Cathrin Nielsen WIRKLICHKEIT ALS UNENDLiCHER PROGRESS „Und es scheint beim Unbegrenzten das 257 ,in der Möglichkeit' dasselbe zu sein wie das ,in der Wirklichkeit'. Denn das Wirklichsein des Unbegrenzten als solchen ist das ,Immer noch etwas mehr können" (Aristoteles, Phys. III, 6) Wenn man versucht, zentrale Grundzüge im Hinblick auf die Frage nach Humanität, Europa und Welt im 21. Jahrhundert herauszustellen, treten vor allem zwei, zunächst scheinbar gegenläufige Tendenzen in den Blick: zum einen eine wachsende Tendenz zur Einförmigkeit, Homogenität und Uniformierung, zum anderen ein merkwürdiges, scheinbar unaufhaltsames Auseinandergleiten aller gewachsenen Gestalten und Verhältnisse. Diese untergründigen Bewegungsvorgänge betreffen das Humane wie die Welt gleichermaßen. So ist schon seit längerem von der schleichenden Atomisierung die Rede, die die sozialen, die politischen, aber auch die familiären Zusammenhänge erfasst hat. Aber auch die Dinge und Körper, die kulturellen und geschichtlichen Tatsachen scheinen in diesem allgemeinen Wegsinken befasst zu sein; jedes Ereignis wird, wie Jean Baudrillard einmal schreibt, „durch einen totalen Verbreitungs - und Zirkulationsschub freigesetzt - jede Tatsache wird zum Atom, wird nuklear, und folgt ihrer Bahn ins Leere". Während das Homogene kategorial leicht fassbar scheint, drän- gen das Indifferente und Diffuse die Möglichkeiten der Sprache gewissermaßen an den Rand ihrer Aussagekraft. Sie hinterlassen ihre Spuren nur in einer unruhevollen Rastlosigkeit, einer latenten Bedrohung und Angst sowie jenen Formen eruptiver Gewalt, die in brutaler Abkürzung dasjenige zu Tage bringen, was untergründig bereits alles zu erfassen beginnt. Was hat es mit dieser „Freisetzung ins Leere" genauer auf sich? Was ist es, das durch jenen „totalen", Mensch und Ding gleichermaßen betreffenden „Verbreitungs- und Zirkulationsschub", von dem Baudrillard spricht, „freigesetzt" wird, und was bedeutet dieser „Schub"? Und inwiefern fallen in ihm auf eigentümliche Weise Diskretion (Atomisierung) und Kontinuität (Homogenisierung) zusammen, also die Tatsache, dass der Auseinanderfall ein Gesicht trägt, in dem alles eins, ewig und unaufhörlich zu sein scheint, anstatt uns in seiner implosiven Leere den Boden unter den Füßen wegzuziehen? 258 Ich möchte im Folgenden versuchen, mich dieser Frage unter dem Aspekt der Unendlichkeit im Sinne des infiniten Progresses zu nähern. Mit ihm ist eine philosophische Grundproblematik angesprochen, die ein spezifisches Merkmal der neueren Philosophie darstellt und doch zugleich so alt ist wie die Philosophie selbst. Die Antike thematisierte das potenziell Unendliche als das apeiron, also das, was von sich her keine Grenze (peras) hat. Inbegriff eines solchen Grenzenlosen ist etwa das Wasser, dem nach Aristoteles weder Anfang, Mitte noch Ende eignet, und dem von dieser Grenzenlosigkeit her kein eigentlicher Wirklichkeitscharakter zugesprochen werden kann, sondern nur ein gewisser, schwer zu bestimmender Charakter der Möglichkeit. Der Modus der Möglichkeit, den Aristoteles hier im Auge hat, unterscheidet sich von einem Möglichsein (dynamis) im Hinblick auf eine ,noch nicht' seiende Wirklichkeit (energeia) - der Möglichkeit des Steines etwa, Statue zu werden oder derjenigen des Keimes, zur Frucht. Es handelt sich vielmehr um eine merkwürdig sich in sich zurückbeugende und darin gewissermaßen erstarrende Sukzession einander ablösender Momente. Als erstes Kennzeichen hält Aristoteles fest: das in Frage stehende Unendliche ist das, was seiner grundsätzlichen Verfassung nach immer noch etwas außer sich hat. In diesem Sinne spielt das Unendliche bereits im Platonischen Denken eine zentrale Rolle, nämlich als pleonexia, als das Immer-mehr-haben-wollen, das in den Phänomenen der Macht oder der Begierde „wirklich" wird, aber auch in der Zahl, die sich als Reihenzahl rein expansiv fortsetzt, weshalb der späte Platon die „unbegrenzte Zweiheit" (aoristos duas) auch als zahlenerzeugende Potenz bestimmt. In der Moderne greift Hegel das Problem des unendlichen Progresses unter dem Terminus der „schlechten Unendlichkeit" wieder auf, die sich dadurch bestimmt, dass sie „ein Wiederholen von einem und demselben" darstellt, „eine Ohnmacht des Negativen, dem das, was es aufhebt, durch sein Aufheben selbst als ein Kontinuierliches wiederkehrt". Sie tritt im Zusammenhang des quantifizierenden Verstandes auf, der darauf zielt, alles Seiende unter dem Aspekt seiner Berechenbarkeit zu nehmen und aus seiner endlichen Bestimmtheit herauszuschicken in ein Jenseits, das wiederum nichts anderes darstellt als die Kontinuität seiner Berechenbarkeit. In diesem ziellosen Hinausschicken über sich ist der quantitative Progress näher betrachtet nichts als monotone Wiederholung eines und desselben, eine Form des erstarrten Stillstands, die auch der Phäno-menologe Eugen Fink anspricht, wenn er schreibt, in der Übersetzung der „Weltunendlichkeit von Raum und Zeit" in die mathematische „ Unendlichkeit infinitesimaler Teile" habe sich die Unendlichkeit immer schon vollzogen und stehe nun als „perfekte Unendlichkeit" in sich selbst. Die implosive Leere, die alles in sich hineinziehen will, ist hier gleichsam „das apeiron im Felde des raum- und zeithaft Quantitativen". Lassen sich also Zusammenhänge herstellen zwischen dem Kontinuum des Quantitativen und der eigentümlichen Gegenwart des unendlichen Progresses, seinem Übergang aus einer (antik gedacht) ontologischen Unmöglichkeit zur Wirklichkeit gegenwärtiger Vernunft und Welt? Erhebt vielleicht all das, was sich für die Antiken im Modus der bloßen Möglichkeit zeigte, gegenwärtig so nachdrücklich Anspruch auf Wirklichkeit, dass uns dagegen, wie Baudrillard nahelegte, der Modus der Wirklichkeit zunehmend unbemerkter einfach verschwindet? Eine Art „umgekehrte Anziehung durch die Leere anstelle der Anziehung des Vollen durch das Volle"? 