Dekonstruierung der Geschichte und narrative Identität Beata Thomka Universität Peczs bthomka@freemail.hu Die als sprachliche Vermittlung aufgefasste Narration führt zur Begründung neuer Identitätsformen. Die biographischen und historischen Momente können als Bestandteile einer komplizierten narrativen Strategie betrachtet werden. Die fiktionale Erzählung bringt nicht die reale, sondern eine Quasi-Vergangenheitzustande. Die Geschichtsschreibung hat sich von der Rekonstruierbarkeit geschichtlicher Ereignisse entfernt. Die Dekonstruierung der Geschichte und der autobiographischen Imagination hat die Beziehung zwischen Autobiographie und Roman grundlegend verändert. Die Annahme einer Selbstidentität als narrativer Identität modifiziert die bisherigen Erfahrungen über die Beziehung von faktualer undfiktionaler Erzählung. Key words: literature and history / historiography / narrativity / literary fiction / metahistory / New Historicism UDK 82.0:930.85 Der im Konferenzplan erwähnte historische Relativismus begegnet uns in den modernen Theorien sowohl der Philosophie als auch der Literatur. Lubomh Doležel stellte in einem Referat dieses Jahr in Paris die Frage, inwieweit dies auf die Geschichtsschreibung zurückgewirkt hat (z.B. auf Simon Schamas Postmodern Narratives of the Past). Mein Interesse gilt zunächst einigen gemeinsamen theoretischen Fragen der historischen und der literarischen Narration; anschließend soll untersucht werden, wie der historische Relativismus in bestimmten modernen Romanen reflektiert wird. Narrativismus. Die narrativistische Geschichtsphilosophie und die Dekonstruktion stellen das traditionelle hierarchische Modell und die lineare Auffassung der Geschichte in Frage. Der Postmodernismus hat dies auch in der erzählenden Literatur zum Ausdruck gebracht. Das alles scheint Paul Ricoeur zu bestätigen, der die Ansicht vertritt, dass Geschichte und Fiktion ineinander übergehen. Das betrifft beide narrative Programme: sowohl die Geschichte als auch die Literatur. Unter der Kreuzung von Geschichte und Fiktion versteht er eine ontologische und epistemolo- gische Struktur, in der diese beiden Diskursformen die Intentionen der jeweils anderen übernehmen. Die Geschichte benutzt die Fiktion, um die Zeit neu zu schaffen, zu refigurieren; und die Fiktion benutzt die Geschichte zu demselben Zweck (Ricoeur 264—75). Die Geschichte als Organisationsform des Wissens ist in bestimmten Relationen selbst auf fiktionsbildende Verfahren angewiesen. Ihr Diskurs ist literarischen Mustern und der poetischen Tradition angepasst, was man von der Antike bis in die Zeit der Romantik als natürlich empfand. Poetik und Narratologie haben sich in letzter Zeit auf fruchtbare Weise mit bestimmten philosophischen, anthropologischen, kulturtheoretischen und historiographischen Aspekten verbunden. Somit bietet sich auch für die grundlegenden Fragestellungen dieser Konferenz ein interdisziplinärer Ansatz an. Nach Georges Duby stellen die Humanioren ein System dar d.h., wenn eine Disziplin in Bewegung kommt, bewegt sie die anderen mit (Duby). In der Terminologie der Geschichts- und Gesellschaftswiss enschaften haben sich vier poetische/rhetorische Begriffe durchgesetzt: Interpretation, Narration, Metapher und Fiktion. Besondere Bedeutung haben die Narrativierung, die Erzählung als Interpretation, die Narration als Fingierung und die Fingierung als Interpretation erlangt. Die Vertreter der narrativistischen Geschichtstheorie sprechen nicht von der Rekonstruierung der geschichtlichen Vergangenheit, sondern von der Schaffung der Vergangenheit. Dabei stellt sich auch die Frage, was die Bestimmung der Historizität im Zeitalter der Wirklichkeitsfiktionen sein kann (Partner), ob die Geschichte einen Gegenstand hat, bzw. wovon die Geschichte überhaupt handelt (Gabor Gyani). Gegenüber der traditionellen Geschichtsauffassung haben sich folgende Grundsätze entwickelt: an die Stelle der Spuren der Vergangenheit treten textuelle Elemente; das Ereignis in der Vergangenheit wird durch sprachliche Figuren ersetzt, der Text des Historikers ist virtuell. Der auf Northrop