zum rezeptionsgeschichtlichen hintergrund der tschechischen nationaloper MARTA OTTLOVÄ Univerzita Karlova v Praze, Praha MILAN POSPiŠIL Narodni muzeum, Praha Izvleček: Študija sledi spremembam, ki so se pojavljale v sklopu pojmov, povezanih z idejo o češki nacionalni operi, od začetka njene opredelitve do konca sedemdesetih let 19. stoletja, to je do časa, ko je češko glasbeno občinstvo sprejelo individualni kompozicijski slog Be-dricha Smetane kot slog, ki predstavlja nacionalno glasbo. Osredotoča se ne le na teoretske vidike, ampak tudi na vrste recepcije naraščajoče izvirne češke operne ustvarjalnosti. Ključne besede: nacionalna glasba, češka opera, Otakar Hostinsky, František Pivoda, Bedrich Smetana Abstract: The study follows the changes of the complex of notions connected with the idea of the Czech national opera from the beginning of its formulation until the end of the seventies of the 19th-century, e.g. to the time when Bedrich Smetana's individual compositional style was received by the Czech musical public as a style representing national music. It focuses not only on theoretical views but also on the reception attitudes to the rising original Czech operatic creation. Keywords: national music, Czech opera, Otakar Hostinsky, Frantisek Pivoda, Bedrich Smetana Als im Jahre 1892 das Prager Nationaltheater auf der Internationalen Musik- und Theaterausstellung in Wien eine repräsentative Auswahl der tschechischen musikdramatischen Produktion dargeboten hatte und das Publikum der Hauptstadt der Österreichisch-Ungarischen Monarchie dem ihm bisher unbekannten Schaffen, an der Spitze Smetanas Prodana nevesta (Die verkaufte Braut), Beifall klatschte, bedeutete es zu dieser Zeit mehr als nur ein theatralisches Ereignis.1 Die Tschechen zeigten hier, daß sie zu einer modernen, selbstbewußten Nation herangereift waren, die ihre eigene Bildung und Kultur einschließlich deren - in der gesellschaftlichen Hierarchie des 19. Jahrhunderts den Gipfel bildenden - Gattung: die Nationaloper besitzt. Dem entsprach auch der Prager Widerhall der Wiener Tournee. Der Erfolg wurde nicht nur als ein künstlerischer Triumph des Ensembles des Prager Nationaltheaters mit dem tschechischen Repertoire, 1 This article was written as a part of the research project MSM 0021620827 "The Czech Lands in the Midst of Europe in the Past and Today" at the Faculty of Arts, Charles University, Prague. sondern direkt als ein politischer Sieg bezeichnet.2 „Die Künstler und Kunstfreunde der beiden Lager [d.h. Prag und Wien] reichten sich die Hände über den Köpfen der politischen Kämpfer.", so wurde der Wiener Erfolg von dem Ästhetiker und Smetana-Exegeten Otakar Hostinsky in dessen Festrede auf einem in Prag zur Feier des Siegs der tschechischen Musik in Wien veranstalteten Bankett gedeutet.3 Der erwähnte Erfolg wurde auch sogleich als ein politisches Argument verwendet, und zwar auf dem Boden des Reichsrats in Wien. Während der generellen Debatte am 18. November 1892 in der Rede des damaligen Abgeordneten (und späteren ersten Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik) Tomas Masaryk in Sachen des Protestes der Tschechen gegen die Errichtung des Kreisgerichtsitzes in Teplice nad Metuji (Wekelsdorf) mit ausschließlich deutscher Amtssprache, welche die dortige tschechische Bevölkerung zugunsten der Deutschböhmen außer Acht ließ, wurde die Existenz der tschechischen Oper zum signifikanten Beweismittel. Masaryk belegte die Selbständigkeit und den Beitrag der tschechischen Nation im gesamteuropäischen Kontext eben durch die Entfaltung der tschechischen Musikkultur, die zu eigener Nationaloper gelangte, wohingegen die Deutschböhmen ihm zufolge unter die Botmäßigkeit der reichsdeutschen Kulturaktivität gerieten und zu einer ähnlichen selbständigen Leistung unfähig wären.4 Die Nationaloper wurde für eines der wichtigsten Attribute jeder modernen Nation gehalten und deshalb kann die ihr seit den Anfängen der Bildung der neuzeitlichen tschechischen Nation beigemessene politische Bedeutung keineswegs erstaunen. Und aus diesem Grunde konzentrierte sich auch die Suche nach der Nationalmusik und den Mitteln zum Erreichen des nationalen Charakters vor allem auf die Oper. Die ersten tschechischen Konzeptionen wurden in diesem Sinne unter dem Blickwinkel der Beziehung der tschechischen Kultur zu der deutschen aufgefaßt. Die neu sich bildende, hauptsächlich von der deutschen sich emanzipierende tschechische Nationalkultur schöpfte ihr Selbstbewußtsein nicht nur aus der Begründung gleicher Vorzüge und Fähigkeiten, sondern auch aus der Unabhängigkeit und der Unterschiedlichkeit von der deutschen Kultur. Andererseits legt das üppige Leben der italienischen Oper im Prag des 18. Jahrhunderts (die Spielzeit 1806/07 war die letzte in der langen Tradition der ununterbrochenen Tätigkeit der italienischen Operngesellschaften in Prag) und die immer aktualisierte Anwesenheit des italienischen Repertoires in der folgenden Zeit 2 Unmittelbar nach der Rückkehr sammelte und kommentierte der Direktor des Nationaltheaters Frantisek Adolf Subert die Wiener Kritiken, und das in einer tschechischen sowie deutschen Version. (Frantisek Adolf Subert, Ceske Narodm divadlo na prvni mezinärodni hudebni a divadelni vystave ve Vidni r. 1892, Praha, Druzstvo Narodniho divadla, 1892; Ders., Das böhmische Nationaltheater in der Ersten Internationalen Musik- und Theaterausstellung zu Wien 1892, Prag, Nationaltheater-Consortium, 1892.) In den Kontext weiterer Aufführungen der Verkauften Braut in Wien in den 1890er Jahren stellen die erste Bekanntschaft des Wiener Publikums mit dieser Oper: Vlasta Reittererova und Hubert Reitterer, Vier Dutzend rothe Strümpfe... Zur Rezeptionsgeschichte der Verkauften Braut von Bedrich Smetana in Wien am Ende des 19. Jahrhunderts, Wien, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2004, besonders S. 54-63. 