1 Für Aristoteles ist das Unendliche Ausdruck des unbestimmt-formlosen Werdens, das alles Sein aus sich ausschließt und darin ewig unvollendet bleibt. Es kann deshalb allein im Modus der bloßen Möglichkeit gedacht werden, weil alles in die Wirklichkeit übergetretene Sein eine Grenze (peras) hat, nicht als Grenze von außen, sondern als Wesensgrenze oder in sich bewahrten Anfang, von dem alles weitere seinen Ausgang nimmt. Sofern das Unendliche diese Wesen-sumgrenztheit, und damit die Möglichkeit des Anfangen- und Endenkönnens, aus sich ausschließt, zeigt es sich sogar genauer als etwas, das überhaupt nur im Hinblick auf ein Anderes bzw. als ein in Anderem Enthaltenes ausgesagt werden kann, an ihm selbst (kath' auto) hat es - wie auch die Materie - keinen Bestand und ist darin ebenso unerkennbar wie unbestimmbar. Und dass etwas Unerkennbares und Unbestimmtes (aoriston) eine umgrenzende, und das heißt wirklichkeitsbestimmende Funktion übernehmen können soll, das hält Aristoteles (wie die ganze klassische Antike) für vollkommen widersinnig. Die Welt (kosmos) ist eine notwendig begrenzte Welt. 260 Alle versuchten Bestimmungen des spezifischen Möglichkeitscharakters, die Aristoteles in Bezug auf das Unendliche vornimmt, stehen also unter dem grundsätzlichen Vorbehalt, dass das Unendliche negativ (im Sinne einer Privation) vom Ganzen und Umgrenzten her und damit in einer gewissen Abhängigkeit von ihm gefasst werden muss. Diese grundsätzliche Endlichkeit erstreckt sich auch auf die drei Phänomene, an denen das apeiron, wie Aristoteles sagt, doch auf eine bestimmende Weise zu Tage tritt: auf die unbegrenzte Teilbarkeit einer Ausdehnungsgröße (beispielsweise der Linie), auf die Unendlichkeit der Zahlenreihe und zuletzt auf die Zeit. Das Phänomen der potenziell unbegrenzten Teilbarkeit eines gegebenen Ganzen, also die Möglichkeit der ins je Kleinere gehenden Unendlichkeit spielt beispielsweise in den Zenonschen Bewegungsparadoxien und dem hier ins Feld geführten Argument der „Dichotomie" eine Rolle: Eine Strecke AB wird in C halbiert, die Hälfte CB wiederum in C' und unbegrenzt so weiter; addiert man diese unbegrenzten Teilstrecken jedoch, bleibt ihre Summe stets unter 1, das heißt die Bewegung kommt nie ans Ziel, sie findet gleichsam von sich her nicht mehr in ein Ganzes zurück. Während Zenon daraus schließt, dass es so etwas wie bestimmte Bewegung nicht gibt, hält Aristoteles dem den spezifischen inneren Zusammenhalt der Strecke entgegen; diese Strecke selbst ist kein nachträgliches Aggregat aus Punkten, von denen sich fragen lässt, wie sie zu einem Ganzen zueinander kommen können (wenn nicht durch eine ganz äußerliche Anhäufung), sondern umgekehrt zunächst ein von sich her ungebrochener Verlauf, an dem dann Grenzen, Punkte, Schnitte, Teilungen usw. vorgenommen werden können, ohne damit dieses Kontinuum selbst in Frage zu stellen oder zu gefährden. Denn die Kontinuität einer Sache ist kein ihr äußerlich Zukommendes, sondern ihre Sachheit selbst, insofern sie sich von innen her „als die Ener-geia des Einswerdens bzw. des Einigens erweist". Das Unendlichkeitsmoment in Form seiner potenziellen unendlichen Teilbarkeit (apeiron dihairesei) weist demnach nicht auf einen sachlich inhärenten Progress, sondern lediglich auf eine im Wesen dieser Sache selbst nicht angelegte, wenn auch von außen betrachtet nicht unmögliche Möglichkeit. Auch wenn demnach die unendliche Teilbarkeit ein echtes apeiron darstellt, bleibt es eines bloß der Möglichkeit nach (apeiron dynamei), und zwar einer solchen Möglichkeit, die den Übergang in die Wirklichkeit radikal aus sich ausschließt, die also schlechthin nicht in der Lage ist, an irgendeinem Punkt ihrer selbst wirklich und geschlossen da zu sein (die Strecke ist zwar unbegrenzt teilbar, aber niemals unbegrenzt geteilt). Analog dazu verhält sich die Unendlichkeit der Zahlenreihe: wenn es die Möglichkeit gibt, eine Ausdehnungsgröße unendlich zu teilen, dann gibt es ja auch jene, diese endlosen Teilungsschritte endlos zu zählen. Die an einer bestimmten Sache von außen mögliche Operation des unendlichen Weiterzählens, ihre Zähl^arkeit, impliziert jedoch ebenso wenig wie ihre Teilbarkeit die Wirklichkeit einer solchen unendlichen Zahlenreihe (apeiros arithmos), auch sie gibt es nur potenziell im Zählen und nie als aktuale Unendlichkeit der Reihe. Mit anderen Worten: nicht das ape-iron dynamei bildet das Kontinuum, an dem eine Sache ihren Wirklichkeitscharakter messen muss, sondern umgekehrt ist die zugrundeliegende Kontinuität nichts anderes als die jeweilige, im inneren Vollzug zusammengehaltene Sache selbst. Für beide Unendlichkeitsphänomene gilt also in Bezug auf die aristotelische Konzeption: den unendlichen Progress sowohl ins Kleinere wie ins Größere gibt es nur in Bezug auf die endliche Gestalt. Er ist im Gegensatz zu ihr als das, „was immer noch etwas außer sich hat" gewissermaßen verurteilt dazu, als ewig unvollständiges Werden niemals in die Wirklichkeit übertreten zu können. Die Zeit ist das letzte und zugleich primärste Phänomen der Unendlichkeit. Ihr Verhältnis zur Zahl wie zur Linie auf der einen Seite wie andererseits zum menschlichen Denken überhaupt ist freilich zu komplex, um im vorliegenden Zusammenhang angemessen aufgegriffen werden zu können. Ich werde mich daher auf bloße Andeutungen beschränken, wohl wissend, dass sich hier das offene Zentrum auch des vorliegenden Themas verbirgt. Die Charakterisierung des Unendlichen als das, wovon wir immer noch etwas wegnehmen oder hinzufügen können und das dadurch niemals geringer wird oder verschwindet, ist nämlich durch die zeitlichen Aspekte sowohl des „immer" wie des „niemals" bestimmt, und gerade diese paradoxe Doppelbestimmung scheint für den eigentümlich beständigen Möglichkeitscharakter des progressiv Unendlichen zuständig zu sein. Das Sein des apeiron ist kein konkretes Dieses-da (tode ti) wie ein Mensch oder ein Haus, sondern eines wie der Tag oder das Spiel, wie Aristoteles sagt, denen das Sein nicht wie eine ousia geworden ist, sondern beständig wird im Werden und Vergehen. Simplicius kommentiert dieses merkwürdige Sein-im-Werden so, dass es „immer zusammen mit dem in der Möglichkeit Seienden" ist und „immer die Erstreckung im Werden hat", weil es „nirgends von dem ,in der Möglichkeit' abgelöst wird"; denn das, was überhaupt abgelöst werden kann, hat notwendig eine Grenze. Die Aporie, die darin steckt, ein durch seine Wirklichkeit als Möglichkeit in einem tieferen Sinne von sich selbst ewig unablösbare Beschaffenheit zu sein, deutet einerseits auf die radikale Veräußerung alles Seienden im Kontext des unendlichen Progresses (der immer und zugleich niemals ins Sein tretenden Zeit), und es wird dieser Aspekt sein, der die folgenden Überlegungen zum empirischen Regress (Kant), zur „quantitativen Unendlichkeit" (Hegel) und zum „Gestell" (Heidegger) und die dahinter stehende Frage nach den Konsequenzen der Umwendung des unendlichen Progresses von einer kategorialen Möglichkeit zur phänomenalen Wirklichkeit maßgeblich leiten wird. Andererseits liegt in dem eigentümlichen Zusammenhang der Zeit mit dem Zählen und dem hier verborgenen Unendlichen ein Hinweis auf die Zeitgebundenheit des menschlichen Daseins überhaupt, der ihre scheinbar bloß kategorialen Aspekte in ein grundsätzlich