Frye aufbauende, von Hayden White eingeleitete theoretische Prozess hat auf die Eigenreflexion von Literatur und Historiographie zurückgewirkt. Meines Erachtens kommen der Poetik und der Rhetorik in der Geschichtstheorie der Gegenwart die Rolle der methodologischen Eigenreflexion zu. Die Gegner der Theorie meinen dagegen, dass der Narrativismus aus einer falsch angenommenen Parallele von Historie und Literatur entstanden ist. Fiktive Vergangenheiten. Paul Ricoeur betrachtet die Erzählung in ihrer Beziehung zur fiktiven Vergangenheit. Die Vergangenheit der Erzählung ist eine zeitliche Pseudovergangenheit. Die zeitphilosophische Konzeption seines Werkes Temps et récit (1983—1985) hat auch die Narrationstheorie, die Poetik und die Historiographie beeinflusst. Ricoeur spricht von Narration als Vermittler. Die Narration ist ein gemeinsames sprachliches Medium sowohl der Erinnerung als auch der Geschichte: Die historischen Berichte von menschlichen Handlungen und Erfahrungen treten zu narrativen Strukturen zusammen. Anhand der Erfahrungen der literarischen und autobiographischen Erzählweise kommt Ricoeur zur narrativen Identität, die in beiden Diskursen von besonderer Bedeutung ist. Folgt man diesem Gedankengang, kann auch die Erkenntnis in Michel Foucaults Les mots et les choses (1966) nicht umgangen werden: Der Historiker begegnet während seiner Arbeit nicht dem Gegenstand seiner Forschungen, sondern dessen Dokumenten. Sein Text ist die Nacherzählung und Interpretation von anderen Texten. In unserer Kultur ist der Historiker ein Kommentator von Zeichen, Schriften und Dokumenten. Er schafft Texte und Archive bzw. vermittelt zwischen dem über die Dinge laufenden Diskurs und uns. Der Historiker ist auf Bibliotheken, Kataloge, Inventuren und Archive angewiesen: Er kann nicht über die Dinge selbst, sondern nur von anderen Worten reden. In einer Kultur wie der unseren erscheint jeder Diskurs im Vordergrund des Verschwindens der Ereignisse. In diesen Spalt, diese Lücke, diese zeitliche Distanz dringen in den westlichen Kulturen die Texte, Dokumente und Aufzeichnungen ein. Hier entsteht ein intertextuelles Gelände, das einen Gegenstand des Diskurses von Poetologen des New Historicism und der Kultur darstellt. Das historische Wissen wird sowohl bei Nietzsche als auch bei Derrida aus den Texten, nicht aus historischen Tatsachen abgeleitet. Anhand mancher Romane der europäischen Gegenwartsliteratur — man denke etwa an Umberto Eco, Lawrence Norfolk, Danilo Kiš, Péter Esterhâzy oder Lâszlô Mârton — kommt man zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Sie alle sind Forscher, Archäologen und Interpreten von Textspuren jener historischen Epoche, aus der sie ihre Romanfiktion herleiten — ganz gleich, ob es sich dabei um das Mittelalter, die Neuzeit oder die Gegenwart handelt. Fantasie, Repräsentation, Intention. Ricoeur identifiziert die Repräsentation mit dem geschichtlichen Bewusstsein, das an die Stelle der Vergangenheit tritt. Wir konstruieren die Vergangenheit, die Geschichte mit der schöpferischen Kraft des imaginaire und machen sie auf diese Weise zur eigenen Erfahrung. Bei der Gestaltung der Beziehung des Lesers zur Geschichte wirkt also die gleiche imaginative Tätigkeit wie bei der Literatur. Anders wäre sie nicht zugänglich. Auch die narrativistische Geschichtsphilosophie argumentiert für die Intentioniertheit und für die literarische Natur der Geschichte. Richard T. Vann verweist auf Clio, die gleichzeitig die Muse der Historie und der epischen Dichtkunst ist. Sowohl die Historie als auch die fiktionale Prosa erfordern eine narrative Verständnis- und Interpretationsweise. A. C. Danto, H. White und ihre Nachfolger lehnen die Erkennbarkeit der historischen Realität ab, der Historiographie nähern sie sich mit tiefer erkenntnistheoretischer Skepsis. Der Text des Historikers ist kein Vermittler irgendeiner Wahrheit, weil er von Undurchschaubarkeit, Opazität geprägt ist. Die Aufgabe des Historikers besteht nicht in einer neuartigen Beschreibung der Vergangenheit, sondern in der Schaffung neuer Interpretationen derselben, also