3 Vgl. Anonym, Slavnostni banket na oslavu vitezstvi ceske hudby ve Vidni, Dalibor 14 (1892), S. 250-251 (zitiert in Übersetzung). 4 Vgl. Jaroslav Opat, Filozof apolitik T. G. Masaryk 1882-1893, Praha, Melantrich, 21990, S. 371. nahe,5 daß die nach Selbständigkeit strebende tschechische Kultur sich auch mit der italienischen Kultur auseinanderzusetzen hatte, die sich eben auf das mächtige Prestige der italienischen Oper stützte. Das ist bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts - im sogenannten philologischen Zeitabschnitt der tschechischen nationalen Wiedergeburt6 - offenkundig, wo die Kultur vorwiegend als ein Ergebnis der tschechischen sprachlichen Aktivität angesehen wurde. In dieser Etappe der Konzentrierung auf die Sprache wurde die Eigenart der tschechischen Sprache im Gegensatz zur deutschen bewertet, und es wird hervorgehoben, daß jene durch Sangbarkeit und Wohllaut diese übertreffe. Von da entspringt auch der außerordentliche Nachdruck, den das tschechische Theater auf das Durchsetzen der tschechischen Sprache als Opernsprache legte, denn hier konnte sie - im Einklang mit dem damaligen Mythos der von der Natur herkommenden tschechischen Gesangfreudigkeit als ein wichtiger Zug in der Charakterologie der Nation - ihre apostrophierten Vorteile am besten zur Geltung bringen, sich in der Gesellschaft gegen die deutsche Sprache behaupten und in alle Kreise verbreiten. „Durch die Opern und den Gesang überhaupt, meine ich, wird es uns am besten gelingen, unsere Muttersprache in den höheren Schichten beliebt zu machen: sicher auch die Deutschen selbst empfinden die Überlegenheit des tschechischen Gesangs über dem deutschen", drückte sich im Jahre 1824 der Historiker Frantisek Palacky aus.7 Und gerade im Moment der Hervorhebung der klanglichen Eigenschaften taucht der Bedarf auf, die tschechische Sprache angesichts der vor dem Hintergrund der italienischen Oper gebildeten Vorstellung von dem Italienischen als eine wohlklingende Sprache zu definieren. Deshalb wurde auch jede neue Aufführung einer Oper in tschechischer Übersetzung nicht nur als Beweis der Emanzipation der tschechischen Kultur von der deutschen begrüßt, sondern auch als Bestätigung gleicher Vorteile, die das Tschechische als Opernsprache im Vergleich mit dem Italienischen besitze. In diesem Sinne typisch schreibt der Berichterstatter der Zeitschrift Cechoslav im Jahre 1825 nach der Erstaufführung von Rossinis Il barbiere di Siviglia in der tschechischen Übersetzung: „Der Geist Mozarts selbst würde sicher unsere Sprache, in der sich seine göttlichen Gedanken so eng und wohllautend mit der Sprache [...] vereinigen, preisen und wenigstens mit der italienischen in eine Reihe der zum Gesang geeigneten Sprachen stellen."8 Ähnliche programmatische Wünsche erscheinen auch in einer Übersicht der tschechischen Vorstellungen in der Wiener Theaterzeitung vom Januar 1826, wo man eine Behauptung finden kann, die Deutschen selbst würden jetzt lieber die tschechische als die deutsche Oper hören und gebürtige Italiener würden sogar vermuten, im 5 Marta Ottlova und Milan Pospišil, L'opera italiana e l'opera nazionale ceca, Biblioteca teat-rale. Rivista trimestrale di studi e ricerche sullo spettacolo. Nuova serie (1991), Nr. 22-23, S. 17-51. 6 Vladimir Macura, Znameni zrodu. Ceske obrozeni jako kulturni typ, Praha, Ceskoslovensky spi-sovatel, 1983, S. 47-68. 7 Aus dem Brief von František Palacky an Jan Kollar vom 22. Januar 1824. Zitiert in Übersetzung nach Františka Palackeho korespondence a zäpisky. II. Korespondence z let 1812-1826, hrsg. von Vojtech Jaromir Novacek, Praha, Ceska akademie cisare Františka Josefa, 1902, S. 164. 8 Anonym, Cechoslav (1825), Nr. 7, 12. 2., S. 56 (zitiert in Übersetzung). Tschechischen ihre Muttersprache wahrzunehmen.9 Der Wetteifer des Tschechischen und des Italienischen in der Sangbarkeit und Musikalität nahm manchmal unkritische Gestalt an, wie man z. B. einem anekdotischen Streit des Italieners und des Tschechen in der Zeitschrift Cechoslav entnehmen kann, in dem der Tscheche auf das Argument des Italieners, in Italien sei die Musik in Blütezeit, mit den Worten erwidert: „Und in Böhmen [...] ist sie schon reif geworden.",10 allerdings im krassen Widerspruch zur Realität des Nichtexistierens des ursprünglichen tschechischen Opernschaffens. In diesem Zeitabschnitt der sogenannten philologischen Phase der tschechischen nationalen Wiedergeburt, in der man nach der Schaffung einer vollständigen sprachlich tschechischen Kultur in allen grundlegenden Bereichen der europäischen Kultur strebte, wurde diese Forderung durch die Tatsache der Tschechisierung des europäischen Repertoires mit Hilfe der Übersetzung des Librettos, durch die Faktizität des tönenden tschechischen Gesangs erfüllt. In die Zeit der Artikulation dieser Vorstellungen fallen auch Anfänge der Bestrebungen, in Prag einen kontinuierlichen tschechischen Opernbetrieb einzuführen, als