anderes Licht rückt. Wenn es die Seele ist, die zählt, wie Aristote- 261 262 les festhält, die zwei Jetzte auseinanderhält und so die Zeit sich in ihrem diskreten Verlauf, ihrem Vorher, Nachher und Jetzt bekunden lässt, zeigt sich die Zahl durch ihre äußere Relationalität hindurch als eine ursprünglich zeugende Tätigkeit der Seele. Wenn Kant die Zeit als die Form des inneren Sinnes bestimmt (was bedeutet diese Innerlichkeit eigentlich?), in dem wir uns selbst anschauen, weil jedoch die innere Anschauung gestaltlos bleibt, diese Gestaltlosigkeit im Rückgriff auf die Form des Raumes durch das Erzeugen einer ins Unendliche fortschreitenden Linie ersetzen, dann ist damit eine Tätigkeit angesprochen, die sich durch ein letztlich nicht mehr bestimmbares, in sich schwingendes Verhältnis von Affektion und Erzeugung charakterisiert, und nicht allein durch die blinde, in sich geschlossene Reproduktivität des infiniten Progresses. Ich werde auf diese tiefere Problematik der Zeit, und damit auch auf mögliche Perspektiven der Phänomenologie, die ja nicht zuletzt einer fundamentalen Neubesinnung auf die Phänomene der Zeitlichkeit und der Zeit entspringen, im Zusammenhang meines Themas jedoch nicht näher eingehen können. Kehren wir also zunächst zu der Aristotelischen Auseinandersetzung mit den Unendlichkeitsphänomenen der Teilbarkeit und der Zahl zurück und versuchen, von hier die Konsequenzen beleuchten, die das Überführen des infiniten Progresses aus seinem Modus der Möglichkeit in einen solche der Wirklichkeit nach sich zieht: Welche theoretischen Voraussetzungen in Bezug auf die Unendlichkeitsphänomene der Teilbarkeit und der Zahl müssen sich durchsetzen, damit sich der unendliche Progress gewissermaßen aus seiner primären Abhängigkeit von der endlichen Welt befreien und selbst „wirklich" werden kann? 2 Zum Ausgangspunkt einer Annäherung soll hier eine kurze Passage aus Heideggers 1949 entstandenem Vortrag Das Ge-Stell genommen werden. Es heißt hier: „Das Stück ist etwas anderes als der Teil. Der Teil teilt sich mit Teilen in das Ganze. Er nimmt am Ganzen teil, gehört ihm an. Das Stück dagegen ist gesondert und zwar ist es als Stück, das es ist, sogar abgesperrt gegen andere Stücke. Es teilt sich nie mit diesen in ein Ganzes. Das Bestand-Stück teilt sich auch nicht mit seinesgleichen in den Bestand. Vielmehr ist der Bestand das in das Bestellbare Zerstückte. Die Zerstückung zerbricht nicht, sondern schafft gerade den Bestand der Bestandsstücke. Der Teil, so hatte es bei Aristoteles geheißen, gehört auch dort, wo er sich potenziell unendlich in seine Teilbarkeit hineinschlingt, als Teil in ein Ganzes. Punkt und Schnitt etwa am Ganzen einer Strecke markieren mögliche Eigenschaften im spezifischen Kontinuum dieser oder jener Gestalt; sie sind nicht in der Lage, sich gegen das Ganze, welches kath' auto besteht, zu verselbständigen, sondern bleiben auch als Modus der Quantität kata symbebekos. Das Ganze kann daher auch niemals als aus lauter für sich stehenden Stücken aufgebaut gedacht werden, wie etwa die Linie aggregativ aus lauter Punkten oder in der Zenonschen Paradoxie die Bewegung aus lauter verschlossenen Ruhepolen; Naturdinge ebenso wie Artefakte gliedern und bestimmen sich aus der kontinuierlichen inneren Physis des Ganzen, das keine materiellen Atome, keine sich für sich vorbehaltende hyle kennt. Solche atomaren, in sich verschlossenen „Sücke"jedoch führt Heidegger hier an, und zwar soll sich ein solches Stück im Gegensatz zum Teil nicht in ein Ganzes mit-teilen, sondern „begesondert" sein, und zwar derart, dass es sogar „abgesperrt" ist gegen all die anderen möglichen Stücke. Diese Verschlossenheit gegeneinander öffnet sich auch nicht in das Ganze ihres Vorkommens oder „Bestandes" - wenn man sie alle zusammennähme, was wären sie dann? - und zwar deshalb, weil ihr Bestand wiederum nichts anderes sein soll als ihre Zerstückbar-keit. Wie ist dieser eigentümliche Zirkel zu verstehen? Heidegger schreibt: „Die Zerstückung zerbricht nicht, sondern schafft gerade den Bestand der Bestandstücke." Die Bewegung des Teilens und Zerstückens bezieht sich also paradoxerweise nicht auf ein erstes, ihm bereits vorausgehendes Ganzes - es „schafft" ein solches allererst. Was bedeutet es, dass die Zerstückung „schafft", dass also gerade das auf nichts mehr gerichtete, vielmehr sich loslösende und verselbständigende Teilen in teilnahmslose Stücke einen Bestand allererst her-stellt? Es bedeutet offenbar, dass das Stück, welches an die Stelle eines Teils des Ganzen tritt, in seinem grundsätzlichen Charakter eine Art fortwährendes Produkt ist, und zwar eines, das eben der merkwürdigen Produktionsweise der Teilung als „Zerstückung" entspringt. Was aber bedeutet aber dieses Zerstücken, das hier als eine Weise des Produzierens und Bestandschaffens scheinbar aus dem Nichts ins Zentrum rückt? Für Aristoteles war die potenziell unendliche Teilbarkeit eines Ganzen im Wesentlichen die Möglichkeit einer methodischen Operation, die von außen an einer selbst dadurch nicht substanziell berührten Sache durchgeführt werden kann. Der spezifische Modus dieser Möglichkeit ist der der bloßen, die in sich stehende Wirklichkeit (energeia) der Sache nicht wesensmäßig belangenden Möglichkeit. Darin ist in einer gewissen Weise der Gedanke ausgedrückt, dass die von außen zunächst unbegrenzten Wege, einer Sache nachzugehen, an dieser selbst ihre sinnvolle Bestimmtheit erlangen, die Sache also den methodos umreißt und seinen impliziten Progress umgrenzt. Eben dieses Verhältnis kehrt sich im Rahmen der so genannten Kopernikanischen Wende um, indem sie programmatisch festsetzt, dass sich die Methode nicht mehr nach der Sache, sondern umgekehrt die Sache nach der Methode auszurichten hat. Sofern deren implizite Unumgrenzt-heit zum maßgeblichen Strukturmoment der Theorie wird, kann man sagen, 263 264 dass sie aus ihrer Gebundenheit in den Modus der bloßen Möglichkeit heraus - und in den der Wirklichkeit übertritt. Sie kann dies, weil mit dem Primat einer transzendental gegründeten Methodik, die sich ausdrücklich nur mit unserer Erkenntnisart der Gegenstände befasst, die Sache selbst hinter den unbegrenzten Operationen, die der Verstand an ihnen vollziehen kann, bis zur Unwirklichkeit zurücktritt. Kant formuliert das bekanntlich zunächst als eine Beschränkung der theoretischen Vernunft aus ihrer spekulativen Unendlichkeit auf den durch die formalen Anschauungsformen Raum und Zeit umgrenzten Bereich der Erscheinungen. Als eine so beschränkte setzt die theoretische Vernunft jedoch auf der anderen Seite unumschränkte, grenzenlose