J/IOS, rr,fy, B e i t r ä g c zur Kenntniß des Staats- und Volkslebens i.n seiner historischen Entwickelung. E i u g c l c >, t l' l u >l d h l r a u ^ ^ ,' g c d l' » Friedrich Vodcnjlcdt. El>w' I^lNid D'lftlili ^, "!>!, B r o ä !' a U <), 1 .^ l'» 2, Russische Fragmente. Erster Band. Kunkel) c FnWmck. Beiträge zur Kenntniß des Staats- und Volkslebens in seiner historischen Entwickelung. Eingeleitet und herau 5 gcgebc u von Friedrich Bodcustcdt. Erster I^lUid. Kipzig- F. N. B r o ck y a u s. 1862. Vorwor t. Obgleich die „Einleitung" zu diesem Buche darauf berechnet war, ein Vorwort überflüssig zu machen, so fühle ich mich doch jetzt aus verschiedenen Gründen veranlaßt, ein solches zu schreiben, einmal, weil ich einen Gegenstand, welcher in der schon vor längerer Zeit geschriebenen „Einleitung" nur kurz angedeutet wurde, etwas eingehender erörtern möchte; dann, weil ich noch ein paar sachliche Bemerkungen Zu machen habe, und endlich, weil eine mir eben beim Schlüsse des ersten Bandes in die Augen fallende Zeitungsnotiz aus Nußland mich zu Betrachtungen anregt, welche zu einer Vorrede wie gerufen erscheinen, weshalb ich auch gleich damit beginnen will. Die erwähnte Zeitungsnotiz besagt, daß man in Nußland großartige Vorbereitungen treffe, um demnächst das tausendjährige Jubiläum des russischen Reichs zu feiern, zu welchem Zwecke im alten Nowgorod ein gewaltiges Monument enthüllt werden soll, in Form einer Glocke unter dem Zeichen des griechischen Kreuzes, um deren Mitte sechs Gruppen kolossaler Figuren sich reihen, aus welchen sechs Haupt-gestalten hervorragen: Rurik von Noßlagen, wie er, das Schwert in der Hand, unter die Slawen von Nowgorod tritt und zum russischen Neiche den Grund legt (862); VI Wladimir, der Begründer des Christenthums in Rußland (W8); Demetrius vom Don, der für einige Zeit Nußland von den Tatarm befreite (1380); Iwan III., der Gründer des Zarenthums (14 ssrassmrittl'. I ^ ^' XVIII sammenkommen, so bilden sie unverzüglich ein Artell, wählen einen Vorstand und Ausschuß, dem die Bewachung der Pelze, Mäntel u. s. w. anvertraut wird, und dem es zugleich obliegt, die andern, welche sich in die benachbarten Wirthshäuser zerstreuen, zu benachrichtigen, wenn ihre Herrschaft nach ihnen verlangt. Nirgends in der Welt findet man eine so musterhafte Ordnung des Droschtenwesens wie in Petersburg und Moskau, aus den: einfachen Grunde, weil diese Ordnung durch die Droschkenkutscher selbst hergestellt wird. Nirgends fährt man so billig, nirgends wird man so gut bedient. Ob man um drei Uhr morgens oder um drei nachmittags aus einer Gesellschaft komme, ob man sich in dem Mittelpunkte oder an dem äußersten Ende der Stadt befinde, man wird dort immer und überall im Sommer eine Droschke, im Winter einen Schlitten anf sich zukommen sehen, bereit einen aufzunehmen uud im Fluge nach einem beliebigen Orte zu fahren. Das kommt, weil auf diesem Gebiete vollständige Gewerbefreiheit herrscht und die Zahl der Droschkenkutscher durch keine polizeilichen Vorschriften beschränkt wird. Kurz in allen ähnlichen Fällen offenbaren die Nüssen in auffallender Weise ihre Befähigung zur Sclbstrcgicrung. Von welchen Unternehmungen auch die Neoe seiu möge, die dabei Be-thMgten werden sich in kürzester Zeit einigen, ein Artell bilden, einen Vorstand wählen und sich blind semen Weisungen uuterwerfen. Das Princip des Artells, der beweglichen Gemeinde, beherrscht das ganze russische Leben, soweit es nicht durch Negicrungs - und Polizeimaßregcln gehemmt wird. Was wunder, das; ein solches Volk die Bureaukratie uach deutschem Zuschnitt unerträglich findet, sich bei jeder Gelegen- XIX heit dawider auflehnt und sich niemals ein Gewissen daraus macht, ihre Vorschriften zu umgehen. Wir könnten noch eine Menge Züge anführen, um den Contrast zwischen deutschem und russischem Wesen weiter zu veranschaulichen; doch möge es bei dem Gesagten sein Bewenden haben. Es geht daraus hoffentlich zur Genüge hervor, daß der Deutsche ein mehr individuelles Gepräge, mehr die Fähigkeit hat, auf eigenen Füßen zu stehen, für sich zu denken und zu handeln, während der Russe überall' der Anlehnung an andere bedarf, und infolge dessen sich auch leichter den Beschränkungen unterwirft, welche das Genossenschaftsleben mit sich bringt. So erklärt sich der innere enge Zusammenhang des über so endlose Flächen zerstreuten russischen Volks, so erklärt sich das Charakteristische seiner Geschichte, seine nationalen Großthaten, seine rücksichtslose Opferfähigkeit, wodurch das Land mehr als einmal gerettet wurde, und sein Zurückbleiben hinter andern Völkern überall, wo das Große sich nicht durch Zusammenhang der Massen, sondern durch individuelles Hervorragen offenbart. Die deutsche Geschichte hat eine ähnliche Einigung aller Völker deutscher Zunge niemals aufzuweiseu gehabt und wird sie auch niemals aufzuweisen haben. Das russische, überhaupt slawische Bedürfniß des Zusammenlebens spricht sich schon in dcn ländlichen Wohnungen aus. Die Dörfer, gewöhnlich zu beiden Seiten der Landstraße sich hinziehend, bestehen aus dicht zusammengebauten Häufern, deren umgebende Gärten und Felder nicht wie bei uns durch Zäuue und lebendige Hecken getrennt werden. Wie sehr im Gegensatz dazu der Deutsche uach Vereinzelung strebt, Haus, Hof und Garten für sich haben will, wie schwer die Glieder einer Gemeinde XX unter Einen Hut zu bringen sind, und wie sehr die Schwierigkeiten der Einigung wachsen nach Maßgabe der größern Dimmsionen, lehrt unsere ganze Geschichte von der Zeit des Tacitus bis auf unsere Tage. Man darf diese Verschiedenheit des Volkscharakters nie ans den Augen lassen, wenn man das Große und Kleine, das Allgemeine und Besondere, die Schatten und Lichtseiten beider Völter richtig beurtheilen will. Der Russe ist von Haus aus friedlichen, der Deutsche kriegerischen Charakters, trotzdem wird schneller das russische Volk zu einem Kriege sich einigen als das deutsche. Als Individuum wird in den weitaus meisten Fällen der Deutsche dem Nüssen überlegen sein; dagegen wird die russische Nation über die deutsche alle die Vortheile behaupten, welche aus-einem engern Zusammenhang entspringen. Zu den Tugenden des russischen Volks gehören auch solche, welche die Frucht langer Gewaltherrschaft und unseliger Zustände sind. Wo dem Menschen der Genuß der irdischen Güter allzu schwer und unsicher gemacht wird, wo er keine feste Zuflucht auf Erden hat, da wendet er sein Auge zum Himmel auf, voll gläubiger Hoffnung, in einer bessern Welt zu finden, was ihm hier versagt ward. Die Bosheit entspringt dem Neide, der Eifersucht, der wirtlich oder schembar ungerechten Vertheilung der Glücksgüter. Wo aber- Tausende von Unglücklichen beisammen wohnen, da hilft einer dem andern gern, da entwickelt sich Mitleid, Barmherzigkeit, Nächstenliebe, kurz das Wesentliche dessen, was das Christenthum lehrt, und so ist es gekommen, daß trotz den versteinerten Formen der byzantinischen Kirche, trotz der Unwissenheit der Priester und der daraus entspringenden geringen Belehrung des Volks, unter diesem sich doch ein lebendiger, religiöser XXI Sinn entwickelt und erhalten hat, eine wahre opferfähige Religiosität, welche ein mächtiges Moment der Nationaleini-gnng bildet, und durch die Thatsache, dah sie vom Throne herab leicht zum Fanatismus gesteigert werden kann, für uns nur noch an Bedeutung und Gefährlichkeit gewinnt. Neberall kann man die Erfahrung machen, daß bei Völkern und Volksschichten, welche unter schwerem Drucke leben, gewisse Tugenden am besten gedeihen, wie das Edelweiß, die Königin der Gebirgsblumen, nur an den gefährlichsten Stellen und schauerlichsten Abgründen wächst; aber es wird keinen: denkenden Menschen einfallen, solche Tugenden auf Rechnung einer Negierungsweisheit zu setzen, gegen welche dieselben unwillkürliche Proteste sind. Man pflegt auch die Vaterlandsliebe zu den höchsten Tugenden zu zählen, obgleich sich nachweisen läßt, daß dieselbe bei den unreifsten und ani wenigsten entwickelten Völkern am stärksten ist. Es geht mit den Angehörigen der verschiedenen Nationalitäten wie mit der Frucht an den Bäumen: solange ein Apfel unreif ist, hängt er fest am Zweige, sodah es schwer ist ihn abzureißeu, den reifen Apfel aber schüttelt man leicht vom Baume, und der überreife fällt von selbst ab. Darnm entschließt sich der deutsche Bauer so leicht zum Auswandern, der französische so schwer und der russische gar uicht. Aus der Summe der obigen Betrachtungen wird sich dem denkenden Leser leicht erklären, warum Nußland in seinem tausendjährigen Bestehen als politische Macht eine so unge-heuere Ausdehnung und Geltung gewonnen, während es für die Geschichte des Geistes noch fast gar nichts gethan hat. Denn bei großen Kriegen und Eroberungen xxu zählt die Menge der Köpfe und die Stärke der Arme, und obwol die Kriegskunst als solche auch eine große Schule voraussetzt und schwer zu erlernen ist, so tauchen doch selbst unter den wildesten Horden Feldherrngenies auf, die alle angelernte Kriegskunst zu Schanden machen; und wenn es einem Lande an Feldherren fehlt, so lassen sich solche für Gold und Würden aus andern Ländern herbeiziehen, wofür Nußland selbst die schlagendsten Beweise liefert, da hier auf zehn hervorragende Generale immer neun mit deutschen Namen kommen. In der Geschichte des Geistes aber ist das Verhältniß ein umgekehrtes. Der Geist läßt sich nicht ad-diren noch multipliciren; tausend gewöhnliche Köpfe, mit abermals tausend nmltiplicirt, machen noch nicht einen einzigen ungewöhnlichen Kopf aus und kommen einem solchen an Werth nicht gleich. Schöpferische Geister muß ein Volk aus seinem eigenen Schose erzeugen, wenn es seine Größe durch sie begründen will, sie lassen sich nicht für Gold, Titel und Würden aus der Fremde verschreiben. Selbst ein Shakespeare, ein Goethe oder Kant würde, früh seinem heimischen Boden entrissen und nach Rußland verpflanzt, dort nicht geworden sein, was er in der Heimat geworden, und auf das russische Volk nicht die Wirkung geübt haben, die er von seinem Volke aus jetzt darauf übt. Der Philosoph saugt seine Weisheit nicht aus den Fingern, sondern sammelt die schon vorhandenen Strahlen der Erkenntniß in einem Brennpunkt; wie der Dichter wurzelt er in seinem Volke, und zieht die Summe des Wissens und Denkens seiner Zeit. Die Philosophie geht in Nußland noch in den Kinderschuhen; Denker wie Kant, Fichte, Schelling und Schopenhauer sind zur Stunde in Rußland noch unmöglich, denn wie schon vorhin bemerkt, geistige XXIII Fähigkeiten lassen sich nicht snmmiren wie Geld, und Millionen kleiner Geister kommen in ihrer Wirkung einem einzigen großen Geiste nicht gleich, wie hundert kleine Diamanten, wenn sie auch dasselbe Gewicht haben wie ein großer, diesem an Werth doch weit nachstehen. Ans dieser Unteilbarkeit und Ueberlegenheit der Kraft erklärt sich die Macht einzelner Menschen über Millionen. Für die Geschichte des Geistes war nnd ist ein Homer, Sophokles, Plato, Aristoteles, Dante, Shakespeare n. s. w. mehr werth, als alle die ungezählten Millionen zusammengenommen, welche seit dem tausendjährigen Bestehen des russischen Reichs darin geboren und gestorben sind. Daß aber überhaupt die Geistcsfähig-keiten der Nüssen geringer wären, als die anderer Völker, daß sie sich immer nur receptiv und nachahmend verhalten und nie etwas Großes und Ureigenes schaffen werden, möchte ich nicht behaupten. Schon der Umstand, daß alle Nachahmungen ausländischer Muster uud Formen, wie solche dem Volke durch Herrschcrgewalt aufgedrungen wurden, doch im Volke keine Wurzel schlagen tmutten und mehr Haß als Liebe erweckten, ist eine Bürgschaft dafür, daß dem Volke etwas Ureigenes innewohnt, dessen Pflege und Entwickelung ihm lieber ist als alles Fremde. Es gibt einige allgemein gültige Ideen, welche, soweit sie m der Wissenschaft klaren Ausdruck gewonnen haben, auf alle Verhältnisse anzuwenden sind, aber modificirt werden müssen, je nach dem Verständnisse der Völker und Individuen. Die Befriedigung setzt ein Bedürfniß voraus, und dieses wieder eine gewisse Bekanntschaft mit dem Begehrten. Die höchsten und kostbarsten Dinge haben keinen Werth für den, der ihren Werth nicht kennt. Das Kind oder der Wilde, XXIV dem der Werth der Perlen und Edelsteine unbekannt ist, wird beiden einen Leckerbissen vorziehen. Was ist dem Bauern, der ans dein Jahrmarkt gleichsam instmctiv immer die schlechtesten Bilder zur Ausschmückung seiner Wohnnng kauft, der Apoll von Belvedere oder die Venus von Mclos? Ebenso haben die relativ besten Staatseinrichtungen und Gesetze für Völker, die sie nicht zu würdigen wissen, einen sehr geringen Werth. Es kann kein Volk ohne Ordnnng bestehen, aber die Art, wie dieses allgemeine Bedürfniß bei jedem besondern Volke befriedigt wird, muß der Besonderheit seines Bedürfnisses entsprechen, wenn etwas Dauerndes, Lebensfähiges, nnd sonach wirklich Befriedigendes gegründet werden soll. Wendet Ulan diesen allgemeinen Satz auf Nußland an, so hat man den Ansdruck des Glaubensbekenntnisses der nationalen, oder im Gegensatz zu dem Petersburger Regiment, sogenannten moskowitischen Partei, von deren Bestrebungen in der „Einleitung" ausführlicher die Rede ist. Die klaren Köpfe unter dieser Partei denken natürlich nicht daran, alles zu streichen, was die Geschichte seit Peter dem Großen mit Hülfe der fremden Elemente in Nußlaud geschaffen hat. Sie machen sich die Vergangenheit zu Nutze, die gewonnenen Vortheile behauptend, aus den damit verbundenen Nachtheilen aber heilsame Lehren für die Zukunft ziehend. Sie leugnen die großen Verdienste Peter's des Großen nicht, der, obzwar selbst in keiner Richtung schöpferische Kraft offenbarend und völlig in Nachahmung des Fremden befangen, doch eben dadurch Rußland in nähere Berührung mit dem Auslande gebracht und solchergestalt einen Wettkampf der Geister entMdet hat, welcher erst jetzt anfängt XXV rechten Spielraum Zu gewinnen, da früher jede freie Stimme, die sich am Throne erhob, in den Schluchten des Kaukasus oder in den Wüsten Sibiriens verhallen mußte. Obgleich nun, wie wir wiederholt hervorgehoben, die Russen bisjetzt wenig für die Gefchichte des menschlichen Geistes gethan haben, so wird doch jeder schärfere Beobachter eine bestimmt ausgeprägte starke Volksthümlichkeit in ihnen entdecken, welche aus dem Kampfe und der Vermischung mit dem Fremden immer siegreich und neugekräftigt, weil ihrer sich selbst mehr bewußt geworden, hervorgegangen ist. Eine solche Volksthümlichkeit ist altem Weine in großen Fässern zu vergleichen, welcher, obwol fortwährend neuer Wein zugefüllt wird, doch immer seine eigenthümliche Kraft und Blume bewahrt. Wenn die Nüssen von ihren Nationalhoffnungen sprechen, so verweisen sie auf ihren Bauernstand, als die Quelle einer großen Zukunft; und in der That muß jeder, der dieses zähe, geduldige, demüthige und doch trotz jahrhundertlangem Druck frisch und stark gebliebene Geschlecht näher kennen gelernt hat, ihre Hoffnungen theilen. Wie sich die deutschen Meinungen dem gegenüber verhalten, braucht hier nur angedeutet, nicht näher erörtert Zu werden; es gibt bekanntlich eine Partei, welche ohne nähere Kenntniß des Volks die Nüssen zu einer ähnlichen historischen Mission berufen glaubt, wie die Deutschen dem zusammenbrechenden Nömerrciche gegenüber zu erfüllen hatten. Nach den Ansichten dieser Partei hätte Deutschlaud seine Nolle ausgespielt, um sie dem jungen Slawenreiche Zu überlassen. Mein Glaube ist dieser: au dem Deutschland, das in Rußland unterginge, würde überhaupt nichts untergehen; wir müßten, ehe ein solcher Fall möglich wäre, so tief ge- XXVI sunken sein, daß von den hohen Gütern, durch welche wir uns trotz unserer nationalen Zerfahrenheit immer noch in Respect bei andern Völkern zu setzen wissen, gar nichts übrig geblieben; und damit hat es gute Wege! Allein man weicht der Gefahr nicht aus, indem man sie ignorirt; man hemmt die Wirkungen feindlicher Kräfte nicht dadurch, daß man ihnen den Nucken zuwendet, wie eine andere Partei in Deutschland thut, welche im philosophischen Bewußtsein deutscher Ueberlegenheit mit gar zu verächtlichem Blick auf alles Russische herabsieht. Wie vor dem Krimkriege die Macht Nußlands weit überschätzt wurde, so ist man, seit es den vereinigten Heeren Frankreichs, Englands, Piemonts und der Türkei gelungen, die morsche Festung Sewastopol zu zerstören und einen Küstensaum zu erobern, mit welchem die Sieger nichts anzufangen wußten, als ihn wieder aufzugeben — jetzt nur zu geneigt, die russische Macht zu unterschätzen. Man vergißt dabei, daß Rußland von jeher uns weniger durch seine Heere als durch seine Diplomatie überlegen war, welche (hierin dem Papstthum ähnlich) ihre in einer großen Tradition wurzelnde Aufgabe unabhängig von den Wechselfällen des Krieges und den Velleitäten dieses oder jenes Kaisers verfolgt. Die deutschen Biographen Peter's des Großen haben nicht versäumt, durch untrügliche Beispiele darzuthun, wie mangelhaft seine Schulkenntnisse gewesen. Aber der Bischof Theophan sagte von ihm: „Die Reiche Europa's waren seine Akademien, ihre Beherrscher und Gesandten seine Lehrer." Und wie unfruchtbar auch sonst die russische Geschichte dem gelehrten Deutschland erscheinen möge, eins könnte man doch daraus lernen, nämlich dieses: daß in den großen XXVII politischen Dingen ein klarer Kopf, ein scharfes Auge und eine schlagfertige Hand mehr werth sind als die gründlichsten Schulkenntnisse, mit welchen man nichts anzufangen weiß. Die in diesen zwei Bänden mitgetheilten Uebersetzungen ans dem Russischen rühren zum größten Theile von einem frühern Zuhörer von mir, Herrn Oberlieutenant Christian Schmitt, her, der sich schon dnrch seine Uebertragung der „Geschichte des Kriegs Rußlands mit Frankreich unter der Regierung Paul's I." (von Danilewski und Miliutin) den: deutschen Publikum vortheilhaft bekannt gemacht hat. Zu den Aufsätzen, welche staatswissenschaftliche Gegenstände behandeln, hat Herr Hofrath 1)i-. Bluntschli kritische Anmerkungen geschrieben, welche den Standpunkt der deutschen Wissenschaft gegenüber den russischen Anschauungen vertreten und dadurch den Werth des Werks wesentlich erhöhen. Ich selbst habe meine abweichenden Ansichten von den Anschauungen der russischen Autoren theils in der „Einleitung", theils, wo es mir nöthig schien, in Anmerkungen unter dem Texte ausgesprochen. Für etwa übersehene Druckfehler und sonstige kleine Un-genauigkeiten muß ich um freundliche Nachsicht bitten, da ein hartnäckiges Augenleiden mir die Revision sehr erschwerte. Von der Aufnahme dieser zwei Bände „Fragmente" wird es abhängen, ob noch ein dritter nachfolgt, welcher in von mir selbst verfaßten Uebersichten, Auszügen und Übersetzungen ein Bild der heutigen schönwissenschaftlichen Literatur in Rußland gibt. München, 8. Februar 1862. F.B. Malt des nÄen NlintleS. Seite Vorwort................................................ ^ 1. Einleitung von Friedrich Bodcnstcdt.................. 1 2. Ueber das allrussische Gemeinwesen und die Volksbcrathnngen ober Landcsversammlungen. Von Äonft aniin Aksako w. . , 29 3. Das Familien- und Volksleben bei den alten Slawen und besonders bei den Russen. Von Konstantin Aksakow...... 59 4. Das Volksleben und die Mcsftn in der Ukraine. (Ein Bild aus der Gegenwart.) Von Iwan Aisatow................. 1M 5. Ueber die historische Bedeutung der Verhandlungen der moskauer Synode im Jahre 1551. Von I l. B , . . . w........ 261 Gmlcitunz von Friedrich Oodcnstcdt. RujstschcFvllgm7Nl:, >. 