im Dezember 1823 von den Laienkräften Die Schweizerfamilie von Joseph Weigl (unter dem Titel Rodina svejcarska) einstudiert wurde. Neben der sich entfaltenden Tradition der deutschen Opernvorstellungen im Prager Ständischen Theater11 beginnt - vorwiegend eben in diesem Opernhaus - auch die tschechische Tradition zu erwachen, anfangs mit unregelmäßiger Frequenz der Vorstellungen bis zur Eröffnung der ersten ständigen tschechischen professionellen Bühne in Prag - des sogenannten Interimstheaters - im Herbst 1862.12 Der tschechische Opernbetrieb wuchs allerdings sehr langsam, und zwar hauptsächlich infolge des kleinen Interesses des Publikums der geringen tschechischen Theatergemeinde. Erst die verwandelte Struktur der tschechischen Bevölkerung mit einer ausreichend breiten Schicht der ökonomisch emanzipierten tschechischen Bourgeoisie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war imstande, ein genug zahlreiches Publikum zu gewährleisten und dadurch eine der grundlegenden Bedingungen des erfolgreichen Funktionierens der tschechischen Oper zu erfüllen. Nach den ersten Versuchen einer ursprünglichen tschechischen Oper auf tschechischen Text, von denen nur der erste - Dratenik (Der Drahtbinder, Uraufführung 1826) von Frantisek Skroup auf die Worte von Josef Krasoslav Chmelensky, Erfolg erzielt hatte, gab es keinen stimulierenden gesellschaftlichen Druck, der die Entfaltung der tschechischen Produktion unterstützt hätte. Die Geschmacksorientierung der ersten 9 Nach Jan Vondracek, Dejiny ceskeho divadla. Doba predbreznovä 1824-1846, Praha, Orbis, 1957, S. 22 und 28. 10 Anonym, Cechoslav (1824), Nr. 1, 3. 1., S. 7 (zitiert in Übersetzung). 11 Seit den 1780 Jahren. Vgl. Oscar Teuber, Geschichte des Prager Theaters. Zweiter Theil, Prag, A. Haase, 1885; Miroslav Kacer, Pocatky ceskeho mest'anskeho divadla (1785-1812), [Teile über die tschechische Oper von Adolf Scherl], Dejiny ceskeho divadla II. Narodni obrozeni, hrsg. von Frantisek Cerny, Praha, Academia, 1969, S. 11-97, hier S. 20. 12 Ein Verzeichnis der tschechischen Vorstellungen vor der Eröffnung der ständigen tschechischen Opernbühne in Prag siehe in Miloslav Laiske, Prazska dramaturgie. Ceska divadelnipredstaveni do otevreni Prozatimniho divadla, I—II, Praha, Ustav pro ceskou a svetovou literaturu CSAV, 1974. tschechischen Zuschauer, die das quantitative Hinterland der sich bildenden tschechischen Theatergemeinde repräsentierten und die vor allem der ursprünglich ländlichen - nunmehr in den Prager Herrschaftshäusern dienenden - Bevölkerung, den kleinen Kaufleuten und Handwerkern entstammten, beeinflußte die Gestalt der tschechischen Opervorstellungen in Richtung der Quodlibets aus Opernarien, Liedern und Tänzen. Es war daher kein Zufall, daß der bereits erwähnte erfolgreiche Drätenik gattungsmäßig zur komischen Oper mit gesprochenen Dialogen gehörte. In einer theoretischen Abhandlung über die tschechische Nationaloper im Rahmen der künftigen slawischen Oper wird nicht zufällig betont, daß deren Text sich den heiligsten nationalen Interessen, keineswegs der „Spitzbüberei" widmen müsse. Die Musik habe jedoch gleichzeitig imstande zu sein, die Nation anzusprechen und hinter der Forderung der wichtigen Aufgabe, welche die aktiven Chöre zu spielen haben, ist als der gattungsmäßige Hintergrund die Grand opéra zu erkennen.13 Einen großen Antrieb in Sachen der Nationaloper bedeutete die Eröffnung des Prager Interimstheaters 1862, das als die erste ständige tschechische Bühne nach gewisser Anlaufszeit mit regelmäßigem Opernbetrieb rechnete. Es war ja notwendig außer der Bildung des Opernensembles selbst für das Theater einen ausreichenden Vorrat an tschechischem Repertoire zu besorgen. Auf der neuen Welle des Aufschwungs des tschechischen Patriotismus, der den fruchtbaren Boden nach dem öffentlichen Auftritt des Kaisers Franz Josef I. 1860 fand, in dem der Kaiser auf den Neoabsolutismus verzichtet und den Prozeß der Bildung der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft auf der Grundlage der konstitutionellen Monarchie eröffnet hatte, konnte sich der Aufbau des Repertoires nicht mehr auf der Basis der Übersetzungen behaupten (wenn es auch bezüglich vorigen Zeit an Übersetzungen mangelte und sie mußten sehr hastig angefertigt werden). Um so empfindsamer zeigte sich das Fehlen von ursprünglichem tschechischem Opernschaffen, das nicht nur qualitativ, sondern überhaupt zahlenmäßig in der Lage wäre, den Anforderungen des neuen Opernhauses entgegenzukommen. Die Entstehung der neuen tschechischen Opern sollte zweifelsohne auch ein Wettbewerb um den Preis von 600 Gulden antreiben, den der Graf Jan Harrach vor der Eröffnung des tschechischen Theaters im Februar 1861 ausgeschrieben hat.14 In den Forderungen dieser gesellschaftlichen Bestellung findet man in Kürze die Sehweise der 1860er Jahre, wonach das Mittel zum Erreichen der nationalen Eigenart der Oper vor allem deren Stoff sein sollte. Für die ernste Oper wird als Bedingung „eine historische Handlung aus der Geschichte der böhmischen Krone", für die komische Oper „Handlung aus dem nationalen tschechoslawischen Leben in Böhmen, Mähren oder Schlesien"15 gestellt. Diese Ansichten konnten optimalen Rückhalt im aktuellen Gefüge der Operngattungen finden, in der ein „volkstümlicher" Stoff in der Tradition der romantischen Oper und in bestimmten Typen der komischen Oper lebte, während einem historischen Sujet die Grand opéra 13 Chiffre -k., Slovo o modemi zpevohie, Cecilie 2 (1848), S. 25-26 und 29-30, hier S. 30. 