Möglichkeiten des Fortschrittes frei: sie erkennt zwar, „daß etwas außer ihr liege, wohin sie niemals gelangen kann, aber nicht, daß sie selbst in ihrem innern Fortgange irgendwo vollendet sein werde". Ihre „Möglichkeit immer neuer Erfindungen geht ins Unendliche". Der operative Zugriff gewinnt den für Aristoteles unvorstellbaren Charakter eines energeia apeiron - eines die spezifische Wirksamkeit des Wirklichen durchherrschenden Unendlichen. Insofern die potenziell unendliche „Zerstückung" der Wirklichkeit deren Bestand allererst „schafft", wie Heidegger schreibt, setzt sie die Zerstückbarkeit absolut, das heißt, dass alles, was ist, dieses sein Sein aus seinem unendlichen Zerstückbarsein bezieht. Der theoretisch legitimierten Produktion des Bestandes als Zerstückung entspricht damit die Produktion der Wirklichkeit als unendlicher Progress. Dennoch entspringt dieser Bestand näher betrachtet nicht ,aus Nichts', sondern eben aus der spezifischen Beschränkung auf das „gleichartige" theoretische Interesse der Vernunft. Es ist also nicht schlechthin alles offen, un-endlich offen, sondern die Offenheit ergibt sich gerade aus der Engführung des Wissens auf eine verlässliche Größenordnung. Diese ist maßgeblich bestimmt durch die Kategorie der Quantität, die wiederum als wesentlich in Bezug auf die Sache eine Mehrheit gleichartiger Teile und die Verbindung dieser Mehrheit zu einer Einheit voraussetzt. Es entsteht eine Art quantitatives Kontinuum, das dadurch charakterisiert ist, dass eine begrenzte Anzahl von Begriffen, Sätzen, Termen, Kalkülen den Spielraum des Möglichseins sämtlicher Gestaltungen des Gebietes „in der Weise rein analytischer Notwendigkeit vollständig und eindeutig bestimmt, so daß also in ihm prinzipiell nichts mehr offen bleibt." 3 Dass in der Universalisierung der Methode als gleichartiger Gegenstandssicherung alles in den Progress verschwindet wie zugleich „nichts mehr offen bleibt", berührt wieder die paradoxe Grunderfahrung, die eingangs herausgestellt wurde, jenes merkwürdige Zusammenspiel von Atomisierung und Homogenisierung, von Auseinanderstreben und Zusammenfall. Wie lässt es sich noch genauer fas- sen? Noch einmal Heidegger, der hinsichtlich des spezifischen Charakters der durch die „Zerstückung" in den Bestand beständigten Stücke fortfährt: „Die Bestand-Stücke sind Stück für Stück die Gleichen. Ihr Stückcharakter fordert dieses Gleichförmige. Als Gleiche sind die Stücke gegeneinander in der äußersten Absperrung; sie erhöhen und sichern gerade so ihren Stückcharakter. Die Gleichförmigkeit der Stücke verstattet, daß ein Stück gegen das andere ohne weiteres, d. h. auf der Stelle ausgewechselt werden und so zur Stelle sein kann. Ein Bestand-Stück ist durch das andere ersetzbar. Das Stück ist als Stück schon auf die Ersetzbarkeit hin gestellt. Bestand-Stück sagt: das als Stück Abgesperrte ist auswechselbar in ein Bestellen eingesperrt." Die nicht mehr einer gegliederten Ganzheit entspringenden, sondern in ihre Materialität verschlossenen Stücke sollen „Stück für Stück die Gleichen" sein und sich doch zugleich „in der äußersten Absperrung" zueinander halten. Diese doppelte Kennzeichnung von radikaler Verschlossenheit auf der einen und absoluter Gleichförmigkeit auf der anderen Seite verliert ihren widersprüchlichen Charakter zunächst wiederum vor dem ontologischen Grundsatz, den methodischen Progress an die Stelle des gegenständlichen Ganzen zu setzen, von dem her alles Stückhafte schon immer zugleich (oder sogar maßgeblich) als Teil gerechtfertigt und damit auf ein finites Ganzes geöffnet war. Wie angedeutet „fordert" der Bestand der Bestandstücke gerade dies: ihre Indifferenz gegeneinander wie auch ihre Gleichgesichtigkeit für die theoretische Vernunft, deren Interesse sich nur in dem Rahmen an das jeweilige Bezugsobjekt verliert, in dem dieses ihr den zur Objektivierung gemäßen Stoff zu liefern vermag. Objektivierbar ist dieser „Stoff' als Erscheinung, also über den Modus seiner quantitativen Erfassbarkeit. Erscheinungen sind, wie Kant in der Transzendentalen Analytik festhält, insgesamt extensive Größen, und zwar weil sie, wie es heißt, „als Anschauungen im Raume oder der Zeit durch dieselbe Synthesis vorgestellt werden müssen, als wodurch Raum und Zeit überhaupt bestimmt werden". Wie wird diese „Synthesis", die wiederum auch die Anschauungsformen Raum und Zeit bestimmen, und in die alles empirisch fassbare Sein formal gleichsam eingeschleust werden muss, näher charakterisiert? Kant bestimmt die Form dieser Synthesis als „sukzessiv", genauer dadurch, dass alle Erscheinungen „schon als Aggregate (Menge vorhergegebener Teile)" betrachtet werden, so dass also die Vorstellung solcher Grundbausteine die Vorstellung des Ganzen ermöglicht bzw. ihr sogar notwendig vorangeht. Das Ganze als „Vorstellung" des Ganzen gerät so in eine formale Abhängigkeit von der Vorstellbarkeit der ihm zugrundeliegenden Teile; die Erscheinungen werden nicht aus der inneren energeia ihres Einsseins her erfasst, an der sich dann, sekundär und in bedingtem Rahmen, quantifizierende Schritte durchführen lassen, sondern als von einem der Sache selbst, wenn auch nicht 265 266 unserer Anschauung von ihr äußerlich bleibenden Zugriff. Der bei Aristoteles nur sekundär, nämlich als Schnittstelle oder Markierung potentiell „wirkliche" Punkt emanzipiert sich gewissermaßen von der Linie und bildet jetzt ihr von aller qualitativen Bestimmtheit befreites, homogenes Ur-Stück, ein Art Modul, durch dessen stetige Aneinanderreihung eine bestimmte Größe erzeugt werden kann. Die Umkehrung vom Ganzen zum Aggregat bzw. vom Teil zum Stück liegt somit in der Umkehrung vom sekundären Bearbeitungsmoment zum primären Baustoff beschlossen; und dieser verlangt, dass sich die Module als primäre Bausteine grundsätzlich ebenso gleichartig wie unendlich wiederholbar zusammenfügen und wieder auseinandernehmen lassen. Damit weist Kant die Auffassung, der hierdurch freigesetzte progressive Charakter sei etwas, das dem Ding an sich (kath' auto) zukomme, freilich zurück. Er soll ausdrücklich kein konstitutives Prinzip der Möglichkeit der Sache selbst sein, sondern eine „Regel" der Vernunft, die gebietet, im Bereich empirischer Bedingtheit keine Bedingung als die absolute Grenze gelten zu lassen, an der die Reihe der Bedingungen zu einem selbst un-bedingten Ende gelangen würde. Andererseits zieht eben diese Einschränkung, dass „im empirischen Regreß keine Erfahrung von einer absoluten Grenze [...] angetroffen werden könne", die bereits angedeutete sekundäre Unendlichkeit nach sich, in der jede Form der Begrenzung