UDK 821.112.2.09 Nietzsche F.:1 Nietzsche F. FRIEDRICH NIETZSCHE ZWISCHEN PHILOSOPHIE UND LITERATUR Matevž Kos Abstract Der Artikel beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur. Besondere Aufmerksamkeit liegt auf den Dionysos-Dithyramben, dem letzen Text von Nietzsche, den er vor seinem psychischen Zusammenbruch zum Druck vorbereitet hat. Die literarischen Texte von Nietzsche sind eine Art »andere Natur«, »die Rückseite« seines Denkens, zugleich spricht jedoch Nietzsches Dichtung auch über die wesentlichen Angelegenheiten seiner Philosophie. In diesem Sinne verlangt sie eine interpretative Abhandlung. Die Frage nach den Dionysos-Dithyramben ist auch die Frage nach dem besonderen Status der Dichtung innerhalb von Nietzsches Schaffen - aber auch nach dem Status des Buches Also sprach Zarathustra, soweit wir es vor allem als einzigartige philosophische Dichtung verstehen, das heisst, auch als literarische bzw. halbliterarische Gattung. Key words: Nietzsche, philosophy and literature, Dithyrambs of Dionysus Welches ist das richtige Wort für die Philosophie Nietzsches? Dafür, dass der Einstieg in Nietzsches Denken ein ganz eigenes hermeneutisches Problem darstellt, hat er größtenteils selbst gesorgt. Dem grundlegenden Satz des Positivismus, der behauptet, „es giebt nur Thatsachen", stellt Nietzsche in einem seiner Fragmente aus dem Nachlass die bekannte Antithese entgegen: „nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen." (KSA 12: 315). Oder, mit anderen Worten: „Wahrheit ist die Art von Irrthum [...]" (KSA 11: 506). Was kann die Wahrheit über Nietzsches Philosophieren sein, wenn dieses eben das Aussprechen solcher Wahrheiten problematisiert? Einstweilen bietet sich nur die vorab angestellte Vermutung, dass das rigorose Ausharren auf dem Standpunkt, die „Wahrheit" sei „eine Aneinanderreihung von Irrtümern", auch die Kohärenz der eigenen (Nietzscheschen) Sprechhaltung infrage stellt. Er behauptet nämlich - ähnlich wie der Kreter in dem berühmten Paradoxon (über den Kreter, der sagt, dass alle Kreter lügen) - etwas, was er zugleich selbst verneint. Als ginge es um eine Affirmation der Negation. Die Verwendung des Begriffs „Wahrheit" ist bei Nietzsche demnach mindestens zweideutig. Eine eigenwillige Lösung der „Probleme mit der Wahrheit", des Status seiner „Wahrheit über die Wahrheit", ermöglicht der Horizont der Geschichtlichkeit: Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Herauf-kunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Notwendigkeit selbst ist hier am Werke. (KSA 13: 189) Das, was Nietzsche erzählt, erzählt er „als der erste vollkommene Nihilist Europas". Als jener, der, seiner eigenen Behauptung nach, „den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat - der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat ..." (KSA 13: 190). Nietzsche erzählt die Wahrheit des Nihilismus. Diese Wahrheit kann nur der erblicken, der sie „von innen" berührt hat. Erst dann kann er sie besiegen und über sie hinwegkommen (wenn ihm das natürlich gelingt), kann - wie ein Metaphilosoph - zurückblicken. Die Wahrheit, dass die Wahrheit eine Aneinanderreihung von Irrtümern ist, lässt sich nämlich erst aussprechen, wenn sich die Frage nach der Wahrheit überhaupt als überflüssig, bereits abgehandelt präsentiert. Auch daher die semantische Ambivalenz des Wortes Wahrheit bei Nietzsche. Die Frage, ob die Wahrheit über den Nihilismus eine „nihilistische Wahrheit" ist, bleibt offen. Ist eine solche Wahrheit auch ein „Wert"? Und wenn sie einer ist, kann man einer „Umwertung aller Werte" entgehen, einer der grundlegenden Intentionen von Nietzsches Philosophie? DIE SELIGKEIT DES UNGLÜCKS DER ERKENNTNISS Die vorherrschende Eigenschaft in Nietzsches Denken ist die ambigue Struktur. Mit anderen Worten: seine Texte widersetzen sich „laufend", beinahe apriori der rationalistischen Deskription, der Rekapitulation und den üblichen Verfahren objektivierenden und systematisierenden Denkens. Lieber als die Form des Ganzen ist ihm die Ausrichtung ins Unbekannte beziehungsweise der Wunsch nach Neuem, Abenteuer, Wagnis - und was es noch an ähnlichen, größtenteils metaphorischen Worten Nietzsches gibt. Seine Schriften widersetzen sich der Form der Wissenschaft, wie sie die bekannte Hegelsche Formulierung aus der Vorrede in der Phänomenologie des Geistes in Worte fasst, die behauptet, „[d]ie wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein". Vor allem aber: „Das Wahre ist das Ganze." (Hegel 1998: 14, 24) Darüber spricht Nietzsche selbst mit ausreichender Entschiedenheit, wenn er in der Götzendämmerung behauptet, er vertraue „keiner Systematik" und „der Wille zum System sei ein Mangel an Rechtschaffenheit". (KSA 6: 63; vgl. KSA 13: 533). Diesen Gedanken - den wir jedoch keinesfalls als Versagen der Strenge des philosophischen Denkens und seiner Gegenstände verstehen dürfen, sondern ganz im Gegenteil - erhellt zusätzlich eines der „adornoartigen" Fragmente aus Nietzsches Nachlass der Jahre 1872-1873, welches behauptet, es gebe „kein absolutes Wissen eines Ganzen" beziehungsweise Wissen sei stets das Resultat von Verfahren wie „Separation, Abgrenzung, Beschränkung" (KSA 7: 464). Systematische Anti-Systematik, eine Form der Nicht-Ganzheit, ist eine charakteristische Eigenschaft von Nietzsches Philosophie. Nicht zuletzt ist auch der Widerstand gegen das System - eingeschrieben in die Struktur von Nietzsches Denken selbst - einer der Gründe dafür, dass die Geschichte seiner Rezeption so komplex war und dass sie noch heute