14 Vgl. Vypsani cen za nejlepši opery a naležite k nim texty von 10. 2. 1861. Veröffentlicht separat und auch als Anzeige in etlichen Blättern. Faksimile in Kriticke düo Bedricha Smetany 18581865, hrsg. von Vaclav Hanno Jarka, Praha, Nakladatelstvi Pražske akciove tiskärny, 1948, zwischen S. 319 und 320. 15 Ebda. entgegenkam. Wenn man weiter liest, daß in der historischen Oper den Komponisten zur Erwägung gegeben wird, „die altertümlichen Choräle als Themen" in den Chören zu verwenden, daß in der komischen Oper „der Widerhall der nationalen Weisen" erwartet wird und empfohlen, „daß vielleicht auch die nationalen Tänze vorteilhaft gebraucht werden könnten",16 zeigt sich noch anschaulicher die Quelle dieser Bedingungen: es ist die Ästhetik der „couleur locale" dieser Zeit,17 die es möglich machte, den Raum, wo sich in der Oper traditionsgemäß Exotismen, Archaismen u. ä. geltend machten, nunmehr durch Stellen mit dem Nationalkolorit auszufüllen. Gleich im unmittelbar anknüpfenden Zeitabschnitt der Entwicklung der tschechischen Oper kann man an den kritischen Reflexionen die Tendenz ablesen, das zu erfassen und zu bestimmen, was als das Individuelle und Eigenartige die tschechische Nationalmusik charakterisieren würde. Die Bemühung, das Originelle und das nicht Originelle kategorisch festzulegen und voneinander zu unterscheiden und das national Individuelle herauszuhören, zeigte sich auch in der atomisierenden Hörweise. In dieser Reminiszenzenjägerei ging es darum - auf Grund von heute manchmal schwer zu rekonstruierenden Assoziationen - einzelne Abschnitte der Musik mit dem tschechischen, französischen, deutschen - einfach mit irgendeinem konkret bezeichneten Stil beziehungsweise einem erwünschten oder unwillkommenen Vorbild zu identifizieren. Den kritischen Urteilen kann man Folgendes entnehmen.18 Das, was für das Tschechische, Nationale gehalten und dem daher besondere Bedeutung beigemessen wurde, hatte keine festen Umrisse. Es war mit den gemeinsamen Merkmalen in der Musikstruktur nicht restlos zu erfassen und die Entscheidung darüber, welche Teile als tschechisch beziehungsweise slawisch zu bezeichnen sind, war zum beträchtlichen Maße von dem Subjekt des Beurteilers abhängig. So konnte es geschehen, daß gleiche Stellen von einigen als epigonenhaft, von anderen wider als typisch tschechisch gehört wurden. Im Zusammenhang mit dem Mythos der von der Natur herkommenden Sangesfreudigkeit und Musikalität des tschechischen Volkes, der als Beweisgrund das ganze Jahrhundert durch charakteristisch auftrat, wurde als Begleiterscheinung dieses Stereotyps die Sehnsucht der Nation nach einer in übersichtlicher und regelmäßiger syntaktischer Norm der periodischen Struktur gebildeten Melodie proklamiert. Deshalb konnten tschechische Anklänge z. B. in der Musik von Haydn und Mozart,19 aber auch von Meyerbeer und 16 Ebda. 17 Zum Begriff vgl. Heinz Becker (Hrsg.), Die „Couleur locale" in der Oper des 19. Jahrhunderts, Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 42, Regensburg, Gustav Bosse Verlag, 1976. 18 Vgl. Marta Ottlova und Milan Pospisil, Zur Frage des Tschechischen in der Musik des 19. Jahrhunderts, Music of the Slavonic Nations and its influence upon European musical culture, Musi-cological Symposium Brno 9. 10.-13. 10. 1978, hrsg. von Rudolf Pecman, Brno, Ceska hudebni spolecnost, 1981, S. 99-104. 19 Siehe z. B. Zikmund Kolesovsky, Nekolik slov o ceskem slohu hudebnim, Slavoj 1 (1862), Nr. 1, S. 4-9, Nr. 2, S. 21-25 („Die Tschechen prägen sich die Melodien Mozarts so mühelos ein und singen sie so leicht einfach deshalb, weil sie darin bekannte ihnen zugängliche und fast einheimische Weisen hören und weil sie in den Kantilenen Mozarts Gesänge begegnen, welche sie an die aus dem Schoß der Nation hervorgegangenen und in die Nationaltracht gehüllten Gesängen erinnern.", S. 24, zitiert in Übersetzung). Offenbach gefunden werden.20 Das auf diese Weise charakterisierte nationale Gepräge der Oper schien vermutlich dem Volkslied nahezustehen. Vom Gesichtspunkt der musikalischen Struktur aus werden häufig als national tschechisch solche Stellen bezeichnet, die sich durch kompositorische Simplizität oder sogar Primitivität kennzeichnen. Es entsteht hier ein Widerspruch zwischen der Anforderung an die Neuartigkeit, Originalität und den künstlerischen Wert einerseits, und die Verständlichkeit andererseits, in der sich die Neuartigkeit und Originalität nur durch die Möglichkeit erschöpft, bestimmte Stellen durch das nationale Gefühl zu besetzen. Außer den Stellen, in denen sich der nationale Charakter auf eine für das Lokalkolorit typische Art (d. h. vor allem Tanz- und Chorszenen) geltend machte, wurden mit den nationalen Gefühlen insbesondere lyrische Partien besetzt. Die die dramatische Entwicklung tragenden Teile konnten den Ansichten der Kritik zufolge an eine fremde „Schablone" erinnern. Im Hintergrund dieser Erwägungen stand das Modell eines heterogenen und zusammengesetzten Ganzen, welches das Ergebnis einer solchen Auslegung der Nationalität in der Musik war. Giacomo Meyerbeer und Richard Wagner, die in der folgenden Zeit gegeneinander ausgespielt wurden, stellten damals noch eine qualitativ gleichwertige Alternative dar,21 ebenso wie Jacques Offenbach mit seiner Operette für die komische Oper