prinzipiell den Charakter der Unwirklichkeit gewinnt; sie müsste sich ja, so Kant, „durch Nichts, oder das Leere" ereignen, welches wiederum im empirischen Kontinuum „unmöglich" ist. Die Frage, ob der Kosmos an sich als endlich oder unendlich betrachtet werden muss, tritt also hinter dem empirischen Regress, der keines von beiden zulässt, zurück. Der Kosmos ist nicht unendlich, weil wir uns davon keinen Begriff machen könnten, und er ist zugleich nicht endlich, weil die regressive Synthesis aus diesem Grund in der Reihe der Erscheinungen ins Unendliche fortschreiten muss, „nämlich von einem jeden Gliede der Reihe, als einem Bedingten, jederzeit zu einem entfernteren [...]". Der transzendentale Begriff der Unendlichkeit besagt demnach, dass die sukzessive Synthesis, durch die alle Anschauungen in Raum und Zeit bestimmt sein müssen, zuinnerst durch jene Bewegung über sich hinaus bestimmt ist, das heißt dadurch, dass alles Bestimmte in seinem Kern gleichsam eine ontologische Leerstelle beherbergt (das „an sich"), die seine „Wirklichkeit" einem schlechthin un-einholbaren Jenseits seiner selbst überantwortet. Damit ist der ursprünglich mathematische Begriff des infiniten Progresses, der unendliche Annäherung an ein immerhin noch bestimmtes Ziel anzeigt (beispielsweise die Annäherung einer Kurve an eine Gerade), philosophisch reformuliert durch den des progressus in indefinitum, bei dem der Progress sich nun schlechthin ziel-los in die „unbestimmte Weite" erstreckt. Denn der empirische Progress resp. Regress besteht, so Kant, „immer nur im Bestimmen der Größe, und gibt also keinen bestimmten Begriff, [...] geht also nicht ins Unendliche (gleichsam gegebene), sondern in unbestimmte Weite, um eine Größe (der Erfahrung) zu geben, die allererst durch diesen Regressus wirklich wird.a Zwar nicht die Sache selbst, jedoch ihr Begriff ,beruht' damit ausschließlich auf dem empirischen Regress, und Kant hält ausdrücklich fest, dass eine Bewährung dieses Grundsatzes gerade eben so viel sei, „als ob er wie ein Axiom [.] die Gegenstände an sich selbst a priori bestim-mete." Welche Rolle spielt nun hierin die Zeit, von der gesagt wurde, durch ihre Aspekte des „immer" und „niemals" werde das Unendliche maßgeblich bestimmt? Die Zeit ist, so Kant, nichts, was für sich selbst bestünde, sie ist auch für ihn ohne den „wirklichen Gegenstand" nicht „wirklich". Damit aber ist nicht gesagt, dass dieser Gegenstand gewissermaßen seine Zeit (wie seinen Ort) mit sich bringt und damit Zeit verwirklicht, sondern die Zeit ist eine von uns mitgebrachte Form des inneren Sinnes, genauer eine solche „des Anschauens unserer selbst". Weil dieses Anschauen jedoch wesentlich formlos, fließend ist, keinen gestalthaften Anhalt an der Welt hat, „ersetzen" wir diesen „Mangel" durch Grund-Sätze des Verstandes, die eine solche Erfahrung von Anhalt ermöglichen sollen. Der Satz in Bezug auf die Zeit ist ihre „Vorstellung" anhand einer ins Unendliche fortgehenden Linie. Diese nicht einfach gegebene, sondern aktiv vollzogene Vorstellung (wir ziehen im Geiste diese Linie, wir „erzeugen" die Zeit selbst durch „Apprehension", durch Zusammenfassung ihres Auseinander) ermöglicht, den Fluß in eine eindimensionale Reihe zu setzen, von deren Eigenschaften aus alle Eigenschaften der Zeit abgeleitet werden können. Als einziges Bruchmoment der Analogie, auf das Kant rätselhafterweise nicht näher eingeht, bleibt zurück, dass die Teile der räumlich dimensionalen Linie nebeneinander sind und darin jederzeit zugleich, während die Teile der Zeit „jederzeit nach einander" sind, das heißt einander ins Unendliche fortgehend ablösen. Die Zeitreihe ist so näher betrachtet eine Zeitfolge, die dennoch an die Teile gebunden bleibt, wie sie durch die räumliche Vorstellung vorgegeben sind, sie verflüchtigt sich nicht ins Nichts. Dass sie daran gebunden bleiben und somit nicht aus der Analogie ausbrechen, die die Zeit überhaupt vorstellbar und damit empirisch real macht, beruht wiederum auf der Art der Synthesis, die sie zusammenschließt, und die als „sukzessiv" bestimmt wurde, so dass der Teil aufs Ganze vorweist und das Ganze sich im Teil endlos wiederholt. Sie ist Synthesis eines homogenisierten Mannigfaltigen, „sukzessive Addition von Einem zu Einem (gleichartigen)", damit unendliche Fort-Setzung des Selben. Als solche verläuft die Zeit sich nicht, sondern ist als eine Folge diskreter Jetzte, die immer wiederkehren, „selbst unwandelbar und bleibend". Fließend wird jetzt vielmehr der Inhalt, der durch das Zusammenspiel der formal-quantitativen Anschauungen von Zeit und Raum herausgesetz- 267 268 ten Erscheinungen. Worauf es mir (bei aller Komplexität des Themas) im Wesentlichen ankommt, ist, dass hier also dasjenige, was gewährleisten soll, dass uns überhaupt Erscheinungen zur Verfugung stehen, Zeit und Raum, selbst unter die Maßgabe dieser Veräußerung fallen, und das bedeutet, dass sie (mit Heideggers Terminologie) als selbst „Zerstückte" ihrerseits die „Zerstückung" als notwendige Bedingung der „Bestandssicherung" vollbringen. In ihrer Entbindung von der konkreten Welt und Übersetzung in ein leeres Schema gewinnen sie selber den Charakter des unendlichen Progresses, sie sind rein pleonektische Größen, das heißt solche, die immer über sich hinausdrängen, immer mehr wollen (pleonexia), aber in diesem „Wollen" tatsächlich nichts anderes sind, als eine reine, dürftige, unaufhörliche Fort-Setzung ihrer selbst. Dass sie dabei „bloß am Subjekte" hängen, und „nicht an den Gegenständen selbst", ändert dort, wo der Gegenstand seinerseits im infiniten, ja indefiniten Progress der Annäherung verschwindet, am Wirklichkeitscharakter dieser Unaufhörlichkeit nichts. Zusammenfassend müsste man sogar sagen: Obwohl die Zeit in ihrem inneren Bezug zur Seele, zum Inneren des Subjektes aufgezeigt wird, bleibt dieser dunkle und fragwürdige Bezug durch den Sprung in die Parallelisierung von Raum und Zeit in einem gewissen Sinne verdeckt. Die Subjektivierung von Zeit, Raum und das in sie verschränkte Phänomen der Bewegung kann den inneren, unproduktiven Widerspruch zwischen ihrer Homogenisierung und Vergleichgültigung nicht aufheben. Es wird, wie Hegel sagt, beim Widerspruch, den die Größe enthält, das Quantum, stehen geblieben. Versuchen wir, diesen sich als ,schlechte Unendlichkeit' ausdrückenden Widerspruch noch genauer zu fassen. 