schwer überschaubar ist. Daher die sich überkreuzenden Deutungen und die stark voneinander abweichenden „Lesarten" von Nietzsches Philosophie (aber auch der Nietzscheanismus als ausgesprochen vielschichtiges und nicht selten widersprüchliches Phänomen beziehungsweise als Prozess „komplexer Diffusion"). In einem anderen Fragment - vom Ende des Jahres 1880 - warnt Nietzsche vor der Gefahr selbstverständlicher Wahrheiten, vor der apriorischen Gewissheit, vor der Bequemlichkeit des - gar nicht so seltenen - Philosophierens, das sich selbst genügt und von vornherein die Antworten auf alle Fragen kennt: Man hat mir etwas vom ruhigen Glück der Erkenntniß vorgeflötet - aber ich fand es nicht, ja ich verachte es, jetzt wo ich die Seligkeit des Unglücks der Erkenntniß kenne. [...] Ich will keine Erkenntniß mehr ohne Gefahr: immer sei das tückische Meer, oder das erbarmungslose Hochgebirge um den Forschenden. (KSA 9: 350f.) Das Syntagma „die Seligkeit des Unglücks der Erkenntniß" - die Erkenntnis dessen, dass die Erkenntnis der Wahrheit eine unmögliche Aufgabe ist? - ist eine der typischen (und zahlreichen) paradoxen Wendungen Nietzsches, die auf den Kopf stellen, was irgendwie selbstverständlich scheint. Eine der beliebtesten Formen des Denkens, die auf das Paradox setzt, ist der Aphorismus. Und es ist kein Zufall, dass die Aphoristik eines von Nietzsches Lieblingsgenres ist, wenn nicht gar der Denkfiguren beziehungsweise intellektuellen Haltungen überhaupt. Dass der Aphorismus bei Nietzsche nicht nur ein stilistischer Einfall ist, sondern Form einer besonderen Denkstrategie, bekräftigt in ausreichender Deutlichkeit seine folgende - selbsterklärende - Formulierung: In Aphorismenbüchern gleich den meinigen stehen zwischen und hinter kurzen Aphorismen lauter verbotene lange Dinge und Gedanken-Ketten; und Manches darunter, das für Oedipus und seine Sphinx fragwürdig genug sein mag. (KSA 11: 579) Es liegt in der Natur des Aphorismus - sofern es sich natürlich nicht nur um eine gelegentliche geistreiche Äußerung handelt -, dass er sich gegen nichts verschließt, sondern ganz im Gegenteil: Der Aphorismus verwandelt das, was uns irgendwie selbstverständlich, gewohnt, vertraut erscheint, in eine offene Struktur. Anders ausgedrückt: Der Aphorismus macht, zumindest bei Nietzsche, aus etwas Bekanntem etwas Unbekanntes. „ - ich bin ein Doppelgänger, ich habe auch das ,zweite' Gesicht noch ausser dem ersten. Und vielleicht auch noch das dritte" (KSA 14: 472), schrieb Nietzsche 1888 bezogen auf den von ihm zurückgelegten philosophischen Weg. Im Vorwort zum Antichrist, aus demselben Jahr, spricht er nicht nur von der „unbedingte[n] Freiheit gegen sich", sondern macht „die Vorherbestimmung zum Labyrinth" (KSA 6: 167) zu seiner - sozusagen programmatischen - Leitlinie. Die Frage nach dem Status der Wahrheit bei Nietzsche kann daher auch die Frage nach dem Borgesschen „Garten mit Pfaden, die sich verzweigen"1 sein. 1 "Le trait fondamental de la vérité de Nietzsche, c'est qu'elle ne peut être que mal entendue, objet d'une méprise sans fin." (Blanchot 1949: 300) DIE WAHRHEIT DES LEBENS? Die allgemeinste, „schulische" Bezeichnung für Nietzsches Denken lautet „Lebensphilosophie" - so bezeichnet Wilhelm Dilthey überhaupt die Philosophie der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, womit er auf jene gedankliche Strömung abzielt, in deren Mittelpunkt die „selbst"reflektierende Existenz steht. Kennzeichnend für diese ist der Versuch, sich den Fesseln des Rationalismus und Transzendentalismus früherer Zeiten zu entwinden, diese „Befreiung" ist jedoch nur mit einer Proble-matisierung des akademischen Philosophierens möglich. Interessant ist dabei, dass Dilthey Nietzsche in eine Reihe mit Autoren wie Carlyle, Emerson, Ruskin, Tolstoj und Maeterlinck stellt, also eher mit Literaten als mit Philosophen im engeren Sinne (vgl. Vattimo 1992: 2). Das Syntagma „Lebensphilosophie" als handliches Etikett für Nietzsches philosophisches Streben fordert noch folgende Erklärung: Den Begriff Philosophie versteht Nietzsche in einem besonderen, keinesfalls neutralen Sinn, lehnt er doch den größeren Teil ihrer Tradition, angefangen bei Sokrates und Platon, ab. Ein solcher Standpunkt, der die griechischen Philosophen vor Sokrates privilegiert, war möglich auf Grundlage eines radikalen Gegensatzes, der sich für ihn zwischen der Philosophie auf der einen und dem Leben auf der anderen Seite auftat. Den Begriff Leben setzt Nietzsche zwar mehrmals äußerst explizit mit dem Willen zur Macht beziehungsweise der Macht selbst gleich, aber jedesmal in einem etwas anderen Kontext, mit einem anderen Akzent, der ebenfalls ein eindeutiges Verständnis unmöglich macht. Nietzsches Lebensbegriff müssen wir auch unter Berücksichtigung seiner Kritik der metaphysischen Begrifflichkeit beziehungsweise der „Vorurtheile der Philosophen" verstehen. Diese Vorurteile stehen durchweg in engster Verbindung mit einer bestimmten Interpretation von „Welt". Und nicht nur das. Auch Nietzsches Lebensbegriff ist eben Resultat einer bestimmten, das heißt Nietzscheschen Interpretation. Und der Horizont dieser Interpretation betrifft auch Nietzsches Wahrheit über die Wahrheit. Das Urteil, Nietzsche sei ein „Lebensphilosoph", gründet auf der einfachen Tatsache, dass Leben eines der häufigsten Wörter in seinen Schriften ist. Verdeutlichen wir es zusätzlich mit dem Prädikat schöpferisch(es Leben), sind wir schon bei dem Phänomen, das für Nietzsches Denken überhaupt konstitutiv ist. Wie das für die meisten seiner