darin, den Text der Vergangenheit zu einem Erzähltext des Historikers zu machen. Die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit in der Historiographie ist also unsicher, weil der Text — wie eine Metapher — immer eine neue Bedeutung ergibt. Wieso also sollte dann ein Roman mit historischen Bezügen und dessen Interpretation nicht kompliziert sein? Referentielle Illusionen. Anhand der zeitgenössischen Romanliteratur liefert unsere Zeit allenfalls zum Nachdenken anregende Erfahrungen. Die historische und autobiographische Fiktion gelangt in den Werken nicht durch Tatsachen, Dokumente und Wirklichkeitsfragmente zu einer gestaltenden Funktion. Die im Roman enthaltenen Tatsachen, historische Daten oder Namen sind nämlich referentielle Illusionen (M. Riffaterre). Die empirischen und historischen Elemente erscheinen schon von vornherein interpretiert, das heißt sie tragen einen Aspekt, ein Bewertungsmoment in sich. Familienroman? Péter Esterhâzy greift an einer Stelle in seinem Har-monia caelestis (2000) das alte Dilemma der Wirklichkeitstreue auf. Der genannte Roman, so Esterhâzy , sei nur zum Teil das Buch, das er sich vorgestellt hatte, weil die Erinnerung endlich und unsicher ist. Bücher, heißt es bei Esterhâzy weiter, die aus der Wirklichkeit geschaffen wurden, können meistens nur einen schwachen Widerschein oder nur Fragmente des Erlebten widergeben. Noch bedeutender als die elegante Ablehnung der mimetischen Traditionen ist der Gedanke, dass die Empirie, die Erinnerung und die erlebten Erfahrungen eingeschränkt ist. Demgegenüber unterliegen Imagination und Fiktionsbildung keinerlei Beschränkung. Die Dinge sind im Grunde nicht erzählbar. Der Romanautor bringt mit seinen eigenen Instrumenten einen mit dem Relativismus und der gnoseologischen Skepsis der Theoretiker verwandten Standpunkt zum Ausdruck. Er schafft keine epische, sondern eine fragmentierte Romanstruktur. Mit der diskontinuierten Geschichte lehnt er das klassische Modell des grand récit ab und damit auch den Kanon und das Erwartungssystem, den bzw. das die Literaturgeschichte mit den Gattungen historischer Roman oder Familienroman verbindet. In der Tradition des 19. Jahrhunderts galt die Darstellung der Vergangenheit als Schilderung von historischer Realität und Tatsachen. Die Interpreten der Postmoderne wenden sich demgegenüber der Repräsentation sowie metaphorischen Strukturen zu. Esterhâzys Romankunst beantwortet diese Fragen auf metanarrative Weise und mit Ironie. Der Nachkomme der berühmten historischen Adelsfamilie kann die Ereignisse der Gegenwartsgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Zeuge, als Teilnehmer, als Zeitgenosse erleben. Er kann die historische Vergangenheit der Familie, des Landes und der Region durch Imagination zur eigenen Erfahrung verarbeiten. Die unzugänglich weit entfernten Vorgänge der Vergangenheit werden ihm dabei mittels Interpretation von Tatsachen und Zeichen — also indirekt — zu Elementen seiner Fiktion, ähnlich wie im Falle des Historikers. Die Familiengeschichte und selbst die eigene Vergangenheit sind nur scheinbar Rekonstruktionen. Im Grunde genommen sind sie ein Schaffen, das Konstruieren von Interpretationen und Erzählungen mit wechselnden Blickwinkeln. Es sind die moderne Vergangenheitsinterpretation und die Selbstinterpretation des Romans, die die narrative Identität des Erzählers konstruieren. Die Geschichte der Dynastie könnte in Form von referentiellen Mikroeinheiten in die epische Synthese integriert werden. Die historische Imagination und die kritische Eigenreflexion lehnen jedoch die epische Tradition ab. Sie bestreiten die Chancen der historischen Romantradition in der Gegenwart. Weder die Gattung, noch die konkrete Erzählung noch die narrative Identität bringen eine Einheit zustande, auf der die Tradition dieser Kategorien aufbaut. In manchen Momenten übernimmt der Verfasser von Harmonia caelestis die Rolle des Historikers, die er als Narrator eines anderen Romans mit dem Titel Javäott kiadâs — Verbesserte Auflage (2002) noch mehr übernehmen muss. Hier konzentrierte er sich aber nicht auf