4 Hegel selbst bestimmt die quantitative Unendlichkeit als die Kontinuität des Quantums, die näher „eine Kontinuität desselben über sich hinaus" sein soll. Wieder also stoßen wir auf die bereits bei Aristoteles genannte Grundbestimmung des Unendlichen, wonach es das ist, was immer noch etwas außer sich hat. Das, was es außer sich hat, soll aber nun dasjenige sein, was die innere Kontinuität des Unendlichen zugleich konstituiert, was den spezifischen Widerspruch der quantitativen Unendlichkeit ausmacht. Er wird dadurch ausgedrückt, dass er die Kontinuität von etwas darstellt, das sich zugleich in äußerster Gleichgültigkeit von sich abstößt, aber so, dass es darin zu nichts als einer Kopie, einer Wiederholung seiner selbst zurückkehrt - wie die homogenisierte Zeit jeden Zeitteil dem anderen angleicht, und somit Teil und Ganzes sich in der völligen Identität ihrer Struktur gegenseitig bedingen. Die hieraus entspringende Unendlichkeit ist nach Hegel keine wahre, sondern eben unwahre, „schlechte" Unendlichkeit, insofern sie unausgesprochen an dem festhält, was sie übertreffen will, und so nur ein unaufhörliches Nacheinander sich ablösender Endlichkeiten nach sich zieht. Das bloß quantitativ gefasste Endliche als das, was „in seinem Außersichsein zugleich es selbst" sein soll, kann diesen Widerspruch nicht auflösen (und „will" dies als äußere, abstrakte Kategorie auch nicht). Die quantitative Unendlichkeit bedeutet demnach die Kontinuität des Quantums als Kontinuität desselben über sich hinaus, sie ist als Fort-Schritt in sich zugleich ein unendliches Auf-der-Stel-le-treten. Zur Quantität notiert Hegel, sie sei zunächst „das aufgehobene Fürsichsein". Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass diese Kategorie den Gegenstand in einer Weise betrifft und nimmt, die sich indifferent gegenüber seinem inneren Sein verhält; sie trennt sein Sein von seiner qualitativen Bestimmtheit ab und damit von der Grenze, die ihm als einem bestimmten Etwas zukommt. Die qualitative Grenze, die beispielsweise einen Acker Acker sein lässt, lässt mit sich auch den Acker verschwinden; die quantitative Grenze dagegen, wie groß oder klein dieser Acker ist, lässt seine Bestimmtheit darüber unberührt. Das größer-kleiner, mehr-weniger bleibt der Sache äußerlich, wie wiederum auch die Sache nicht in sie eingeht; es ist gleichgültig, ob sich eine quantitative Bestimmung auf einen Hut, einen Menschen oder einen Zaun bezieht, sie tritt nur mit sich selbst in ein Verhältnis. Unter dem Blickwinkel der Quantität verliert also ein so und so bestimmtes Seiendes seine qualitative, sich gegen anderes abgrenzende Besonderung und verhält sich identisch zu dem Anderen. Es führt seine Einheit nicht mehr unmittelbar mit sich; diese erscheint im Rahmen quantitativer Kontinuität nun als eine Einheit, die „als Einheit des Außersichseins Einheit mit sich selbst" ist, das heißt als eine Einheit, deren Wesen gerade darin besteht, außer sich zu sein. Die durch diesen Übergang gewährleistete Kontinuität in der Quantität ist somit eine, wie Hegel sagt, durch keine Grenze unterbrochene, „sich selbst gleiche Beziehung auf sich"; zwar enthält sie wie eine Art Schatten der qualitativen Mitgift die Vielheit in sich, aber diese Vielheit unterbricht die Kontinuität nicht, sondern bestätigt sie, insofern sie sich in eine Vielheit übersetzt hat, in der ein „Eins" (ein „Stück") dem anderen in seiner merkwürdigen Identität-des-Außersich gleicht, und zwar so grundsätzlich, dass jedes gegen jedes jederzeit austauschbar erscheint. Dieses Moment der Sichselbstgleichheit des Außereinanderseins, das Sich-Fortsetzen der unterschiedenen Eins, macht gerade die Kontinuität des Quantitativen aus. Entscheidend für das quantitative Kontinuum ist also, dass es das Moment der Diskretion, das im qualitativen Zusammenhang die spezifische Umgrenztheit eines Seienden ausdrückte, in sich aufhebt und einbindet so, dass es keine Grenze mehr bildet, den nurmehr sich selbst verpflichteten Kontext nicht unterbricht, sondern ihn als Einheit des (gleichförmigen) Vielen zur Kontinuität „ausdehnt". Das Moment des Diskontinuierlichen, das das eingespeiste „Eins" von sich aus mitbringt, erscheint so in Form einer „zusammenfließenden Diskretion"; es ist als Grenze gegenwärtig, aber so, dass es darin nicht seine Unterschiedenheit gegen Anderes zum Ausdruck bringt, sich von ihm abstößt, sondern seine Gleichheit mit dem Vielen als der Fortsetzbarkeit seiner selbst. 270 Als das paradigmatische Quantum nennt Hegel wiederum die Zahl. Die Zahl stellt einerseits eine in sich differenzierte Größe dar - ihre Gleichgültigkeit gegen die anderen Zahlen macht sogar ihre wesentliche Bestimmung aus -, andererseits weist sie ebenso maßgeblich über sich hinaus, ist sisch selbst äußerlich, nämlich darin, das Glied einer potenziell unendlichen Kette zu sein: „Die Zahl ist die toteste, begrifflose, gleichgültige, unentgegengesetzte Kontinuität. Wir zählen fort 1, 2, und fügen zu jedem Eins eins hinzu, - ganz ein äußerlicher, gleichgültiger Fortgang (und Zusammenfügen), der ohne Notwendigkeit ist, wo er abgebrochen werden soll, und ohne Verhältnis. Die Zahl ist so nicht unmittelbar Begriff, — das Extrem des Gedankens, des Begriffs in seiner höchsten Äußerlichkeit, in der Weise des Quantitativen, des gleichgültigen Unterschiedes." Da die Zahlen zwar differenziert, aber ortlos sind, sind sie, so Hegel, „mit gleichem abwechselnden Vorkommen vorhanden", das heißt schlechthin austauschbar, und es gibt aus dieser sich gleichförmig ablösenden Vorhandenheit rückwärtig keinen Hinweis mehr auf den natürlichen Ort dessen, was zahlmäßig dargestellt wird. Damit ist ein wesentlicher Grundzug der quantitativen Forma-lisierung angesprochen. Der Ort des digitalisierten Seienden liegt nun im Jederzeit und Überall. Der Zusammenhang der reinen, ungebrochenen, das heißt ihrer eigenen Grenzenlosigkeit überlassenen Quantität hat somit etwas gleichsam Wucherndes an sich, sofern das eigentümliche Wachstum des Wucherns eben dadurch charakterisiert ist, dass es sich durch unendliche Reproduktion seiner selbst ausbreitet und vermehrt, wobei das Reproduzierte eben nichts anderes ist, als die auf seine eigene Ablösbarkeit angelegte einfachste Struktur, wie das „Eins" im Horizont des Quantitativen bezeichnet werden kann. Das Wachsen und Werden dieses Kontinuums schließt sich in keine qualitative Einheit zusammen, sondern erhält sich in seiner ersten bestimmungslosen Kennzeichnung, nicht auf die Bildung einer Frucht, auf den Umschlag in das umgrenzte Wirkliche zu gehen, sondern die eigene, durch den abstrakt bleibenden Zusammenfall von Identität und Differenz gewährleistete Ununterbrochenheit unbegrenzt fortzusetzen. Die Kontinuität des Wucherns besteht somit nicht allein darin, dass die Dinge als „Stücke" äußerlich zusammengenommen und gewaltsam in