Schlüsselworte gilt, ließe sich auch im Zusammenhang mit „Leben" von einer mindestens doppelten Bedeutung sprechen. Nietzsche verkündet nämlich einerseits den Verfall der alten Werte, bietet aber andererseits die Möglichkeit eines neuen, anderen Anfangs an. Beides, die Destruktion des Alten und das Aufkeimen des Neuen, hängt unmittelbar mit dem Phänomen „Leben" zusammen - so wie wir in der Alltagssprache das „alte" und das „neue" Leben erwähnen. Genauer gesagt: Nietzsches Lebensbegriff, aus einer weiteren Perspektive betrachtet, enthält sowohl ein leugnendes wie auch ein aufbauendes Moment. Einer der Punkte dieses Umbruchs ist Nietzsches berühmte Verkündung des „Todes Gottes". Es geht nämlich um den „großen Bruch", der - in der Folge - die Deutung des gesamten Lebens und der konkreten menschlichen Existenz „im Horizont des Unendlichen" - um das Syntagma zu verwenden, mit dem Nietzsche den Aphorismus Nr. 124 im dritten Buch der Fröhlichen Wissenschaft beginnt - bestimmt; das, was sich in diesem Horizont entfaltet, ist unter anderem, in malerischer poetisch-parabolischer Sprache, im Abschnitt Der tolle Mensch in Worte gefasst. Nietzsche verkündet in der Fröhlichen Wissenschaft den Tod Gottes an sich, einer „positiven Alternative", das, was sich am Horizont des toten Gottes entfaltet, ist jedoch mehr oder weniger nicht zu Ende gesagt beziehungsweise in eine metaphorische Sprache gehüllt: „eine neue Morgenröthe", „Erstaunen", „Ahnung", „Erwartung", „Wagnis der Erkennenden", „unser Meer liegt wieder offen da", „unser neues ,Unendliches'" (KSA 3: 574, 626). Doch, fügt Nietzsche im Abschnitt 374 der Fröhlichen Wissenschaft hinzu, „wer hätte wohl Lust, dieses Ungeheure von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergöttlichen? Und etwa das Unbekannte fürderhin als ,den Unbekannten' anzubeten?" (KSA 3: 627). DER GROSSE KRIEG Die Aufgabe für die nunmehr folgenden Jahre war so streng als möglich vorgezeichnet. Nachdem der jasagende Theil meiner Aufgabe gelöst war, kam die neinsagende, neinthuende Hälfte derselben an die Reihe: die Umwerthung der bisherigen Werthe selbst, der grosse Krieg [...]" (KSA 6: 350) Mit diesen Worten erneuert Nietzsche in Ecce homo seine grundlegende Intention in den Werken, die dem Buch Also sprach Zarathustra folgten. „Der jasagende Theil", Nietzsches frohe Botschaft im Zarathustra, hing unmittelbar mit dem Gedanken vom „Übermenschen", vom „Willen zur Macht" und der „ewigen Wiederkunft des Gleichen" zusammen, der Ausgangspunkt für Nietzsches Philosophie ist jedoch die Kritik der europäischen Modernität, das heißt der bestehenden Menschheit, wie sie sich in ihrer Modernität darstellt. Nietzsches „Philosophie der Zukunft" ist erst auf der Grundlage der kritischen Genealogie der Modernität möglich. Nietzsches Intention ließe sich in diesem Kontext ziemlich treffend mit dem postmodernistischen Gemeinplatz „vorwärts in die Vergangenheit" benennen. Oder aber, insofern Nietzsches Abwendung von den „modernen Ideen" nur unter Berücksichtigung der Dionysischen Überlieferung möglich ist, mit seinem spiegelbildlichen Gegenbegriff: „zurück in die Zukunft". Nietzsches Destruktion der traditionellen Philosophie, das heißt des „Platonis-mus", aber auch des Christentums als „Platonismus für das ,Volk'" (KSA 5: 12), ist der Widerstand gegen ein angeeignetes Wertgefühl. Der Ursprung dieser Destruktion liegt in Nietzsches Einblick in das „Wesen des Lebens": Das Leben ist, wie er an zahlreichen Stellen explizit bekräftigt, der Wille zur Macht. Wenn alles, was lebt, Macht bezeugt, und wenn alles „an sich gut" ist, Platons Überwelt, die Welt der Ideen, nur eine der Fiktionen, der „Vorurteile des Metaphysikers", dann zerfallen mit der Entblößung dieses Vorurteils auch die traditionelle Ethik und alle darauf gründenden moralischen Lehren, Kategorien wie Recht, Gleichheit, Gut (und - folglich - auch dessen Gegenpol: Böse). Eine Philosophie, die in sich die Kraft zu einer solchen Destruktion bestehender Werte trägt, stellt sich, mit Nietzsches Worten, „damit allein schon jenseits von Gut und Böse" (KSA 5: 18). Das, was Nietzsche „jenseits von Gut und Böse" nennt, könnte man auch als jenseits von Wahrem und Gelogenem bezeichnen. Die Frage nach der Wahrheit stellt sich ihm nämlich zugleich als psychologische Frage. Hier geht es natürlich nicht um eine „Psychologie" im Sinne der älteren rationalistischen oder der neueren empirischen Wissenschaft. Nietzsche versteht die Psychologie zu dieser Zeit nämlich als eine Unterabteilung seiner Lehre vom Willen zur Macht, als „Morphologie" und als „Entwicklungslehre des Willens zur Macht" (KSA 5: 38). Die Logik und die gesamte Philosophie stehen in einem direkten Zusammenhang mit einer bestimmten Art von Leben. Die Wahrheit ist daher eine eigenartige Form der „Lüge", die dem Wachstum dient, der Erhaltung einer bestimmten Lebensart, Lebensweise. „Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil, dass Wahrheit mehr werth ist als Schein [...]", ist eine von Nietzsches charakteristischen, den traditionellen Wahrheitsbegriff problematisierenden Formulierungen in Jenseits von Gut und Böse (KSA 5: 53). Noch genauer erklärt er diesen Gedanken in einem der Fragmente aus dem Nachlass, das im Frühjahr 1885 entstanden ist: Wahrheit ist die Art von Irrthum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Werth für das Leben entscheidet zuletzt. (KSA 11: 506). MUT ZUR WAHRHEIT „Es giebt mehr Götzen als Realitäten in der Welt", sagt Nietzsche im Vorwort zur Götzendämmerung (KSA 6: 57). Im