nachahmenswert wirkte.22 Anfang der 1870er Jahre erschien in der Konzeption der Nationaloper eine auffallende Veränderung im Zusammenhang mit einer neuen Welle der in Europa sich verbreitenden Wagner-Polemiken,23 die sich auch in Prag, und zwar gerade zum Zeitpunkt des intensiven Nachdenkens über die Zukunft der tschechischen Nationaloper, einstellten. Es vollendete sich das erste Dezennium der Existenz des ständigen tschechischen professionellen Operntheaters in Prag, was gemeinsam mit dem Umfang des bereits vorliegenden neuen tschechischen Originalschaffens zu bilanzierenden Betrachtungen aufforderte. Die Vielfalt der Richtungen und des Typenreichtums im tschechischen Opernschaffen, Mannigfaltigkeit, die sich auch in den bis dahin aufgeführten drei Werken von Bedfich 20 Vgl. z. B. V. [Franz Ulm], Meyerbeers „Dinorah", Bohemia 33 (1860), 10. 3., Nr. 60 („Eigentümlich ist der 'Dinorah' das Anlehen an slavische Typen, das wir schon bei Offenbach in seinen Operetten so decidirt ausgeprägt finden. Eine solche Übereinstimmung [...] läßt sich kaum annehmen, wenn nicht die jetzt so leicht gewordene Bekanntschaft mit den slavischen, insbesondere den cechischen Volksmelodien selbe erklären sollte."). Siehe auch Marta Ottlovâ, Giacomo Meyerbeer im Böhmen des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte, Meyerbeers Bühne im Gefüge der Künste, Meyerbeer-Studien 4, hrsg. von Sybille Dahms, Manuela Jahrmär-ker und Gunhild Oberzaucher-Schüller, Feldkirchen bei München, Ricordi, Paderborn, University Press, 2002, S. 364-381, hier S. 373-374. 21 Vgl. M. Ottlovâ und M. Pospisil, op. cit., 1981. 22 Vgl. Marta Ottlovâ, Offenbach' s Arrival on the Czech Stage, Le rayonnement de l'opéra-comique en Europe au XIXe siècle. Actes du colloque international de musicologie tenu à Prague 12-14 mai 1999, hrsg. von Milan Pospisil, Arnold Jacobshagen, Francis Claudon und Marta Ottlovâ, Praha, KLP - Koniasch Latin Press, 2003, S. 265-275. 23 Den äußeren Impuls gab hier eine erneuerte Aktualität Wagners, der der Öffentlichkeit die lange erwarteten Premieren seiner neuen Werke geboten (angefangen mit dem Tristan 1865) und mit abermaligem literarischem Auftreten (Das Judentum in der Musik unter eigenem Namen 1869) neue Diskussionen angeregt hatte. Smetana geäußert hatte,24 machte die kollektive Entscheidung über den tschechischen Nationalopernstil keineswegs leicht. Smetanas Prodana nevesta begann zwar von der musikalischen Öffentlichkeit als Nationaloper angeeignet zu werden; als komische Oper aber wurde sie für die Aufgabe, eine die Nationalmusik repräsentierende Oper zu sein, im Hinblick auf die gesellschaftliche Hierarchie der dramatischen Gattungen als nicht würdevoll genug betrachtet. Die damaligen Kontroversen um die ideelle künftige Gestalt der Nationaloper allgemein trugen zur Profilierung und zur Verschärfung der Standpunkte ihrer Teilnehmer bei, die sich gleichzeitig als Anhänger und Widersacher Richard Wagners präsentierten.25 Die auf Wagner gestützte Idee der tschechischen Nationaloper formulierte der Ästhetiker Otakar Hostinsky. In der Gründung der tschechischen Oper auf Wagner sah er eine Gelegenheit, fortschrittlich zu sein, modern also, ohne in Eklektizismus oder Epigonentum abzugleiten, sich gegen die herrschende Vorliebe für die italienische Oper zu stellen und gleichzeitig auf die aktuelle Forderung nach einer Nationaloper einzugehen. Hostinsky gehörte mit seinen, in der evolutionären Auffassung der Musikgeschichte, begriffen als linearer Fortschritt, verankerten Ausgangspunkten zum Umkreis der sogenannten Neudeutschen Schule, die auf dem Gebiet der Musikgeschichtsschreibung durch Franz Brendel repräsentiert worden war. Richard Wagner stellte auch für Hostinsky das höchste, das fortschrittlichste Stadium der Opernentwicklung dar, zu dem die tschechische Oper unvermeidlich, in der Folge des unaufhaltsamen Ganges der Geschichte gelangen müsse. Lassen wir die vollständige historische Analyse seiner Standpunkte beiseite,26 tritt in unserem Kontext in den Vordergrund als Hauptmotiv Hostinskys Sorge um die Zukunft der tschechischen Oper und die Überlegung, in welcher Weise sie in der Entwicklung der Oper als Gattung, begriffen als Wettstreit zwischen einzelnen Nationen, bestehen kann. Angesichts der bereits vorhandenen „fortschrittlichsten" Lösung bei Wagner, kann sich die tschechische Oper Hostinsky zufolge den überflüssigen Weg der Suche, der nur das Schreiten durch das Stadium vor der Reform bedeuten würde, ersparen, indem sie dem Vorbild Wagners direkt folgt. In der Bildung seiner Vorstellung von der tschechischen Oper nimmt Hostinsky auch einen anderen Topos der neudeutschen Ästhetik auf, die Idee der Originalität, die er im tschechischen Musikcharakter sieht. Für Hostinsky ist Wagners theoretisches Konzept des Musikdramas entscheidend, und zwar deshalb, weil es, im Unterschied zu Wagners nationaler Kunst, die deutsch ist, insofern eine breitere Gültigkeit besitze, als es Wissenschaft sei, und die habe einen übernationalen, kosmopolitischen Charakter.27 Die künstlerische 24 Branibori v Cechäch (Die Brandenburger in Böhmen, 1866) als große historische Oper, die erste Fassung der Prodanä nevista (Die verkaufte Braut, 1866) als Opéra comique, und die tragische Oper Dalibor (1868). 