die familiengeschichtliche Tradition, auf mündliche und schriftliche Überlieferungen, sondern richtet sein Augenmerk verblüfft auf ein anderes Dokument, auf eine Polizeiakte. Die Arbeitsstätte ist diesmal nicht irgendeine virtuelle Familienchronik, sondern das Historische Archiv in Budapest. Die Zusammenhänge zwischen Geschichte, Erfahrung und Romanrhetorik werfen neue Fragen auf. Liest man also eine eingebettete Fiktion oder eine eingebettete Historie, wenn der Autor die im Archiv aufgefundenen Spitzelberichte und —anzeigen aus der sozialistischen Ära in Ungarn als Montage in den Roman einarbeitet? Handelt es sich um einen autobiographischen Text oder um eine Fiktion — zumal der Spitzel kein anderer ist als der Vater des Verfassers? Der Verleger von Jav^tott kiadâs hat die Texte des Narrators mit schwarzer, die von dem Vater stammenden Dokumente mit brauner Typographie gekennzeichnet und voneinander unterschieden. Diese Vorgehensweise unterstreicht, dass der Textkomplex zwei mögliche Lesarten zulässt: eine literarische und eine historische. Das bisherige Lebenswerk Esterhâzys sowie auch die narrative, rhetorische und poetische Konstruktion des Textes lenken den Leser zur Gattung des alternativen Romans und nicht zur do- kumentarischen Literatur. Die Biographie, Geschichte und Fiktion gleichzeitig berührende Prosa basiert auch in diesem Werk auf der Schaffung der Vergangenheit als Fiktion — obwohl sie auf textgetreuen Dokumenten, authentischen Aussagen beruht. Jamtott kiadâs ist trotz der besonderen Bedeutung, die darin dem historischen Faktum und dem Dokument überhaupt zukommt, ein fiktives Werk. Auf diese Weise leitet der Verfasser einen Dialog mit der Geschichte des Vaters, mit der Vergangenheit einer kommunistischen Gesellschaft und mit sich selbst ein. In der Selbstinterpretation der europäischen Gegenwartskultur verstärkt sich die historische Eigenreflexion und wird unumgänglich. Voraussetzung dafür sind nicht nur die bewusst erforschten, sondern auch die spontan entdeckten, zum eigenen Ich führenden diskontinuierlichen Spuren. Archiv, Installation, Bibliothek, Enzyklopädie, Fiktion und Dokument werden dem Schock der ars memorativa untergeordnet. Deshalb kann man sich nicht mit der Skepsis von Jarntott kiadâs oder mit dem Gedanken einer ausbleibenden Katharsis identifizieren. Beim Lesen verfolgt und erlebt man die Erschütterungen des Eigenverständnisses des Verfassers, des Erzählers und des die Dokumente veröffentlichenden Tagebuchschreibers neu. Ricoeur meint: Die Überreste der Vergangenheit sind ebenso verstreut wie die Zeugnisse über diese Vergangenheit; mehr noch, die dokumentarische Disziplin verstärkt mit ihrer »selektiven Destruktion« den vielfältigen Informationsverlust, der die sogenannte »historische Evidenz« verstümmelt. So tritt die Rhetorik nicht zur Dokumentation hinzu, sondern durchdringt sie schon an der Quelle. Man möchte also, dass die Erzählung die Beunruhigung mildert, die durch die Lücken des dokumentarischen Beweises hervorgerufen wird. Aber diese Erzählung schafft ihrerseits neue Beunruhigungen, die durch andere Diskontinuitäten verursacht werden. Hier setzt die Debatte zu der von White eingeführten Tropologie an. (Histoire 21, 22) Péter Esterhâzy konfrontiert sich und auch den Leser in Javitott kiadâs mit der Lückenhaftigkeit und mit den Brüchen des Schreibens, des Lesens, der Erfahrung und der Erinnerung. Das Werk ist ein Teil des kritischen und die Selbstinterpretation betreffenden Handlungskatalogs, den die europäische Kultur des ausgehenden 2. Jahrtausends gegen Amnesie aufgestellt hat. Ein Mitgestalter und Miterlebender des Prozesses, der die Geschichte, die Fiktion und den Roman zwecks Schaffung einer neuen narrativen Identität dekonstruiert. BIBLIOGRAPHIE Duby, Georges. L'Histoire continu. Paris: Odile Jacob, 2001. Partner, Nancy F. »Historicity in an Age of Reality-Fictions.« A New Philosophy of History. Hg. F. R. Ankersmit. Kellner. London: Reaktion books, 1995. 21-39. Ricoeur, Paul. Temps et récit. 3. Paris: Seuil, 1985. Ricoeur, Paul. »Histoire et rhétorique.« Diogène 168 (1994): 9-26.