Kommentar zu dieser Schrift in Ecce homo fügt er hinzu, der Götze sei „das, was bisher Wahrheit genannt wurde" (KSA 6: 354). Aber: „Auch der Muthigste von uns hat nur selten den Muth zu dem, was er eigentlich weiss ..." (KSA 6: 59)2 Nietzsche will sagen, dass wir stets nur so viel denken können, wie wir ertragen können. Und das Jahr 1888 war auch in diesem Sinne für ihn schicksalhaft. Hiermit meine ich nicht seinen Verlust des logos in den ersten Tagen des darauffolgenden Jahres (Nietzsches persönliche Katastrophe wurde zwar von zahlreichen Interpreten missbraucht, sei es als Mittel der „Mystifikation" oder der „Demystifikation"3 seiner 2 Ähnlich schon in Jenseits von Gut und Böse: „Etwas dürfte wahr sein: ob es gleich im höchsten Grade schädlich und gefährlich wäre; ja, es könnte selbst zur Grundbeschaffenheit des Daseins gehören, dass man an seiner völligen Erkenntniss zu Grunde gienge, - so dass sich die Stärke eines Geistes darnach bemässe, wie viel er von der ,Wahrheit' gerade noch aushielte [...]" (KSA 5: 56f.). Auf eine Paraphrase dieses Gedankens treffen wir einige Male auch in den Nachgelassenen Fragmenten, zum Beispiel im Fragment Zur Genesis des Nihilisten: „Man hat nur spät den Muth zu dem, was man eigentlich weiß." (KSA 12: 407). Oder aber in der Notiz vom Frühjahr 1888: „'Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?' - dies wurde für mich der eigentliche Wertmesser." (KSA 13: 492) 3 In dieser Hinsicht ist beispielsweise auch eine der ersten „Vorstellungen" von Nietzsches Philosophie in Slowenien bezeichnend, nämlich der Aufsatz Modroslovec dekadentizma (Der Philosoph des Dekadentismus) des katholischen Theologen Evgen Lampe, erschienen in der zentralen slowenischen Kulturzeitschrift Dom in svet in Nietzsches Todesjahr. Lampe gibt zwar in der Einführung zu, dass Nietzsche „einer der ersten Meister des glanzvollen Stils" sei, dann jedoch weist er seinen Gedanken im Ganzen zurück unter der Prä- Philosophie), sondern die Tatsache, dass 1888 die Intensität seines Schreibens einen ihrer Höhepunkte erreicht. In diesem Jahr verfasst er unter anderem die Götzendämmerung und den Antichrist, und noch immer bereitet er sich auf die Veröffentlichung seiner „Lebenswerks", den Willen zur Macht vor (bis zum Herbst lässt er den Gedanken an dessen Veröffentlichung nicht fallen). Nietzsches Kritik am beziehungsweise die Ablehnung des Christentums, dieses große Thema seiner Philosophie, ist natürlich am grundlegendsten im Antichrist. Nietzsche hat darin einen Großteil seiner vorhergehenden Analysen des Christentums als großes Symptom der Dekadenz, der Verneinung des Lebens, zusammengefasst, zugleich hat er in seine Abhandlung über das Christentum eine neue Dimension eingeführt: die „Psychologie Jesu". Betrachtete man Jesus beziehungsweise seine „frohe Botschaft" aus Sicht der grundlegenden Postulate von Nietzsches Philosophie (Wille zur Macht, Umwertung aller Werte, die ewige Wiederkunft des Gleichen, Perspektivismus, Übermensch etc.), stellte er sich einem als fleischgewordener Dekadenter dar. Dennoch ist Nietzsches Deutung seiner „Psychologie" im Antichrist ungewöhnlich nachsichtig, manchesmal auf eine besondere Weise respektvoll. Nietzsches „Kritik des Christentums" zielt auch auf Jesus. Einer der Gründe, warum Jesus dennoch aus dem allgemeinen antichristlichen Diskurs, wie wir ihn in nahezu allen Schriften Nietzsches verfolgen können, ausgenommen ist, liegt darin, dass - nach Nietzsches Interpretation - Jesus der einzige wahre Christ ist. Betreffen Nietzsches Sätze darüber, dass „Gott tot" ist und das Christentum „Pla-tonismus für das ,Volk'", unmittelbar auch Jesus? Ja und nein, denn Jesus ist ja - in Nietzsches Interpretation - ein „Mensch" und kein „Gott". Nicht „Gottes Sohn", sondern ein Mensch, der eine neue Art von Existenz praktiziert. Er kündet nicht von einem „himmlischen Königreich" im Sinne einer „Überwelt", Platons Idee des Guten, sondern sagt, dass das „himmlische Königreich" nichts anderes ist als ein „Zustand des Herzens". Das heißt: reine Immanenz. Die Frage nach Jesus ist für Nietzsche daher nicht die Frage nach dem „lebendigen" oder dem „toten" Gott, sondern nach Jesus als einer Figur, einem „großen Symbolisten", dessen Lehre nicht den Glauben verkündet, sondern Arbeit, Praxis, und diese ist ihrem Wesen nach Nichtarbeit. Jesus „redet bloss vom Innersten: ,Leben' oder ,Wahrheit' oder ,Licht' ist sein Wort für das Innerste, - alles Übrige, die ganze Realität, die ganze Natur, die Sprache selbst, hat für ihn bloss den Werth eines Zeichens, eines Gleichnisses" (KSA 6: 204). Die spätere Entwicklung des Christentums ist dann die Geschichte eines fortschreitenden „Missverstehns eines ursprünglichen Symbolismus" (KSA 6: 209). Daher rührt nicht nur Nietzsches Trennung zwischen dem Christentum Jesu und dem des Paulus, sondern auch der unterschiedliche Ton des Nietzscheschen Diskurses. Bei der misse, Nietzsche habe sich „immer an der Grenze zum Wahnsinn bewegt, bis sein Verstandeslicht völlig erlosch". Zur Illustration werde ich noch einen bezeichnenden Ausschnitt aus Lampes Aufsatz anführen: „Geisteskrankheiten sind sehr ansteckend, und Nietzsches Verehrung scheint uns eine Verstandesepidemie der neuen Zeit, die schnell gekommen ist und noch schneller wieder verschwinden wird." Und: „Als ihm der Wahnsinn immer mehr auf der Seele lag, schrieb er jene Bücher, die ihm den Ruhm eingebracht haben, und die jetzt jene ,Gebildeten' lesen, die sich vom Christentum abgewandt haben. [...] und schließlich hat er die schlimmste