25 Zur Entwicklung des Wagnerverständnisses in Böhmen seit 1850er Jahre und zur ausführlichen Dokumentation folgender Zeilen vgl. Marta Ottlova und Milan Pospisil, Zu den Motiven des tschechischen Wagnerianismus und Antiwagnerianismus, Oper heute. Ein Almanach der Musikbühne 9, hrsg. von Horst Seeger, Berlin, Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, 1986, S. 165-182. 26 Siehe Anm. 25. 27 Otakar Hostinsky, Richard Wagner. Nastin zivotopisny, Hudebni listy 2 (1871), neun Fortsetzungen zwischen S. 265-368, hier S. 352. Verwirklichung dieses theoretischen Konzepts allein in den Werken tschechischer Komponisten bedeutet daher keine Nachahmung Wagners. Wagners Theorie bietet Hostinsky den Weg an, wie der Oper das originelle, d. h. nationale Gepräge am sichersten zu gewähren. Laut Hostinsky ist die Sprache das einzig unanfechtbare Charakteristikum einer Nation.28 Und Wagner interpretiert er in diesem Sinne vor allem als einen Komponisten, der durch den deklamatorischen Stil seiner Vokalparte nicht nur eine moderne Lösung des Problems der Beziehung zwischen Musik und Sprache, sondern auch eine Gelegenheit für Durchsetzung des Nationalcharakters in der Musik angeboten habe, so daß durch die Beachtung der Wortdeklamation in der Musik, d. h. insbesondere durch die Berücksichtigung der Silbenbetonung und -länge im metro-rhythmischen musikalischen Verlauf, und des Tonfalls der Sprache deren nationale Prägung auf die Musik übertragen werde.29 Den nationalen Charakter können ebenfalls Wagnersche Leitmotive betonen, vor allem dadurch, daß darin der Vorstellung Hostinskys zufolge auch Melodien im Stil der Volksliedweisen angebracht werden können.30 Hostinskys Vorstellung, man könne durch die Berücksichtigung „der richtigen Sprachdeklamation" der Musik das nationale Gepräge geben, begegnete bereits zur Zeit ihrer Formulierung polemischen Äußerungen von Max Konopasek31 und auch Leos Janacek,32 die auf die Tatsache hinwiesen, daß für das Verständnis des Sinnes und auch für die musikalische Erfassung der sprachlichen Mitteilug die außersprachliche Situation, angefangen vom Ausdruck des gesprochenen Wortes, von größerer Bedeutung ist.33 In der Zuschreibung einer derart wichtigen Aufgabe der Sprache in der Vorstellung von der tschechischen Variante des Musikdramas unterscheidet sich jedoch Hostinsky auch von 28 Otakar Hostinsky, „Wagnerianismus" a ceska narodni opera, Hudebni listy 1 (1870), in fünf Fortsetzungen, zitiert nach der Fassung der Auswahl seiner Artikel, von ihm im Buch gesammelt; Otakar Hostinsky, Bedrich Smetana a jeho boj o moderni ceskou hudbu, Praha, Leichter, 1901, S. 146-178, hier S. 163. 29 Seine vorher gesondert veröffentlichten Ansichten von diesem Problem verarbeitet er systematisch in dem Aufsatz Otakar Hostinsky, O ceske deklamaci hudebni, Praha, Fr. A. Urbanek, 1886 (zuerst erschienen in Fortsetzungen in der Zeitschrif Dalibor 4 (1882), Nr. 1-18), Nachdruck in: Hostinsky, O hudbe, hrsg. von Miloslav Nedbal, Praha, Statni hudebni vydavatelstvi, 1961, S. 261-297. 30 Otakar Hostinsky, Take „nektere myslenky o ceske opere", Hudebni listy 3 (1872), sieben Fortsetzungen zwischen S. 261-312, hier S. 302-303. 31 Siehe Max Konopasek, Hudebni a nebudebni stranky slovanske hudby, Hudebni listy 6 (1875), zwanzig Fortsetzungen zwischen S. 127-202, hier S. 174 und 177. 32 Janacek polemisierte gegen Hostinsky in der Besprechung der Sammlung slawischer Lieder von Ludvik Kuba, vgl. Leos Janacek, Slovanstvo ve svych zpevech..., Hlidka literarni 3 (1886), S. 314-316, und 4 (1867), S. 43-46, zweite Fassung Hudebni listy 3 (1887), S. 73-78. Diese Fassung nachgedruckt in Leos Janacek. O lidove pisni a lidove hudbe, Janäcküv archiv II/1, hrsg. von Jiri Vyslouzil, Praha, Statni nakladatelstvi krasne literatury, hudby a umeni, 1955, S. 121-131. 33 Vgl. auch Marta Ottlova und Milan Pospisil, Idea slovanske hudby, „Slavme slavne slavu Slavov slavnych". Sbornikprispevkü z 25. rocniku sympozia kproblematice 19. stoleti, Plzen, 24.-26. ünora 2006, hrsg. von Zdenek Hojda, Marta Ottlova und Roman Prahl, Praha, KLP - Koniasch Latin Press, 2006, S. 172-182, hier S. 179-181. Wagner selbst. 34 Die Nationaloper gewinnt erst durch das Anschmiegen der Musik an die Sprache die höchste dramatische Qualität, denn sie müsse laut Hostinsky die Oberhand der dichterischen Sprache als des Hauptmittels der dramatischen Äußerung in der Oper respektieren. Hostinsky hat Wagners Begründung des Musikdramas nicht übernommen. Für Wagners Ästhetik in ihrem ganzen veränderlichen vielschichtigen Gedankenkomplex ist die Verknüpfung zweier Grundkategorien bestimmend, nämlich der Vergegenwärtigung und der Motivation. Wenn in einem Musikdrama erst der musikalische Ausdruck das Mittel zur Vergegenwärtigung der dichterischen Absicht ist, dann ist auf der anderen Seite die dichterische Absicht ein notwendiges Motiv und die ästhetische Rechtfertigung für die Musik.35 Von den besagten beiden Kategorien akzentuierte Hostinskys Ästhetik die letztere, allerdings im Sinne der Verbindung der Musik mit dem Wort, die für Hostinsky eine Möglichkeit der Bereicherung und der Entfaltung der Ausdrucksfähigkeiten der Musik darstellte.36 Es wird deutlich, daß Hostinskys Idee des Dramas im Musiktheater in Unterschied zu Wagner37 eher von einer Abart des gesprochenen Dramas ausgeht. Konsequenterweise konnte er dann das nächste Stadium der nachwagnerischen progressiven Entwicklung im Bühnenmelodram sehen.38 Während Hostinsky seiner professionellen Orientierung gemäß die Idee der tschechischen