1 Dieses neue Wcrk aus und über Rußland ist nur für solche Leser geschrieben, dencn ernstlich darum zu thun ist, eine klare (Ansicht von den politischen und socialen Zuständen des Zarenreichs zu gewinnen, wie sie — von innen heraus und nnter äußern Einflüssen — im Laufe der Jahrhunderte sich entwickelt haben nud heute in tiefgehenden Spaltungen und Parteikämftfen sich darstellen. Es'verzichtet von vornherein darauf, dic Neugier derer zu befriedigen, welche pikante Anekdoten, schlüpfrige Geschichten und haarsträubende Enthüllungen erwarten, die man in andern Bücheru über Rußland zur Genüge findet. Dagegen hofft und wünscht es, beachtet zu werden von allen erleuchteten Staatsmännern und Politikern, weil es eiuc Meuge nenes, zum Verständniß der wichtigsten Zeitfragen unentbehrliches Material liefert, welches sonst nirgends in Deutschland beisammen zu finden ist. Die Art und Form der Mittheilung dieses Materials Weist jeden Zweifel an dessen Echtheit nnd Bedeutung zurück, denn es sind die russischen Gelehrten nnd Parteiführer selbst, welche hier reden nud ihre Sache vertreten, während der deutsche Herausgeber vornehmlich nur als internationaler Dolmetscher oder Vermittler auftritt, ohne jedoch bei Ein-sühruug des Fremden seine eigene Ansicht darüber zurückzuhalten, die er vielmehr gleich an die Spitze des Vuchs stellt 4 leu will, um auf das richtige Verständniß und die eigenthümliche Bedeutung des Gebotenen vorzubereiten. Seit dem Tode des Kaisers Nikolaus hat das deutsche Iutcresse an dm russischen Zuständen cinc neue Richtung genommen, welche sich mehr dem Volke als dein Herrscher zuwendet, obgleich bei uns im allgemeinen die Sympathien für den jetzigen Kaiser weit größer sind, als sie für deu vorigen waren. Kaiser Nikolaus, den mau sehr bezeichnend „I>a klyaä« 6,'un Ai-inid IioinmS" genannt hat, galt doch deu meisteu seiner fürstlichen Zeitgenossen wirklich für einen großen Mann, nicht nur wegen seiner moumneutaleu Erscheinung, sondern auch deshalb, weil er der einzige Fürst war, der das stolze Herrfcherwort „I/owt,, ö'est moi!" wieder ganz verwirklicht zu haben fchien. Er war der Stern des Nordens, der unerschüttert fort-glänzte, als im Sturmcsjahre 1848 alle andern Sterne sich trübteu und ans ihren Bahnen getrieben wurden. Er war der kaiserliche Auszug und Inbegriff der Kraft, des Blutes und Willeus von achtzig Millionen Menschen und sein Auftreten machte Europa erbeben wie der Anmarsch einer Million siegcsgewiß auftretender Krieger. Er war das wandelnde Machtbewnßtfein, vor dem das Wort „Unmöglichkeit" nicht ezistirte und in dessen Augen jeder Widerspruch ein Verbrechen war. Und die Macht, die man ihn: beilegte, war noch hundertmal größer, als die er wirklich besaß. Mau sah auf seine Augen, als ob ihre Blicke die Welt in Brand schießen könnten, und das lächeln seines Mundes galt Fürsten und Völkern als eine Bürgschaft des Friedens. Man staunte zu ihm empor, als zu dem monarchischen Koloß des alten Europa, und maß ihm die Kraft bei, die zu seinen Füßen wimmelnden Völker nach Belieben zu zerstampfen oder zu beglücken. Er galt deu meisten ältern Dynastien als der einzige Hort der 5 Legitimität, zu dem sie ihre Zuflucht nehmen müßten, um selbst m'cht zu fallen. Aus den fabelhaften Summen, die er ^ und noch mehr die Kaiserin — auf Reisen verschwendete, schloß man auf unermeßliche Hülfsquellcn seines Reichs; aus der scheinbaren Nuhe seiner Völker auf das Glück, dessen sie sich unter seiner Regierung erfreuen müßten. Kurz, der Bewuuderuug für ihn wollte kein Ende werden, "nd seine Herrscherkunst, die siegreich so viele Stürme überstanden, so viele Triumphe gefeiert, schieu mit seinem Glücke zu wachsen. Aber alles auf Erden hat seine Zeit, und als die Zeit der Paraden und des autokratischcu Blendwerks erfüllt war, schössen westmächtliche Bomben Bresche in die östliche Zwingburg und man bemerkte mit Erstannen, wie morsch ihr Bau war. Dem Kaiser brach das Herz, lind die Bewunderung für ihn schlug rasch in ihr Gegentheil um. Er wurde begraben und vergessen. Wo man seiner noch gedenkt, geschieht es nicht zu seinem Ruhme, denn kein schöpferischer Gedanke überlebt ihu, keine Muse segnet sein Gedächtniß, nnd sein Volk athmete erst frei auf, als er todt war. Der Gcfchichte aber wird er ein Maßstab bleiben, um die damit zu messen, die ihn für groß gehaltcu haben und unter denen er sich groß fühlen konnte. Kaiser Alexander, im Eharatter seinem gleichbcnaimten Oheim ähnlicher als seinem Vater, übernahm die Herrschaft unter höchst schwierigen Verhältnissen, die ein mildes Urtheil über ihn zur Pflicht machen. Der Krieg hatte mit Einem Schlage alle Gebrechen der langjährigen Misregierung, der Verwaltung und des Heerwesens aufgedeckt; die unglaubliche Verschwendung des Hofes hatte die Fiuauzen völlig zerrüttet; es fehlte an Geld und Menschen, um den Uebelständen, die sich überall zeiglen, gründlich abzuhelfen, denn die unter dem alten Eorruptious- 6 system aufgewachsenen Beamten erschienen zu durchgreifenden Neuerungen als wenig taugliche Wertzeuge. Unter diesen schwierigen Umständen sprach der Kaiser das Zauberwort aus: „Die Leibeigenschaft in Rußland ist auf^ gehoben!" nnd traf unverzüglich die nöthigen Einleitungen, um dem Worte die That folgen zu lassen. Durch dieses einzige Wort hat sich Alexander II. ruhmvoll unsterblich gemacht, welches auch immer die nächsten Folgen eines so plötzlichen Uebergangs aus der ^)c'acht zum dichte sein mögen. Inzwischen hält er die Macht nicht mehr in seinen Händen: sie ist in die entfesselten Geister gefahren, um dort ihren Gäruugsproceß durchzumachen nnd danach geläntert und getheilt ans den Thron zurückzukehren. Das ist es, was gemeint war, als oben gesagt wurde, das deutsche Interesse an den russischen Zuständen sei augeublicklich vorwiegend dem Volke zugewendet. Daß auf die Dauer Rußland dnrch die Befreiung der Baucru uur gewiunen taun, — daß der Adel, trotz der Opfer, die er jetzt bringen muß, seinen reichlichen Theil am Gewinne haben wird, — daß Cnltur und Werth des Bodens, Production, Handel und Industrie sich bald verzehnfachen uud eiue Menge ueuer Onellen des Wohlstandes erschließen werden, liegt klar gcnng zu Tage. Dagegeu erhebt sich die gewichtige Frage: wird die neue Phase des Volkslebens auf dem Wege friedlicher Entwickelung eingeleitet werden, oder wird ihr ein gewaltsamer Umschwung, Anfrnhr und Blutvergießen vorausgeheu? Ein aufgeregtes Volk ist unberechenbar in feinen Hand-lnngcn, und je länger man es in der Finsterniß gehalten hat, desto uusicherer tappt es umher beim ersten Hereinbrechen des Lichts. Seit Jahrhunderten hat man die Bauern daran gewöhnt, ihren Zustand als einen nach göttlicher und menschlicher Ordnung wohlbegründeten anzusehen. Viele Gemeinden, be^ 7 sonders die Angehörigen großer Gutsherren, die ihre leibeigenen nach Hunderttausenden zählten und ein mildes Regiment führten, befanden sich wirklich wohl ill ihren patriarchalischen Zuständen und verlangten nach keiner Veränderung. Andere, denen es schlimmer ging, weil sie kleinern Herren angehörte», bie auf größere Abgaben sehen mnßteu, um standesgemäße Einnahmen zu erzielen, ließen sich gläubig von den Priestern für die Leiden dieser vergänglichen Welt auf die ewigen Freuden des Jenseits vertrösteu. Jetzt aber wird an ihrem Glaubeu gerüttelt, indem man ihnen sagt: Euch ist unrecht geschehen! Die Sklaverei ist eiu den göttlichen Geboten zuwiderlaufeuder, ein für christliche Völker nnwürdiger Zustaud, deshalb sollt ihr daraus erlöst werden: euer Väterchen Zar schenkt euch die Freiheit! Diejenigen Gemeinden mm, welche mit ihren bisherigen Verhältnissen znfrieden waren und aus Erfahrung von ihrem Gutsherrn wissen, daß ihm ihre Wohlfahrt wirklich am Herzen liegt, wenden sick vertranensvoll an diesen, um zu erfahren, was es mit der ueucu Freiheit auf sich hat, uud dauach ein beide Theile befriedigendes Abtommcu zn treffen. Die Mehrzahl aber, die von ihren kleinen Tyrannen bisher auf das unmeuschlichste ausgepreßt nnd mishandelt wurde, in der raffiuirtm Art, wovon die Skizzen des cdeln Turgc-ujew so anschanliche Beispiele liefern, sagt: Hat man uns nnrecht gethan, warnm sollen wir die Missethäter nachträglich dafür belohnen? Hat man nus beraubt, warum sollen wir den Werth des Raubes selbst noch cimnal bezahlen, statt unser Eigenthnm einfach zurückzunehmen? Ist es nicht nöthig, auf Erden in Knechtschaft zn leben, um im Himmel selig zu wcrdeu, warum hat mall uns so lange getäuscht uud betrogen? Aus solchen und ähulicheu Anschauungeu sind die Bauern-unrnhen hervorgegangen, wovon uus die Zeitungen gemeldet 8 haben und wovon wir noch viel hören werden, denn die militärischen Unterdrücknngsmaßregeln, welche man anwendet, können wol äußerlich momentan Nnhe stiften, aber die Ueberzeugung der Banern nicht ändern, und den Beamten, welche ihnen die Regierung schickt, nm die Nothwendigkeit einer Entschädigung der Gutsherren darzulegen, glanben sie kein Wort, da sie eine angestammte, dnrch traurige Erfahrungen genährte Scheu vor jedem Tschino^vnit haben. Es ist also Zündstoff im Innern Rußlands reichlich vorhanden, wozu noch kommt, daß die Kosacken am Schwarzen Meere auffallende Beweise von Widerspenstigkeit gegeben, daß die Ukraine von ihrer alten Freiheit träumt, daß die stammverwandten Polen sich wieder regen, und daß eine Menge kleiner Gutsbesitzer, plötzlich durch die Emancipation verarmt, ein Interesse daran findet, überall nach Kräften die Unzufriedenheit zu nähren, nnd den Ansbruch einer Revolution wünscht, um im Trüben fischen zu können. Endlich darf nicht nuer-wähnt bleiben, daß es in Rußland sehr viele intelligente und energische Männer gibt, welche die bekannte Ansicht des Kaisers Nikolaus: nur Autokratie oder Republik habe eine wirkliche Berechtigung, was dazwischenliege sei von Uebel, weil ein Zwitterding — theilen, aber nach den Erfahruu-gen, welche sie von seiner Autokratie gemacht haben, sich für die Republik entscheiden uud iu diesem Sinne Propaganda machen. Doch, wie, dem immer sein möge, noch hat es der Kaiser in feiner Macht, einer Revolution vorzubeugen, wenn er aus freien Stückeu und schnell gewährt, was er auf die Dauer doch nicht verfagen kann: eine liberale russische Rcichsvcrfassung auf nationaler Grundlage, uud zu gleicher Zeit Herstellung der polnischen Constitution. Hierdurch würde dem großeu Werke der Bauernbefreiung die Nrone aufgesetzt werden nnd es würde das zugleich der Aufang des Eudes der bisherigen heillosen 9 Beamtenwirthschaft sein, des großen Krebsübels am russischen Staatskörper. Beides: die Festigung der Leibeigenschaft wie die Einführung des Tschmownikthums, welches von vornherein durch seine unzulängliche Besoldung darauf angcwieseu war, von Naub und Bestechlichkeit zu leben, war das Werk des Hauses Romanow und deshalb muß die Aufhebung des eiueu mit der gründlichsten Reform des andern Hand in Hand gehen, wenn der jetzt herrschende erlauchte Sprößliug dieses Hauses die hohe Aufgabe ganz erfüllen will, die Schuld seiner Väter zu sühneu. Sollte der Kaiser aber, au dessen persönlichen guten Absichten nicht zu zweifeln ist, dnrch schlechte Rathschläge seiner Umgebung oder aus Furcht vor eiuer Palastrevolution verhindert werden, das begonnene friedlich zu volleudeu; sollte er sich verleiten lassen, rückwärts zu seheu, statt vorwärts, durch Wiederaufnahme der alten GewaltvraM die Bewegung der Geister ;u dämmen, statt sie in geordnete Bahueu zu teilen, so würde er zu seinem eigenen und des Volkes Unglück das Nebel nnr vermehren, statt es zu miudcru, und eiue Revolution hervorrufen, die bei dem jetzt überall aufgehäuften Zündstoff das alte Europa leicht noch gewaltiger erschüttern könnte, als weiland die Französische Revolution gethan. Denn nichts ist schrecklicher als ein Volk in Aufruhr, welches niemals in gesetzlicher Zucht und Ordnung gelebt hat, sondcru uur gewohnt, der roheu Gewalt sich zu beugen, diese Gewalt Plötzlich iu seiurn eigenen Händen sieht. Es ist der Fluch des Despotismus, daß er seiue Schwächen nie eingestehcn darf, deshalb den Schein seiner Unfehlbarkeit durch alle Mittel aufrecht erhalten nnd die Qnclle der Uebel überall anders suchen muß, als wo sie wirklich liegt. So erklärt sich's, daß es ihm unmöglich ist, auf dem Wege einer falscheu Politik umzukehren und sich zu jeueu heilsamen 10 Geständnissen des Irrthums zu entschließen, welche bei volks-thümlichen Regierungen dnrck einen Ministerwechsel vertreten werden. Doch die menschlichen Dinge lassen sich nicht dauernd in mechanische Schranken zwängen; alles Lebendige schasst in ewiger Neugestaltung sich selbst die seiner Natur entsprechende Form, das dem Untergang Geweihte zerstörend und darüber hinwegschreitend. Kaiser Alexander hat die Eisdecke durchbrochen, welcke vor ihm das geistige Leben seines Volkes überlagerte und gebannt hielt; es ist durch ihn ein Frühlingshauch in das Land gekommen, der schon Keime und Knospen großer Verheißung getrieben hat; möge er sie hüten, daß sie wachsen und reifen! Wir wünschen das von ganzem.^erzcn, selbst auf die Gefahr hm, in unsern Erwartungen getäuscht zn werden. Denn in guten Wünschen liegt Segen, und der ist ein schlechter Prophet, der das Schlimmste verküudet und sich freut, wenn es eintrifft. Darum, statt der Znknuft vorzugreifen dnrch Ausmalung düsterer Möglichkeiten, wollen wir lieber die Gegenwart fest ins Auge fassen, um die Parteien näher kennen zu lernen, in welchen das geistige und politische Leben Rußlands gipfelt nnd über welche in Deutschland durchweg noch sehr irrige Vorstellungen herrschen. Es ist das die Petersburger-oder Regierungspartei und die Moskowiter- oder altrussische Partei. Man faßt diese Parteien bei nns gewöhnlich in dem Sinne, daß man die erste für die Vertreterin des Fortschritts, der Bildung nnd europäischen Civilisation hält, die andere dagegen als Vertreterin des Rückschritts, des obscnren Nativismus und altrussischer Barbarei betrachtet. Diese Auffassung ist eine nach beiden Seiten irrige. Sie bernht auf einem Irrthum, der zunächst aus einfacher Un-kenntniß der wirklichen Sachlage entsprang, dann aber künstlich 11 und geflissentlich von kundiger Seite genährt wurde. Es liegt nämlich den Anhängern der Petersburger-Partei sehr daran, die Sache so darzustellen, als ob ihr anf goldenen Rädern rollender Fortschrittswagen bei jeder Gelegenheit durch die bornirten Altrnssen in seinem der Aufklärung zugewandten saufe gehemmt werde. Bei den deutschen Gelehrten und Pu-blicisteu schmeichelt sich eine solche Auffassung mn so leichter em, als es ja angeblich gerade die Pflege deutscher Bildung und Wissenschaft ist, weshalb die erleuchteten Petersburger von den obscureu Moskowitern bekämpft und angefeindet werden, die man sich als eiue unverbesserliche Art altrussischer Junker vorstellt, in ihrem trotzigen Hochmuth und krampfhaften Festhalten an längstübcrwuudenen Formen und Anschauun^ gen etwa dcn mecklenburgischen Junkern vergleichbar. Allein in Wirklichkeit verhält sich die Sache ganz anders. Die Moskowiter bekämpfen in den Petersburgern nicht deutsche Bildung und Wissenschaft, sondern den Schein, die Maske derselben und den Misbranch, den sie damit treiben. Die Moskowiter wollen ganz und echt haben, was die Petersburger stückweise nnd verfälscht bieten. Sie wollen die wahre Wissenschaft, welche zur Freiheit führt, in Fleisch uud Blut übergeht und fruchtbar zeugend weiter wirkt — nicht aber die falsche, welche der Willkürherrschaft znr Stütze geworden und jedem Wechsel antokratischer Lannen so bereitwillig sich fügt wie den Bedürfnissen der Politik, Censur und geheimen Polizei. Sie wisseu sehr wohl — jede Seite ihrer Schrifteu legt dafür Zeugniß ab —, daß ein Volk vom audern lernen muß und daß Nußland in seiner Entwickelung weit hinter den andern europäischen Kulturvölkern zurückgeblieben ist, theils infolge der mougolifchcn Herrfchaft uud immerwähreuden Kriege, theils wegeu seiuer laugen Absperrung von Enropa, theils ans andern Gründen, welche in dcn Blättern dieses Buchs 12 ausführlich erörtert werden. Sie wissen das und sind eifrig bemüht, das Versäumte nachzuholen, indem sie auf Grundlage solider classischer Studien, wobei ihnen vornehmlich die deutschen Philologen als Führer dienen, den ganzen Bildungsgang moderner Wissenschaft durchmachen, aber ohne dabei in blinde Nachäfferei des Auslandes zu verfallen, ohne zu verleugnen, daß sie Russen sind und auch in den heimischen Sitten und Ueberlieferungen viel GutcS finden, das zu Pflegen und auszubilden sie als eine würdige, patriotische Aufgabe betrachten. Dies ist der Hauptpunkt, wodurch sie sich von ihren Gegnern unterscheiden, und von diesem Punkte aus hat man den Schein des lächerlichen auf sie zu werfen gesucht. Mit welchem Rechte, werden wir gleich sehen. Die Moskowiter wurden der herrschenden Petersburger-Partei zunächst dadurch nnbeqncm, daß sie eö waren, welche zuerst eine Neichsverfassung, Vereinfachung der Administration, öffentliches Gerichtsverfahren, Freiheit der Presse, kurz alles das verlangten, was zu den berechtigten Forderungen der Zeit gehört, denen nachzukommen auch die russische Regierung sich bald wird entschließen müssen, und daß sie die Unhaltbarkeit der alten, morsch gewordenen Zustände in bun--diger, überzeugender Weise darlegten. Sie dürfen sich rühmen, die Hauptbeförderer der Banern-emancipation gewesen zu sein, und daß alles, was in den nächsten Iahrzehnden Gutes vou der Regierung geschehen kann, nur eine stückweise Verwirklichung ihrer Forderungen sein wird. Allein für diese Forderungen zum Bessern hat man ihnen schlechten Dank gewußt; ihre Schriften, welche überzeugend zu widerlegen nnmöglich war, wurden verboten, unterdrückt oder verstümmelt und sie selbst wurden verfolgt und verdächtigt. Bis die mecklenburger Junker und ihre Schriften ein 13 gleiches Schicksal trifft, wird man sich hüten müssen, die Moskowiter mit ihnen zn vergleichen. Bekanntlich wird der Nuhm heilsamer staatlicher Reformen selten denjenigen aufgeklärten Männern zu Theil, welche die Nothwendigkeit solcher Reformen zuerst nachgewiesen und die Möglichkeit ihrer Ausführung vorbereitet haben, sondern er knüpft sich fast immer nur an die Namen der Staats^ looter, welche — oft erst nach langem, hartnäckigem, nutzlosem Sträuben — sie zur Ausführung bringen. So geschieht es, daß einsichtsvolle Männer, welche ihr Vaterland mit ganzer Seele lieben nnd dnrch Wort und Schrift für dessen Wohlfahrt wirken, gerade ihrer bessern Ueberzeugung wegen von minder einsichtsvollen Regierungen verkannt und verfolgt werden, bis diese — oft zu spät! -das Nichtige erkennen. Ein ehrlicher Deutfcher braucht Beispiels solcher Art nicht w der Ferne zu suchen.... Die Petersburger-Partei ist die herrschende in Nußland. Sie bildet die Ncgiernngspyramide, deren Spitze der Kaiser lst. Sie hat Geld, Rang, Macht, Orden, Ehren nnd Wür-dc'n zu vertheilen; wer dergleichen in Nußland sncht, muß es mit ihr halten. Sie behauptet dadurch eine große Ucber-lcgenheit uud gewinnt auch leicht eine Menge intelligenter Ausländer für ihre Zwecke, da es einmal der Lauf der Welt mit sich bringt, daß Ehren uud Würden im Ansehen der meisten Menschen höher stehen als Ehre und Würde. Ihr Heer und ihre Diplomatie, die Werkzeuge ihrer Macht, rekrutiren sich ans allen Völkern Europas und schlagen so überall hin ihre Verbindungsfäden. Bei der abenteuernden Rauflust, welche durch alles ger-manische Blut geht und schon seit langem in Deutschland selbst, wo die friedliche Politik der freien Hand herrscht, keine Befriedigung findet, wollen wir mit den jungen Helden, welche der Ehrgeiz in russische Dienste treibt, nicht ins Gericht gehen. 14 sondern nur bemerken, daß ihrcr immer ciuc sehr ansehnliche Zahl ist, worunter selbst Prinzen ans deutschen Regentcnhäu-sern niemals fehlen. Kommen solche Herren mm in die Heimat znrück, sei es besuchsweise oder auf immer, so werden sie natürlich die Partei, der sie ihre ^rdm und Auszeichnungen verdanken, in möglichst günstigem Lichte schildern nnd alle Schattenseiten auf Rechnung der halsstarrigen Moskowiter setzen, welche die weisen Plane der Negierung stets durchkreuzen oder verzögern. Aehnlich werden die fremden in Rußland angestellten Aerzte, Professoren und Beamten urtheilen, auch solche Bankiers und Kanfleute, welche sich besonderer Privilegien und Bevorzugungen erfreuen, denn alle diese Lente haben in der Regel für das Volk nicht das geringste Interesse und sehen auf alles Volksthümliche als anf etwas Rohes oder Gemeines herab. So konnte es denn nicht fehlet«, daß sich früh falsche Ansichten ausbreiteten uud befestigten und daß die Moskowiter, welche gegen den äußerlichen Machteinfluß der herrschenden Partei gar uichts iu die Wagschalc zu legen hatteu, dabei sehr den kürzern zogen. Sie konnten nnr moralisch wirken durch ihre Schriften und dnrch das allezeit mächtige Beispiel persönlicher Ehrenhaftigkeit, ein Schild für sie, woran die Pfeile des Spottes der andern Partei machtlos abprallen. Ein Beispiel unter Huuderteu möge hier genügen, zu zeigen, um welche Lappalien dieser Spott sich drehte und wie er auf die Angreifer zurückfiel. Die Art uud Weise, wie Militär und Beamtenthum sich zu klcidcu uud zu rafiren habe, bildete in Rußland bekanntlich von jeher einen besondern Theil kaiscr^ lichcr Fürsorge, nnd am meisten Veranlassung, die allerhöchste Weisheit iu diesem für das Wohl der Menschheit so wichtigen Punkte zu bewundern, bot Baiser Nikolaus, in dessen Augen das Tragen eines Bartes oder gar der russischen Natioualtracht für Leute, die nicht dem rangloscu Volke an- 15 ssehörten (das seinen Gart und seine Tracht selbst gegen die Gewaltmaßregeln Peter's des Großen, der in diesem Pnntte sehr klein war, zu behaupten wußte) ein Majcstätsvcr-brechen war. Diese Ansicht wurde natürlich in loyalster Weise von dcr Petersburger-Partei getheilt und tapfer gegen die Moskowiter verfochten, welche das Natioualcostüm und einen cntsprechcn-bcn Bart kleidsamer fanden als den pariser Frack und ein glattrasirtes Gesicht. Als aber die Mode des Barttragens von Paris tam, hatten die Petersburger, welche im Auslande reisten, nichts Eiligeres zu thnn, als sich den Bart wachsen zu lassen, und sie bedauerten nnr, in Nnßland nicht desgleichen thuu zu können. Was ihnen früher als gemein und geschmacklos galt, weil es national war, galt ihnen jetzt als vornehm nnd geschmackvoll, weil es von Paris kam. Die Pariser ihrerseits fanden das russische Nationalcostüm so hübsch, daß sie ihre Kinder a i^ Kn88o kleideten und sich selbst das Haar a la I5u886 schneiden nnd frisiren ließen. Alsobald wagten anch die Petersburger, ihre Kinder rnssisch zu kleiden und ihr Haar k 1a. 15n886 zu tragen. Welche bedeutcude Rolle dcr Bart übrigeus in dcr russischen Geschichte spielt, werden wir weiter unten ausführlicher !chcn. Perfolgt mau, bei diesem niedrigsten Beispiele anfangend, die Reihe dcr Geschmacks- und Gesinnungsäußerun-gen aufsteigend bis in die höchsten Sphärcu der Knnst und Wissenschaft, so stellt sich dieser charakteristische Unterschied heraus, daß die Moskowiter mehr Selbständigkeit, mehr den Muth einer eigenen Meinung haben und bei der Aneignung fremder Bilduugselemente immer nach nationalen Anknnpfnugs-pnnktcn suchen, ferner daß sie eine gewisse stämmige Charakterfestigkeit zeigen und vou den fremden Geschichtschreibern diejenigen vorziehen, bei denen sich Aehnliches findet, gleichviel 16 ob sie mit den russischen Anschauungen übereinstimmen oder nicht, während die Petersburger eine mehr kosmopolitische Richtnng verfolgen und ihren Geschmack mehr durck fremde Einflüsse bestimmen lassen, ohne selbst ein bestimmtes Gepräge zu haben. In der Geschichtschreibung ist Raute ihr Ideal, nnter dessen großen Gesichtspunkten sich alle Gegensätze versöhnlich zusammenfinden oder auflösen, dir Moskowiter dagegen ziehen deu alten Schlosser vor. In der Philosophie läßt sich kein so bestimmter Unterschied ziehen; hier stecken die meisten Antoreu beider Parteien noch tief iu dem Hcgel'schen Formalismus, was vielen ihrer Schriften eine gewisse Schwerfälligkeit gibt, zumal sie auf diesem Gebiete bisher wenig selbstschöpferische Kraft offenbart haben. Anf historischem Gebiete aber entwickeln die jungen Gelehrten eine erfreuliche, fruchtbare Thätigkeit, und wie sie in der Gründlichkeit der Quellenforschung sich die Deutschen zum Muster geuommen, so zeigen sie iu der geistigen Durchdringung des Stoffs und in der Aufstellung nener Gesichtspunkte, daß sie „Hegel's Philosophie der Geschichte" mit Nutzen studirt habeu. Ein deutscher Gelehrter, Schlözer, war es, der zuerst eine kritische Bearbcituug der russischen Geschichtsquclleu unternahm. Ihm folgte Karamsin mit seiner „Geschichte des russischen Reichs", einem bahnbrechenden Riesenwerke, dessen Einfluß auf die ganze russische Literatur und Anschauungsweise ein tiefgehender nnd nachhaltiger war. Erst in ucuerer Zeit ist man davon zurückgekommen, den geschmückten, langathmigen Periodenban Karamsin's als mustergültig zu betrachte»; auch seiner Anffassung der ältern Geschichte Nnsilands ist man vielfach entgegengetreten, und iu dem Aufbau des Werks vermißt man den innern organischen Znfammenhaug. Diesem Mangel hat ein neuerer Historiker, Solowjew, in seiner „Geschichte Rußlands seit den ältesten Zeiten" abzuhelfen 17 gesucht, indem er sich dic Aufgabe stellte, das allmähliche Wachsen und Werden des Staats nicht blos nach seiner räumlichen Ausbehnnug, sondern auch in seinem innern Entwickelungsproceß zu verfolgen, die ursprüngliche Zusammengehörigkeit der nnter der Herrschaft der warägifchen Fürsten zersplittert auftretenden Stämme nachznweisen und daraus die Dauerhaftigkeit ihrer spätern Wiedervereinigung zu erklären. Eine besondere Sorgfalt hat der Verfasser darauf verwendet, die naturgemäße Umwandclnng der alten patriarchalischen Zu-stände in die modernen Staatsformcn aufzuzeigen. Die Gleichförmigkeit des russischen Volks, im Gegensatz zu den reicher gegliederten und mamnchfaltiger ausgeprägten germanischen Stämmen, findet ihre Erklärung in der Natur des Bodens. Dem Einfluß auf die Bevölkerung wird überall gebührende Rücksicht gewidmet; der Contrast in Sitte und Charakter der Bevölkerung im Süden nnd Norden des Reichs wird dadurch anschaulich dargestellt und durch die verschiedenen Phasen hindurch verfolgt, welche das Hereinbrechen fremder Horden oder innere Umwälzungen erzengten. In seiner Methode steht der Verfasser anf der Höhe der modernen Geschichtschreibung. Sein Wert bernht auf gründlichen, kritischen Qnellenstudien, ist nach einem einheitlichen Plane lichtvoll geordnet nnd von einem leitenden Gedanken getragen, welcher durch seine Verzweigung in die einzelnen Abtheilungen macht, daß diese, lebendig ineinander greifen und nicht blos äußerlich zusammenhängen wie bei Karamsin. Dabei bietet er neue, interessante nnd lehrreiche Gcsichtspnnkte und wichtige ethnographische Aufschlüsse. Es ist also jedenfalls eine wesentliche Bereicherung der historischen Literatur, wie diel man auch im einzelnen wie im ganzen daran auszusetzen gefunden hat. Abgesehen von einer gewissen Schwerfälligkeit des Vor-trags, welche ihn besonders in den ersten Bänden zu keiner Russische Fragmente, s. 2 18 rechten Bewältigung des Stoffes kommen laßt, wird Herrn Solowjew von den Moskowitern vorgeworfen, daft er die Geschichte zu willkürlich behandelt habe und der consequent?,! Durchführung feiner Anschauung zu Viebe fremde Anschauungen auf ruffifchen Boden übertrage, welche mit den heimischen Zuständen im Widersprnch stehen. Die ausführliche Begründung dieser Vorwürfe findet der Leser in den kritischen, auf das Geschichtswcrk des Herrn So-lowjew bezüglichen Abhandlungen, welche einen wesentlichen Theil des Inhalts dieses Bandes bilden. Mit Hinweisnng darauf wird es hier genügen, einige orieutirende Bemerkungen vorauszuschicken, welche sich nicht speciell auf das Werk des Herrn Solowjcw (dessen zuletzt erschienener 9. Band erst bis zur Hälfte des 17. Jahrhunderts reicht, obgleich man daraus schon deutlich genug ersehen kann, in welchem Sinne er die folgende Periode auffaßt) beziehen, sondern die Gegensätze der modernen russischen Geschichtsbeschreibung im allgemeinen ins Auge fassen. Für die Anhänger der Petersburger Schule beginnt die russische Geschichte eigentlich erst mit der Thronbesteigung des Hauses Romanow, dessen einseitige Verherrlichung so lauge ihre vornehmste Anfgabe bleiben muß, als die Preßvcrhältnisse ihnen nicht erlauben, dem Lichte auch den Schatten hinzuzu-fügcu. Die hervorragendern Vertreter dieser Schnle sind Männer von bedeutendem Formtalent und glänzender wissenschaftlicher Bildung, welche sie hauptfächlich einem lä'ngcrn Aufenthalt in Paris und auf deutschen Universitäten verdanken. Zurückgekehrt in die Heimat, wurden sie rasch zn einträglichen Staatsämtcrn befördert nnd fanden sorgenlose Muße, die von Ranke gelernte Quellenkritik an den chaotischen Schätzen der russischen Archive zu üben und die vaterländische Literatur durch geschmackvolle Werke zu bereichern. 