seiner Schriften herausgegeben, den ,Antichrist'. Schon am Titel erkennt man den Sonderling, der Inhalt selbst jedoch ist halb wahnsinnig." (Dom in svet XIII, 1900, Nr. 19, S. 602, 603) Abhandlung über Jesus ist Nietzsches eigenartiger Respekt offensichtlich (davor, dass Jesus - als radikaler Dekadent, als Einziger - ohne Kompromisse und rücksichtslos „bis zum Ende" geht), Nietzsches „Fluch auf das Christentum" im Antichrist jedoch zielt vor allem auf das „historische Christentum" der Kirche. Beide „Erscheinungsformen" des Christentums sind Symptome der Verneinung des Lebens (indem Letztere eine „Fälschung" Ersterer ist). Doch der einzig wahre, seiner Konsequenz wegen achtenswerte Gegenspieler des Dionynsos, Nietzsches „Gott" des Lebens, ist der Gekreuzigte. DIONYSOS' RÄTSEL Indem das Christentum „Fiktionen" wie Gott, die moralische Weltordnung, das Leben nach dem Tod, die Sünde, die Gnade, die Erlösung etc. geschaffen hat, hat es als Wahres die „Scheinwelt" geschaffen. Das Christentum hat, im Lichte der „Philosophie" Nietzsches, die befreiende Wahrheit vernichtet, aus der die Menschheit einst gelebt hat: die tragische Lebenswahrheit der vorsokratischen Griechen. Dabei ist Folgendes von Bedeutung. Nietzsches Verhältnis zum Griechentum als höchste Manifestation der Lebenskraft blieb in seiner Spätphase mehr oder weniger dem treu, was er am vollkommensten schon in der Geburt der Tragödie entworfen hat. 1886, also zwei Jahre vor dem Antichrist und vierzehn Jahre nach der Geburt der Tragödie, schreibt Nietzsche (in seinem Versuch einer Selbstkritik anlässlich des Neudrucks der Geburt der Tragödie) pathetisch, die Griechen seien „die wohlgerathenste, schönste, bestbeneidete, zum Leben verführendste Art der bisherigen Menschen" (KSA 1: 12). Mit diesen Attributen zeichnet sich nicht das Griechentum generell aus: Der Bruch geschieht mit Sokrates und Platon, die eine Negation der dionysischen Welt bedeuten, zugleich jedoch ist, und das ist der „weltgeschichtliche" Hintergrund von Nietzsches Kritik des Christentums, mit der Schaffung der Herrschaft des „sokratischen Geistes", die ein Zeichen des Verfalls, der Müdigkeit, all dessen ist, was Nietzsche „Dekadenz" nennt, dem Christentum selbst der Boden bereitet. Das Christentum ist für Nietzsche keine besondere Metaphysik oder eine Art der Bewertung, sondern hat seine Wurzeln im Kern der Metaphysik selbst. Der christliche Gott - eine jener „Metaphern" für Platons Idee des Guten und die gesamte Überwelt -ist für Nietzsche, wie er im Antichrist schreibt, eine „widernatürliche Castration" (KSA 6: 182). Dementsprechend (wie schon in Jenseits von Gut und Böse) teilt er auch die Begriffe gut und böse zu. Aus der Perspektive des „Willens zur Macht" ist alles das gut, „was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhört" (KSA 6: 170), schlecht ist das, was aus der Schwäche, dem Nichtvorbereitetsein auf die Macht, auf mehr Macht, herrührt. Im Licht von Nietzsches „Psychologie des Christentums" kann daher nur jenes Volk Gott als gut erkennen, das „den Glauben an sich verloren" hat: In der That, es giebt keine andre Alternative für Götter: entweder sind sie der Wille zur Macht - und so lange werden sie Volksgötter sein - oder aber die Ohnmacht zur Macht - und dann werden sie nothwendig gut . (KSA 6: 183) Das Syntagma „Volksgötter" versteht Nietzsche in diesem Zitat im positiven oder zumindest „neutralen" Sinne: diese sind Götter eines Volkes, das noch an sich selbst glaubt (vgl. Abschnitt Zur Geschichte des Gottesbegriffs der Fragmente aus dem Nachlass; KSA 13: 523). Der Gott eines Volkes, das noch an sich selbst glaubt, ist für Nietzsche Dionysos, der große Bejaher des Lebens. Doch nicht nur das. Nietzsche nennt sich, beispielsweise in Jenseits von Gut und Böse, auch selbst: „ - ich, der letzte Jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos" (KSA 5: 238). Aber Dionysos ist nicht nur der Lebensbejaher, sondern auch der „grosse Zweideutige und Versucher Gott" (KSA 5: 238). Dionysos ist natürlich kein Gott im Sinne der „traditionellen" Transzendenz, des Absoluten, der, mit Kant ausgedrückt, „Ding an sich" wäre - „Verfall eines Gottes: Gott ward ,Ding an sich' ..." (KSA 6: 184) - sondern ist die innerste Möglichkeit des Subjekts. Die Möglichkeit, zu sein, was man noch nicht ist. In diesem, folglich „dionysischen", Kontext muss man auch den berühmten Ausruf Nietzsches vermuten: Zwei Jahrtausende beinahe und nicht ein einziger neuer Gott! (KSA 6: 185; vgl. KSA 13: 525) In einem der Fragmente aus dem Nachlass - später, im sogenannten Willen zur Macht, wurde es unter das Kapitel Dionysos eingereiht - treffen wir auf einen nicht weniger bekannten Satz, der sich als eigenartige „Fortsetzung" des oben zitierten anbietet: - Und wie viele neue Götter sind noch möglich! (KSA 13: 525) Wenn Nietzsche diesen Satz/Ausruf in der Fortsetzung des Abschnitts erklärt, bezieht er Zarathustra in die Diskussion mit ein, den „Titelhelden" des Buches Also sprach Zarathustra. Nietzsche beruft sich auf ihn, zuvor verweist er aber noch darauf, dass Zarathustra eine Autorität ist, die man nie genügend schätzen und repsektieren kann. Und der Gedanke Zarathustras, auf den sich Nietzsche beruft, lautet folgendermaßen: „ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde" (KSA 13: 526; vgl. KSA 4: 49) Der „Gott, der zu tanzen verstünde", kann nur Dionysos sein. Umso mehr, als Dionysos in der griechischen Mythologie der Gott der Weinreben und der Ekstase ist, seinen göttlichen Eigenschaften nach ist er vor