Nationaloper mehr oder weniger systematisch formulierte, äußerte sich sein Hauptgegner, der Gesangspädagoge Frantisek Pivoda vorwiegend in Kritiken oder in gelegentlichen Polemiken. Obgleich wir bei ihm auch Sentenzen finden, die für europäische Antiwagnerianer kennzeichnend sind (so wird dem unvermeidlichen Gang der Geschichte und des Fortschritts das Argument der Tradition und der Natürlichkeit entgegengehalten), kommen sie insbesondere in der Weise vor, daß er sich dadurch auf Autoritäten wie Eduard Hanslick berufen kann. Für Pivoda war die eigene Hörerfahrung mit Wagners Werk ausschlaggebend. Die Schrift Das Kunstwerk der Zukunft war er noch zu akzeptieren bereit, doch sobald er direkt mit Wagners Musik, die ihm unverständlich war, 34 Einige tschechische Polemiken gegen Wagner sind in Wirklichkeit Polemiken gegen Hostinskys Deutung, und stehen paradoxerweise nicht in Widerspruch zu Wagner. 35 Vgl. Carl Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, Regensburg, Gustav Bosse Verlag, 1971, besonders S. 89f. und 100f. 36 Von der Position der formalen Ästhetik verarbeitete er seinen Standpunkt systematisch in der Schrift: Otakar Hostinsky, Das Musikalisch-Schöne und das Gesamtkunstwerk vom Standpunkte der formalen Ästhetik, Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1877. 37 Vgl. dazu Wagners Begriff „das tönende Schweigen" und seine Deutung in Carl Dahlhaus, Über das „kontemplative Ensemble", Opernstudien Anna Amalie Abert zum 65. Geburtstag, hrsg. von Klaus Hortschansky, Tutzing, Verlag Hans Schneider, 1975, S. 189-195, besonders S. 195. 38 ene Richtung [...] zum Melodram [...] erscheint uns [...] als ein direktes Weitergehen auf dem Wege von der Stilisierung des virtuosen Gesanges über ausdrucksstärkere Melodie und richtige musikalische Deklamation bis zur vollständigen, ungestörten Geltung des schlicht gesprochenen Wortes hin. Diese Entwicklung bedeutet daher ein konsequentes Fortschreiten von der Vorherrschaft der absoluten Musik in der vorgluckischen Oper zur Vorherrschaft der Dichtung in der modernen musikdramatischen Kunst.", so charakterisierte Hostinsky die Trilogie von Bühnenmelodramen Hippodamie (1889-1891) seines Freundes Zdenek Fibich, die man als ein spezifisches Beispiel der tschechischen Wagner-Rezeption deuten kann (vgl. Otakar Hostinsky, Vzpominky na Fibicha, Praha, Mojmir Urbanek, 1909, S. 161, zitiert in Übersetzung). konfrontiert wurde, stellte er sich zwangsläufig die Frage nach der Richtigkeit der Wag-nerschen Theorien, wenn sie zu einer solchen Konsequenz für den Hörer führen.39 Und daraus folgte für ihn, daß sowohl Wagners Beispiel als auch seine Interpretation durch Hostinsky in der Nationaloper die gleiche Unverständlichkeit heraufbeschwören würden. Pivoda, jene entscheidende Schicht der tschechischen Musiköffentlichkeit repräsentierend, die auch Trägerin des Zeitgeschmacks war, ist bestrebt, seinem Geschmacksurteil durch nationale Argumentation den Anschein von Objektivität zu geben. Er beruft sich auf die in ihrer angeblich von Natur aus gegebenen Einfachheit und Melodizität sich manifestierende Musikalität als besonders kennzeichnende Bestandteile der Charaktero-logie des tschechischen Volkes, also auf den bekannten Stereotyp aus dem sogenannten philologischen Stadium der tschechischen Nationalwiedergeburt. Alles, was sich dieser Vorstellung widersetzt, wird von ihm als ein fremdartiger Einfluß des selbstverständlich mit Wagner als dem Muster aller Unverständlichkeit gleichgesetzten deutschen Geistes abgelehnt.40 Obwohl die tschechischen Antiwagnerianer und Pivoda in der tschechischen Musikwissenschaft, die auf die Dauer von der Fortschrittsidee beeinflußt worden ist, vereinfacht als Vertreter einer Vorstellung von der durch Nachahmung von Volksliedern geschaffenen Nationaloper charakterisiert werden, zeigt sich, daß der Hintergrund und die Motivierung ihrer Vorstellungen komplizierter war. Gegenüber der Idee des tschechischen Musikdramas von Otakar Hostinsky steht bei Pivoda das Ideal der Oper, in welcher der Ausdruck des von der menschlichen Stimme gesungenen Tones der Hauptfaktor des dramatischen Geschehens ist, ideal repräsentiert durch die italienische bel-canto-Oper. Und insbesondere in Wagners Orchester sahen die Antiwagnerianer die Bedrohung der dominanten Aufgabe des Gesangs in der Oper, und somit ihres Wesens schlechthin. Darüber hinaus hat das in manchen Kritiken geäußerte Verlangen nach liedhaftem Charakter noch einen weiteren Hintergrund. Der Ruf nach liedhafter Einfachheit und Vorwürfe gegen Wagners unzugängliche Schwierigkeiten, unübersichtliche Form, die Notwendigkeit der rationalen Hörweise mit Hilfe von Motivtabellen, die Wahrnehmungskapazität übersteigende Kompliziertheit usw., das alles drückt hier ein Gefühl von verlorener Orientierung in Wagners Musik aus, ein deutlich spürbares Schwinden jenes abstrahierbaren stützenden Fundaments, auf welches bis dahin ein beträchtlicher Teil der Kunstmusik reduzierbar gewesen ist, zumal die Gebrauchsmusik fast ausschließlich von ihm gelebt hat. Das alles bedeutet den Verlust jener übersichtlichen, durch den quadratischen Bau oder eine klare harmonische Gliederung gegebenen syntaktischen Norm, welche den Schein des Vertrauten und Einfachen erweckt, was in der italienischen Oper, die den Hintergrund für die Einwände gibt, insbesondere das begleitende Orchester vermittelte. Mit jenem Verlust der Stützen des musikalischen Hörens hängen die Anfänge der Ablehnung der zeitgenössischen Werke beim Publikum zusammen, welche sich in Prag ebenso einstellt wie in ganz Europa. Die Akteure der Wagner-Polemiken rechtfertigten ihre Ansichten durch die Sorge um die tschechische Nationaloper. Diese Sorge war auch eines der entscheidenden Mo- 39 Vgl. Frantisek Pivoda, O hudbe Wagnerove, Praha, J. Otto, 1881, S. 35. 