hebt und tapfer Vergessen der Geist"39. Die bedeutende Idee von Holderlin ist, daB es haben wird "das eigentliche Na-tionelle wird im Fortschritt der Bildung immer der geringere Vorzug werden"40. 36 M.Heidegger, Ncuzeitlichc Naturwissenschaft und modeme Technik, Jahrcsausgabc der Martin-Heideggcr-Gcsellschaft 1989, S.13. Zit. nach Rainer Thumher, Der Riickgang in den Grund des Eigenen als Bedingung fiir ein Verstehen des Anderen im Denken Heidcggers, in: Europa und die Philosophic, o.c. S.129f. 37 Vortrage und Aufsatze, Pfullingen 1967, S. 39. 38 Die Technik und die Kehre, 1962, S.44. 39 F.Holderlin, Werke und Briefe, Frankfurt (Insel), Bd.I, S.l 19. 40 O.c., Brief an Biihlendorff, S.940. Heidegger kommentiert dies so, daB das Kommen zu sich selbst "ein Herkommen aus einem Anderen" erfordert41. Unser eigenes Selbstsein erfordert ein Vermitteln durch den Anderen. Fiir die Griindung einer menschlichen Existenz geniigt nicht die Riickkehr zu den Griechen, sondern ist ein anderer Anfang notwendig. So hat Heidegger in der "Einfiihrung in die Metaphysik" die Frage der "Bewaltigung" der griechischen Philosophic (S. 137) gestellt, im "Unterwegs zur Sprache" aber fordert er, daB das "griechisch Gedachte noch griechischer zu denken" sei (S. 134), wahrend-dessen er aber in der Abhandlung iiber die "Uberwindung der Metaphysik" die These aufstellt, daB mit dem Ende der Philosophic ein neuer Ubergang "zu einem anderen Anfang" beginnt42. Dieses neue Denken des eigenen Tuns (Anfang als Beginn) nimmt er nicht als einen urspriinglichen Anfang (Beginn als Ursprung, Anfang), sondern, Holderlins Erkenntnis nachgchend, lernt er von den Griechen Fahigkeiten "wahrhaft das Fremde sich anzueigncn", "fremde Naturen anzunehmen und sich ihnen mitzuteilen"43. Dies nannte Holderlin die griechische "Popularitat" und "ZMlichkeit". Wenn man die Griechen in diesem Sinne nicht als Lehrer, sondern als Vorbild nimmt, dann wird auch Europa fiir einen Dialog mit anderen Kulturen offen bleiben und seine Fahigkeiten der Umformung erhalten, welche der gute Europaer F.W.Nietzsche so schatzte: die gloriose europaische Fahigkeit fiir die unaufhorliche Umschulung entstand bei "schwachen und gleichsam weiblichen Unzufriedenen", welche als Einzige "Verschonerung und Vertiefung des Lebens" bringen44. Der Gedanke Heideggers iiber einen anderen Anfang ist die Bedingung fiir das Begreifen der Unterscheidung "Europa" und "Abendland" von Heidegger: das Abendland ist das Entziehen des Seins, jedoch auch die Nahe des Ursprungs und ""die Nahe zum Sein", wahrenddessen Europa eine technische Ordnung als Vollendung der Metaphysik ist45. Die Bedingung fiir das Verstehen der Anderen ist darin, daB wir die Seinsvergessenheit, d.i. der Verfall, nicht nur negativ verstehen, sondern auch positiv als das seinsgeschichtlich notwendige "Verfallen". Was folgert aus der Idee "Die Uberwindung der Metaphysik" fiir das vorgeschla-gene Thema "Die Geistliche Kultur und die internationale Beziehungen"? Zuerst dies, daB fiir die Verstiindigung zwischen den Volkern weder die Vertiefung in die eigene Kulturtradition, noch die ausschlieBliche internationale Zusammenarbeit genug ist: der Nationalisms und der Internationalismus bleiben auf der Ebene der Wissenschaft als Betrieb. Die ausreichende Bedingung der interkulturellen Verstandigung liegt darin, daB man zur Einsicht in die Grenzen, sowohl der wissenschaftlichen, als auch des tra-ditionellen philosophischen Diskurses kommt. Erst die philosophische Befragung, welche die Konstitution der Welt des menschlichen In-der-Welt-Seins thematisiert, ermoglicht die Sichtbarkeit der Welt als "das intentionale Erscheinen-in-Horizonten" (Klaus Held). Erst eine solche Philosophic erreicht die Okumene, wie die immanent den Kiinsten ist, die nicht an die Sprache gebunden sind, z.B. Musik und bildende Kunst. Die erste Bedingung fiir den Eintritt in die urspriingliche Dimension des Denkens und Seins, ist die neue Beriicksichtigung der Besonnenheit, wie auf dies der Aphorismus von Nietzsche aus dem Motto appelliert. 41 Vgl. dariibcr Franfoisc Dastur, Europa und der "andere Anfang", o.c., S.193. 42 Vortrage und Aufsatze, S.75. 43 F.Holderlin, o.c. S.941,945. 44 Vgl. F. Nictzsche, Die frohliche Wissenschaft. Nr.24. 45 Brief iiber den "Humanismus", Wegmarkcn, S.169. Vgl. dariiber Franfoise Dastur, Europa und der "andere Anfang", und Rainer Thumher, Der Riickgang in den Grand des Eigenen als Bedingung fiir ein Veretehen des Anderen im Denken Heideggers, o.c. S.185f und 129f.