allem Freudenbringer und der, der Sorgen abwehrt. Im Zusammenhang mit seiner Verehrung spielten Dithyramben eine große Rolle, Chorlyrikverse zu Ehren des Gottes Dionysos. Und hier sind wir schon wieder bei Nietzsche, der seine eigenen Verse so betitelt - Dionysos-Dithyramben. Wenn es um die Debatte über - unter Vorbehalt - Nietzsches Gottsuche geht, sollte eine von Nietzsches Dithyramben in die Diskussion mit einbezogen werden. Hier kämen insbesondere die enigmatischsten - und gerade deshalb die für die unterschiedlichsten Lesarten geeigneten - Verse aus den Dionysos-Dithyramben in Betracht. Im Gedicht Klage der Ariadne finden wir genau solche - sehr bekannten und häufig zitierten - Verse Nietzsches: Oh, komm zurück, mein unbekannter Gott! mein Schmerz! mein letztes Glück! ... (KSA 6: 401) Hans Küng beispielsweise liest in seiner umfangreichen Monografie Existiert Gott? (Küng 1978) im Kapitel über Nietzsche diese Verse „direkt", im Sinne von Nietzsches bekenntnishafter Ich-Perspektive. Diese Auslegung setzt vor allem auf das psychologische beziehungsweise auf das psychoanalytische Moment, und zwar im Kontext von Nietzsches sonstigem „Fluch auf das Christentum".4 Küngs Deutung der zitierten Verse wird ein wenig erschwert durch die Tatsache, dass Nietzsche sie schon im vierten Buch des Werkes Also sprach Zarathustra zum ersten Mal geschrieben hat, und zwar im Kapitel Der Zauberer (KSA 4: 313-317). Der, der das Gedicht spricht (das „lyrische Subjekt"), ist ein alter Zauberer „mit stieren Augen", der Zarathustra anspricht, ihn auf die Probe stellt. Als ihn Zarathustra während der Rezitation rüde unterbricht, erklärt ihm der Zauberer: Solcherlei gehört zu meiner Kunst; dich selber wollte ich auf die Probe stellen, als ich dir diese Probe gab! Und, wahrlich, du hast mich gut durchschaut! (KSA 4: 317) Das „Gedicht des Zauberers" aus dem Zarathustra hat Nietzsche später, in den Dionysos-Dithyramben, Klage der Ariadne betitelt. Die lyrische Stimme in der ersten Person ist nun nicht mehr die des Zauberers, sondern Ariadnes, und Nietzsche fügt diesem „Dithyrambus" in der neuen Version noch eine Strophe hinzu. In dieser meldet sich Dionysos zu Wort und spricht Ariadne an. Im letzten Vers, gesperrt geschrieben, sagt er: „Ich bin dein Labyrinth ..." (KSA 6: 401). Unter Berücksichtigung dieses Kontexts kann Küngs Interpretation auch diskutabel sein. Umso mehr, als seine Deutung in der Fortsetzung, gestützt auf Nietzsches Formulierung „Cosima ... Ariadne ..."(KGB 8: 579), niedergeschrieben in einem Brief an Jacob Burckhardt Anfang Januar 1889 (das heißt bereits in der Phase von Nietzsches geistigem Zusammenbruch)5, auf die triviale Feststellung hinausläuft, dass Ariadne niemand anderer ist als Cosima Wagner, übirgens Nietzsches unerhörte Liebe. Eine ähnlich „übereilte" und in dieser Hinsicht problematische Deutung der Dionysos-Dithyramben findet sich auch bei Ivan Urbancic, dem namhaftesten slowenischen Erforscher von Nietzsches Philosophie. Bei der Interpretation des Gedichts Nur Narr! Nur Dichter! (und auch Zwischen Raubvögeln) schließt Urbancic beispielsweise auf eine dreifache Identifikation: zunächst zwischen dem, der das Gedicht „spricht" und Zarathustra, und dann zwischen Zarathustra und Nietzsche selbst. Urbancic sagt wörtlich Folgendes: „Zarathustra, der Nietzsche selbst ist ..." (Urbancic 1989: 366).6 Das Gedicht Nur Narr! Nur Dichter! findet sich bereits im vierten Buch von Also sprach Zarathustra. Auch hier ist, wie schon in der Klage der Ariadne, das „lyrische Subjekt" der alte Zauberer, nicht Zarathustra. Zwischen Nietzsche und „Zarathustra" 4 Ähnlich, wenn auch aus einer anderen philosophischen Perspektive, deutet beispielsweise Karl Jaspers Nietzsches Beziehung zu Gott, wenn er die These vertritt, „Nietzsches Kampf gegen das Christentum erwächst aus seiner eigenen Christlichkeit" (Jaspers 1985: 7). 5 Es handelt sich um den berühmten Brief, den Nietzsche übrigens in bombastischem Ton beginnt, bezeichnend für die ersten Tage des Januar 1889: „Lieber Herr Professor, zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen." (KGB 8: 577-578) 6 Vgl. Urbancics spätere „Selbstkritik" einer derart „direkten" Deutung der Dionysos-Dithyramben im Buch Zaratustrovo izrocilo I (Die Zaratustra-Überlieferung I; Urbancic 1993: 37-40). können wir keine eindeutigen Zeichen der Gleichsetzung finden. Letztlich bedeutet eine solche Eindeutigkeit die Leugnung der Ambivalenz von Nietzsches Dichtung. Doch nicht nur das. Nietzsches „Wahrheit über die Wahrheit" oder, genauer, seine Versuche mit der Wahrheit aus einer besonderen Perspektive, erhellen gerade seine Dionysos-Dithyramben. Nietzsches Dichtung spricht zweifellos von wesentlichen Dingen seines Denkens. In dieser Hinsicht dürfte man einer Überlegung über den Status der Dithyramben - aber auch des Buches Also sprach Zarathustra, sofern wir es auch als philosophische Dichtung, d.h. als para-literarisches Werk verstehen - an sich innerhalb von Nietzsches Werk nicht aus dem Weg gehen. Was ist nämlich dieses, das beim Philosophen Nietzsche unausgesprochen bleibt und seine Verbalisierung im Medium der Dichtersprache sucht? Ist es das, was Nietzsches Denken selbst nicht mehr zu denken vermag? Nietzsche nennt seine Dichtersprache: „Dionysos-Dithyramben". Diese Bezeichnung fällt in die Endzeit seines Denkens, und zugleich kehrt er mit ihr an den Anfang zurück - nicht nur seines Denkens, sondern auch des Griechentums. Schon in Die Geburt der Tragödie findet sich nämlich eine Formulierung, die davon