19 Nun hat es aber mit der Quellenkritik in 8lußland eine eigene Bcwandtuiß. Die dortigen Archive enthalten ein (besonders für das 17. und 1i?. Jahrhundert) sehr reiches Material, dessen Echtheit von denjenigen wissenschaftlichen Forschern, welche blos aus Archiven schöpfen, gar nicht angezweifelt werden kann nnd das demnach als Grundlage zu geschichtlichen Darstellungen benutzt wurde, welche ganz deu Anforderungm der strengen historischen Methode entsprechen, aber dessenungeachtet — nachweisbar falsch sind. Ein paar Worte werden genügen, diesen scheinbaren Widerspruch zu lösen. Die epochemachenden Herrscher aus dem Hause Romanow, Peter I. und Kathariua II., suchten bei ihrem Bestreben, Rußland nach Enrova vorzuschieben, dcu weitreichenden und energischen Anknüpfungen der auswärtigen Politik einen festen Halt im Innern dadurch ;u geben, daß sie das ganze Reich mit europäischen Formen übcrkleidctcn und zur Förderung ihrer Plane eine Menge intelligenter Ausländer für den russischen Dienst gewannen. Allein so wenig Peter es durchsetzen konnte, daß seine Russen sich den Bart abschnitten, wie haarsträubend auch die Ttrafcn waren, die er ans Nichtbefolgung seiner Befehle fetzte, fo wenig gelang es ihm nnd seinen Nachfolgern, deutsches Recht und Gesetz in Rnßland heimisch zu machen, obgleich dies das unablässige Ziel ihrer Bestrebungen war. Die Archive enthalten gan;e Stöße gelehrter Elaborate von hervorragenden deutschen Juristen und danach ansgearbeitetcn Gesetzen, Verordnungen, Stadtrechten und Ukasen, nebst den ausführlichsten officiellen schriftlichen Belegen, daß alles in Kraft gesetzt wnrde nnd von den segensreichsten Folgen war. Während in Wirklichkeit auch nicht ein Iota davon ins Leben übergegangen ist. Die große Katharina, welche das lübische und Magdeburger Stadtrecht schr genau studirt hatte und dafür schwärmte, dasselbe in Rußland einzuführen, stieß über- 2 5 20 all auf so hartnäckigen Widerstand, daß sic — immer zäh und energisch in der Durchführung ihrer Entwürfe — zuletzt beschloß, sechshundert neue Städte zu gründen, d. h. einer entsprechenden Anzahl uou Flecken und Dörfern Stadtrechte und besondere Privilegien zu verleihen, unter der Bedingung, daß alles nach den von ihr selbst ausgearbeiteten sogenannten „Organisationen" gestaltet würde. In jeder der neuen Städte sollten das „Rathhans" und die andern den Russen fremd artigen Amtsgebäude auf Kosteu der Krone errichtet werden; außerdem wurden verlockende Besoldungen für den „Bürgermeister" und seine Amtsgeuossen ausgeworfen, kurz, nichts unterblieb, den Lenten die Sache annehmbar zu machen, und wie viel auch vou den nugeheuern, für deu Zweck bestimmten Summen in den Häuden der Petersburger Würdenträger hängen blieb: in einer großen Anzahl der auf kaiserlichen Befehl in Städte umgewandelten Flecken und Dörfer kam wirklich ein Rathhaus zu Stande; allein in neuester Zeit hat sich herausgestellt, daß keins dieser Rathhäuser jemals zu dem gewünschten Zwecke bennht wurde, während die Kaiserin des seligen Glaubens starb, sechshundert Musterstädte geschaffen zu haben. Dies nur eiu Beispiel statt vieler, wie wenig die schrift-lichen Zeiger in den russischen Archiveu ans wirklich dahinter-befindliche zuverlässige Uhrwerke schließen lassen. Hieraus erklärt sich die gründliche Verschiedenheit zwischen den Anschauungen der Petersburger und denen der moskauer Schule. Die Anhänger jener schwören anf die officiellen Quellen, berauschen sich an den Erfolgen der auswärtigen Politik des Hauses Romanow und sind mehr oder weniger blind für die Uebelstände des Reichs. Im Gegensatz zu ihnen gehen die Vertreter der moskauer Schule mehr den Spuren nationaler, urwüchsiger Entwickelung nach; sie leben in weit innigern: 21 Zusammenhange mit dem Volte als ihre Petersburger Gegner, und üben auf dasselbe eine weit größere Wirkung, iM>em sie energisch die sklavische Nachahmung des Fremden bekämpfen und durch Hebung der lange unterdrückten und verpönten Schätze heimischer Denkmäler, Rechte, Sitten und Bräuche nationales Bewußtsein zu kräftigen suchen, ohne sich deshalb gegen fremde Bildung abzuschließen, wie ihnen unbillig zum Vorwurf gemacht wird. Da jedoch die Herrschaft des Hauses Romanow der innern naturgemäßen Entwickelung des Volks wenig günstig gewesen ist, so sind sie gezwungen, zur Förderung ihrer Zwecke in eine frühere Zeit zurückzugreifen, und es ist besonders das 16. Jahrhundert, welches ihnen die reichste Ausbeute liefert. Natürlich können auch die Anhänger der Petersburger Schule des Studiums der Vergangenheit nicht eutrctthen; allein sie scheu diese Vergangenheit mit ganz andern Augen au und legen ihr weder eine solche Bedeutung bei, noch wib^ men fie ihr eine so eingehende Prüfung wie ihre Geguer. Ich will verfucheu dies durch ein Beifpiel zu veranschaulichen, in welchem zugleich die principiellen Unterschiede beider Parteien scharf hervortreten werden. Die Stellung der russischen Kirche uud Geistlichkeit war unter den Herrfchern des Hauses Rurik ciue viel würdigere und uuabhäugigcre als sie heute ist. Das Oberhaupt der Kirche stand dem Oberhaupt des Staats vollkommen gleichberechtigt zur Seite, ja übte sogar zeitweise — wcil die Geistlichkeit ausschließliche Trägerin der Bildung war — eine noch größere Macht als dieses. Die Ausübung solcher Macht mag zu mancherlei Misbräuchcu geführt haben; allein hänfigcr sind die Falle, wo sie von Segen war und der rohen Gewalt des Zaren ein heilsames Gegengewicht bot. Die Geschichte hat uns von der alten russischen Geistlichkeit mauchcu Zug hohen ^Pfrrunlchs aufbewahrt, wie cr nur wahrhaft sittlicher 22 Größe und Begeisterung entspringen konnte: und jeder Unparteiische wird geneigt sein anzunehmen, daß auch die Schriften solcher Männer, welche allezeit bereit waren, die Würdigkeit ihres Lebens durch den Tod zu besiegeln, eine mehr als gewöhnliche Bcachtuug verdienen, zumal sie für die Geschichte jener Zeit das wichtigste Material liefern. Viele der allen, aber erst in neuerer Zeit wieder aus Licht gezogenen Schriftdenkmäler lassen anf einen nicht geringen Grad der Bildung nnd staatsmanuischen Einsicht ihrer Verfasser schließen. Das bedeutendste derselben aus dem 1l>. Iahrhuudcvt ist der sogenannte Sloglaw (etwa zu über^ setzen das Buch der hundert Capitel), welches von der großen moskauer Synode im Jahre 15i5>l redigirt wurde und nicht nur darauf berechnet war, der Geistlichkeit und dem Volke als Richtschnur se-wol in kirchlichen wie in politischen und sittlichen Dingen zu dienen, sondern sich vornehmlich die große Auf gäbe gesetzt hatte und erfüllte, das seit der Befreiung vom Tatarenjoche äußerlich geeinigte Rußland auch innerlich, geistig zu einigen und zu befestigen. Die Anhänger der Petersburger Schule sehen auf den Stoglaw, wie anf alles, was aus der Zeit vor Peter stammt, mit vornehmem Achselzucken herab; ihre moderne Bildung und Aufklärnng sträubt sich gegen die veralteten Formen und Anschauungen ocs Stoglaw, der ihnen höchstens als ein Denkmal der Barbarei und des Aberglaubens im ll;. Iahrhuu-dcrt merkwürdig erscheint, während ihre moskauer Gegner dem Stoglaw, nach der ungeheuern Wirkung, die er anf das Volk geübt, ciuc weit größere Bcdentnng beilegen als allen vor und uach Peter iu Rußland erschienenen Gesetzen, von welchen das Volk bis zum heutigen Tage nie die geringste Notiz genommen hat. Aus den Kämpfen gegen die Mongolen ging das früher durch die warägischen Fürsten vielzcrsvlitterte Rußland äußer- 23 lich geeinigt hervor, allem di^ verschiedenen Provinzen, welche hinfort Moskau als ihr Halfpt anerkennen sollten, fügten siH nnr mit Widerstreben dcr ncnen Ordnung der Dinge. Sie hatten ihre alten Sonderintcresfen nnd Privilegien, die sie nun opfern mnßten, llnd — was für sie mehr war — sie hatten ihre besondern Heiligthümer, welche sie andern nicht unterordnen wollten. Solche Hindernisse zn überwinden reichte die zarische Gewalt nicht ans; nnr priesterlichem Einflnß konnte es gelingen, das Ansehen der Heiligthümcr von Mostan den andern über d.'n Kopf wachsen ;n lassen und dieser jüngsten unter den Städten Rußlands eine solche Weihe nnd Äedcutnng ;n ge^ ben, daß sie bei der neuen Gestaltung dcr Dinge als Hanpt allVr übrigen freiwillig anerkannt wurde. Johann (Wassiljewitsch) IV., dem es an hervorragendem Verstände nicht fehlte, begriff vollkommen die Nothwendigkeit eines guten Einvernehmens mit der Geistlichkeit — welche die alleinige Vermittlerin aller Bildung, gleichsam das concrete Bewußtsein des Volks war — nnd suchte sich ihrer znr Durchführung seiner weilsehendcn Plane zn bedienen- Unmittelbar nach seiner Volljährigkeit, womit zugleich seine selbständige Regierung begann, nahm er das Wert dcr weltlichen nnd kirchlichen Staatsorganisation in Angriff und fand einen tüchtigen Mitarbeiter an dem damaligen Metropoliten Makary. Dieser gelehrte Prälat ließ alles sammeln, was in Rußland von kirchlichen Verordnungen nnd Satznugcn vorhanden war, und begann dann ein mühseliges Werk der Sich-tnng, nm Unnützes anszuscheiden, Einklang in das Ganze zn bringen und einen neuen Noiuokanon daraus zu bilden. Er berief zn diesem Zwecke zwei Synoden nach Moskau: eine ün Jahre 1547 nnd die andere im Jahre 1549. Äoltny, welcher sich, wie cö scheint, anf die eigenen Worte Johann's im Stoglaw beruft, führt an, daß zu derfelben Zeit „die 24 Reliquien und Heiligenbilder untersucht wurden" — „denn" — fährt er fort — „als Rußland nvch in viele Provinzen getheilt war, hatte jede Provinz, jeder Kreis, jeder Bezirk feinen eigenen Heiligen". Zu gleicher Zeit traf Johann Vorbereitungen zu neuen legislatorischen Arbeiten, welche den ganzen Kreis des staatlichen und kirchlichen Bebens im damaligen Rußland in möglichster Vollkommenheit umfassen sollten. Noch während der Dauer der Shnode von 154!) erhielt er die Ermächtigung von dem Metropoliten und den Bischöfen, den Sudebnik sdaö frühere Gesetzbuch) zu rcvidirm und zu verbessern. Im Jahre 1550 war diese Arbeit bereits vollendet. Darauf wurde eine dritte Shnode zur Revision nnd Bestätigung des Sndebnik berufen, nnd der Zar ersuchte den Metropoliten nnd die Bischöfe, für das Kirchenregiment dasselbe ;u thun, was er für das weltliche Regiment gethan. Dies gab Veranlassung zu der Synode, welche sich im Jahre 155l in Moskau versammelte und das Buch über die Kirchensatzungen zusammenstellte, dessen ich schon vorhin wiederholt unter seinem russischen Titel Stoglaw (Buch der hundert Kapitel) Erwähnung gethau. Der Sudebnit uud St'oglaw sind die beiden Brennpunkte, in welchen sich alle verschiedenfarbigen Strahlen dcs frlihcrn nordrussischen Lebens concentriren. Die Bedeutung dieser wichtigsten rnssischen Schriftdenkmäler des l<). Jahrhunderts zuerst ausführlich erörtert und dargelegt zn haben, ist ein großes Verdienst der moskaner Schule. Ueber die historische Bedentnng des Stoglaw für die Russen wird wol unter den Lesern schon nach den hier gegebenen knrzen Andeutungen kein Zweifel mehr fein, und in Bezug auf die formelle Seite des merkwürdige« Buchs möge die Bemcrtung geuügen, daß der größte russische Historiker, 25 Karamsin, ganz entzückt davon war und behauptete, der Stil des Stoglaw verdiene wegen seiner Klarheit nnd Reinheit die höchste Bewunderung. Karamsin behandelte mit besonderer Vorliebe solche Partien der altrussischen Geschichte, in welchen ein freieres Volksleben sich offenbart, und seine Schilderung der blutigen Unterwerfung des alten Freistaats Groß-Nowgorod macht auf nns den erschütternden Eindruck einer großen Tragödie. Seine Schriften waren es hauptsächlich, welche die Ar^ beiten der moskowitischeu Schule zunächst anregten uud ihnen die Richtung gaben, den Spuren der freiern Principien in den frühern Perioden der vaterländischen Geschichte nachzuforschen nnd darauf weiter zu baueu. Die Petersburger Schule macht es ihren Gegnern zum Porwurf, baß sie bisjetzt ihre Aufstellungen noch in keinem größern Werke zusammengefaßt nnd shswnatisch durchgeführt habe. Allem mau begreift leicht, daß das Erscheinen eines solchen Werks unter den russischen Eensurbeschräntungen unmöglich ist. Wurde doch selbst die „Unsskaj^ tt«886ä^", ciu Periodisches Sammelwerk, das Organ der moskowitischen Schule, von der Regierung uuterdrückt! In der „liustckg^ üesseäl," (redigirt von I. Aksakow) und im „8dornik" wurden die meisten der Aufsätze zuerst abgedruckt, wovon hier eine Auswahl mitgetheilt wird. Die Arbeiten der Moskowitischen Schule beschäftigen sich vornehmlich mit der Geschichte und den Culturznständeu der letzten drei Jahrhunderte und haben bereits über viele dunkle Punkte Licht verbreitet. Vor allem wteressaut erscheinen mir die Aufschlüsse, welche hier über die Bedcntuug der alten russischen „Landes-versammluugen" geboten werden. Ec geht daraus überzeugend hervor, daß die Macht der Zaren bis gegen das Ende des 17. Jahrhunderts nicht blos durch die Geistlichkeit, sondern auch durch das Volk beschräutt war, desseu Zustimmung, 20 altem Herkommen nach, bei allen wichtigen Staatsaetioneu eingeholt werden mußte. Ich erinnere nur hier au ein paar allbekannte, wenn auch noch von keinem Historiker hinlänglich gewürdigte Beispiele: erstens an die ^audesversammlnng, welche im Jahre 1(N2 eiubernfen wurde, um einen neueu Zaren zn wählen (Michail Feodorowitsch Romanow), und zweitens an die ^andesversammlung, welche im Jahre ll>62 vom Zaren Feodor II. Alercjewitsch einberufen wnrde, um ihre Zustimmung zur Vernichtung der alten Rang- nnd silas-scnbücher (Bücher des Rasrjäd nnd Mjestnitfchestwo) zu geben. Diese Versammlnng — die letzte, vou welcher wir Kunde haben — bestand and freigewählteu Vertretern der (Geistlichkeit, der Städte und des Bandes nnd erschien so als der lebendige Ausdruck des gesauuuteu Volkswillens. Die alten Zaren wagten nichts ohne das Volk zu unternehmen, das sie immer als die Quelle und Stütze ihrer Macht betrachteten. Selbst Iohauu der Schreckliche ließ meistens nur Hofleute und Bojaren unter den Ausbrücheu feiner Grausamkeit leiden nnd zeigte dem Volke allezeit Schonung uud Rücksicht. Erst mit Peter dem Großen begann die gewaltsame Nnterdrücknug der alten Voltsfreiheiten und die Uniformnung des Reichs. Seme fast übermenschliche Energie und Thatkraft bebte vor keiner Gefahr und vor keinem Hindernisse zn-rück, nnd seine glorreichen Erfolge nach außcu söhnten vielfach aus mit dem, was er im Innern Gewaltthätiges beging. Doch läßt sich jetzt auf das bestimmteste nachweisen, daß von all seinen Reformen nur das geblieben ist, was den Sitteu und Anschauungeu des Volks entsprach und wozn feine Vor-ganger — besonders der tlnge Boris Godnuow und Johann IV. — schon den itemi gelegt hatten. Neber den trotz aller Strafen hartnäckigen Widerstand des Volks gegen misliebige Befehle nnd Verorduuugcu Peter's ließen sich merkwürdige Dinge erzählen. Ich will hier 27 nur ttn lnrzes Beispiel, das Scheren des Bartes betreffend, anführen. Von Asien her waren allerlei Laster nach Rußland gekommen lind neben der Sodomie lind Päderastie spielte be-sonders die Selbstverstümmelung (dcrcn Anhänger früher eine besondere Sekte bildeten und heute noch schr zahlreich in Nußland zn finden sind) eine gefährliche Rolle. Die solchen Lastern Ergebenen bleiben bekanntlich bartlos. Hierauf beziehen sich die wiederholt im Stoglaw vorkommenden Stellen, wo den Priestern eingeschärft wird, darauf zn achten, daß das Polk „die Ehre nnd den Bart hüte". Ein Bartloser galt ans den angeführten Gründen oo ipso für ehrlos. Man wird hiernach den hartnäckigen Widerstand des Volks gegen das Gebot des Bartscherens begreifen. Einen tiefen Einblick in die russischen Zustände, wie sic vor Peter waren, gewährt ein höchst merkwürdiges, durch Herrn Bessonow der Vergessenheit entrissenes und erst vor kurzem im Druck erschienenes Mannscript ans dem 17. Jahr hundert, welches in Form einer für den Zaren Alefei Mi' chailowitsch bestimmten Druckschrift alle Zweige des Staatshanshalts umfaßt und an eine, in alle Details eingehende Schilderung des Bestehenden Aendcrungs- nnd Verbesserungsvorschläge knüpft. Der Verfasser scheint ein mit dem Staats- und Ver-kehrslebcn der übrigen Länder Enropas wohlvertranter, weitgereister Mann gewesen zu sein, dessen ganzes Streben dar^ auf gerichtet war, seine langjährigen Stndien nnd Erfahrungen zur Hebung der Wohlfahrt Rußlands anznweuden. Sein Standvuutt ist ciu parteiischer, von Haß gegen dir Fremden erfüllter, wozu das bekannte Neisewerk unsers Olea-rins, dcr eine wenig crbanlicbc Schilderung von Rußland wacht, viel beigetragen zu haben scheint. Aber indem der russische Patriot die fremden Angriffe zu wioerlegen sucht, hebt er alles hervor, was sich zu Gunsten der, heimischen In- 28 stitutionen, Kirche, Nechtsübung und Sitten sagen läßt, und gibt uns so ein anschauliches Bild des damaligen Rußland, wie wir dergleichen in solcher Vollständigkeit sonst nirgends finden. Das Verdienst, dieses inhaltsreiche Manuscript ans Licht gezogen zu haben, gehört ebenfalls der moskauer Schule an, welche unablässig den Spuren nationaler Eigenthümlichkeit nachforscht, um eiue gesunde Grundlage znr innern Entwickelung Nußlands zu gewinnen. Sie verkennt nicht die glänzende Machtstellung, welche das Reich der auswärtigen Politik des Hauses Romanow verdankt; allein sie findet den Preis dafür zu hoch und meint, es sei Zeit, daß Nnßland aufhöre, der Popanz Europas zn sein, um seine nngctheilte Aufmerksamkeit nach innen zu lenken, zur Ausbeutung seiner reichen Hülssquellen, zur Gründung rechtlicher Zustände und zur Hebung des nm Jahrhunderte hinter den übrigen Ländern Europas zurückgebliebenen Volks, welches die Petersburger Glorie mit seiner Freiheit bezahlen mußte. Der principielle Unterschied zwischen der Petersburger und Moskowiter Schule läßt sich für Deutsche am besten veranschanlichen durch Hinweisung auf den Unterschied, der in der Auffassuug unserer vaterländischen Geschichte herrscht und unsere Historiker in zwei Heerlager spaltet, wovon das eine den Glanz und die Herrlichkeit der alten Kaiscrzcit mit ihren Römerfahrten bewuudernd preist und ähnliche Zustände wieder heraufzuführen strebt, während das andere gerade von jener glanzvollen Zeit die innere Schwächung und Zerfahrenheit Deutschlauds herleitet. Natürlich ist dieser Vergleich nur im allergemeinsten Sinne zn nehmen, nämlich in dem Sinne, daß das russische ziaiserthnm danach strebt, das zu werden, was das römische Kaiserthum deutscher Nation war: die vornehmste Macht und dadurch Richter aller andern Mächte auf Erden. Allein das deutsche Kaiscrthum — wie man auch heute 29 darüber deuten mag, sei es, um seinen Glanz zu preisen, oder unsere beiden der Gegenwart daraus herzuleiten — hatte in Europa wirklich eine große religiöse und cnlturhistorische Aufgabe zu erfüllen, wie jedes Blatt seiner Gefchichte beweist, während Rußland die Lösung ähnlicher Aufgaben nicht in Europa, fondern in Asien zu snchen hat. Dies ist, in Bezng auf die äußere Politik des Zarenreichs, der Grundgedanke der moskowitischen Schule, ein Gedanke, der natürlich in Nußland nicht fo unverblümt ausgesprochen werden kann, wie ich mir hier erlaubt habe zu thun. Es würde von einem Ausländer thörichte Anmaßung sein, in einem wissenschaftlichen Streite, wie der zwifchcn den Moskowitern und Petersburgern geführte, das entscheidende Wort sprechen zu wollen. Allein da dieser Streit auf das engste mit den politischen und socialen Zeitfrageu zusammenhängt und in unsere vaterländischen Interessen tief eingreift, fo ist es nicht möglich, den unparteiischen Zuschauer dabei zu spielen, und vom rein deutschen Standpunkte aus, der hier allein maßgebend ist, kann man nicht anders, als für die Moskowiter gegen vie Petersburger Partei nehmen. Von Petersburg ist uns noch kein Heil gekommen und kann uns kein Heil kommen. Solange die russische Politik, nach Westen sich ausbreitend, deu Bahnen folgt, welche Peter der Große ihr vorgezeichnet, wird sie immer und überall unsere