40 Vgl. z. B. Frantisek Pivoda, Nektere myslenky o ceske opere, jejim utvoreni, rozkvetu, zachovani a püsobeni, Osveta 2 (1872), S. 135-140. mente für das Streben Bedfich Smetanas, dessen Werk in diesen Polemiken die Rolle eines wichtigen Arguments spielte, sei es im positiven wie negativen Sinne. Hauptsächlich Otakar Hostinskys Deutungen von Smetana als Schöpfer, der einen erfolgreichen, aber leider unvollendeten Weg zur tschechischen Variante des Wagnerschen Musikdramas beschritt, begannen bereits zu Lebzeiten des Komponisten die Darstellung des Weges und der Entwicklung der tschechischen Nationaloper und deren „Gründers" einseitig zu prägen und sind nachher für die tschechische Musikwissenschaft weit mehr als die vielfältige historische Wirklichkeit selbst zum Ausgangspunkt der Interpretationen geworden. Als Smetana nach seiner Rückkehr von seinem sechsjährigen Wirken im schwedischen Gothenburg 1861 ins tschechische nationale Leben eintrat, fing er an, mit seinem Werk die tschechische Nationaloper bewußt zu schaffen. Er hatte dabei im Sinn das Ganze einer so gearteten tschechischen Kultur einschließlich einer Oper, die nicht nur national spezifisch wäre, sondern zugleich die wesentlichen und hervorstechenden Äußerungen der fremdvölkischen europäischen Kulturen integriert. Angesichts des Nicht-vorhandenSeins der vorherigen kontinuierlichen tschechischen Operntradition strebte er danach, durch die Vielfalt seiner Opern die meisten aktuellen Typen und Lösungen anzubieten, damit die tschechische Oper in ihrer Mannigfaltigkeit und Komplexität den gesamteuropäischen Traditionen gleichkäme. Sein bewußtes Streben wird nicht nur durch sein Werk, sondern auch durch seine überlieferten Aussagen41 und unverwirklichten Opernpläne belegt. Diese in der universalistischen und von der Generation der sogenannten philologischen Phase der tschechischen nationalen Wiedergeburt entworfenen Konzeption der vollständigen sprachlich tschechischen Kultur verankerte Absicht war für ihn lebenslang bestimmend. In ihrem Wesen selbst war sie freilich mit der Vorstellung von einer einseitigen, auf Wagner aufgebauten Entwicklung, wie sie Otakar Hostinsky forderte, prinzipiell unvereinbar.42 Gegen das Ende der 1870er Jahre begann die entscheidende Schicht der tschechischen musikalischen Öffentlichkeit den individuellen kompositorischen Stil Smetanas als den die tschechische Nationalmusik repräsentierenden Stil und die Verwirklichung der Idee der tschechischen Nationaloper aufzunehmen, deren veränderlichen Gehalt wir haben versucht zu skizzieren. 41 Z. B. Smetanas Briefe an Jan Ludevit Prochazka von 21. 2. 1882 und an Adolf Cech von 4. 12. 1882. Die Autographen der mehrmals in der Literatur auszugsweise zitierten Briefe in Bedfich-Smetana-Museum in Prag. 42 Vgl. Marta Ottlova, Richard Wagner a Bedfich Smetana. Mala üvaha na stare tema, Richard Wagner a ceska kultura, Knihovna opery Narodniho divadla 7, hrsg. von Pavel Petranek, Praha, Närodni divadlo, 2005, S. 221-238. K OZADJU ZGODOVINE RECEPCIJE ČEŠKE NACIONALNE OPERE Povzetek Nacionalna opera je postala pomemben atribut modernega naroda. V prvem obdobju češkega nacionalnega preporoda so se na področju opere s prevajanjem libretov, s »češ-čenjem« evropskega repertoarja in s stvarnostjo češkega petja izpolnila prizadevanja po ponovni vzpostavitvi popolne češke jezikovne kulture. Ustanovitev prvega stalnega češkega opernega gledališča v Pragi je omogočila šele spremenjena socialna struktura, ki je številčno obogatila občinstvo z ekonomsko osamosvojenim češkim meščanstvom. Odprtje t. i. »začasnega gledališča« je spodbujalo kontinuirano izročilo ustvarjanja češke opere. Poroštvo za nacionalni pečat češke opere sta bili na začetku snov in uporaba estetike »couleur locale«. Ustvarjalci so nacionalno glasbeno posebnost iskali v soglasju z mitom o naravnem veselju Čehov do petja v preprostih pesemskih oblikah. O prihodnji podobi nacionalne opere so se v sedemdesetih letih 19. stoletja začele polemike med Wagnerjevimi zagovorniki in nasprotniki. Estetik Otakar Hostinsky je poudaril, da je za razvoj češke nacionalne opere nujno potrebno prevzeti wagnerjanski teoretični koncept glasbene drame. Nacionalni pečat naj bi v glasbo prešel s pomočjo »prave« glasbene deklamacije češkega govora na način »govorjenega petja«. Vodilni češki nasprotnik Wagnerja in pevski pedagog František Pivoda je odklanjal Wagnerja kot zgled za češko nacionalno opero, ker naj bi skladatelj lepo petje, glavnega nosilca dramatičnega izraza v operi, podredil njemu nerazumljivemu in formalno nepreglednemu deležu orkestra. Hostinsky je Bedricha Smetano od vsega začetka enostransko označil kot ustvarjalca češke variante Wagnerjeve glasbene drame, čeprav je Smetana skušal v svoji ustvarjalnosti združiti kar največ značilnih opernih zgledov in s tem dati delom evropsko primerljivo raznolikost. Od sedemdesetih let 19. stoletja je češka javnost začela sprejemati Smetanin individualni slog kot uresničitev ideje o češki nacionalni operi.