zeugt, dass der Mensch mit den dionysischen Dithyramben „angeregt war zur höchsten Steigerung all seines symbolischen Vermögens" [um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen] (KSA 1: 34). Die letzten Worte von Nietzsches Aufsatz Ecce homo lauten: - Hat man mich verstanden? - Dionysos gegen den Gekreuzigten... (KSA 6: 374; vgl. KSA 13: 321) Dieser zweideutige unvollendete Satz erhält seine zusätzliche Erklärung in einem der Fragmente aus dem Nachlass vom Frühjahr 1888. Darin heißt es unter anderem: »der Gott am Kreuz« ist ein Fluch auf Leben, ein Fingerzeig, sich von ihm zu erlösen der in Stücke geschnittene Dionysos ist eine Verheißung ins Leben: es wird ewig wieder geboren und aus der Zerstörung heimkommen (KSA 13: 267) Diese Sätze zeugen nicht nur vom radikalen Gegensatz zwischen Jesus und Dionysos, sondern variieren erneut Nietzsches Gedanken von der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Das, was ewig aufs Neue wiederkehrt, ist der Wille zur Macht als selbst wollende Macht. Oder, wie eine der bekanntesten Definitionen des Willens zur Macht bei Nietzsche lautet, aus dem Jahre 1885: „diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimniß-Welt der doppelten Wollüste, dieß mein Jenseits von Gut und Böse, ohne Ziel [...] Diese Welt ist der Wille zur Macht - und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht -und nichts außerdem!" (KSA 11: 611). Nietzsche hat seinen Gedanken von der ewigen Wiederkunft des Gleichen auch mit den Adjektiven schwerster, schweigender, schauriger Gedanke versehen. Offenbar deshalb, weil das der Gedanke ist, der sich permanent der sprachlichen Artikulation entzieht und für den es kein richtiges Wort gibt. Dennoch harrt Nietzsches Philosophie, ungeachtet all dessen, auf dem Weg dieser Benennung aus. Sie versucht, die Wahrheit dieser „grausamen Gedanken" zu finden, auszusprechen. Daher scheint es, als sei Nietzsches Denken über den Willen zur Macht, wozu auch der Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen gehört, ein Denken darüber, dass das Erkennen (jeder) Wahrheit eine unmögliche Aufgabe ist. Dennoch denkt und muss Nietzsche selbst irgendeine Wahrheit denken, „weil wir nur in der sprachlichen Form denken - somit die ,ewige Wahrheit' der ,Vernunft' glauben (z. B. Subjekt, Prädikat usw.)" (KSA 12: 193). „Das vernünftige Denken ist ein Interpretiren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können", sagt Nietzsche im selben Fragment. Nach diesem Schema zu denken, bedeutet, die Wahrheit stets als Erkenntniswahrheit zu denken, also als Wahrheit, die nicht im Einklang mit der „Idee" des Willens zur Macht steht: Wir haben die Welt, welche Werth hat, geschaffen! Dies erkennend erkennen wir auch, daß die Verehrung der Wahrheit schon die Folge einer Illusion ist - und daß man mehr als sie die bildende, vereinfachende, gestaltende, erdichtende Kraft zu schätzen hat [...] (KSA 11: 146) Nietzsches Denken ist bestimmt von der Idee des Willens zur Macht, zugleich kann sie jedoch der Tatsache nicht aus dem Weg gehen, dass ihr Haus ein Labyrinth der Wahrheit als Erkenntnis ist. Das Schicksal dieses Denkens ist daher, dass es sich immer wieder aufs Neue gegen sich selbst wendet. Als hätte das erkennende Subjekt, „der Wahrheit Freier", der „von Einer Wahrheit / verbrannt und durstig" ist, „verbannt sei/von aller Wahrheit" (KSA 6: 377, 380), wie es in dem berühmten Dithyrambus Nur Narr! Nur Dichter! heißt, die vernichtende Kritik der erkennenden Macht ausgesprochen. Letztlich spricht er selbst die Worte, die vom Dichter-Narren zeugen, der „herumsteig[t] auf lügnerischen Wortebrücken / auf Lügen-Regenbogen / zwischen falschen Himmeln / herumschweifend, herumschleichend -„ (KSA 6: 378). Im Sommer 1888 hat Nietzsche zum Beispiel diese drei bedeutsamen Einzelzeilen/verse verfasst, in welchen, nach seiner Fasson, die Worte von der Ohnmacht der Worte sprechen, das Ich von der Ohnmacht des Ichs (KSA 13: 575): ich bin nur ein Worte-macher: was liegt an Worten! was liegt an mir! Nietzsches Philosophie führt an ihrem eigenen lebendigen Leib den Zerfall des metaphysischen Denkens über die Wahrheit vor. Sie weiß nämlich, dass es ein Labyrinth von Wegen ist und dass dieses Labyrinth zugleich ihre einzige Bleibe darstellt. * * * Wie man weiß, hat Nietzsche in den ersten Tagen des Januar 1889 - kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch - die letzte Version der Dionysos-Dithyramben durchgesehen. Dabei ist nicht unbedeutend, dass zwischen Nietzsches Philosophie im engeren Sinne und seinem literarischen Schaffen eine besondere Beziehung besteht. Nietzsches literarische Texte sind eine Art „zweite Natur", eine „Rückseite" seines Denkens (hier müsste man vielleicht noch Nietzsches eigenes musikalisches Schaffen beziehungsweise seine besondere Beziehung zur Musik überhaupt hinzuzählen). Was Nietzsches Dichtung betrifft, ist schon auf den ersten Blick klar, dass sie sich nicht vom Horizont seines Denkens abhebt. Letztendlich finden sich in seinen Gedichten nicht selten Worte, die auch sein Denken kennzeichnen (zum Beispiel Wahrheit, Wahnsinn, Leben, Tod, Gott, Ewigkeit, Notwendigkeit etc.). Damit sind wir aber eigentlich bei einer allgemeinen, grundsätzlichen Frage angelangt, die das Verhältnis zwischen Literatur und Philosophie betrifft. Was Nietzsche angeht, könnte man die Frage nach diesem Verhältnis konkretisieren. Und zwar indem man sich fragt, was es eigentlich ist, was in Nietzsches Philosophie unausgesprochen bleibt. Oder gar: Was ist es, was in Nietzsches