vaterländischen Interessen durchkreuzen und, bei ihrer überlegenen Klugheit und Zähigkeit, einen Sieg nach dem an-dern über uns gewinnen, ohne daß wir jemals Gelegenheit finden, uns zu entschädigen. Die Gründe dafür sind sehr einfach und leicht zu verstehen. So weit wir in Kunst und Wissenschaft den Russen voran-stehen, fo weit stehen wir in der Diplomatie hinter ihnen zu-ruck, weil ihr Verstand und Wissen in der auswärtigen Politik gipfelt, während unser Verstand und Wissen selten Ge- 30 legenheit gehabt hat, sich in dieser Richtung hervorzuthun. Das Zauberwort des crsteu Napoleon: „I^a o^i-i-ioi-6 nnverts au taient!" wodurch Frankreich und Rußland so große Erfolge errungen, hat in Deutschland bisjetzt keine Nachahmung gefunden, und bis die Zeit hier bessere Aussichten bietet, inüsseu wir uus mit dem Ruhme begnügen, die Welt mit gelehrten Werken, philosophischen Systemen, Professoren und Gouvernanten zu versorgen. Unsere heillose Bundesverfassung bringt es mit sich, daß Deutschland in keiner großen Frage die Initiative ergreifen kann; und cinc Macht, die das nicht kann, muß immer im Nachtheil bleiben. So ist es gekommen und zu erklären, daß der Franzosen-Herrschaft in Deutschland uusere noch viel schmählichere Unterwerfung unter die Heilige Allianz folgte, welche, auf christliche Phrasen höchst nnchristlichc Zustände grüudend und den Namen Gottes misbrauchcud, lange Zeit hindurch das Petersburger Cabinet zum eigentlichen Denker unserer politischen Geschicke machte. Goethe hat dieses Uxheil als Dichterprophct lange vor-hergcsehen, als rr, in einer Zeit, da Deutschland noch um seine Erlösung von der Fremdherrschaft ;u kämpfen hatte, unbeirrt durch die alles mit sich fortreißende Begeisterung nud die darans entspringenden Träume deutscher Freiheit uud Oeglucknng, die denkwürdigen, nns von Luden anfbewahrtcn Worte sprach: „Sie reden von dem Erwachen, von der Er^ Hebung des dcntschen Volks und meinen, dieses Volt wcrde sich nicht wieder entreißen lassen, was es errungen nnd mit Gnt uud Blut theuer erkauft hat? Weiß es, was es will uud was cs vermag? Haben Sie das prächtige Wort vergessen, das der ehrliche Philister in Jena seinem Nachbar in seiner Freude zurief, als er seine Stuben gescheuert sah nud nuu, nach dem Abzüge der Franzosen, die Russen bequemlich em-pfangeu konnte? Der Schlaf ist zu tief gewesen, als daß 31 auch dic stärkste Nüttelnng so schnell zur Besinnung zurückzuführen vermöchte. Und ist denn jede Bewegung eine Erhebung? Erhebt sich, wer gewaltsam aufgestöbert wird? Wir sprechen nicht von den Tausenden gebildeter Jünglinge und-Männer, wir sprechen von der Menge, von den Milliouen. ^ud was ist dcun crrnngeu oder gewonnen worden? Sie sagen, die Freiheit; vielleicht aber würden wir cs richtiger Befreiung nennen; nämlich Befreiung nicht vom Joche der Fremden, sondern von einem fremden Joche. Es ist wahr: Franzosen sehe ich nicht mehr, nnd nicht mehr Italiener, dafür aber sehe ich Kosacken, Baschkiren, Kroaten, Magyaren, Äassuben, Samläudcr, braune und andere Husarcu. Wir haben nns seit einer langen Zeit gewöhnt, unsern Blick nur nach Westen zu richten nnd alle Gefahr von dorther zu erwarten, aber die Erde dehnt sich anch noch wcithin gegen Morgen ans." Und vom Morgen, dem Aufgang des Vichts, kam uus die Finsterniß! Rußland gab den Impuls ;ur Heiligen Allianz, gab ihr den Inhalt, war ihr Geist und Denker, während Oesterreich und der Staat Fricdrich's des Großen eine blos zustimmende, unterwürfige Nolle dabei fpiclten. Ein halbes Jahrhundert ist verflossen, seit Goethe seine Prophetischen Worte sprach, und noch steht Dentschland so rathlos wie damals, noch hat es keine feste Richtschnur des Handelns gefunden, noch immer läßt es sich in allen großen Fragen der Politik oon fremden Mächten bestimmen und hat, uneinig in sich selbst, noch kein anderes würdiges Unterpfand seiner Znsammengehörigkeit als die Werkc seiner Meister in Kunst und Wissenschaft, verknüpft mit dem Namen einiger erleuchteter Fürsten. Wie soll mm ein solcher, auf das lockerste zusammenhangender Staatenbund den Kampf bestehen mit einer Diplomatie wie die russische, welche nicht allein von Haus aus 32 besser geschult ist, dazn getragen durch eine große einheitliche Macht und eine glanzvolle Tradition, sondern anch genau bestimmte, große Aufgaben und Ziele vor sich hat, deren Erreichung sofort zu neuen, gesteigerten Zielen führt, mit derselben dialektischen Consequenz, wie die Begriffsbestimmungen der Hegel'schen Logik dnrch eigene Fortbewegung ineinander übergehen. ES ist erstaunlich, welche Steigerung der Kräfte und Fähigkeiten das Bewußtsein weckt, einer großen Macht anzn-gehöreu oder gar sie zu lenken. Das gilt vom gemeinen Soldaten bis hinanf zum Feldherrn, und vom kleinsten Beamten bis hinauf zu den Spitzen der Regierung. Ja, es erstickt iu den Angehörigen kleiner Staaten, die thatendnrstig in den Dienst mächtiger Reiche übertreten, die heiligsten patriotischen Gefühle und läßt sie ohne Bedenken das Schwert gegen die eigene Heimat führen. Jeder Bewohner deutscher Kleinstaaten wird von Beispielen zu erzählen wisscu, wie talentvolle Leute, die es in den heimischen beschränkten Verhältnissen zu nichts bringen konnten, in andern Staaten, uud vor allem iu Nnßland, zu Einfluß und Ansehen kamen. Was hätte die große Katharina mit ihrem staatsmännischen Genie anfangen können, wenn sie Gemahlin eines Fürsten von Reuß oder Bückeburg geworden wäre? Wenn also behauptet wird, daß die russische Diplomatie der deutschen überlegen sei, so begreift jeder leicht, was damit gemeint ist. Die Petersburger würden mit Fug und Recht auf die auswärtigen Erfolge ihrer Cabinetspolitik stolz sein können, wenn diese Erfolge der russischen Nation so znm Heil geworden wären, wie sie der deutschen Nation znm Unheil geworden sind. Allein die Moskowiter finden, wie gesagt, den Preis für die diplomatischen Siege Rußlands mit der Freiheit des Volks 33 zu theuer bezahlt; es erscheint ihnen als ein nichtiger Ruhm, die'Finanzkräfte des Landes so erschöpfend anzuspannen, wie bisher geschehen, um in Enropa eine glänzende Vertretung zu haben, deren Nutzen sehr problematischer Natur ist. Sie wünschen der Machlausdehnung nach Westen Einhalt zu thun, um die Kräfte des Reichs zu concentrirm und auf wichtigere, ihnen näher liegende Ziele zu leuken. Sie wisseu, daß die frühern, engern Eabinetsbeziehnngen zwischen Rußland nnd Deutschland die Völker nicht einander genähert, sondern entfremdet haben, und sie wünschen eine solche Entfremdung nicht. Freier wissenschaftlicher Verkehr und der Austausch fruchtbarer Ideen zwischen den Völkern ist ihnen lieber als Beschränkung des geistigen Verkehrs auf den Austausch diplomatischer Noten. Sie achten unsere nationalen Bestrebungen und streben danach, daß wir die ihrigen ebenfalls achten lernen. Sie wissen, daß unser eigener Aufschwung, das Abstreifen des Fremden, die geistige Wiedergeburt Deutschlands nicht von den Eabineten ausging, sondern einzig und allein dnrch die deutsche Wissenschaft sich vollzog, die nntcr Friedrich dem Großen noch als Aschenbrödel behandelt wnrdc uud französischen Flitterstaat anlegen mußte, um beachtet zu werden, während sie ietzt als eine wcitgebictcnde Königin in ureigeuem Glänze zu Throne sitzt, umschwebt vou dcu hehren Gestalten der altdeutschen Gölterwclt uud geschmückt mit den Reichskleinodien heimischer Sage und Poesie, welche Meister Grimm und seiue guten Gesellen aus andcrthalbtausendjähri-gem Schutt hervorgegraben. Einc ähnliche Einkehr ins heimische Leben, ein ähnliches Abstreifen des Fremdcu, soweit dies nur Firniß und Flitterstaat ist, eine ähnliche Wiederbelebung der verkümmerten Gegmwart durch Versenkung in die Vergangenheit, mit Einem Worte: einen ähnlichen innern nationalen Aufschwung, wie er bei uns sich vollzog gerade zur Zeit der äußerlich tiefsten Er- 34 niedrignng der Nation, wünschen die Moskowiter in Rußland herbeizuführen. Daß solche Bestrebungen, besonders in ihren Anfängen, viel Seltsames, ja Verkehrtes nach sich ziehen und dem Spotte und Witze der Gegner reichlichen Stoff bieten, versteht sich von selbst. Hat man nicht auch den ehrwürdigen Klopstock belächelt als poetischen Pionnier der germanistischen Forschung? Ich habe die ersten Anfänge der jetzigen mootowiter Schule noch selbst miterlebt. Eine Anzahl junger, talenlvol-ler Gelehrter, meistens aus den höhern Ständen entsprossen, theilte sich in die Aufgabe, den Schleier von der nationalen Vergangenheit zu heben. Der edle Oranoffsty, ein zu früh verstorbener Historiker von glänzender Vildung und Beredsamkeit, suchte seine gründlichen Forschungen auf dein Gebiete der alten Geschichte Rußlands gleich vom Katheder herab ;u verwerthen, soweit dao uutcr den unglaublichen Hemmnissen, welche die Regierung ihm auferlegte, möglich war. Man hielt ihn für äußerst gefährlich, weil sein Hörsaal immer überfüllt war uud uicht blos die Studenten, sondern Vente ane allen gebildeten Ständeu sich zu seiucu Vorlesungen drängten. Der als patriotischer Dichter vielgefeierte ^hom-jatow suchte die Vergangenheit zugleich historisch und poetisch auszubeuten; Jury Samarin vertiefte sich in das Studium der Kirchengeschichte; Konstantin Aksakow legte den Ornnd zu der ersten wissenschaftlichen Grammatik der russischen Sprache, die er noch kurz vor seinem Tode l18W) vollendete. Sie fanden bald eine Menge begeisterter Anhänger und Mitarbeiter und wuchseu im ^anfe der Jahre, trotz des Druckes von oben, zu einer stattlichen Partei heran, welcher es jedoch erst unter der Regiernng deS jetzigen Kaisers gelang, sich öffentliche Orgaue iu der Presse zu schaffen. Ich erinnere mich noch aus den ersteu vierziger Jahren, welches Aufsehen es in Moskau selbst erregte, als die jlingen Moskowiter ver- 35 suchten, ihr».' Muttersprache in den Salons wieder zu Ehr«, zu bringen, nnd es fnr eine Thorheit erklärten, im Herzen Nußlands französisch zu sprechen, zumal dic französische Sprache der russischen an Wohlklang, Reichthum nnd Bildungsfähigkeit nicht das Wasser reicht. In poetischer ssorm hatten Griboje'dow, Puschkin, ^ermontow n. a. schon ähnliche Grundsätze verfochten nnd große Zustimmung gefunden, denn m Novellen nnd schönen Versen ließ man sich das gefallen, allein im Salonlcben erschien es als eine herbe Znmnthnng an die „gute Gesellschaft", das Französische, dessen feine und correctc Nusfprache als untrüglichstes Zeichen höherer Bildung galt, nun ganz aus der gewöhnlichen Konversation verbannen zu sollen. Doch die patriotische Vernunft siegte nach und nach über die alten Vorurtheile; die Moskowiter haben in der Hauptsache ihren Zweck erreicht, nnd die russische Sprache uud Literatur hat wesentlich dadurch gewonnen. Autoreu wie (Äraf Tolstoy, Turgenjew, Gonischarow, Sergins Aksakow, deren Werke denen der besten heutigen Novellisten in England, Deutschland uud Frankreich vollkommen ebenbürtig sind, haben gezeigt, daß die russische Sprache, welche — gleichwie die deutsche — in ihrem schwer zu bewältigenden Reichthum nur dem Meister gehorcht, nntcr Meisterhänden das Höchste vermag. Als die Moskowiter vor etwa zwanzig Jahren anfingen, bie russische Sprache, deren die „gute Gesellschaft" bis dahin "ur im Verkehr mit den uuteru Klassen sich bedient hatte, bei slch zu Hause salonfähig zu machcu, fürchteten viele schon, daß die alte Barbarei wieder über Rußland hereinbrechen werde, indem man sich von der Erlernung fremder Sprachen "bwendc und somit der abendländischen Bildung den Rücken lehre. Allein bald ist diese Furcht der Ueberzeugung gewichen, baß die jüngere Generation das Studium des Französische,!, Deutschen und Englischen nur um so gründlicher treibt, seit 3* 36 sie diese Sprachen nicht blos mehr sich amignet, um in den Salons damit zu glänzen, sondern als Schlüssel zu den Schatzkammern ihrer Literaturen. So hat sich in dieser Beziehung der Gegensatz zwischen deu Petersburgern und Moskowitern bereits vollständig ausgeglichen; desto schärfer tritt er iu ihren historischen, politischen und socialen Anschauungen hervor, wie der Leser das aus den ill diesem Äande mitgetheilten historischen Untersuchungen zur Genüge ersehen wird. Ich habe den Betrachtungen über die rnssische Vergangenheit ein lebensfrisches Bild des hentigen Volkslebens von Iwan Aksatow beigefügt, welches wegen seiner Treue uud Anschaulichkeit ganz besondere Beachtung verdient. Was allen diesen Mittheilungen ihren eigenthümlichen Werth gibt, ist dieses, daß sie von Russen selbst herrühren, und zwar von solchen Schriftstellern, welche sich in Rußland des höchsten Ansehens erfreuen. Hier fallen also alle die begründeten Einwendungen, welche man gegen die Schriften von Ausländern übcr Rnßland zu machcu pflegt, von vornherein weg. Der deutsche Leser wird sich mit den nationalrussischen Anschauungen von Volk, Staat und Geschichte nicht überall einverstanden erklären können, ja er wird sich in manchen Fällen entschieden dagegen sträuben, allein es wird ihm inter^ esscmter und lehrreicher sein, diese ihm fremdartigen Anschauungen iu ihrer urwüchsigen Form kennen zn lernen, als ans russischem Munde einen bloßen Widerhall der bei nns herrschenden Ansichten zu vernehmen. Was von dem russischen Volke gilt, läßt sich mehr oder weniger auf alle slawischen Völker anwenden. Die bisjctzt unfruchtbare Geschichte dieser Völker hat bei unS mehr uud mehr die Ueberzeugung befestigt, daß sie überhaupt unfähig seien, eine originale culturhistorische Bedeutung zu gewinnen. Im Gegensatz zn den männlichen germanischen 37 Völkern hat man auf das vorwiegend Weibliche im Charakter der Slawen hingewiesen nnd daraus den Schluß gezogen, daß sie immer von Germanen abhängig bleiben müßten, um Großes zu empfangen und zu gebären. Allein die Entwickelungswege der verschiedenen Völker sind so mannichfaltig, daß es sehr gewagt erscheint, einem Volke deswegen alle höhere Zuknnft abzusprechen, weil es bisjetzt noch keinen der Wege eingeschlagen hat, auf welchem die in der Geschichte Epoche machenden Nationen zu Ruhm und Größe gelangt sind. Goethe hat gesagt, Aufopferungsfähigkeit sei die höchste menschliche Tugend, weil sie alle andern Tugenden in sich schließe. Nun gibt es aber kein Volk, bei welchem diese Tngend in Höhcrm Grade zu finden wäre als bei den Slawen. Die Slawen kennen kein Parteilcben. Tauchen ans ihrer Mitte überlegene Geister auf, welche das Volk durch eine wirklich oder auch nur scheinbar große Idce zu entzünden wissen, so reißen sie alles mit sich fort und aller Widerstand verschwindet spurlos in der allgemeinen Begeisterung. Diese Anfopferuugsfähigkeit, diese Opferfreudigkeit, von welcher die russische Geschichte fo wunderbare Beispiele gibt, ersetzt bei den Slawen dic großen Eigenschaften anderer Völker nnd ist ihnen, verbunden mit der ganz eigenthümlichen Innigkeit und Heilighaltung dcö Familienlebens fowie des alterthümlichen Gemeinwesens, die Bürgschaft für ciue große Zukunft. Ueber das altrussische Gemeinwesen und die Boltsberllthungen oder Lllndesvetsammlungen. Nm den Aufsatz, womit dieser Band eröffnet wird, vor Mißverständnissen zu hüten, muß ich ein paar Worte vorausschicken. Die darin entwickelten Ansichten über Volk und Staat — Ansichten, welche mit unsern eigenen Anschauungen lM entschiedensten Widersvrnchc stehen — haben für uns nur insofern Werth und Interesse, als sie wirklich der Ansdruck ber russischen Dnrchschnittsauffassung des Staats sind. Stände ^r russische Autor mit seinem Ttaatsbegriff allein, so könnte Nan sich leicht versucht fühlen, anzunehmen, er hätte in einer Mismnthigen Stunde Wilhelm von Humboldt's „Ideen zn einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" gelesen und seinerseits den Versnch gemacht, diese ^deen nach russischen Voraussetzungen zn reproduciren. Allein 5"s ist nicht der Fall. Die Anschauung des russischen Vcr-fasfers entspricht ganz und gar der Anschauung seines Volks, und wenn er iu den wesentlichsten Punkten — wie z. B. daß 5cr Staat nnr ein nothwendiges Uebel sei, gegen welches, um es möglichst anschaulich zu machen, das Volk durch kräftige Entfaltung der individuellen Selbstthatigkeit uud freie gesellschaftliche Verbindung der Individuen sich schützen müsse — völlig mit Humboldt übereinstimmt, so ist das nur daraus zn erklären, daß die berühmte Humboldt'sche Schrift gleichwie die "achstehende russische Skizze ein trüben Erfahrungen ent- 42 fprungencr Protest gegen die bureaukratifche Bevormundung, gegen die uunüfte Viclregiererei, tnrznm gegen die vielen schäd> lichen llebergriffe dco Staats ist. Die gleiche Wirtnug entspricht hier der gleichen Ursache und es ist ganz natürlich, daß der russische Autor in seiner pessimistischen Auffassung des Staats so weit über den großen deutscheu Staatsmann hiuausgeht, als der russische Staat hinter dem preußischen Staat zurücksteht. Die schlechteu Orgaue des Staats und die schlechten Gesetze sind es, welche Staat uud Gesetz iu so tiefe Misachtung bei deu Nüssen gebracht habeu, daß sie sich die Freiheit innerhalb des Gesetzes nicht denken können. Die Skizze des russischen Autors ist ein ncner, schlageuder Beweis dafür, daß wahre Heilighaltung des Gesetzes iu einem absolutistisch regierten Staate unmöglich ist. Wo aber das Volk seine Gesetze sich selbst gibt, lerut es auch bald einsehen, daß diese seine Freiheit nicht aufheben, sondern vielmehr der wahre Ausdruck derselben sind. ss. V. Wnigkeit im socialen Leben läßt sich nur auf Grundlage der freien gegenseitigen Uebereinstimmung voraussetzen. Die rohe Gewalt, der äußere Zwang, welcher ebenso wenig die freie Meinungsäußerung wie die innere Ueberzeugung berücksichtigt, ist etwas Herabwürdigendes für die menschliche Gesellschaft. Diese kaun zur Erzielmlg der Einheit im Handeln nur eiu Mittel zur Anwendung bringen — nämlich das der freien Berathung, wobei die verschiedenartigen Ueberzeugungen zum gemeinsamen Gedanken nnd infolge dessen dann zur gemeinsamen That gelangen. Seit uralter Zeit treffen wir bei den slawischen Völker-stammen auf einen socialen Verein — die Volkögemeinde — Mir lNil»i.!) —, dessen Existenz sich nothwendig äußern AuS> druck verlieh — in der freien Berathung, im Alterthum Wiätsche^) genannt. Ein Volk, welches unter solchen Bedingungen lebt, hat in der rnssischeu Sprache eine besondere Benennung - nämlich es heißt oann: Semlja.'') Dieser 1) Wpi. heißt zugleich die Welt: ,>nn, fast all^. Culttirvölkcr cm unentbehrliches Gut. 48 Zwecke, um das Heerwesen zu ordnen, welches schon seiner Natur nach ein Ausfluß der roheu Gewalt ist uud wozu die herbeigerufenen Waräger durch ihren kriegerischen Geist sich als ganz besonders geeignet erwiesen, sodaß man in der Folge das Heerwesen immer als eine den Souverän vorzugsweise betreffende Angelegenheit angeschen hat. Allein zu gleicher Zeit übertrug mau dem Staate auch die (äußere) Gerichtsbarkeit, welche in den ersten Feiten, dann zur Zeit der Geltung des „russischen Rechts" siinsska^ pra^a)'), und man kanu sagen bis zur Tatareuherrschaft ihr frisches, rein slawisches Merkmal des Gemeinwesens darin bewahrte, daß die Todesstrafe sowol wie alle Leibesstrafen streng verpönt waren. Auf diese Weife entstanden in Rußland zwei Principien, oder sagen wir Sachen: nämlich die Sache des Landes und die Sache des Staats. Diese beidcu Sachen, verschieden in ihrem Wefen, vermischten sich nicht miteinander, und diesem Umstände dürfte es auch zuzuschreiben fein, daß beide in Eintracht und Freundschaft nebeneinander bestehen konnten. Der Staat war nothwendig für das Land; allein dies wollte sich nicht selbst in einen Staat umformen, denn es hatte das Bewußtsein, daß es durch diesen Schritt seine erhabene Stel-luug vcrratheu, seine höhere Freiheit aufgeben uud seiucr all-gemeiu menschlichen Bestimmung untreu werden würde. Der Staat war aber auch herbeigeholt zum Wohle des Landes; er beschützte dieses auch, ohne aber darum zugleich seine Grenzen zn überschreiteu. Das Land drang nicht in das Gebiet des Staats ein; der Staat drang nicht in das Gebiet des Landes ein, und so kam es, daß diese beiden Principien — Land und Staat — bei der Beachtung des Systems der gegen^ seitigen Nichtintervention sich freundschaftlich verhalten habcu, 1) PyccKa« npaBfla. 