ein Kontinuum der Gleich- heit übersetzt werden. Der Zusammenhang ist vielmehr im „Wesen" der Einsen selbst gegründet, darin, dass sie im Spielraum des Quantitativen ihr Fürsichsein als Außersichsein sind, ihr Fürsichsein aufgehoben haben in eine Zusammenführung, die ihnen das andauernde selbstvernichtende Selbstproduzieren ihrer Einheit gestattet. Diese Möglichkeit nennt Hegel „absolut". In ihrer pleonektischen Selbstbefasstheit gibt es weder Anfang noch Ende, weder Zeugung noch Tod. In seinem in das Außer-sich aufgehobenen Beisichsein stellt das Wuchern einen von sich her schlechthin unzerstörbaren, grenzenlosen Prozess dar. 5 Kehren wir von hier noch einmal zu Heidegger zurück. Der Modulcharakter des „Stückes" wurde maßgeblich dadurch bestimmt, dass dieses sich als potenziell unendlich synthetisierbar mit anderen Stücken bewährt, wobei seine Fähigkeit zum Verbund eben darin liegen soll, in eine äußerliche Aggregation mit seinesgleichen zu treten, die im Hinblick auf ihre quantitative Ausschließlichkeit ohne Grenze (und d. i. ohne Bestimmung und ohne Ziel) ist, weil sie in sich wiederum auf nichts als auf diese erste und letzte Modularität des Stückes verweist. Die „Gleichförmigkeit" ist deshalb zugleich „äußerste Absperrung", also äußerste Teilnahmslosigkeit, Adiaphorie, weil den Dingen als wesentlich aggre-gativ organisierten Einheiten kein innerer Wirklichkeitscharakter zukommt, der sich in Bezug auf das Aggregat und seine Teile als bestimmend äußern könnte. In ihrer Indifferenz gegeneinander wie auch gegen das Ganze ebenso wie in dem Verlust „ihres" Ortes und „ihrer" Zeit zugunsten ihrer Formalisierbarkeit in ein selbst qua Sukzession synthetisierbares Kontinuum bestätigen sie gerade, dass jedes durch jedes „auf der Stelle ausgewechselt werden" werden kann. Das Stück ist als Stück „auswechselbar", wie Heidegger sagt, „in ein Bestellen eingesperrt". Die „Absperrung von Stück gegen Stück entspricht der Einsperrung jedes Abgesperrten in einen Betrieb des Bestellens." Die unendliche Ersetzbarkeit des Stückes und seine Einspannung in den „Kreisgang der Bestellbarkeit" weisen es als in seiner Teilnahmslosigkeit strukturell über sich hinausweisend auf. Es ist nicht umwillen seiner selbst, sondern umwillen eines Anderen, wenn auch dieses Andere sich als bloße Kopie seiner selbst erweist. Wie ist dieses Hinaussein über sich, das Immer-noch-etwas-außer-sich-haben damit zu verbinden, dass das, wohin das Stück über sich hinausweist, wiederum nichts anderes ist als die Ersetzung seiner durch ein anderes, jedoch ihm völlig gleichförmiges Stück? Hängt es mit der „Zerstückung" als dem Grundzug der Herstellbarkeit all dessen, was ist, seiner Bestandssicherung, zusammen und wenn ja, wie? Was ist das überhaupt für ein merkwürdiges Bestandsein: die Ersetzbarkeit? Die „Zerstückung" wurde von Heidegger als dasjenige charakterisiert, was den Bestand der Bestandstücke allererst „schafft"; sie setzt ihn unablässig aus sich heraus und sichert sich zugleich dadurch, dass sie ihn in seiner Bestimmung auf Zerstückbarkeit anlegt, und so das für die Antike schlechthin Unmögliche unternimmt, die Wirklichkeit in ihre progressive Unendlichkeit hineinzuverzeh-ren. Hier tragen die Dinge als ebenso synthetisierbare wie zerschredderbare Aggregate des Auswechselbaren die Grundstruktur des Außer-sich, der unendlichen Bestimmbarkeit. Wenn wir hier also einerseits Züge des unendlichen Progresses nach der Seite des Quantitativen finden, so wie Aristoteles das Unendliche das genannt hatte, das hinsichtlich seiner Quantität nie so erfasst werden kann, dass es nicht noch Weiteres außer sich hätte, so berührt diese quantitative Unendlichkeit zugleich den qualitativen Charakter dessen, was sie in sich „schafft" und sogleich wieder verzehrt. Das Modul als ihre innere Einheit verlangt als quantitativ Unendliches qualitative Bestimmungslosigkeit, oder anders gesagt, das Quantitative wird gerade zur Qualität. Zu der eigentümlichen Totalität der quantitativen Unendlichkeit gehört, dass sie alle Formen der qualitativen Bestimmtheit in sich als unendlichen Progress aufzehrt. Das Verschwinden des Qualitativen ist bereits in der Indifferenz und Äußerlichkeit des Quantums gegen seinen Gegenstand angelegt - das Zählen richtet sich nicht auf die Dinge als solche, sondern auf die Dinge-hinsichtlich-ihrer-Zählbarkeit, die Menge nicht auf das Gesicht des Ganzen, sondern auf seine unendliche Teilbarkeit. Während das traditionelle Herstellen den Weg von der dynamis zur energeia, von der im Stoff bereitliegenden Möglichkeit zu ihrer hervorgetretenen Wirklichkeit nahm, erscheint vom Herstellungscharakter der „Zerstückung" her als dem, was den Bestand der Bestandstücke allererst „schafft", das Seiende erst dann als „wirklich", wenn es die offenen Bruchstellen der reinen Möglichkeit im Sinne der bedingungslosen Zerstückbarkeit (und das bedeutet zugleich Kontinuierbarkeit) an sich aufweist. Die eigenschaftslose Materie als die potenzielle Möglichkeit schlechthin ist nun das Wirkliche, während die durch ihre Verbindung mit der Form zur Wirklichkeit gelangte Möglichkeit sich als weniger „seiend" erweist. Mit anderen Worten: Alles was ist, wird heute im Hinblick nicht auf seine Bestimmtheit, sondern im Hinblick auf seine qualitative Unbestimmheit her-gestellt. Das „Schaffen" ist kein Umgrenzen, es ist vielmehr eine Bewegung, welche alle Besonderheit im voraus transzendiert, und zwar in Hinsicht auf seine unendliche Ersetzbarkeit. Es ersetzt die Dinge „durch die erdachten Gebilde der errechneten Gegenstände. Diese sind für die Vernutzung hergestellt. Je rascher sie vernutzt werden, um so nötiger wird, sie immer noch rascher und noch leichter zu ersetzen. Das Bleibende der Präsenz der gegenständlichen Dinge ist nicht das Insichberuhen dieser in der ihnen eigenen Welt. Das Beständige der hergestellten Dinge als bloßer Gegenstände der Vernutzung ist der Ersatz." Nur was einmal bis in seine sich gleichförmig ablösende Vorhandenheit zerstückt werden konnte (mit Hegel: auf die Seite an ihm, die als quantitative „Eins" wesensmäßig in die „Sichselbstgleichheit des Auseinanderseins" drängt), verfügt jetzt über die geforderte Wirklichkeit, die ihm ermöglicht, in den Kreisgang der unbeschränkten Verbrauchbarkeit aufgenommen zu werden. Der empirische Regress, der die Dinge „an sich" gerade vor dem Zugriff einer auf Unbedingtheit gerichteten spekulativen Vernunft bewahren sollte, erweist sich seiner inneren, ihm selbst verborgen bleibenden Grenzenlosigkeit nach als eine technologisch organisierte Regression all dessen, was ist, auf die schlichteste, nur