Philosophie unausgesprochen bleiben muss? Was ist es, was in Nietzsches Philosophie unausgesprochen, ohne Worte bleibt, zugleich aber beharrlich seine Verbalisierung gerade im Medium der Dichtersprache sucht? Ist es das, was Nietzsches Denken selbst nicht zu denken vermag? Nietzsche spricht vom Verlust der Wahrheit, und auch, nicht zuletzt, von der Dichtung als einer besonderen Art von Wahnsinn. Allerdings haben die Worte vom Verlust der Wahrheit im poetischen Text eine bestimmte Position beziehungsweise „Funktion". Wenn die letzte, endgültige Wahrheit des Denkens lautet, dass die Erkenntnis der Wahrheit eine unmögliche Aufgabe ist, und ein Privileg der Kunst, des poetischen Textes gerade die Überwindung dieser Wahrheit auf eine bestimmte Weise ist - und zwar, indem sie sie beherrscht, in Worte fasst, formt, das heißt, in die Form eines Gedichts bringt. Das konstitutive Moment der Kunst, die Überwindung der Unerträglichkeit des Gedankens, dass wir „von jeder Wahrheit vertrieben" sind beziehungsweise dass es „die Wahrheit nicht gibt", ist das Schaffen. Und es ist kein Zufall, dass die höchste Manifestation des Schaffens für Nietzsche gerade die Kunst ist.7 Im Buch Also sprach Zarathustra vermag der „Titelheld" - Zarathustra - „seine letzte Einsamkeit", sein Vertriebensein von der Wahrheit, nur mithilfe des Schaffens, der Dichtung, das heißt mithilfe künstlerischer Schöpfung zu ertragen. Wenn Nietzsches Denken an die Grenzen der Artikulation stößt, an das - um Wittgenstein zu paraphrasieren - „wovon man nicht sprechen kann", wechselt er nicht selten in einen anderen „Diskurs": meist ist dies gerade die dionysische Sprache der Dithyramben (und auch die Aphoristik als besonderes paraliterarisches Genre). Grundlage einer solchen Sprache ist eine gewisse, unter Vorbehalt, ekstatische Verbalisierungs-strategie. Ihr unverkennbarer Zug ist die Ambivalenz: die Sprache der Dithyramben ist nicht nur poetisch, sondern rotiert die ganze Zeit auf der Schwelle zwischen „ja" und „nein", „Verstand" und „Wahnsinn" - davon sprechen letzten Endes auch die Worte über den Dichter-Narren aus dem Dithyrambus Nur Narr! Nur Dichter!. Überhaupt scheint es, als kämpfe Nietzsche gegen etwas, was man den Verlust der Mitte nennen könnte. Diesen Verlust verkündet er, zugleich jedoch kämpft er dagegen an. Nicht zuletzt in dem erwähnten Gedicht findet sich ein Vers, der vom „Vertriebensein von der Wahrheit" spricht. Und der philosophische Gedanke kämpft gegen dieses „Vertriebensein von der Wahrheit" - dieses Vertriebensein ist zugleich schon das Schicksal der (post)modernen Philosophie überhaupt - an, indem es den Verlust der 7 „Die Kunst und nichts als die Kunst. Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans zum Leben ..." (KSA 13: 194) Wahrheit, das Vertriebensein von der Wahrheit, die Heimatlosigkeit im tieferen Sinne des Wortes, sinnlich erfassbar abbildet. Die Heimatlosigkeit findet ihre Heimat in der Dichtersprache, der höchsten Manifestation menschlichen Schaffens. „Die Wahrheit ist häßlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen" (KSA 13: 500; vgl. KSA 13: 522; 227), behauptet Nietzsche. Und das ist ein Gedanke, mit dem seine Philosophie - aus der Perspektive der Kunst als privilegiertem Modus der schöpferischen Kraft? - vielleicht die Möglichkeit eines anderen Überdenkens dessen eröffnet, was in ihr ungedacht bleibt. Universität Ljubljana, Slowenien QUELLEN UND LITERATURVERZEICHNIS Nietzsche, Friedrich. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hrsg. Von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York 1988 (künftig: KSA). _. Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Maz- zino Montinari. München/Berlin/New York 1986 (künftig: KGB). Blanchot, Maurice: Du cotS de Nietzsche. In: Le part du feu. Paris: Gallimard. 1949. 289-301. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main: Suhrkamp [Werke 3] 1992. Jaspers, Karl. Nietzsche und das Christentum. München/Zürich: Piper [3. Auflage] 1985. Küng, Hans. Existiert Gott? München: R. Piper & Co. Verlag 1978. Urbančič, Ivan. 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Posebno pozornost posveča Dionizovim ditirambom, zadnjemu Nietzschejevemu tekstu, ki ga je sam, tik pred svojim duševnim zlomom, pripravil za tisk. Nietzschejevi literarni teksti so neke vrste »druga narava«, »hrbtna stran« njegovega mišljenja, obenem pa Nietzschejevo pesništvo govori tudi o bistvenih zadevah njegove filozofije. V tem smislu zahteva interpretativno obravnavo. Vprašanje o Dionizovih ditirambih je tudi vprašanje o posebnem statusu pesništva znotraj Nietzschejevega opusa - pa tudi o statusu knjige Tako je govoril Zaratustra, kolikor jo razumemo predvsem kot svojevrstno filozofsko pesnitev, se pravi, tudi kot literarni oziroma paraliterarni žanr. UDK 929 Göller K.H. Janez Stanonik V SPOMIN KARLA HEINZA GÖLLERJA (1924-2009) Študija je posvečena spominu na Karla Heinza Göllerja, univerzitetnega profesorja za angleško literaturo na univerzi v Regensburgu, Nemčija. Univerza Regensburg je bila ustanovljena leta 1967, Göller pa je bil prvi dekan Filozofske fakultete v Regensburgu. Štirideset let je delal na razvoju prijateljskega sodelovanja med univerzama v Ljubljani in Regensburgu. Leta 1983 je ustanovil društvo nemških medievalistov, ene izmed najpomembnejših zvez specializiranih znanstvenikov te stroke iz vse Nemčije. Študija prikaže Göllerjev znanstveni razvoj in osnovne značilnosti njegovega znanstvenega in pedagoškega dela ter njegove dejavnosti v univerzitetni administraciji.