49 und der Staat sich sogar nützlich für das Land') erwies. Der Staat ist aber dcm Landein doppelter Weise gefährlich: cs kann nämlich entweder der Staat seine Grenzen überschreiten, in das Gebiet des Landes eindringen nnd dasselbe knechten, — oder umgekehrt, es kann das Land sich dnrch den Staatsglanz blenden, durch den äußern Staatscomfort, durch das Phantom der Staatsfrcihcit (welche aber im Grunde immer eine zwingende ist, weil hier die Freiheit selbst zur Rc^ gierung wird) sich verführen lassen, kann in das Gebiet des Staats eindringe«, sich in Staatsformen kleiden und auf diese Nrt seine erhabene moralische Stellnng verrathen, seine volksthümlichc, wahre und freie Freiheit mit Füßen treten, die innere Wahrheit völlig verlengnen, sich im Innersten zerfetzen und sein Landesprincip gänzlich einbüßen. Das letztere Uebel ist weit ärger als das erstere; denn vom änßern fremden Drucke sich zn befreien, ist immerhin wenigstens noch die Möglichkeit vorhanden; hingegen selbsteigener Fall nnd Ber-derbtheit, freiwillige innere, ja sogar geistige Selbsttnechtung unter das Princip des Aenßcrn, das Princip des Zwanges, vermag kaum — und im besten Falle nnr durch äußerste Anstrengung, durch ciuen tiefen, innern, moralischen Umsturz geheilt zn werden; es ist dies um so schwieriger, weil das Laud durch das glänzende Phantom der Staatsfreiheit geblendet, sobald es sich mit der 5ironc uud dem Purpnr geschmückt hat, es allsogleich vergißt, daß dieses doch immer dieselbe Krone und derselbe Pnrpur ist, — und darin liegt eben der Schwerpunkt. Denn ist einmal das Bolt Souverän, — wo bleibt bann das Volk? Allein weder das eine noch das andere Uebel trat bei den Slawen ein, die sich den Staat übers Mcer, ans der Fremde 1) Hier ist Land (3^,») immer zu verstehen als das seine innern Angelegenheiten selbst ordnende Volt. Nussischt- Fragmente. I. 4 50 hergeholt haben. Das Land hielt sich immer streng innerhalb seiner Landesgrenzen, ohne je nach der Herrschaft zu gelüsten. Der Staat versuchte anch seinerseits nicht im mindesten, seine Grenzen zn überschreiten nnd in das Gebiet des Landes einzudringen. Das Land verblieb mm auch immer seinem Landesftrincift und zugleich dem Bunde treu, welchen es mit dem herbeigerufenen Staate mit Vertrauen geschlossen hat. — Später verletzte der Staat dieses Verhältniß, er brach den alten Buud und täuschte das Vertrauen des Landes. Auf diese Art war Nußland vou dem crsteru Uebel heimgesucht: der Staat überschritt seine Grenzen, fiel in das Gebiet des Landes ein, unterwarf sich dasselbe und drang ihm sein despotisches Joch auf. Wann und wie dieses sich zugetragen hat, ist hier uicht der gceiguete Ort zu erörtern; sobald sich aber die Verhältnisse weiden günstiger gestaltet haben, so wollen wir diesen Gegenstand in der Folge ganz ausführlich besprechen. Indem die nördlichen Slawen Nurik mit seiueu Brüdern zu sich berufen haben, beriefen sie dadurch in dessen Person den Staat zu dem Lande, — und die russische Geschichte nahm dadurch ihren Aufang. Nach und nach traten auch alle übrigen slawischen Völker, welche Nußlaud bcwohuten, in dasselbe Verhältniß zum Staate. Das Volk blieb unter deu Fürsten aus dem Hause Nurik noch überall in seiner Wjätsche unbehelligt, es behauptete noch fortwährend seine freie, einflußreiche Stimme. Allein diese Wjätsche, — wie oben erwähnt, ihrem Wesen nach eine rein moralische uud freie Berathung, — trng noch immer das Gepräge der rohen Gewalt an sich, welche keineswegs eine gesetzlich geregelte war, sondern sich nur zufällig äußerte. Es war nämlich nicht feiten der Fall, befouders zu Nowgorod, daß die Wjätsche mit einem Kampfe endigte. Der Geschichte blieb es nnn vorbehalten, das erhabene Princip der Volksberathuug von allem 51 Zusätze der rohen Gewalt zu läutern und demselben zum Worte, — der desselben einzig würdigen änßcrn Kundgebung — zu verhelfen. Solange Rußland in eine Anzahl von Fürstenthümern getheilt blieb, welche von fciten des Volks, und von selten des Staats durch die Einheit des Hauses Nurik, welches wieder alle diese Fürsten als Nachkommen Rurik'S zn einem Ganzen verband, — untereinander verschlungen waren, so kamen hier nnd da partielle Reibungen unter den Fürsten vor, anfänglich mu den Besitz dieses oder jenes Fürstenthnms, später aber infolge ihrer gegenseitigen Bestrebungen, ein Fürsteuthum anf Kosten des andern zu vergrößern. Alle diese Fürstcuthümcr bildeten aber weder ein Feudalsystem mit einem König an der Spitze, noch einen Föderativbund, wobei das Princip der souveränen Unabhängigkeit dcr einzelnen Fnrstenthümer als abgesonderter Staaten, die nntereinander blos cineu Bund geschlossen haben, anerkannt worden wäre. Nein, es war etwas anderes. Es waren nämlich nur bloße Phantome von Staateu, welche über dem russischen ^aude schwebten. Das Staatswesen war erst sozusagen nur in einzelnen Umrissen angedeutet. Auf dein einen russischen Lande waren ans dem Stegreife viele Staats-scheidcwände errichtet, welche der Cutwickeluug des einheitlichen Volkslebens vielfach hemmend entgegentraten nnd zu gleicher Zeit allerlei lokale Rivalitäten begünstigten, ja sogar gegenseitigen Haß nnd Feindschaften zwischen dcu benachbarten Stämmen und Völkerschaften auschürtcn. Andererseits lag darin auch der <>N'nud zu unaufhörlichen bürgerlichen Un-Nchcn; denn obwol das ^and selbst sich zu den Anmaßungen der Fürsten auf ihre Fürstenthümer und zu ihreu gegenseitigen Streitigkeiten nin die Obergewalt im allgemeinen ganz gleichgültig verhielt, so geschah es doch bisweilen, daß dasselbe von der Persönlichkeit des einen oder des andern Fürsten sich hinreißen ließ uud am Bürgerkriege theilnahm; ereignete sich 4* 52 aber der Fall, daß das Land selbst innere Unruhen hervorrief, so zeigten sich dann die Fürsten an der Spitze derselben als Anführer. Es ist also ersichtlich, daß diese kriegerische Zeit der bürgerlichen Unruhen der vollen nud angemessenen Aeußerung des Lanbesprincips durchaus hiuderlich gewesen ist. Nachdem aber Moskau, gestützt ans die Sympathie des ganzen Landes, alle diese innern Staatsschcidewände allmäh' lich gebrochen nud so alle bürgerlichen Unruhen völlig beseitigt hatte, nachdem der Eine Staat sich dem Einen Lande zur Seite stellte und der iuuere itrieg aufhörte, so äußerte sich das Landcspriucip anstatt in einer Anzahl von Wjätschen in dem Einen Landesrath oder in der Landcsvcrsammlnng, welche aus den Vertretern aller Klassen der Bewohner von allen Gegenden des weiten Nußland bestand. In demselben Moment nun, als der Staat sich zn Einem festen Gebände gestaltete und- dabei zum Bewußtsein seiner Totalität und Einheit gelangte, als derselbe mit allen Reminiscenzen au die ehemaligen Theilfürstenthnmer völlig gebrochen uud znm Zeichen seines neuen totalen Bestandes, des feierlichen Beginns einer neuen glänzenden Epoche — den Namen eines „Reichs" angenommen hatte: wendete er sich ungesäumt an das Eine, totale Land und lud dasselbe zu gemeinsamer Berathung ein. Der erste russische Zar Johann IV. hat unmittelbar nach seiner ilrönnng die Vertreter des Volks aus allen Gegenden Rußlands nach Moskau auf den Rothen Platz bcrufcu. Diese Versammlnng aus den verschiedenen Gegenden Rußlands beweist zur Genüge den Beginn einer neuen Epoche, ebenso die Totalität uud die Einheit des Landes, wie nicht minder die Totalität und die Einheit des Staats in Rußland. Eine lange Zeit war bereits verflossen, seitdem das Laud deu Staat herbeigerufen hatte: anfänglich waren es blos kleine abgesonderte Gebiete mit ihren eigenen Fürsten, — jetzt aber vereinigten sich alle diese Ge- 53 biete zu Einem Ganzen, ebenso wie alle Sonderregierungen zu Einer Macht zusammenflössen; nun begegnen einander in der Versammlung zu Moskau das Eine russische Land und der Eine russische Staat. Allein der frühere Bund blieb unverletzt; denn sowol Land als Staat hielten sich in ihrer neuen Gestalt streng innerhalb ihrer Grenzen und vermischten stch nicht untereinander. Seit diesem bemerkenswerthen Zeitpunkte nun beginnt die Neihe der Laudesversammlungen. Die Landesversauunlnng trägt schou einen sittlichen, Menschlichen, reinen Landescharakter. Hier findet die Meinung die einzige ihrer würdige Aeußerung — das Wort. Jeder Zwang, jedes Element der Gewalt ist hierbei ganz ausgeschlosseu; im cntgegeugesetztcn Falle wäre cs entweder eine rein zufällige Aeußerung der rohen Gewalt, oder, falls diese in legaler Form auftreten würde, so wäre dies sodann keiue Landcserscheiuung mehr, sondern vielmehr eine Staats-erschoinuug. Die Landesvcrsammlnng ist die Meinnng des Bandes, sie ist der Rath (Duma) des Landes, der zu seiner Unterstützung gar nichts hat und anch gar nichts beansprucht, außer sich selbst und das freie Wort, durch welches er sich nach außen bethätigt. Das freie Wort ist die einzige, rein Menschliche Macht der Idee. Die Landesversammlung (^Vlnsk^ ßsodorr) ^) wird auch zuweileu Landesrath (8sui8-^avnm^)-) genauut; weil aber die erstere Benennung öfters vorkommt, so haben auch wir dieselbe beibehalten. In der Landesversammlung erscheinen mit der Geistlichkeit und den Männern aus dem Volke auch Staatsbeamte; "llein letztere treten auch hier in ihrem ursprünglicheu, rein Menschlichen Charakter, als Männer aus dem Volke, auf, 1) BeMoifiJf Ooöop-b. 2) 3«MCKaj! Ayitiii. 54 welche in derselben Welse ihre Meinung abgeben nnd an der Berathung des ganzen Landes in gleichem Maße sich bethei-ligen; darum heißt denn auch die ganze Versammlung eine „Laubesoersammlung". Also seit der eigentlichen Gründung des russischen „Reichs", seit jener bemerkeuswcrthen Epoche, als der erste russische Zar unmittelbar nach seiner Krönung die Volksvertreter ans ganz Nußland uach Moskau auf den Rotheu Plah zusammeu-berufen hatte, beginnt die Reihe der LaudeSvcrsammluugen, von denen wir nun unsern Lesern eine kurze historische Skizze darzustellen beabsichtigen.') Sogar schon während der Periode der Fürstenthmner, zur Zeit der bürgerlichen Unruhen, sehen wir gleichsam einen Versuch zu einer Landesversammlung. Infolge des wesentlichen Elements des slawischen Stammes, des Elements des (^emeindeweseus, durchdringt das Princip der Berathung, des Rathes (l>uiun) swir sehen dies seit den ältesten Zeiten) das ganze Leben der Russen; überall, wo sich nur Russen finden, ist auch unbedingt die gemein- 1) Unsere vorliegende historische Skizze ist der erste und, wir wollen es gern einränmen, noch dazu sehr schwache und den fraglichen Gegenstand keineswegs erschöpfende Versuch einer historischen Darstellung der Landesversammlungen in Nußland, eines Gegenstandes, welchem die russischen Gelehrten bis in die neueste Zeit leider keine oder höchstens nur eine sehr geringe Aufmerksamkeit geschenkt haben, obgleich es sich gar nicht schlechtweg wegleugnen läßt, daß eben diese !t'andesver-sammluugen (ein Gemeingut des ganzen alten Nußland vor Peter dem Großen) die weseutlichste Erscheinung des russischen Volkslebens sind, baß sie der eigentliche Ausdrnck unsers ursprünglichen volkstümlichen Princips sind, und daß dieses Princip eine Grundbedingung unserer Nationalität und mithin auch ihres künftigen Progresses ausmacht. K. A. 55 same Berathung vorhanden. An dieses Element wendet sich auch allemal der Staat, dessen erste Pflicht (nach den Begriffen Altrußlands oder, mit andern Worten, nach der russischen Volksansicht) darin besteht, das Landesprincip nnd dessen mweränßcrliche Eigenthümlichkeit — die freie Berathung zu beschützen. Wir finden, daß selbst schon während jener Epoche, als nämlich noch eine Anzahl von Fürsten, obgleich durch die Einheit ihres Ursprungs miteinander verbunden, jenes Nußland, welches doch wegen seiner Volkseinheit Ein Ganzes bildete, dennoch durch wechselseitige Anfeindnng untereinander zerstückelten, daß diese Fürsten ein neues Mittel ans-sindig machten, um eine Einheit unter sich herzustellen und Ein Ganzes zu bilden. Die Fürsten fingen nämlich an, zu-fannnenznkommen nnd gegenseitig zn berathen. Eine solche Fürstenznsammenkunft brachte allerdings eine gewisse Einheit unter die gesonderten Staaten jener Epoche herein: es erschien dcr Rath der Fürsten. Ein derartiger Rath jedoch (in der sich anch schon das Oememdeelcmcnt zeigte) ein Rath von gleichberechtigten Herrschern, die dabei noch sowol dnrch die Einheit des von ihnen regierten Landes als auch durch die Möglichkeit, Ansprüche oder gar Nechte jedes einzelnen an die Stelle des andern treten zn lassen, untereinander verbunden waren, — ein solcher Rath ist ein sehr schwieriges Werk und wie klng es anch Wladimir Monomach mit den Fürsten ^'sonnen haben mag, seine Idee wnrdc nicht lange in der Praris angewendet nnd alle Fü'rstenznsammenkünfte haben aufgehört. Aber gerade während der Epoche dieser Zusammenkünfte, gerade um den Zeitpunkt, wo der Staat, wenn auch ^ur etwas Schwankendes, Unsicheres, Scheinbares, aber etwas Ganzes darstellte, — tauchte die Idee von einer Landesver-sannnlung oder von etwas diesem Aehnlichen anf. Es war "ä'mlich nms Jahr 1091, als Swjatopolk und Wladimir Monomach Gesandte an Oleg mit der Erklärung geschickt 56 haben: „Komme nach Kiew, wir wollen daselbst in Gemeinschaft mit den Bischöfen, Acbten, mit den Männern nnserer Väter nnd dcn Männern der Städte über eine geregelte Ordnnng in Rußland berathschlagen, damit wir uns dadurch in Stand setzen, Nnßland gegen die Heiden zn vertheidigen." Allein Oleg antwortete stolz: „Ich halte cs nnter meiner Würde, in Gemeinschaft mit den Bischöfen, Aebten oder gar Banern (sinm-ä)') Rath zu pflegen." (Vollst. Sammlung dcr russischen Chroniken, I, 9s.) Es wollten, wie schon erwähnt worden, die Zusammenkünfte gar nicht gelingen und wir sehen demnach von neuein die Fürsten- nnb die Volksberathung (Wjätsche) in den Fürsten-thümern. Später aber, nachdem Nußland begonnen sich zu Einem Ganzen zu verbinden, nachdem Moskau die Fahne des gesammten russischen Landes und zugleich des Einen russischen Staats entfaltete und allmählich alle die Staatsscheidewände durch die Schläge seines kräftigen Armes zertrümmerte, verstummen nach und nach die Volksberathungen in den Städten; allein die Landesstimme hat noch immer teiucu andern äußern Ausdruck erlangt, cs gibt noch keine öandcsversammlung. Es war jedoch nur eine Übergangsperiode; sobald aber Moskau seine große Aufgabe erfüllt, sobald das Laud sich gesammelt, sobald der Staat zn einem compacten Ganzen sich gebildet hatte: so ruft ohne Zögern der erneute (5ine Staat das crnente ganze Land zum Rathe — und die Landesvcrsammlungen treten ins Leben. " ^" Konstantin Aksakow. Anmerkungen Dr. Vluntschli^. «,) Der Staat kann, als äußere Machtorduung, der Gewalt nicht entbehren, aber nicht die Gewalt, sondern das sittliche Bewußtsein des Rechts macht ihn zum Staat. d) Das ist kein allgemeines, sondern nur ein relatives (zunächst demokratisches) Staatsprincift. In Sachen der W a hrh cit entscheidet nicht die Mehrheit, wol aber wirb der gemeinsame Wille durch die Mehrheit der gleichberechtigten Stimmen hervorgebracht; da fügt sich die Minderheit, um der Einheit des Ganzen willen, der gewichtigern Autorität der Mehrheit. <:) Im Gegentheil: der Staat bescheidet sich, daß die innere Wahrheit ihn nichts angehe und er keine Macht darüber habe. Die innere Wahrheit gehört dem individuellen Geistesleben an, dessen Aeußerung der Staat einfach rcspecürt und gegen Gewalt der Feiude schützt. Die bolle Beteuutnißfreihcit und die freie Meinuugsäußcruug ist erst durch den civilisirten Staat anerkannt nnd gesichert worden. 6tze auf, welche anf den Gegenstand angewendet werden. Die lussischm Erscheinungen hatten das Schicksal, die Tyrannei ^r Wissenschaft in dieser ihrer zweiten Bedeutung zu erfahren. Dieser Tyrannei wurde die russische Geschichte, die russische Sprache, — mit Einem Worte alles unterworfen, was nur Winer einen Gegenstand des Wissens bilden konnte. 1) Das soll heißen: die westeuropäische Bildung ist den Russen ^cht durch ein allgemein menschliches Medium zugekommen (wie mau "s z. V. von der altclassischeu Bildung sagen kann), soudem in deutsch- hnmlicher Form. einer Form, welche dem russische« Leben völlig wider- >trebt. 62 Die Deutschen singen zuerst an, den Nüssen ihre Geschichte zu erklären. Bayer, Müller, Schlözer, Evers', ohne der Nation anzugehören, ohne durch irgendein lebendiges Band mit derselben verknüpft zu sein, unterzogen sich der Aufgabe, das Leben derselben zu erklären. Die Nnsscu selbst betrachteten, nachdem sie fremde Anschauungen erhalten hatten, ihre Geschichte sowie alles ihnen Gehörige ebenfalls anf eine nicht russische Weise. Lomonossow, in dessen Natur übrigens die russischen Regungen mehr als die übrigen zum Borscheine kamen, Karamsin und andere stellten die russische Geschichte in einer Weise dar, daß an ihr nichts eigentlich Russisches mehr zu sehen ist. — Allein die nähere Bekanntschaft mit den Chroniken und Urkunden, sowie mit dem Wesen des gemeinen Volks, welches sich in seiner tausendjährigen Originalität erhalten hatte, wirkten endlich anf die Ansichten unserer Gelehrten ein, cs wurde der Wunsch rege, die russische Geschichte in ihrer eigentlichen Gestalt zu versteheu und cinc selbständige Anschauung von derselben zu gewinnen. Die politische Anschauungsweise, wo gewöhnlich nur Fürsten, Kriege, diplomatische Unterhandlungen nnd Gesetze geschildert werden, die Anschauungsweise Schlözcr's uud Karamsin's wurde endlich verlassen, nnd es hat sich gegenwärtig die Aufmerksamkeit dem Volkswcsen und den socialen innern Principien seines Lebens zugewendet. Selbst Herr Pogodin, der bekannte Anhänger Schlözer's, begann die ursprünglichen Lebcnsprincipicn in der russischen Geschichte aufzusuchen, indem er die Perioren der innern Streitigkeiten nicht als einen ;ufälligen Unsinu betrachtete, sondern auf den Urspruug derselben zurückging nnd sie daraus erklärte. Der Wunsch nach einer selbständigen Auffassung, die objective Anschauung, wurde vorzugsweise nnter den jüngern Gelehrten rege und erhielt insbesondere durch die Schriften des Professors der russischen Geschichte, Herrn Solowjew, euer- 63 gischen Ausdruck. Doch ist mit dem Wunsche allein uoch nichts erreicht, und Herr Solowjew ist mit seinen Anhängern nichtsdestoweniger ein Anhänger eines andern Deutschen — Evers. Auf diese Weise herrschen gegenwärtig trotz des im Gebiete der Wissenschaft vollzogenen Umschwungs, trotz des Stre-bens der russischen Gelehrten, ihre Geschichte selbständig und frei zu betrachten — zwei uns von Fremden vorgezcichuete Nichtuugen, deren eine auf Schlözer, die audere auf Evers zurückzuführen ist. Was thut es znr Sache, entgegnet man uns, daß die Rich-lung von Fremden ausgiug — wenn sie nur die wahre ist? Wir sind damit vollkommen einverstanden; allein ist sie auch ble wahre? Für den Fremden ist es schwierig, die Bedingungen des Lebens eines fremden Volks zu erkennen, insbesondere des russischen Volks, dessen Leben so sehr von dem Leben anderer Völker verschieden ist und vou welchem sich bic gebildeten und aufgeklärten Klassen der Rnssen selbst, Nachdem sie den fremden Anschauungen unterlagen, losgctreuut haben. Die Anschauungsweise Pogodin's über die Theilnahme der Normannen an unserer Geschichte ist längst bekannt und "'aucht hier nicht erörtert zu werden. Dagegen besteht eine schon angedeutete, andere Richtung, selche durch ihre Neuheit, durch die Zahl ihrer Anhänger, ^urch die Verschiedenanigkeit in der Anwendung ihrer An-'Hauuugen, eine vorläufige Aufmerksamkeit verdient. Die feit lange ausgesprochene Ansicht Evcrs' über das "NMilionleben wurde von den jüngern Gelehrten erst seit ^zem anfgenommen. Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, 'chrciten dieselben weiter, forschen, entwickeln, spüren den: Zu-'lande der Familie allenthalben nach und nehmen denselben "^ Grundlage für alles, was im russischen Volke nnd in 64 den slawischen Völkern im allgemeinen vorhanden ist. Manche verfolgen diese Meinung bis zmn Extrem. Viele Aufsätze nnd ganze Werke sind schon darüber geschrieben worden. Doch muß man gestehen, daß keiner dieser neuern Gelehrten in positiver Weise festgestellt hat, was eigentlich unter dem Familien- und Stammeswcseu zu verstehen sei. Sie begnügen sich mit der Bedeutung, welche demselbcu in der gewöhnlichen Volkssprache beigelegt wird, wenden dafür auch den Ausdruck: patriarchalisches Wesen an, ohne jedoch auch diesen Ausdruck genau zn bestimmen, sich damit begnügend, daß seine Bedeutung ohnehiu bekannt sei. Allein der allgemeine Begriff darf der Wissenschaft nicht genügen; das Publikum versteht z. B. auch das Wort Philosophie — und dennoch ist es nothwendig, dasselbe genau zu definiren. Wie dem nun anch sein möge, so mnß der Leser, welcher einen wirklich wissenschaftlichen Begriff verlangt, selbst aus dm Worten der Anhänger Evers''), die Thesen ziehen, anf diese Weise ihre Meinung ') Einer der vorzüglichsten Vertreter der angedeuteten Meinung, H. Kalatschew, spricht sich also aus: ,,Vr (Evcrs) warf zuerst von den Juristen einen kritischen Blick anf das alte Wesen misers Paterlandes, er suchte znerst dasselbe von seinein natürlichen Standpunkte ans zu erklären, indem er hierbei den bei allen Völkern stattgehabten allgemeinen Entwickelungsgang des Staatswesens ans den patriarchalischen Gc-schlcchtsbeziehungen zur Grundlage nahm — er hat endlich zuerst die eigentliche Art und Weise gezeigt, wie man von diesem Standpunkte anö bei der Bearbeitung unserer alten Denkmäler zn Werke gehen soll. Dies ist die tiefe Bcdcnlnng, welche nach unserm Dafürhalten das werthvolle Werk Evers', welches unter dem Titel «Das älteste russische Recht« erschien, in unserer Wissenschaft hat . . . Dieses Werk ist bereits allen Gelehrten so bekannt uud genießt bereits eines so wohl" verdieuten Rufs, daß es überflüssig erschiene, über dasselbe weiter 3" sprechen. Doch kanu mau nicht anßer Acht lassen, daß der dou Evcrs ansgesireute Same in seinen unmittelbaren und mittelbaren Schule^ reichliche Früchte getragen hat; man kann mit vollem Rechte behaupt^' daß er der Gründer, der Vater der historischchiridischen Schule ge' wesen, welche sich auf der Grundlage des von ihm gezeigten Gesicht^ 65 feststellen und zu einer positiven Klarheit bringen, nm dieselbe später verstehen, nnd wenn nöthig, sie widerlegen zn können. Dbglcich sich die Meinnng nirgends bestimmt nnd wissenschaftlich ausgesprochen hat, so wird sie doch allenthalben gefühlt nnd gehört und kann danach festgestellt werden. Wir wollen versuchen, dies für die Vertheidiger der Everö'schen Anschannng zu thun. Es ist hier zn bemerken, daß sie, über den Grundgedanken im Einklänge, in der Beziehung sich unterscheiden, daß nicht alle denselben bis zu einem nnd demselben Extreme führen. Wir werden vorsichtig sein, nnd werden die Meinnng des einen Gelehrten nicht einem andern unterschieben, selbst wenn der Unterschied auch noch so unbedeutend sein sollte. Wir »vollen deshalb die Meinnngen der Hanptverthcidigsr der Evers'schen Ansichten einzeln dcfinircn. Herr Solowjew sprach seilte Meinnng über das Verhältniß der Geschlechter am deutlichsten in zwei seiner Schriften, nämlich in einem Anfsatzc, welcher in dem „Archiv" H. Kalatschew's abgedrnckt ist — nnd in dem ersten Bande seiner „Geschichte Rnßlands" aus. Wir wissen die wissenschaftlichen Arbeiten des Herrn Professors vollkommen Hu würdigen nnd gerade dieses veranlaßt uns, anfrichtig zn sprechen. Punkts gegenwärtig uüt solchem Eifer mit der Bearbeitung der alten vaterländischen Geschichte befaßt. In der That lehnen sich die Bemühungen der neuern Gelehrten, die Familicnverhältnisse 6u erklären, welche eine so wichtige Rolle in dein ursprünglichen Lc-^n unserer vorfahren spielen und deshalb auch den Schlnssel zum Vcr^ ständmsse unserer alten Denkmäler enthalten — unmittelbar an die "ruttdid,^ Evcrö' an — nämlich an die Idee von der Nothwen dlgteit, unser ältestes Aecht auf der Gruudlage der Begriffe und Be-«^httngen, welcke bei dcn nrspnmglichen, uoch in ihrer Kindheit sich ^findlichcn Völkern herrschten, nicht aber anf der Grundlage der Ueber-zwguttgen und Grundsätze der gegenwärtigen Zeit zn erklären." Archiv w Nechtsgeschichte. Abtl>. V, Vorrebe, S. I. II. 66 In seinem Aufsatze: „Ueberblick der Sitten, Gebräuche und der Religion der Slawen, vorzugsweise der östlichen, in den Zeiten des Heidenthums", wiederholt Herr Solowjew einigemal, daß die „Slawen unter den Formen des Ge-fchlcchtsweseus lebten". ^) Er sagt nicht bestimmt, was das Geschlechtswesen für cine Art von Wesen sei, allein es ist dies thcilwcise aus seinen Worten zu ersehen. Von der Ehe sprechend, drückt sich der Verfasser wie folgt ans: „Der Raub war bei der Trennung und der Feindschaft der Geschlechter unumgänglich nothwendig. Als eine Folge der Trennung und der Feindschaft bringt der Mädchenraub ebenfalls wieder eine Feindschaft nnter den Geschlechtern hervor; das durch den Naub gekräukte Geschlecht kaun das Geschlecht des Ränbers besiegen und eiuc Genugthuuug, eine Entschädigung fordern. Dies selbst führt schon zu dem Mädchcnverkaufc: Der Räuber kann sogleich nach der Eutfnhrnng, ohne die Fehde abzuwarten, eine Entschädigung anbieten."