noch material fassbare Stufe seiner selbst. Dies zeigt sich offenkundig in der Industrie der für den Verbrauch hergestellten Produkte wie zunehmend deutlicher auch in Bezug auf den Verbraucher selbst, den Menschen (welche Grenze sollte hier auch Einhalt gebieten?), in den global durchgeführten Projekten wie etwa dem HumanGenom-Projekt oder der Stammzellenforschung. Ziel ist jedesmal die molekularbiologische A-morphisierung aller bestimmten Form auf seine ersten Träger (das Gen, die Zelle als makromolekularer Komplex), die dann der biotechnischen Reproduktion und ihren manipulativen Verfahren der Neukombination („rekombinante DNA-Technologie") prinzipiell grenzenlos offenstehen. In diesem „Spiel", der Auslieferung des Lebendigen an seine unendliche Reproduktion, scheint tatsächlich „alles an die Stelle von allem treten zu können", wie Heidegger schrieb, sogar das Leben an die Stelle des Todes und umgekehrt. Noch einmal Baudrillard: „Die Lebensprozesse, die durch die endgültige Verselbständigung vieler Funktionen oder durch eine Reduktion auf die kleinsten Einheiten auf ihre differenzlosen Formen zurechtgestutzt werden, werden unzerstörbar, und durch den automatischen Ablauf dieser Prozesse vernichten wir ganz nebenbei auch den Tod." Die Quantität als Qualität - diesen Umschlag nennt Heidegger das „Riesenhafte" - ähnlich, wie bereits Hegel vom „Maßlosen" gesprochen hatte, das dadurch charakterisiert ist, dass sich in ihm das Quantum zur qualitativen Bestimmtheit aufschwingt und alles, was ist, in bloß quantitativ bleibende Verhältnisse setzt. Im Gegensatz zu Hegel verbindet Heidegger damit jedoch die Behauptung, dass dieser Umschlag in das quantitative Kontinuum des „Riesenhaften" keinen Kategorienumschlag mehr darstellt, also den Umschlag von Denkformen als etwas, das „nur" unsere Zugangsweise zu einem Seienden betrifft, sondern die Gegenwart des unendlichen Progresses als Gegenwart des „Gestells". Dessen ontologische Bestimmung ist die universale Bestellbarkeit, das heißt die sich die „quantitative Attraktion" zunutze machende „vorgreifend-planend-einrichtende Erfassung von allem, bevor es schon im Besonderen und Einzelnen gefaßt ist'; und diese „findet am Gegebenen keine Grenze und will keine Grenze finden, sondern das Grenzenlose ist entscheidend, aber nicht als das Verfließende und bloße Und-so-weiter, sondern das an keine Grenze des Gegebenen, an kein Gegebenes und Gebbares als Grenze Gebundenes." Das Grenzenlose als das vom Gegebenen schlechthin ungebundene reißt alles in sich fort, wie es wiederum paradigmatisch am Zählen offenkundig wird: „Jegliches ist nur, was es zählt. Das jeweils Gezählte sichert dabei den Vorgang des Zählens. Dieses [...] ist selbst ein fortgesetztes Sichverzehren." Das Zählen verbraucht das Gezählte also nicht in eine andere in sich feststehende Größe (in der es aufgehoben würde oder zum Stillstand kommt), sondern es verzehrt es in das Sichverzehren selbst. Statt Verzehr können wir durchaus auch Verbrauch oder Negation sagen: Das Zählen negiert alles Sein nicht in ein anderes oder höheres Sein (und damit auf irgendein Ziel hin), sondern es negiert es in die Ziellosigkeit des Selbstverzehrs oder der Negation schlechthin. Aber wer oder was, so möchte man zuletzt fragen, ist eigentlich das Subjekt dieses Zählens? Wer oder was vermag in diesem unendlichen Progress des Selbstverzehrs den Sprung zum Zeugen der Gegenwart eines Jetzt zu vollbringen? * Kommen wir zum Anfang unserer Überlegungen zurück. Sie nahmen ihren Ausgang von der eigentümlichen Doppeltendenz der Gegenwart, ins Haltlose auseinanderzugleiten und zugleich in eine beklemmende Einförmigkeit überzugehen. Als unendlicher Progress lässt sich diese Doppeltendenz zunächst als eine eigentümliche Verselbständigung der Kategorie des Quantitativen beschreiben, die sich aus dem Modus einer bloßen Möglichkeit löst und in die Wirklichkeit übergeht bzw. als Wirklichkeit erscheint, so wie gegenwärtig im Kontext totaler Verwissenschaftlichung das Seiende nur dort als wirklich gilt, wo es sich quantitativ fassen lässt, während alles nicht Quantifizierbare sich in einer irgendwie dahinter liegenden bloßen Möglichkeit verflüchtigt. Bei Aristoteles findet der implizite Progress des Quantums noch seinen natürlichen Widerhalt an der Bestimmtheit, dem inneren Wuchs des Seienden, an dem er sich (im Zusammenspiel mit anderen Kategorien ) ausspricht, und auch bei Kant bleibt der empirische Regress im Bereich der Erscheinungen zumindest der Konzeption nach noch durch den Widerstand eines qualitativ Realen gebunden, wenn auch der Übergang zwischen diesen beiden Kontinuen bereist als zentrales Problem offenkundig wird. Hegel bleibt insofern Aristoteliker, als auch für ihn die quantitative Abstraktion keinen vernünftigen Wirklichkeitscharakter hat; wenn sie auch wirkmächtig ist, wird sie zuletzt durch die dem Begriff innewohnende Lebendigkeit aufgehoben, das heißt, sie schlägt in die Dimension des Qualitativen um und ruft damit den in eine unendliche Zukunft aufgeschobenen Widerspruch in eine Versöhnung ,hier und jetzt' zurück. Wenn Heidegger dagegen festhält, es handle sich bei der als Qualität auftretenden Quantität nicht um eine dialektische Vermittlung von Vorstellungsformen, „sondern um die Seinsgeschichte selbst", dann ist damit ausgedrückt, dass es zuletzt das Sein selbst ist und kein kategoriales Moment der Vorstellung, welches sich gegenwärtig als unendlicher Progress, als „Wille zum Willen", als „Sich-übermächtigen der Macht", als „Fortriss", als Grundweise der „Ersetzbarkeit", als das „Spiel, wo alles an die Stelle von allem treten kann", zu verstehen gibt. Es bleibt freilich zu fragen, was das bedeuten kann, welche Konsequenzen sich aus dieser Einsicht für das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit ergeben und nicht zuletzt, welcher Standort der Kritik vor bzw. in einem solchen Abgrund überhaupt möglich ist. Könnte es aber nicht gerade das Eingeständnis dieser prinzipiellen Ohnmacht in allem Methodischen sein, auch oder gerade dort, wo es sich zum Boden des Wirklichen erklärt, das seinem inhärenten Leerlauf eine Grenze wiese? Heidegger scheint eben dies nahezulegen: „Warum das Riesenhafte nicht den Überfluß kennt? Weil es aus der Verheimlichung eines Mangels entspringt und diese Verheimlichung in den Schein einer ungehemmten Veröffentlichung eines Besitzes stellt. Weil das Riesenhafte nie den Über-fluß, das un-erschöpfliche Unerschöpfte kennt, deshalb muß ihm auch das Einfache versagt bleiben. Denn die wesentliche Einfachheit entspringt aus der Fülle und ihrer Beherrschung." 275