^ Mg dieser Darstellung ist ersichtlich, daß der Autor uuter „Geschlecht" uicht die Familie, sondern cine ganze Reihe durch die Einheit der Nbstammnng verbundener Familien, einen ganzen Stamm versteht. So wird die Meinung des Autors klar. Man kann uus vielleicht entgegnen: warnm wir uns so viele Mühe geben, aus den Worten des Antors dasjenige herzuleiteu, was schou an und für sich klar sei? Wo keine Definitionen gegeben sind, halten wir uus verbuudeu, dieselben ans den Worten des Antors herzuleiten, ohne uns mit dem äußern Eindrnckc zu begnügen — es ist dieö bei einer gelehrteu Streitfrage unnmgäuglich uothweudig. Ferner bemerkt der Herr Verfasser: „Jede zahlreiche Familie oder Geschlecht lebte getrennt uuter der Leitung 1) Archiv filr Rechtsgeschichte, S. 7. 8, 10, 17. 2) Ebend., S. 10, 11. 67 des Geschlcchtsoberhauptes.^) Demnach wird hier auch ein Gefchlcchtsoberhaupt anerkannt; die Definition des Geschlechts selbst aber ist unbestimmt. Der Autor versteht hier offenbar nicht nur die zahlreiche, weitverzweigte Familie; solche kann man überall und immer finden; er sagt: nntcr der Leitung ihres Geschlcchtsobcrhaupts, und dies ändert schon die ganze Sache. Zur Bekräftigung seiner Anficht sagt der Verfasser auf der uämlichcu Seite: „Die Bedeutung des Fürsten (Knjäs) oder des Aeltcsteu des Geschlechts ist begreiflich; wenn dieser Aelteste der Vater, der Großvater oder der Urgroßvater der jüngern Glieder dcs Geschlechts ist, so übt er väterliche Gewalt über die Kinder. Wenn aber dieser Patriarch stirbt, so entsteht für das Gefchlccht die Nothwendigkeit, ihm einen Nachfolger zu wählen, welcher für die jüngern Glieder an die Stelle des Vaters tritt, wie sich in der Folge unsere Knjäsen ausdrückten."-) Es ist dies demnach hier schon nicht mehr ein natürliches, einfaches, verwandtschaftliches Band; es ist dies bereits mehr die zahlreiche Familie; das Gcschlechts-oberhaupt wird zu einem nothwendigen Centrum, welches nicht, wie es in dem Familienwesen der Fall ist, verschwindet, sondern beständig fortdauert. Die Wahl des Geschlechts-obcrhauftts zeigt schon auf die künstliche, moralische -Befestigung der Gcschlechtsbcziehungcn außerhalb des natürlichen -Bandes hin, welches als nngenügcnd erfcheint. Hier wird also das Geschlecht in abstractcr Weise verstanden und wird zu einem Princip, welches in dem Geschlechtswescn seinen Ausdruck fiudet. Offeubar erkennt der Verfasser keine Fami-lienbezichungen (wenngleich die Familie zahlreich und weit< verzweigt wäre), sondern eine mehr odcr minder ausgedehnte Verbindung von Familien an, nntcr der Leitung eines einzigen I) Ebend., S. 17. ^) Ebend., S. 17. 5* 68 Geschlechtsoberhaupts, cine Verbindung, die ursprünglich verwandtschaftlich uud natürlich, später aber, bei der Unznläng lichkeit des natiirlichen Bandes künstlich dnrch die Wahl eines Geschlcchtsoberhaupts befestigt wurde, die als etwas Ganzes, als etwas Zusammengehöriges, eigentlich als Geschlecht erscheint. Hier inacht sich bereits das Princip bemerkbar. — Der Unterschied zwischen der Familie nud dl'in Geschlechte tritt dentlich hervor. Dies haben wir, als für unsern Zweck genügend, ans dem bezeichneten Aufsatz des Verfassers herausgezogen. Wir sehen, daß er hier nicht die Familie, sondern das Geschlecht versteht (wir gebrauchen dieses Wort in seiner gegenwärtigen Bedeu-tnng) unter der Oberleitung eines Geschlechtsoberhanpts, wo der Meusch, sich uicht mit dem natürlichen Bande begnügend, das Geschlecht zu einem conservative»! Princip erhebt, unter dessen Bedingungen sich das VolkSweseu bildet. Wenden wir nns jetzt zn der Geschichte des Herrn Solowjew. Hier drückt sich derselbe ebenfalls durchaus nicht klar aus. Er sagt: „Ueber das Volksweseu der östlichen Slawenstämme hat nns der Chronist folgende Nachrichten hinterlassen: Ein jeder lebte gesondert mit seinem Geschlechte ans seinem Besitz-thume, ein jeder hatte die Herrschaft über sein Geschlecht." Wir bemerken im Vorbeigehen, dasi dieses Citat eines Commentars bedurft hätte: es konnte wol ein jeder seinem Geschlechte angehören, aber es konnte nicht ein jeder die Herrschaft über sein Geschlecht haben; der einzelne Mensch ist etwas anderes als das Gcschlechtsobcrhaupt, doch werden wir hierauf zurückkommen. Herr Solowjcw fährt fort: „Wir haben jetzt die Beocutnug des Geschlechts (iw^) beinahe verloren; es sind uns nur abgeleitete Wörter — wie poMii, pcMivo, no^oinoiiuliki. (Verwandte, Verwandtschaft, Verwandter) — geblieben, wir haben einen begrenzten Begriff von der Familie; allein unsere Vorfahren kannten die Familie nicht, 69 sie kannten nur das Geschlecht s>»l»,i.i'), welches die ganze Zusammengehörigkeit der verwandtschaftlichen Abstufungen, sowol der nächsten als der entferntesten bezeichnete; das Geschlecht (nl>,^,) bezeichnete sowol die Zusammengehörigkeit der Perwandten als jedes einzelnen derselben; ursprünglich hatten nnsere Vorfahren von einem gesellschaftlichen Bande, anßer dem geschlechtlichen, keinen Begriff, und deshalb wendeten sie das Wort Geschlecht (p0Hi>) anch in dem Sinne von Landömann, in dem Siune von Nation an; zur Bezeichnung der Gcschlechtslinien gebrauchte man das Wort: Stamm (ni6N»), die Einheit des Geschlechts, das Band der Stämme stützte sich einzig und allein anf das Gcschlcchtsoberhanpt. Diese Gcschlocl'toober-hänpter hatten verschiedene Benennungen — als Acltcste (oigpi^i>i), Schnpane (>i>)'nl,ui>i), Wladiken, Knjäse n. s. lv. Die letzte Benennung war, wie ersichtlich, besonders bei den russischen Slawen gebräuchlich und hat auch nach ihrer Abstammung eine Geschlcchtsbedeutuug, sie bezeichnet den Aeltesten im Geschlechte, das Geschlechtsoberhaupt, den Vater der Familie."') In den Worten des Verfassers liegt entweder ein Widerspruch oder eine Undentlickkeit. Nachdem er angeführt, daß unsere Borfahren kcinc Familie ta nuten, daß das Ge-Ichlccht (Mil,) die Zusammengehörigkeit der nahcn nnd entfernten Grade der Verwandtschaft sei (die Bezeichnung ist beutlich genug), stellt hierauf der Verfasser „den Aeltcsten im Geschlechte, das Gcschlechtsoberhanpt, den Vater der Famine ) Der Autor halt demnach das Geschlechtswcscn nicht für ^u ausschließliches Attribut der Slawen, sondern nimmt blos an, daß dieselben länger bei dessen Formen verblieben seien. Dies ist die Ansicht des Herrn Solowjew über das Wesen l^r Men Slaweu, welche Meinuug wir keuncu lerueu mnß-l"t. Ueber die Einzelheiten feiner Ansicht werden wir weiter Unten sprechen. Allein wir halten es für nothwendig, noch einen Anszug ^us der „Geschichte" Herrn Solowjew's zu geben. Aus dem-srlben ist ersichtlich, daß der Herr Verfasser das Geschlecht nnd ble Familie sehr uuterscheidet, weshalb er dieselbeu auch nicht hätte verwechseln sollen, wie er dies bei der Darlegnng sei-"^' Meinung über das Geschlechtswcscn gethan. Wir füh-^'U hier seme Worte an; der Antor spricht nämlich von der ^t nach der Berufung der Kujäfen: „Die Vereinigung vie-^' Gescklcchter zu einer Gemeinde, an deren Spitze ein ge-^uschaftlicher Kujäs stand, mußte uothwcndigerweisc die Bc-^utuug der früheru Acltesteu (Starschiuas) der Geschlcchts-^^häupter erschüttern; das frühere enge Band der Ver-'vaudten unter der Gewalt eines Aeltcftcn (Starschina) war ^) Ebend., S. 93, s'4. 74 jetzt nicht mehr nothwendig, nachdem eine andere, höhere, gemeinsame Gewalt vorhanden war. Es versteht sich von selbst, daß diese Verminderung der Gewalt der frühern Geschlcchts-oberhänptcr allmählich vor sich ging, daß jene Glieder der Geschlechter, welchen nach einer gewissen Berechmmg das Amt des Aeltesten (Starschina) zukam, noch lange Zeit hin-dnrch eine große Achtung nnd einen gewissen Vorrang genossen. So erblicken wir noch lange die Sladtältcstcn bei allen wichtigen Gelegenheiten im Vordcrgrnnde: sie geben ans der Volksversammlung die Entscheidung; mit ihnen tritt der Knjä's in Berathung. Allein gegen das Ende der betrachteten Periode erhielt das Gcmeindclebcn bereits eine solche Entwickelung, daß dasselbe nothwendig eine Gliederung der Geschlechter in einzelne Familien bedingte, wobei die frühere, repräsentative Bedeutung der Aeltesten in dem ganzen Geschlechte erlischt, nnd wenn der Fürst irgcndetwas der Gemeinde vorzutragen hatte, so werden nicht nnr die Aeltesten allein, sondern es wird die ganze Gemeinde versammelt, es bildete sich eine allgemeine Volksversammlung/") Wenn die Geschlechter, indem sie ihre Bedeutung zu verlieren begannen, sich in einzelne Familien gliederten (und dies bezeichnete bereits den Verfall der Geschlechter), so zerfielen sie also vorerst nicht in Familien, sondern sie schlössen sich zusammen oder gingen gegenseitig in sich anf. Dies ist vollkommen richtig; die Familie nnd das Geschlecht ist IM deutlich unterschieden. Wenn er aber hierauf sagt: die Familie oder das Geschlecht — wie kann man dann eins mit dem andern verwechseln? — Der Ansdruck: Die Bedeutung des Aeltesten in dem ganzen Geschlechte kann sich ebenfalls nicht auf die Familie beziehen, zeigt deutlich, daß der Autor hier die Familie und das Oefchleeht unterscheidet; 1) Ebend., S. 2>1. 75 an einer andern Stelle aber begegnen wir einer andern Anf-sassung, die Familie nnd das Geschlecht werden verwechselt, obgleich das Geschlechtswescn von dem Autor immer als das Wesen der alten Slawen anerkannt wird. Sichtbar fühlt der Autor unwillkürlich selbst, daß die Definition des Ge-!chlechtswesens nicht allenthalben zu den Erscheinnngen des Volkslebens paßt. Wenden wir uns jeyt zn Herrn Kawelin, einem andern Vertheidiger des Geschlcchtswescns; er hat, soviel nns bekannt, seine Ansichten möglichst gcnan in seiner nmfassenden Kritik über das Werk Herrn Terefchtschenko's ausgesprochen, Welche in den Nrn. 9, 10 nnd 12 in der Abtheilung für Kritik nnd Bibliographie des Journals „Der Zeitgenosse"^), Jahrgang 1848, erschienen ist. Auf diesen Aufsatz beruft sich auch Herr Solowjcw. Indem wir den Arbeiten des Herrn Kawelin die verdiente Gerechtigkeit widerfahren lassen, wollen wir seine Ansicht eingehend betrachten. Die Worte Herrn Kawelin's lautm wie folgt: „Vor den Stämmen und Stammesverbindungcn, vor den Gemeinden ^istirt die Familie und das Geschlecht. Nach dem natürlichen besetze, welches bei allen Urvölkern ausschließlich herrschte, besaß das Hanpt der Familie oder des Geschlechts eine unumschränkte Gewalt über dieselbe; in seiner Hand ruhte bas Leben und der Tod des Hausgenossen; er war ihr Hoherpriester, er war der Scbli'chter ihrer Streitigkeiten, er War der Bcstrafer der Frevler, kurz rr war ihr pcrsonificir-tes Gesetz, or war ihr Alles. Nnr mit der Verzweigung nnd ber Gliederung der Familien, mit der Vereinignng der Geschlechter in Stämme verwischte sich allmählich die Bedeutung ^'' Familienoberhäupter. Sie erhalten sich ihre Gewalt nur "och im eigenen Hanse; aber zugleich mit den innern Ge- 1) CoupcMeilllHKI,. 76 schlechtsverhältnissen erscheinen die gegenseitigen Familien- und gegenseitigen Oeschlechtsverhältnisse, über welche dieselben leine solche exclusive Gewalt besitzen. Die letztern sind anfänglich znfällig; das sociale Leben erscheint als ein Chaoö."') In dieser Definition tritt eine große Unbestimmtheit zu Tage. Herr Kawelin verwechselt gerade so wie Hcrr Solowjew die Familie nnd das Geschlecht, ür sagt, daß mit dem Entstehen der gegenseitigen Familien- und Geschlechtsverhältnisse die Familienoberhäupter, indem sie ihre Gewalt in diesen Verhältnissen einbüßen, sich ihre Gewalt im eigenen Hanse erhalten. — Hierin liegt ein Widerspruch. Im Anfange, glanbt Herr Kawelin, seien keine wechselseitigen Familienverhältnisse vorhanden gewesen (sie entstanden erst in der Folge). Was aber war denn eigentlich vorhanden? Fand etwa zwischen jeder Familie eine Trennnng statt, und waren etwa zwischen denselben gar keine Beziehungen vorhanden? Dies ist wol kaum anzunehmen, denn dann wäre das Geschlecht zn Grunde gegangen, während doch der Verfasser soeben erst von ihm gesprochen; oder gingen etwa die Familien in dem Geschlechte auf, dann aber geht die Familie verloren, von welcher der Verfasser ebenfalls spricht, wobei er die Familie nnd das Geschlecht offenbar verwechselt. So viel einstweilen im allgemeinen; feri.cr: „Das älteste slawische Wesen war, wie wir bereits an einer andern Stelle bemerkt haben, ein rein natürliches nnd naturwüchsiges Wesen. Wenn wir anch gar keine andern Anhaltsftnntte hätten (haben wir dieselben etwa?) als die Entwickelung der heidnischen Religionen der Slawen, so müßten wir dennoch zu derselben Schlußfolgerung gelangen."^) 1) „Der Zeitgenosse" (Abtheilung für Kritik und Bibliographie), Jahrgang 1848, Nr. 10, S. !>2, 93. 2) Ebend., Nr. 10, S. <»«.!. 77 Auf derselben Seite fährt der Verfasser fort: „Das charakteristische Hauptmerkmal des ältesten slawischen Gemeinwesens besteht darin, daß dasselbe gar keine Neg»ln kannte, daß dasselbe nicht nach Principien organisirt und ge-lnttt wnrdc wie die gegenwärtigen menschlichen Gesellschaften...... Ihn (den ursprünglichen Slawen) zügeltc nichts nls die Furcht nnd die äußere Gewalt." „Es ist deshalb nicht schwer, sich eine Vorstellung von d^u ursprünglichen slawischen Gemeinlebcn zn machen nud bie Grundlagen der damaligen socialen Verhältnisse zu cutdecken. Die Blutsverwandtschaft war anfänglich das einzige ausschließliche Sand zwischen den einzelnen Menschen; die Familien und die Geschlechter — die einzigen menschlichen Verbinduugen und Gesellschaften; dic Familien- und Ge-schlechtöeiurichtnng — die einzige sociale Organisation. Um dieses ursprüngliche patriarchalische Wesen zu verstehen und alle scinc Erscheinungen richtig zu beurtheilen, nmß man die Eigenthümlichkeit ins Auge fassen, welche nnr den ursprünglichen Gesellschaften eigen ist und mit der Zeit verschwindet: wir verstehen darnntcr die vollkommene Unbestimmtheit der ursprünglichen, verwandtschaftlichen Verhältnisse. Die Geschichte führt uns viele Gesellschaften vor, welche anf den Principien der Blutsverwandtschaft gegründet waren. Dies war anfäng-lich mit der römischen der Fall. Ganz China ist in dieser V^'ise organisirt. — Dies war endlich anch mit der russischen Gesellschaft im 10. uud 17. Jahrhundert der Fall (!!??). Doch geben alle diese Gesellschaften keinen Begriff von dem "ltesteu Patriarchcuthum, weil letzteres in denselben mehr oder weniger bestimmt, gewissen Regeln und einem juridischen uonnalismns unterworfen und mit mathematischer Gcnauig-keit berechnet war. In dem ältcsteu, patriarchalischen Weseu ^ar nichts dergleichen vorhanden. Die Vcrwandtschaftspriu-"Pieu wurden nicht zu juridischen, bestimmten Principien 78 erhoben; sie existirten in der Wirklichkeit, aber nicht in dem Bewußtsein, weshalb sie nach Gutdünken beobachtet, aber anch nach Gutdünken verletzt wurden, sobald irgendein Grnnd hierzu Veranlassung gab/") Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Verfasser hier von dem ursprünglichen Geschlechtswesen spricht. Dieses nämliche Wesen findet er bei den allen Slawen: er drückt sich hierüber wie folgt ans: „Anf diese Weise bot das slawische Wesen in der vorgeschichtlichen Zeit eine Menge von Familien nnd Geschlechtern dar. Sie waren nnter sich getrennt, sie waren sich gegenseitig fremd. "2) Einige Zeilen weiter nnten: „Folglich waren anfangs nicht nur nnter den einzelnen Geschlechtern und Familien keine politischen (bürgerlichen) Beziehungen vorhanden, sondern dieselben waren nicht einmal in so nahem Verkehr wie die gegenwärtigen europäischen Gesellschaften. Eine jede Familie, cm jedes Geschlecht lebte getrennt für sich, abgeschlossen, unabhängig von den übrigen nnd stand in nicht beständigen, sondern nur zufälligen Beziehungen zu denselben. Nach innen bot diefclbe (die Familie) ein geschlossenes Ganze dar, gegründet auf die Principien der natürlichen physischen Verwandtschaft in ihrer ursprünglichsten, unbestimmtesten, rohestcu Form. "^) Der Verfasser fährt hier fort, von dem nrfprnnglichen Wesen zu sprechen, allein wir sehen bereits eine Veränderung in seinen Anödrücken. Wir erinnern an das, was er im An-fange anf S. 92 nnd 93 gesagt. Gleicht jetzt die folgende Dar-stellnng des Geschlechtswesens der erstern? Wir lassen die Worte des Autors folgen: 1) Ebcnd., Nr. 10, S. W, 97. 2) Ebmd., Nr. 10, S. !»?. 3) Ebeud., Nr. 10, S. 97, W. „Uebrigeus war auch die Gewalt, als die Grundlage des Familienbandes, damals eine andere als jetzt. Sie war noch nicht zum Bewußtsein gelangt, sie war noch nicht bestimmt, sie war noch nicht zum Princip geworden, folglich anch nicht M den geringsten Einzelheiten aller Verhältnisse durchgeführt, deshalb äußcrtcu sie sich auch nur zufällig und unbestimmt; ohue diese zufälligen, zeitweiligen Aeußerungen konnte mau ihr Vorhandensein im Leben gar nicht vermuthen (allein das Ge-schlcchtsobcrhauftt als Hoherpricstcr, als pcrsonificirtes Gesetz u. f. w. S. 92? Hier ist schon ein Princip, eine Organisation und keine blos zufällige Aeußerung vorhanden). Daher finden sich auch neben den Anhaltspnnkten, welche für die unumschränkte Gewalt und die Herrschaft der ursprünglichen Gcschlcchtsoberhänpter zengcn, wieder andere Anhalts-ftunkte, welche im Gegentheil von der Unbotmäßigkeit, von der Auflehnung der Hausgenossen gegen die Oberhäupter der Familien, sozusagen von einer Gleichheit zwischen denselben zeugen (es scheint, daß bereits ein völlig verschiedener Gcgen> stand zum Vorschein kommt). Das Eigenthum gehört der Familie und nicht dem Geschlechtöoberhauftte, Und wird mit allgemeiuer Zustimmung der Glieder der letztern verwaltet. Das häusliche Wesen hängt in Lleichem Maße von allen Gliedern der Familienvcrbindung ab." i) Dieser letzte Umstand, dcn der Autor nnr im Vorübergehen berührte, ein Umstaud, welcher au und für sich durchaus nicht zu Gunsteu des Gcschlcchtswescus spricht, war, Wenn auch nicht vollkommen in der besagten Form, juridisch bestimmt, worüber wir weiter unten zu sprechen hoffen. In jedem Falle sehen wir, daß sich die Darstellung vollkommen ändert. Im Aufange wurde nur das Gefchlechtsoberhaupt "ls Hoherpriester, als das pcrsonificirte Gesetz für alle 1) Cbend., Nr. 10, S. 98. 80 Familienangehörigen vorgeführt: jetzt — gehört das Eigenthum der Familie nnd nicht dem Geschlechtsobcrhanpte, nnd das hänsliche Wesen hängt in gleichem Maße von allen Gliedern der Familien Verbindung ab. Welch sckarfer Gegensatz! — Eins muß wol der Fall gewesen sein: entweder war dic Gewalt des Geschlcchtsoberhanpts wirklich vorhanden, oder sie war nicht vorhanden. War dieselbe vorhanden, so erschienen die Fälle von Unbotmäßigteit, welche das Grnndprincip, oder die nrsftrüngliche Gewohnheit nicht zerstörten, nnr als Ausnahmen nnd haben deshalb keine wesentliche Bedeutung, denn ähnliche Verletzungen der Gewalt kommen in der Geschichte und zwar trotz aller monarchischen Formen und aller juridischen Ordnnng vor. Wenn aber diese widersprechenden Erschcinnngcn nicht ausschließliche, sondern parallele Erscheinungen und von gleicher Kraft sind (wie der Autor offenbar annimmt), so ist hier die Benennung Geschlechtswesen nicht am Platze. Wenn irgendein Wesen vorhanden ist, so sind die widersprechenden Erscheinungen nnr Ausnahmen; sobald aber die Widersprüche nicht Ausnahmen, folglich von gleicher Kraft sind, sobald alle Erscheinungen zufällig, momentan (S. 98) sind, so ist hier durchaus nichts von einem Wesen vorhanden, es ist einfach das ursprüngliche Chaos, welches anßer dem Kreise der Geschichte liegt, von welchem man Vermnthnngcn aufstellen kann, nnd welches nicht als Geschlechtswescn, sondern überhaupt nicht als Wesen b> zeichnet werden kann; es ist dies die Periode der Muthmaßungen, welche den Hypothesen ein weites Feld bietet — allein mit Hypothesen haben wir nichts zu thun; wir bedürfen des Geschehenen (des Factums). Mau wird uns vielleicht entgegnen, daß für alle von dem Autor angeführten Widersprüche historische Beweise vorhanden sind — allein wir > wiederholen dann: entweder sind dies Ausnahmen, oder es 81 wuß irgendeine Lösung dieser Widersprüche in den Beweisen salbst liegen, weshalb man mit größerer Aufmerksamkeit in bu Beweise eindringen nnd dieselben vielleicht von einem andern Standpnnkte ans betrachten muß. Allein das Ge-schlcchtswesen zngleich mit den Geschlcchtsoberhänptern anzunehmen, ja dieselben zuerst noch Hohepriester, pcrsoui-ficirtes Gesetz, ein für die Mieder des Geschlechts 3 clten des Alles zu ueunen und dann, nachdem man die widersprechenden, äquipoteuteu Erscheinungen anerkannt, diesen Widerspruch dadurch zu löscu, daß mau behauptet, daß das Wesen unbestimmt gewesen — iu dieser Weife läßt sick in Sacken der Wissenschaft uicht verfahren. Wir bemerken im Vorbeigehen, daß Herr Kawelin die Beweise für seine erste Darstellung des Gcschlechtswesens wol kaum in dem alten slawischen Wesen gefunden haben dürfte. Wir glauben — dies gestehen wir ohne weiteres —, daß, wenn mau die Frage über die Unbestimmtheit des Wesens beiseite setzt, die Unbestimmtheit sich iu dem Anfsatze Herrn Kawelin's selbst finden dürfte. Dies war der Grund, warum wir aus derselben im Vergleiche zu den Werken Herrn Solowjew's so viele Auszüge machten. Herr Kawelin fchreibt das ursprüngliche Geschlecktsweseu beu alteu Slawen zu. Obgleich er hinzufügt: „iu den vorgeschichtlichen Zeiten", so bemerkt er doch weiter unten, indem ^' das nrsprüugliche Wesen schildert: „eine jede Familie und iedcs Geschleckt lebte abgesondert für sich."') In diesen Wor-trn erkennen wir, nur etwas verändert, die Worte der Nestor'-schcn Chronik. Auf diese Weise ist Herr itawelin der Mei-^lng swas er übrigeus auch selbst zugibt), daß sich vou die->^n ursprüuglichen Geschlechtswesen, iu welchem die Slawen ^bten, historische Beweise vorfinden. 1) Ebend., Nr. 10, S.N1. Russische Fragmente. I. 6 82 Herr Kawelin kommt in Verlegenheit, indem er von der Bedeutung des Weibes „in der ursprünglichen slawischen Familie" spricht: „Man muß zugestehen", bemerkt er, „daß es außerordentlich schwierig ist, dic Bedeutung des Weibes in der ältesten Gesellschaft zu bestimmen und dieselbe mit wenigen Worten auszudrücken."^) Der Autor muß nothwcndigerweise anerkennen, daß die Bcdeutuug des Weibes bei den alten Slawen eine hohe gewesen. Indem er auch hier auf verschiedene Widersprüche stößt, uud nachdem er die Erbfolgcrechte des Weibes, die juridischen Rechte, erwähnt, sagt er selbst: „Einige bemerken sogar, namentlich bei dem slawischen Stamme, eine gewisse moralische Uebcrlegcnhcit des weiblichen Geschlechts über das männliche; nebenbei wissen wir ans der Geschichte des slawischen Volks, daß die Weiber gckanft und verlauft wurden, während bei andern dagegeu die Weiber nach eigcuem Willen in die Ehe traten und sich sogar ihren Bräntigam wählten. Ucbrigens lebten bei alleu slawischen Stämmen die Mädchen in voller Unabhängigkeit, sie arbeite ten nicht und kannten die Beschwerden des hänslichen Lebens nicht."2) Diese hohe Stellung, welche die Weiber in der slawischen Familie einnahmen, sucht der Verfasser durch die physiologische Bestimmung des Weibes als Gattin und Mutter zu erklären — obgleich die Mitgift, „welche ein gesondertes Eigenthum des Weibes bildete", die Freiheit des Mädchens u. s. w. auf etwas viel Größeres hinweist. Der Autor beruft sich wiederholt auf die Unbestimmtheit, indem er sagt: „Allein diese Bestimmuug (Gattin uud Mutter zu sein) war wie alle ursprünglichen Beziehungen nicht zu einem gemeinschaftlichen, streng eingehaltenen und folgerichtig durchgeführt ten Princip erhoben. Außerdem wurde sie in einem rohen, 1) Ebend., Nr. 10, S. 99. 2) Ebeud., Nr. 10, S. 100. N3 zu materiellen Sinne verstanden nnd hinderte deshalb nicht, mit dem Weibe gerade so wie mit allen übrigen Hausgenossen zu verfahren."') Allein wo liegt das Rohe nnd Materielle, wenn sogar eine moralische Ucberlcgcnhcit, wenn Rechte und endlich jene zärtliche Aufmerksamkeit gegen die Mädchen vorhanden ist, welche gewissermaßen eine privilegirte Gesellschaft bilden, für die es keine Mühe, t'cine Arbeit, sondern (wie dies deutlich aus nnsern Hochzeitsliedcrn hervorgeht) nnr Vergnügen und Gesang gibt? So sehr sich auch der Verfasser Mühe gab, nach seiner Art die Bedeutung des slawischen Weibes zu erklären nnd dieselbe mit seinen Ansichten über das Ge-schlcchtswesen in Einklang zu bringeu — so bleibt die Bedeutung des slawischen Weibes uichtsdestoweuiger eine hervorragende nnd widerspricht dieselbe der Schilderung, welche der Autor von dem rohen, ursprünglichen Geschlechtswesen entwirft. Endlich spricht Herr Kawclin von der allgemeinen (socialen) slawischen Organisation: „Bei einer derartigen Ordnung der Dinge waren die Gemeinden, d. h. die ersten vertragsmäßigen Gemeinden, eine wichtige nud vielbcdeutende Erscheinung in dem alten slawischen Wesen. Sie stellen den ersten, wenn auch noch rohen Keim der politischen (bürgerlichen) Verhältnisse, die Formen der rein patriarchalischen Gemeinden dar (?): man sieht, daß sie von dem Volke geschaffen wnrden, welches kein anderes Wefen, als das anf verwandtschaftliche Beziehungen sich gründende Familienwescn kannte. Dabei ist die Gemeinde (wl>i>) ein bürgerliches Gemeinleben, welches anf der Grundlage von Verträgen nnd Ucbcreinknnftcn in ihrer ausschließlichen, ursprünglichen Bedeutung beruht. Die Gemeinden ^arcn tvin Ansdrnck des Princips der Einheit, der natürlichen 1) Ebend., Nr. 10, S. 100. l'* 84 Verbindung unter den einzelnen Menschen, sondern sie führten dieselben im Gegentheile erst der bürgerlichen Verbindung entgegen. Es war dies ihre erste unbewußte, theilwcise zu^ fällige Form."') Aber warum war dies alles so beschaffen? Es ist mit allen diesen Worten noch nichts bewiesen. Wir lassen hier noch einige Sätze Herrn Kawelin's folgen: „Einige Forscher beginnen die Geschichte gewisser Völker mit jener Zeit, wo die Beziehungen zwischen den Familien und Geschlechtern bereits nach dem Muster jener festgestellt waren, welche innerhalb der Familie zwischen den Gliedern der Geschlechter eMirten — mit andern Worten, mit dem Auftreten nnd der Begründung der Gemeinden. Sie vergessen, daß dieses patriarchalische Familicuwesen, welches das ganzc Volk, den ganzen Stamm umfaßte, das Resultat einer langen Epoche von Feindschaft und fürchterlicher Entzweiung ist, und schon deshalb nicht fo treuherzig naiv uud aufrichtig sein konnte, wie man gewöhnlich glaubt."^) Der Herr Verfasser nimmt sonach an, daß die Gemeinden nach dem Gefchlechtswesen eingerichtet wurden; bei der Gemeinde mußte folglich ein Geschlechtsoberhaupt vorhanden sein — allein wo ist dasselbe? und wie läßt sich dann eine Versammlung erklären, wo alle gleich sind? Ucbrigens wird hier^ von noch später die Rede sein müssen. Ferner sagt Herr Kawelin, indem er diese Meinung bekräftigt: „Iu den vorgeschichtlichen feiten couccntrirte sich das Gemeinleben, wie mir bemerkt, im Innern der verschiedeneu, fremden, beinahe sich gegenseitig feindlich gegenüberstehenden Geschlechter und Familien. Diese Familien mußteu mit der 1) Ebend., Nr. 10, S. 102. 2) Ebend.. Nr. 12, S. 120. 85 Zeit zn Gemeinden heranwachsen, deren Wesen deshalb mit dem Familienweseu (?) eine so treffende Aehnlichkeit hatte, weil sich dieselben ans der Familie bildeten, nnd folglich die Familien deren historische Vorbiloer waren." ^) Wiederum kein Beweis — nur lcore Worte. Endlich drückt sich Herr Kawelin wie folgt ans: „Die alte russische Geschichte consolidate, entwickelte nnd bekräftigte diese patriarchalische Familiengcmeiuschaft, historisch ^ die erste Stufe und nothwendige Grundlage jeder bürgerlichen Verbindung. Die Reform Peter's des Großen warf den ersten Samen eines andern Lebens in unsern Vodcn." (??!!)-) Der Aufsatz Herrn Kawelin's ist vorzugsweise dcr Erforschung der Volksgewohuheitcu der Hochzeitslicdcr u. s. w. gewidmet, durch wclche er gerade dieses patriarchalische Wesen beweist. Der Herr Verfasser sagt: „Die geschriebenen Denkmäler haben uns keine Rachrichten über jene Zeit aufbewahrt; die Ncstor'sche Chronik spricht hierüber nach dnnkeln Traditionen nnd in unbestimmten Ausdrücken. In den Hochzeitsgcbränchen hat sich die Erinnerung an dieses Wesen mit der ganzen Frische der Tradition er-halten. "2) Wir sind hiermit nicht einverstanden; doch ift die Erforschung unserer Sagen, Gebräuche und Lieder u. s. w. ein sehr Wichtiger Gegenstand, und wir haben vor, uns in der Folge Ipccu'll damit ;n befassen; wir werden uns deshalb hier auf dle Hochzeitsgesänge uud Hoch^eitsgebräuchc nicht weiter eiu-lüsien. Gegenstand unsers gegenwärtigen Aufsatzes sollen ^rzugsweise historische Beweise uud Erscheinungen des socia--rn Wesens sein. 1) Ebcnd., Nr. 12, S. 127. 2) Ebcnd., Nr. 12, T. 133. ") Ebcud,, Nr. 12 , S. !»5., S. l', W!'>. 2) Arch. d. Iur. Gesch.. G. U». Schafanf, 8!. 8wn,5., S. vti«, 93 sein mochten, denn er sei an monarchische Verhältnisse gewöhnt gewesen nnd habe deshalb Veranlassung genommen zn sagen, daß die Slawen nnter einer Demokratie lebten.') Diese Definition ist die Definition einer vorgefaßten Mei-nnng. Daß die erwählten Oberhäupter oder Nettesten, welche m jeder Demokratie vorhanden sind, als kleine Fürsten erscheinen konnten, ist möglich, allein daß die Geschlechtsbeziehungen der Jüngern zu den Ncltern demokratische genannt werden, ist mehr als zweifelhaft. Prokoft sagt wiederholt, daß bei den Slawen die Gewohnheit vorhanden gewesen, über alle Angelegenheit gemeinschaftlich zn berathschlagen.2) Wiedernm ein Zengniß, welches scharf anf die Volks-oder Gemeindeorganisation hinweist. Dasselbe umzustoßen, ist wol nicht möglich. Herr Solowjew glanbt sich aus der Schlinge zn ziehen, indem er sagt: „Aller Wahrscheinlichkeit nach gehörte anfänglich die berathende Stimme anf den Volksversammlungen mir dem Nettesten oder Fürsten allein — die jnngern Glieder deö Geschlechts wohnten den Versammlungen nur bei, um von den Beschlüssen der Nettesten Kenntniß zu nehmen. "2) Dies ist nichts weiter als eine einfache Vermuthung; die Hinweisnng auf die Aeltesteu, welche in unsern Chroniken Mvähnt werden, werden wir weiter nnten analvsiren. Geben wir jedoch die Muthmaßung Herrn Solowjcw's (obgleich wir hierzu keinen Grnnd haben) zn, nehmen wir an, daß die Geltesten die Geschlechtsobcrhänpter gewefen, daß anf der Versammlung uur die Geschlechtsobcrhänpter allem zu bcrathcu hatten — so behält nichtsdestoweniger das nnzweifelhafte alte 1) Arch. d. Iur. Gesch., Abth. I, S. 1'», 2) Arch. d. Iur. Gesch., Adth. I, S. U'. klein. pop. etc. -Y Arch. d. Iur. Gesch., Abth. I, S. 19, 20. 94 Zeugniß über die Gemeinde seinc volle Geltung, und wir müssen deren Organisation anerkennen; wenn wir auch annehmen, daß nur die Gcschlechtsoberhäuptcr rathschlagteu, wie Herr Solowjew glaubt, so müssen wir doch immer die Gemeindeorganisation anerkennen, wenngleich sie nur nntcr ihnen und aus ihnen allein bestand. Bei der Gcfchlechtsorganisation, wo ein jedes Geschlecht getrennt für sich lebt (was so oft von den Anhängern Evcrs' wiederholt ist), ist gar keine Gemeinde möglich. Obgleich Herr Solowjew die Berathungen als zufällige auszugeben sucht und behauptet, daß die Nothwendigkeit nicht selten die Geschlechter veranlassen mnßte, sich zu gemeinsamen Berathungen zu versammeln, so spricht Prokop doch direct von einer Gewohnheit gemeinsamer Be-rathuugen. Diese Worte Prokop's, welche bei ihm unmittelbar ans die Mittheilung folgen, daß die Slawen von alters her unter einer Volksregicruug lcben (in einer Demokratie), sind mit dem Vorhergehenden durch die Conjunction und (x«l)l) verbunden; offenbar sind also beide Mittheilungen dem Sinne nach unter sich verbunden, nud es ist klar, daß die zweite die erste bekräftigt; folglich kann man hier keine zufälligen Erscheinungen annehmen, sondern man muß eine Organisation, eine Gewohnheit voraussetzen. Hätten die Zeitgenossen einen Patriarchen oder ein Geschlechtsoberhaupt wahrgenommen, so hätten sie nicht gesagt, daß dic Slawen keinen Gebieter dulden. Inzwischen sprechen sich die Zeitgenossen namentlich in dieser Weise ans. Was ist nun hierans zu schließen? Entweder war gar keine Geschlechtsorganisation vorhanden, oder die Geschlechter bildeten ein Ganzes, das bereits als eine demokratische, keine Gewalt duldende Gemeinde auftrat. Ueberdics sagt der „Zeitgenosse", daß es Gemeindeversammlungen gegeben habe. Man muß also annehme» 1) ©cfyafavif, Slowanske Starožitnosti, ©. 9G5. l)5 (wenn man fiir das Geschlcchtswcscn Partei ergreift), baß diese Versammlungen entweder in einem gesonderten Ge-schlechte vorhanden gewesen, aber dann wird die Geschlechts-organifation völlig umgestoßen, oder auch, wie Herr Solowjew meint, daß die Pcrsammlnngen (Berathungen) nnr zwischen den Geschlechtsobcrhänptern stattfanden. Diese Geschlechts-oberhänpter mußten sehr zahlreich gewesen sein, wenn die slawische Organisation von den alten Schriftstellern fnr eine demokratische gehalten wnrdc, wenn von ihnen bchanptct wurde, daß die Slawen die Gewohnheit haben, sich in allen Dingen gemeinsam zu berathen, daß sie keine Gebieter anerkennen. In diesem 5valle bleibt Herrn Solowjew nnr die Annahme, daß die Geschlechtsorganisation schon in den Hintergrund getreten war, und daß die slawische Gemeinde sich schon im 6. Jahrhundert entwickelt habe. Denn es unterwirft sich (seiner Muthmaßung folgend) jedes einzelne Geschlecht nicht feinem Geschlechtsoberhauple, sondern dem allgcmeiueu Nathe der Acltcsten, der Gcschlechtsoberhänptcr sämmtlicher Geschlechter, welche sich in einer (beständigen oder temporären) Verbindung befanden; die Gcschlechtsoberhänfttcr waren folglich, in natürlicher oder freier Weise, nur die Erwählten des Geschl.echts auf den allgemeinen Berathungen. Wir sehen also, daß, wenn wir auch die Vermuthung Herrn Solowjew's annehmen, das Resnltat sich dennoch durchaus nicht zu Gunsten des Gcschlechtswesens herausstellt. Allein wir finden keinen Grund, die Muthmaßnng des Herrn Professors anzunehmen, wir haben durchaus kein Recht zu behaupten, daß die kleinen Herrscher die Geschlechtsobcr^ Häupter gewesen, und daß nur sie auf den Versammlungen (Volkstagen) beriethen. Keiner der Zeitgenossen spricht von Geschlechtsoberhäuptern. Prokop behauptet geradezu, daß sie sich nicht einem Manne unterwerfen, fondcrn daß sie in demokratischer Verfassung leben. Mauritius führt, nachdem 96 er gesagt, daß es bei den Slawen viele kleine Herrscher gebe, zn gleicher Zeit an, daß dieselben durchaus keinen Herrscher dulden!), ebenso, daft man dieselben auf keinerlei Weise znr Sklaverei oder znr Untortha'nigkeit beugen könnet) Endlick spricht Protop dentlich von Volksversammlungen. Pergleichen wir nun die spätern Nachrichten. Adam von Bremen sagt von den Slawen, daß sie unter sich keinen Herrn oder Herrscher dulden.") Ditmar von Mersebnrg bemerkt, indem er von den Volksversammlungen der Lutitscher, und zwar beinahe in denselben Ausdrücken wie Prokop spricht, daß dieselben sich nicht einem einzigen unterordnen, sondern daß sie in ihrer Oesammtheit über ihre Angelegenheiten berathen, nnd fügt noch bei, daß die Angelegenheiten dnrch Stimmenmehrheit eutschieden wurden, welche unerläßlich war.^) Alles dies scheint zn Gunsten des Gemeindewesens bei den alten Slawen sowie außerdem zu Gunsten des Pcrsammlungswesens zu svrecheu. Das Bild ist dem Russen bekannt. Was aber die kleinen Herrscher betrifft, so waren dies entweder die Nettesten (o?Mmiui.i), welche bei der demokratischen Regierung existir-tcu, oder die Fürsten (Knjäscn) nach dcm Gesammtwillen des Volks, wie es später zn gewissen Zeiten die uowgorodschen Fürsten waren; aber sie für Geschlechtsoberhäuvter zu halten, ist gar kein Grund vorhanden. Außerdem sagt Prokop, daß die Slawen in abgesonderten Wohnungen weit voneinander entfernt wohnen und häufig ihren Wohnort verändernd) Der l)"Avap)[a (neminem f'mint imporantem). @cfi einen Theil seines Vermögens den Ncjechowiten, ol> roine^imn aniumrnni, mit Einwilligung der Mutter, des Bruders, der Schwester und der Schwägerin. In gleicher Weise hingen von der Familie auch die Geschenke ab, welche Personen weltlichen Acrnfs gemacht wurden, sobald diese Geschenke unbewegliches Eigenthum betrafen.^) Dasselbe war anch im Falle eines Verkaufs erforderlich. — So verkaufte im Jahre 1223 cin gewisser Subislaus das Dorf Ezhrkowice 124 — 129. Es lassen sich hierfür viele Beispiele anführen. 110 schaftlichen Zusammenleben und zu einer gemeinschaftlichen Hauswirthschaft zu erweitern und zu verengern, ohne anf die Verwandtschaft Rücksicht zu nehmen'); dieser uugehindcrte Ein- und Austritt aus der Familie sowol von seitcn der Angehörigen als der Fremden zeigt, daß selbst die Glutsund Familieuvcrwandtschaft keine bindende, obligatorische Gewalt war. Wo ein solcher freier Wille vorhanden ist, welcher Art kann denn hier das Band des Geschlechts, welcher Art das Oeschlechtsoberhanpt sein? Besonders wo alle in demselben freie Stimme hatten, und bei dem NichtVorhandensein von Kindern das Vermögen ein herrenloses wurde. Die Organisation, mit welcher man nothwendigerweise übereinstimmen 1) Jetzt ist uns das „Unheil Liubuscha's" noch begreiflicher. Vollkommen begreiflich sind auch die Nlabikcn und der Streit Chru-bosch's mitStiaglaw; begreiflich ist auch der Mangel eines Widerspruchs in dem zwiefachen Entscheide Lmbuscha's. Schafarik zählt die Wladitcn dem untersten Gtaude des Adels zu; dies ändert die Sache durchaus nicht; die slawische Lebensform, welche in dem Liede sich ausspricht, bleibt dieselbe. Der berühmte Gelehrte erkennt, wie ersichtlich ist, das Gcschlechtsweseu ebenfalls an. Bei der Erklärung der Wladiken führt er die Worte Wut Stephanowitsch Karadschitsch's an, welche die Anhänger Evers' wahrscheinlich zu ihren Gunsten auslegen. Allein diese Worte sprechen nach unserm Dafürhalten durchaus uicht für die Unterstützung ihrer Anficht. Wut Stephanowitfch Karadschitsch stellt („Die ältesten Denkmäler der böhmischen Sprache", S. ÜKO !i>'IWM1M!1, l)006H II LMN/OwlMÄl, POM l^mimi) HM« II W060 6M11/K 6»x^ IIc)MU6, II 1IMLNX)? Itt>:i,'/U> 61. «LUIM1. P0HMI1. II ua cnmixi, inkeigxi,, n.i«,chwM6 «m- CBOJiMii, nate ii Aocec 6paTbt 6axy Ilojiane, 11 JKHBaxy koji»/U> CT> CBOII1UI pOAOMT> II Ha CBOIIXT) M'feCTaXl, BJia/ltlOme KOiKAO pOAOMT» CBOHMl." a) Versuchen wir nun mit aller Aufmerksamkeit in den Sinn dieser Worte einzudringen und dieselben zu erklären. Vor allem müssen wir in dieser etwas verwirrten Stelle den grammatikalischen Sinn wiederherstellen oder besser gesagt, feststellen: Der bei uns selbständige Dativ wird in alten Werken häufig nnricktig und gegen den durch die Grammatik bestimmten Gebrauch angewendet. Zum Beispiel: „Il»»3io 0>m- ToaiaBy B^apocTtuiio h B-BMywaBiiiio mma (oin. me CßflTOCiaBT>) boh coBOKyiuHTH."a) ßrfcenfc line ^ier: „IIojhhomt. mg raimy-mcM-b ... n ÄHBflxy." „\\ vKiinjixy" bcjieljt fief; auf „IlnjaHaM^ }Ke.y/ „Mhhi II /io cee fipaibt 6axy IIoji>iif^// — i[t ein Serbiens zu entwickeln begann (S. 124), und daß neben der Gewalt der ersten Wladit'en ,,das Geschleck)tswesen sich kräftig zu entwickeln anfängt" (S. 1^7). Folglich ist diese Erscheinnng keine alte, sondern eine spätere und nicht natürliche. Aus diesem allein schließen wir, daß daS Geschlechtswesen bei den Montenegrinern eine eigentlich montenegrinische Erscheinung ist, welche iu Montenegro entstand, uub zwar aus dort vorhandenen besondern Ursachen, welche die Montenegriner veranlaßten, von dem alten slawischen Wesen Umgang zu uehmen. 1) Vollst. Samml. der rnss. Chwn., 1, 4. 2) Ebend., S. 27. 115 Zwischensatz. Dieser Redeweise entspricht grammatikalisch die weiter unten folgende: „Nmmiml5> ?,?« i,mn^moi»'i, oeoö-k, JiKOJKC peKOXoan», cyme oti> po^a CjootHCKa, h HapeKomaca IIojuiHe."J) Nachdem wir jetzt die Anwendung des selbständigen Dativs begriffen und ihn beiseite gelassen, lesen loir diese Stelle so: „llOJflHC IKC JK1LI1I 0C060 II DJaAtJFIl pOAaMIl CBOIIMH, — OMI 611.01 llojjine 11 w qtoPl 6paTbn (Kia, lll,eKa h Xopirea) — H miuii ii po^OMi cbohmi. " „Die Poljanen lebten abgesondert und herrschten geschlechterweise (nach Geschlechtern) — sie waren Poljanen und zugleich Brüder (Kij, Schtschet nnd Choriw) und lebten ein jeder mit seinem Geschlechte auf seinem Gute, ein jeder über sein Geschlecht" (kann auch heißen „mit feinem Geschlecht") „Herr-fcheno." „Die Poljanen herrschten über ihre Geschlechter", darf nicht in dem Sinne verstanden werden, als ob fie cine Gewalt über ihre Geschlechter besessen, fondern in dem Sinne, daß sie (ohne ein Object der Herrschaft) als ganze unter sich getrennte Geschlechter herrschten, nämlich nach Geschlechtern, ein jedes Geschlecht für sich; die Art nnd Weise des Ausdrucks „i»oMiil omiimil" ist vollkommen russisch, wie z. B. „oml iilpaHu lOHlinml". Dies will nicht sagen, daß das Object des Spieles Haufen waren, souderu daß sie getrenut sftielteu, in einzelnen Hansen, jeder Haufen für sich. Diese Erklärung wird durch die folgenden Worte bestätigt: ,Mil^i «»MMÜ 01, 0U0IM1, IX'/IMl'b Is UN «LMIX1, lUHQ-MXIi, lilMMÜ u.,96'ku oüomli> p(Mm?>." Jeder lebte mit feinem Geschlechte auf seinem Gute, ciu jeder über seiu Geschlecht herrschend. Unter „jeder" (uam/iM) kann man nicht das Geschlechtsober- 1) Ebeud., S, 5>. 8* 116 Haupt verstehen, welches mit feinem Geschlechte lebte. Nicht jeder war Geschlechtsobcrhaupt — dies ist offenbar unmöglich; man muß darunter verstehen, daß jeder Poljane mit seinem Geschlechte lebte, mit jeucm Geschlechte, 'zu welchem er gehörte. In diesem Sinne muß man die Worte: „nHgHbtt «nmMti u^mi' lioMin'b" — als ein getrenntes ganzes Geschlecht verstehen, oder etwa einfacher (der Sinn bleibt derselbe), mit seinen: Geschlechte. Diese Art des Ausdrucks stimmt wiedernm mit der russischen Sprache überein (d. h. daß nicht jeder allein herrschte, sondern als ganzes Geschlecht gemeinsam), — z. B. „M,i notmi, «^m^mi» iMlu^iii «i. i«üi>" („wir als das gesammte Volk kamen zu dir"). Diese Stelle in der Chronik Nestor's will demnach nach unserer Meinung sagen, daß die Poljancn abgesondert lebten (b. h. nntcr sich getrennt), daß sie als getrennte Geschlechter herrschten (d. h. nach Geschlechtern, ein jedes Geschlecht für sich); ein jeder lebte mit feinem Geschlechte (mit demjenigen, welchem er angehörte) und ans seinen Gütern, indem jeder als sein Geschlecht regierte (mit seinem Geschlechte, mit dem ganzen Geschlechte gemeinschaftlich, als ein getrenntes ganzes Geschlecht). Was bedeutete aber das Wort „Geschlecht" (^i.)? Hierin liegt die Hauptfrage; man muß dieselbe lösen, um den wirklichen Sinn der aus der Chronik angeführten Stelle zu verstehen. Nestor erzählt, indem er voll dcn Poljanen spricht, sogleich nach den oben angeführten Worten, von drei Brüdern, Kij, Schtschck und Choriw; dies gibt m:S die Möglichkeit, die Worte Nestor's über die Poljauen genau zu untersuchen und zu prüfen. Kij, Schtschek und Choriw sind drei Arüder: ist dies nun ein einziges Geschlecht? Allerdings, wenn eine beliebig geringe Zahl eine Geschlechtsorganisation ausmacht. Was aber sehen wir? Daß alle drei abgesondert auf 117 ihren Gütern lebten. Kij lebt auf einem Berge, wohin er Boritschew entführt hatte, Schtschet auf einem andern Berge, Schtschekowiza, uud Choriw auf einem dritten, Chorewiza. Cs bildete demnach jeder Bruder ein besonderes Geschlecht, allein ist dies bei der Geschlechtsorganisatiou möglich? Drei Brüder konnten nicht zugleich drei Gefchlcchtsoberhauvter sein und das Geschlecht in drei Theile theilen, denn die Geschlechts-organisation läßt eine solche Theilung nicht zu. Wenn mm ein jeder von ihnen sein Geschlecht hatte, denn sie lebten abgesondert voneinander, so kann dies nicht anders als dadnrch erklärt werden, daß das Geschlecht die Familie war. Allerdings wird behauptet, daß drei Brüder eine Stadt erbauten (eine Festung, einen befestigten Ort), im Namen des ältesten Bruders, allein ein solch gemeinsames Unternehmen konnten auch getrenute Geschlechter ausführen: wir wissen ganz unzweifelhaft, daß bei den Slawen (wie wir deren Wesen er-klärteu) gemeinschaftliche Verbindungen geschlossen wurden. In jedem Falle entsteht die Frage, ob die Festung alle drei Besitzungen (Plätze) der Brüder umfassen konnte? Nie dem nun auch sein möge, so deuten die Worte Nestor's geradezu darauf hin, daß alle drei Brüder abgesondert voneinander wohnen. Nestor widerspricht der Meinuug, daß Kij der Fähr-Maun gewesen, und erklärt dies dadnrch, daß man, weil eben bei Kij die Ueberfahrt von dcm jenseitigen Ufer des Duicpr stattfand, den Ausdruck „auf der ticwscheu Ueberfahrt" gebrauchte. Unterdessen zeigt der Irrthum, welche« Nestor Widerlegt, daß das Haupt des Geschlechts keiuc so hervorragende Bedeutung hatte (welche in der Tradition gewöhnlich an Größe zunimmt). Wenn aber das Haupt des Geschlechts nicht so wichtig war, so bedeutet dies, daß das Geschlecht selbst keiue so wahrnehmbare, stark in die Augen springende Erscheinung gewesen. Nestor sagt ferner, daß wenn Kij Fährmann gelesen, er nicht nach Zargrad (Konstantinopel) gegangen wäre; 118 „aber dieser Kij herrschte in seinem Geschlechte'") („iw KU w!luM0!ui> <»onüb").i) Ferner sagt er, indem er die Sitten der slawischen Völker schildert, von den Poljanen allein, daß bei ihnen milde Sitten herrschten und dasi bei ihnen allein die Ehe^) — nnd folglich die Familie cxMrte. — Nun ist es begreiflich, warum er namentlich von ihnen allein spricht, daß sie nach Geschlechtern getrennt, d. h. in Familien wohnten, — denn es war bei ihnen die Ehe vorhanden. Wir wissen ans alteu Zcngnisscu (siehe oben), daß die Slawen in weit voneinander entfernt gelegenen Wohnungen (Hütten) wohnten; in einer Hütte aber konnte, wie schon oben bemerkt, schwerlich ein Geschlecht wohnen; sie konnte nur eine bestimmte kleine Anzahl von Bewohnern anfnchmen, während das Geschlecht zahlreich sein konnte. Das Zeugniß Nestor's stimmt vollkommen mit diesem alten Zeugnisse überein nnd erklärt dasselbe noch überdies. Erinnern wir uns jetzt noch einmal an alle oben angeführten Beweise über die Existenz .und die Bedeutung der Familie bei den Slawen, und es wird uns unzweifelhaft klar, daß das Geschlecht hier bei Nestor die Bedentung von Familie hat. Ucberdies ist die Chronik Nestor's eine südrnssischc nnd es finden sich bei ihm Viele selbst bisjetzt noch bei den Klcinrussen gebräuchliche, südrussische Ausdrücke —, in Kleinrußland hat das Wort Geschlecht (pl>z-l>) auch jetzt noch die Bedeutung von Familie () in der oben angeführten Stelle der Chronik die Bedeutung von Familie (c^in) hat; dasselbe wird nur bei den Poljanen erwähnt, bei welchen allein die Ehe und folglich die Familie existirte.') Dies ist nach unserer Meinung die einzige, begreifliche Erklärung der oben angeführten Stelle aus der Chronik Nestor's, auf welche die Vertheidiger deS Geschlechtswescns sich hauptsächlich stützen. Es möchte hier am Orte sein, im allgemeinen die Bedeutung in Betracht zu ziehen, welche das Wort i»o,i,i, (Geschlecht) in der russischen Sprache hat. Das Wort ist durchaus nicht bestimmt, es hat keine scharf begrenzte eigene Bedeutuug; es ist keine nach irgendeinem Maße gemachte Form. Obgleich es eine Grundbedeutung hat, so hat es dennoch zugleich viele Nuancen: 1) das Wort puzi, (Geschlecht) bedeutet ursprünglich poM«nio, die Kinder und dann die Familie; denn die Familie war die Grundeigenthümlichkeit des Lebens des Slawen und deswegen ist die besondere, specielle Bedeutung des Worts pi^i. — Familie (ooiua); 2) nachdem das Wort M'b gleichbedeutend mit pnN^ni« ist, so wird es anch in dem unbestimmten Sinne von npom'xoN^uio (Abkunft, Abstammnng) genommen und bedeutet sowol Vorfahren als Nachkommen. Das Wort nMioxon^oni^ (Abknnft) wird bald im weitcrn Sinne verstanden und erweitert sich dann zur Bedeutung von »gp0äi> (Volk) — bald wieder im engern Sinne nnd bedeutet poHoiüa (Verwandtschaft). Eine solche Bedeutung könnte man füglich eine genealogische nennen (obgleich auch diese Bedeutung nicht richtig ist, denn die Einheit der Abkunft ist noch 1) Wir lassen uns nicht in eine Nntersuchnng ein, ob dieses Wesen auch bei andern Stämmen nnd in welchem Grade es bei denselben vorhanden gewesen; für uns ist nur die von dem Chronisten mitgetheilte Nachricht nnd seine eigene Anschauung von Wichtigkeit. 121 keine Genealogie), aber nicht eine verwandtschaftliche; dies ist durchaus nicht eins und dasselbe. In dem Ritterthume spielte bie genealogische Bedeutung eine große Rolle, aber doch nennt niemand das Ritterthum ein Geschlechtswesen. Dies sind die zwei Bedeutungen, welche das Wort sw/ii, ü: drr russischen Sprache hat. Aber nie bedeutet Mi> eine Zusammengehörigkeit von Verwandten, als etwas Ganzes, ^ne zeitweilige Zusammengehörigkeit (d. h. eine Zusammengehörigkeit lebender Verwandten) —, nie hat es z. B. jene Bedeutung, welche wir unter dem Worte «oH-tm«, (Linie, Stamm) verstehen. Ein Beispiel der ersten Bedeutung haben wir soeben gc-sehcli. In dieser Bedeutung tonnte das Wort p»,^ (Geschlecht) lu dem Ausdrucke: „i> ii36MH»c»l ^pn i^m-ri^i Oi, ^<»M oummu"') („es wurden drei Brüder aus ihren Geschlechtern gewählt"), angewendet werden. Man kann unmöglich annehmen, daß diese drei Brüder Geschlechtsoberhäupter gewesen seien. In jedem Falle tonnten sie bei dem Vorhandensein eines Geschlechtswescns nicht alle drei Geschlechtsoberhäupter sein. Es ist nicht wohl ""zunehmen, daß jeder sein eigenes, ihm untergeordnetes Geflecht hatte; dies ist nicht möglich, denn sie waren Brüder, folglich hatten sie ein einziges, gemeinschaftliches Geschlecht. Das Geschlecht aber wie ein Erbe in drei Theile theilen, ^eö wird von der Gefchlechtsorganisation nicht zugelassen, ^as bleibt nun anzunehmen übrig? Der Plnralis, welcher ^cr sehr wichtig ist, deutet geradezu darauf hin, daß ein leder ein Geschlecht hatte; dieses Geschlecht (die persönliche ^achfy^^^^F^^) f^i^^e nur die Familie sein, welche einem leden der Brüder zn eigen sein konnte. Uebrigcns ist cö Abglich, daß das Wort „Geschlecht" — po^ hier auch in ^ zweiten Bedeutung gebraucht ist, d. h. in der Bedeutung ^) Vollst. Samml. d. russ. Chrou.,1, 8. 122 von Stammverwandten, welche der Abstamnumg nach einem nnd demselben Volke angehören. Allein in der Bedeutung von Geschlecht (pu^), welche dem Begriffe von Geschlechts-wesen entspricht, kann hier das Wort „poHi." nicht genommen werden. Selbst Herr Solowjcw nimmt es nicht so, und versteht hier das Wort pnzi. in der zweiten Bedeutung (e^imo-IMiM — Stammverwandte). Als Beispiel der ersten oder auch, wenn man will, der zweiten Bedeutung kann man die Stelle aus der Chronik anführen, wo Swiatoslaw auch von den Getödtcten eine Abgabe nimmt, indem er sagt: „llico poä'b ero n0:Mtti"i>." ') Als Beispiel der ersten Bedeutung kann man ebenfalls den Ausdruck anführen „ii noia s»«>/ii, na IM1."2^ d. h. N01-9M 06!M «» <'6!»lil (es erhob sich eine Familie gegen die andere) 6Mii, ua ünn-rn (ein Brnder gegen den andern), wie wir auch jetzt noch sagen, oder wenn man will, poMue «« poHnux-b (Verwandte gegen Verwandte). —-Die Erklärnng ist sehr begreiflich. Es ist durchaus kein Grund (besonders wenn wir alle Andentungen gegenseitig vergleichen) und durchaus keine Ursache vorhanden, hier das Wort Geschlecht (i»«>M) in der patriarchalischen Bedcntnng (wie die Anhänger Evers' meinen) in der Bedentuug von Geschlechtslinie (lwHkul») zu nehmen. Als ein Beispiel der zweiten Bedeutung können wir den Ausdruck: „u^ i><>6» LaMmein" ^) („von warägischem Geschlechte") anführen. Abkunft im weitern Sinne — Volks-abstamnmng; „I'wMlT. npo/inoii, «lilW«nbo oouo O^kionn, oi^ p<»M o«)' c^llw"^) — („Nurik tritt sein Fürstenthum an Olgow ab, der aus seinem Geschlechte war"). Abkuuft im engern Sinne, eine Verwandtschaft, wahrscheinlich eine nahe 1) Ebend., S. 30. 2) Ebend., S. 6. 3) Ebend., S. 9. 4) Ebend., S. 9. 123 Verwandtschaft bedeutend; ^««0^5 « Aipi, il^-ii. «g w,^ 131t?!»; „01, ^OHlMI, 0N0IIIN1.". ^) Askold nnd Dir ziehen ebenfalls uiit ihrem Geschlechte (ihren Verwandten, ihrer Verwandtschaft) nach Süden. Die Kiewer sprechen zn Askold nnd Dir von drei Brüdern, Kij, Schtschek und Choriw, nnd fügen bei: „« m« (Mimi,, nMi«llu z»«l. p0/lO!N1> «X'd IlnijllpOMI," 2), ^, h ^^ ^»0/I(»N1> IIX1. (mit ihrem Geschlechte der drei Brüder) oder durch ihr Geschlecht. Hier kaun man wiederum keiu Geschlcchtswcsen annehmen, denn die Kiewer schließen sich dentlich von dem Geschlechte der drei Brüder ans. Hier bedeutet l't>6i. offenbar: nmom-NLc», «unm)'«) ^unaoiiw (Nachfolge, fürstliche Dynastie, siehe weiter oben). Oleg läßt, nachdem er in Kiew angekommen, Askold und Dir sagen, daß cr Gast sei, daß er von Olcg und dem Fnrstensohne Igor komme (d. h. ein warägischer Gast fei) und fügt bei: „M MlM'a «7> «lmi,, «7, po/wini. ciiliili»^." ^) Hier ist ^»«>Li> offenbar in dem Sinne von Geschlechtsemheit, von Stammeseinheit gebraucht. Es ist hier gleichsam als eine vollkommene Widerlegung der Begriffe über das Geschlechtswesen nicht gesagt: «1- iw^ eiwon^, sondern «5 cummi, pl»/,lM7, (ttMlloimMmli,) — Stammesverwandtcn. Als Askold und Dir erschienen, spricht Oleg zu ihnen: „1!u utzoiÄ uullni, «n pttH^ mizl:l?», n» 1131. «tün-b Pt>/I>' «««M»" ^) („Ihr seid weder Fürsten noch vom fürstlichen Geschlechte, aber ich bin von fürstlichem Geschlechte"). Hier ist das Wort l»u/ii> in dein Sinne don Abstammung (Abkunft) gebraucht. Wir glauben mm genng Beispiele von dem Gebrauche des Worts pozi. (Geschlecht) in den beiden von nns angenommenen Bedeutungen angeführt zu haben. Wir wiederholen. 1) Ebend., S. 9. 2) Ebeud., S. 9. 3) Ebend., S. 10. 4) Ebend., S. 10. 124 daß das Wort pn/^ in der Bedeutung einer gleichzeitigen Zusammengehörigkeit lebender Verwandten in dem Geiste des Geschlechtswesens, wie dies von den Anhängern Evers' angenommen wird, oder mit andern Worten, in der Bedeutung von Geschlechtslinie — i«i^uo, nicht gebraucht wird. Zur Bekräftigung der Behauptung, daß das Wort Mii, bei uns die Bedeutuug von e«^,n (Familie) hatte, führen wir einen Beweis aus der russischen Sprache an. Wir sagen: M0wp«)^»lltl 6pai^ (Vetter, Geschwisterkind). Was bedeutet: Huumpoziluti? Hier ist der Pluralis Mim po/i^, d. h. M^xi. l»l»,iMi,, zu erkennen; demnach bedeutet Wompa/inuil ö^ib einen Bruder zweier Geschlechter, d. h. zweier Familien. Vpai^ poMM bedeutet leiblicher Bruder, Bruder eiuer Familie — öpgi-i. ^ompsMM, eiuen Bruder zweier Familien -^ wie es auch in der That der Fall ist. Wir werden übrigens die Bedeutung dieses Wortes weiter unten genauer erörtern. Herr Solowjew sieht in den Aeltesten (oiuM«), welche einigemal im Eingänge der Nestor'schen Chronik erwähnt werden, Geschlechtsoberhäuvtcr oder Fürsten. „Aller Wahrscheinlichkeit nach", sagt derselbe, „gehörte anfänglich die berathende Stimme auf den Voltsversammlungen nur den Aelte-sten oder den Fürsten, während die jüngern Glieder des Geschlechts auf den Volksversammlungen nur zugegen waren, um von den Beschlüssen der Aeltestcn Kenntniß zu nehmen. Wir sehen bei uns unter den ersten Fürsten keine Volksversammlungen, sondern die Aeltesten nehmen mit den fürstlichen Bojaren an allen wichtigen Beschlüssen Antheil; alsdann verschwinden die Aeltesten und es kommen die allgemeinen Voltsversammlungen zum Vorscheiu; ein Zeichen von der Abnahme des Geschlechtswesens m den Städten, ein Zeichen, daß die Aeltesten ihre frühere repräsentative Bedeutung verloren hatten. Auf die exclusive Theilnahme an den Volksversammlungen von seiten der Aeltesten weist eine Erzählung der Chronik 125 über die biälgorodschc Volksversammlung hin, welche unter dem heiligen Wladimir bei Gelegenheit einer Belagerung Biälgorods durch die Petscheuegen stattfand. Die Einwohner von Biälgorod beriefen, da sie keine Hülfe von dem Fürsten erhielten, eine Volksversammlung und beschlossen sich zu ergeben. Allein einer der Aeltesten war auf der Versammluug nicht zugegen und schickte, als er deren Beschluß vernommen, nach den Stadtvorstehern und brachte sie dahin, den Beschluß der Versammlung zu ändern. Hier wird die ganze Angelegenheit nnr nnter den Acltesten allein verhandelt, welche allein die Macht besitzen, die Bestimmnng der Versammlung ninzn-ändern, ohne eine neue zu berufen."") Hierin liegt ein offenbarer Widerspruch. Wenn die Aeltesten allein an den Versammlungen theilnchmen, so liegt nichts Besonderes nnd Erstaunliches darin, daß dieselben ihren eigenen Entschluß abändern. Welche Versammlung sollen sie wol bernfm, wenn nnr sie allein daran theilnehmen und sie sich abermals versammeln? Nehmen wir die letzten Worte Herrn Solowjew's, so müssen wir nach dem Sinne derselben annehmen, daß an den Versammlungen auch andere, folglich nicht die.Aeltesten allein theilnehmen, was seinen ersten Worten geradezu widerspricht. Man muß entweder das eine oder das andere annehmen. Wir überlassen es jedoch Herrn So-Iowjew selbst, diesen Widerspruch aufzuklären; wir wenden Ntts zu dem Beispiele, durch welches er seine Meinung zu nnterstützcn sucht. Auf der Versammlung, bei deren Schilde, rung die Chronik der Aeltesten mit keinem Worte erwähnt), lvnrde beschlossen, sich zu ergeben. Einer der Aeltesten war Y Arch. d. Gesch. der jur. Zeugn., S. 19, 20. 2) Daß die Aeltesten auf der Versammlung anwesend sein tonnten, ^nd nicht bestritten; allein die Chronik beutet nicht auf sie hin, stellt dieselben nicht in den Vordergrund, gibt ihnen keine Bedeutung, la erwähnt dieselben nicht einmal bei der Schilderung der Versammlung. 126 nicht auf der Versammlung zugegen und fragte, weshalb man die Versammlung gehalten («i-mMui» u-k'io ^io^i,«)^) — heißt es in der Ipatjew'schen Abschrift, er erfuhr ihren Beschluß und fchickte nach den Stadtvorstehern und brachte sie dahin, nicht den Beschluß der Versammlung abzuändern, wie Herr Solowjew behauptet, sondern die Ausführung desselben um drei Tage zu verzögern.^) Dies ändert die Sache vollständig; es ist dies sozusagen eine administrative, nicht legislative Maßregel. Und woher wissen wir, daß die Versammluug beschloß, sich sogleich zu ergeben? sie kounte deu Termiu durchaus uicht bestimmen. Ferner, wenn in einem Lande wie Rußland, wo beinahe gar keine Formalität eMirte, nach dem Beschlusse der Versammlung irgendjemand einen nützlichen Rath ersonnen hätte, welcher den Beschlnß der Versammlung änderte, und dieser Rath bekannt geworden wäre, so würde das Volk, im Falle es ihn für nützlich gefuudeu, mit demselben übereingestimmt haben, ohne die Berufuug einer neuen Versammlung, die Beobacht tung einer reinen Forin zu verlangen. Wenn das Volt, welches das Stimmrecht besaß, nachdem es von einer Abänderung gehört, diese zuläßt, so bedeutet dies, daß es dieselbe billigt. Das Beispiel der biälgorodschcn Versammlung unterstützt offenbar Herrn Solowjew nicht, sondern widerspricht ihm vielmehr, indem sie die Aeltesten durchaus nicht in der Weise darstellt, wie derselbe annimmt: In der Ipatjew'schen Abschrift (welche sehr sseschätzt wird) heißt es namentlich .«0/^, welches Wort bekanntlich in der Chronik in der BedeutlM von »gjMi, (Volk) gebrancht wird. Worauf gründet nun Herr Solowjew seine Ansicht, daß früher nur die Acltesten an deu Versammlungen thcilnahmen? Wir wenigstens können 1) Vollst. Samml. d. russ. Chrou., S. 55. 2) Ebenb., S. 54, 55. 127 hierüber keine Auskunft geben. Er behauptet, daß die Aelte-sten zu Rathe gezogen wurden, daß sie an den wichtigsten Beschlüssen theilnahmen; dies ist vollkommen richtig. Es kommt eine Stelle in der Chronik vor, in welcher es heißt, daß, als Wladimir den Götzen Opfer zu bringen begann, die Aeltesten und Bojaren sprachen: „Ns^ezii, Upoüiti ua Oipoin n H-bLim«)" l) („Werfen wir das Los über einen Knaben und ein Mägdlein"). Wladimir beruft die Aeltesten und Bojaren zu einer Berathung über den Glauben, er beruft sie abermals, als die zur Prüfung des Glaubens abgesendeten Boten zurückkehren. Allein ist dies cine Versammlung? — Der Fürst beruft seine Näthc; sieht dies einer Volksberathung ähnlich? Wir sind vollkommen einverstandeu, daß es in der Stadt oder im Volke Vorsteher gab — dies kann bei der demokratischsten Verfassung der Fall sein —, daß die Aeltesten ihres Alters wegen große Achtung genossen: dies ist immer und allenthalben der Fall; hierzu bedarf es keines Geschlechts-Wesens. Allein daß nur die Vorsteher oder Nettesten allein an den auf der Versammluug gefaßten Beschlüssen thcilnah-Men, daß sie außer der einfachen Achtung ein Recht oder ein Gewicht besaßen, oder daß sie nicht als gewöhnliche Vorsteher, fondern als eine Art von Geschlechtsoberhäuptern erschienen — -- worans dies gefolgert werden müsse, vermögen wir absolut nicht zu ersehen. Im Gegentheil ist die Theilnahme und die Bedeninng der Aeltesten sogar nur allzu nnbedentend. Die Beschlüsse der Aeltcsten sind nicht selbständig, nicht wich. Ug, ja es kommen nicht einmal viele solcher Beschlüsse vor. ^ Nicht die Aeltesten rnfen Rurik herbei, nicht die Aeltesten senden Gesandte au Oleg; wir sprechen nicht einmal von den viel spätern Manifestationen des Volkswillcns, welche auch Herr Solowjew für voltsthümlich hält, und zwar von der 1) Ebcnd., S. 35. 128 Versammlung beginnend, welche von Iaroslaw berufen wurde. Um die Beziehungen der Aeltestcn zu erklären, müssen wir uns zu dem gegenwärtigen russischen Volke, zn dem Bauern-wesen wenden. Bei unsern Bauern gibt es eine allgemeine Versammlung (oöim« oxciM») und eine Versammlung der Aeltestcn (cxu/ma oMiilllMli,). Die allgemeine Versammlung versammelt sich bei Dingen von größerer, die andere bei Dingen von geringerer Wichtigkeit (vorzugsweise zur Untersuchung von Beschwerden u. s. w.). Diese Aeltesten (>>inpiluli), wie sie genannt werden, und diese allgemeine Versammlung (oxo/ma) mögen den frühern Aeltesten (eiapnu) und der Volksversammlung (nÄ>i6) in gewisser Beziehuug entsprechen. Die Aeltesten werden gewöhnlich dnrch die Fürsten berufen. Die heutige Versammlung der Aeltesten wird ebenfalls durch den Gutsherrn, oder wer es sonst sein möge (ja von den Bauern selbst, wenn es diesen genehm ist), zusammenberufen; die allgemeine Versammlung kann zusammenbernfen werden und kann sich auch selbst bei beliebigen Gelegenheiten zu einer Be-schlußfassuug versammeln; allein unmöglich ist es, daß die Aeltesten selbst sich versammeln und allen übrigen ihren Entschluß verkünden. Herr Solowjew glaubt, daß die Aeltesten später verschwinden. Nach unserer Meinung jedoch verschwinden die Aeltesten nicht. Wir erinnern daran, wie Wladimir sich ausdrückte, als er, uachdem er die Aeltesten und Bojaren zusammenberufen, den nach Griechenland abgeschickten Gesandten vor denselben zu sprechen befiehlt: „ o«g:«iliu n^o^T. /M«lluow"-^-„berichtet vor der Druschina" (Gcuosfenschaft). Hier ucnut er die Aeltesten im Verein mit den Bojaren — Druschina ^ eine engverbundene Genossenschaft. Die Drnschina hat sich auch später nicht verloren; und daß die Druschina auch außer der angeführten Stelle häufig nicht den Begriff eines Heeres nnd nicht eines militärischen, sondern bürgerlichen Raths in 129 sich schließt, dies unterliegt keinem Zweifel und hierüber wird auch Herr Solowjew nicht streiten. Wir bemerken, daß die Aeltesten immer durch den Fürsten und zwar zugleich mit den Bojaren berufen werden, nnd daß sie, wie wir oben gesehen, im Verein mit denselben auch Druschina genannt werden. Die Aeltesten oder Vorsteher — die fürstlichen Räthe — wurden nach und nach Diener der Fürsten und flössen mit den Bojaren zusammen. Wir haben von der geringen Volks-thümlichen Bedentung gesprochen, welche die Aeltesten besaßen; um so leichter konnte diese Verschmelzung vor sich gehen, dieselbe war von keiner Wichtigkeit für das Volk, dessen sociales Leben (wie dies später dentlich sichtbar wird) sich nicht in den Vorstehern, sondern in dem ganzen Volke aussprach, welches ein gleiches Recht cnif die Mitberathung besaß. — Die anfangs nicht bestimmt hervortretende Druschina des Fürsten erhielt einen feststehenden, mit dem Fürsten besonders verknüpften Sinn und trat endlich als Bojarenrath auf, welcher den alten Rath der Bojaren und Aeltesten, oder den Rath der Druschina absorbirte; demselben entsprechend entstand als eine allgemein nationale, russische, oder besser gesagt, gesammt-russische Volksversammlung der Landesrath oder die Landcsver-fammlung, welche, von dem Moment ihrer Bildung angefangen, die Bojaren nnd sämmtliche im Dienste des Fürsten sich befindlichen Leute absorbirte. Jetzt müssen wir uns zu dem ruffischen Rechte wenden, um zn sehen, was dieses spricht: In dem russischen Rechte ist die Familienrache bestimmt. Rache nehmen mußte entweder der Bruder, oder der Vater, oder der Sohn, oder der Vetter von brüderlicher oder schwesterlicher Seite, l) Dies allein waren die Familienrächer; hierauf heißt es im russischen Rechte: „om^n »o 6^?^ «10 1) Rufs. Dcnkw., I. 28. Russisch« Fragment, l. 9 130 NO^N1>" u. s. w. („wenn kein Rächer für jemand vorhanden ist, so lege man demselben fünf Griwen aufs Haupt, damit der Fürst" u. s. w.).') Eine weitere Rache durfte sonach nicht geübt werden. Hier sind die Grenzen der Familie, aber nicht die des Geschlechts deutlich bestimmt. Wenn auch in der Familie teiu Vetter ist, so ist dies der ihr am nächsten stehende ans einer andern Familie. Herr Popow hat in seiner Abhandlung über das russische Recht bemerkt, daß daß Recht oder die Gewohnheit der Rache nur der Familie zugehörte und hat deren Grenzen bestimmt. Dies ist vollkommen klar, allein weshalb bleibt der talentvolle Autor nicht dabei stehen und nimmt die Sache wie sie ist, warum nimmt er an, daß das Geschlecht, welches früher eristirte, durch diese Feststellung auf eine Familie beschränkt worden? Worauf gründet er die Meinung, daß früher die Geschlechtsrache und das Geschlechtswesen vorhanden gewesen?^) Diesen Beweis bleibt er uns schuldig. Das Zeugniß des russischen Rechts widerspricht dem Gcschlechtswesen geradezu. In dem rnssischen Rechte ist auch ein deutliches Zeugniß über die Erbfolge vorhauden, welches vollkommen mit den von uus gezogenen Schlußfolgerungen übereinstimmt (siehe oben über die Untersuchungen Gonbet's). Nach dem russischen Rechte geht das Erbe eines gemeinen Mannes (eines Bürgers oder Landmanns), sobald derselbe keine Kinder besitzt, auf den Fürsten über und gilt folglich als herrenlos; wenn kcinc Söhne, sondern Töchter vorhanden sind, so wird den unver-heiratheten Töchtern ein Theil hinausgegeben. Das Erbe eines Bojaren, heißt es im russischen Rechte, geht nicht auf den Fürsten, sonderu wenn keine Söhne vorhanden, nehnn'N 1) Ebenb., S. 26. D Al. Popow, Unters, iibcr das russ. Recht, S. 37, 36. 131 cs die Töchter. Offenbar beziehen sich hier die Worte: 3a «U»3N 3«M»ll3 (M0H1KH0IR0) «oti/^611. (das Erbe geht nicht auf den Fürsten über) nur im letztern Fall, d. h. wenn Töchter vorhanden sind, wodurch sich das Erbe des Bojaren von dem Erbe eines Gemeinen unterscheidet. Folglich sehen wir hier blos, daß das Erbe eines Bojaren, im Gegensatze zu dem Erbe eines Gemeinen, nicht anf den Fürsten übergeht, wenn keine Söhne, fondern nur Töchter vorhanden sind. Es ist demnach der ganze Unterschied zum Vortheil der Töchter und bleibt das Erbe nur im Kreise der Familie, der Kinder, bei deren Nichtvorhandcnsein es anf den Fürsten übergeht und für erblos gilt. Das Zeugniß des russischen Gesetzbuchs, auf Grund dessen das Vermögen, bei dem Nichtvorhaudensein von Kindern, als erblos gilt und welches mit andern ähnlichen bei den slawischen Völkern vorhandenen Zeugnissen übereinstimmt, weist deutlich auf die Familie hin und stößt das Geschlechts-wesen um. Wir haben bereits (weiter oben) davon gesprochen, daß die Theilnahme an der Erbschaft von feiten anderer Verwandten, außer den Kindern, sich bei den Slawen erst später, infolge administrativer Anordnungen bildete. Auf diese Weise stud die Rechte des Geschlechts in diesem Falle eine spätere und administrative Erscheinung; früher waren dieselben nicht vorhanden. Es steht dies in einem vollkommen umgekehrten Verhältnisse zu den Annahmen der Herren Anhänger von Evers. Ganz dasselbe sehen wir auch in Rußland. In dem Sudebnik Johann's III. ist geradezu gesagt: „Stirbt jemand ohne Testament und ist kein Sohn vorhanden, so erbt die Tochter; wenn keine Tochter vorhanden ist, so der nächste von seinem Geschlechte/") Hier ist das Wort Geschlecht l) A. I.. I. 268, ^69., 9* 132 (po/i'b) wiederum in der engsten Bedeutung gebraucht, denn hier wird der dem Geschlechte des gewesenen Besitzers am nächsten Stehende verstanden. Die übrigen Fälle, wo das Wort „Geschlecht" (po/li.) in dem Sudebnik gebraucht wird, berechtigen uns, dieses Wort auch hier so zu verstehen. Die Ergänzungsartikel zu dem Sudebnik Johann's IV. gehen in einige Details über die Erbfolge ein, indem sie die alten Erbgüter der im Dienste des Zaren stehenden Knjäsen und Bojaren von den verliehenen Erbgütern unterscheiden. — Es ist für uns kein Grund vorhanden, uns hierüber weiter zu verbreiten; wir nehmen nur die für uns interessante Anwendung des Worts „Geschlecht" (po^) heraus: „Welcher Knjäs aber sein Erbgut feinem leiblichen Bruder, oder seinem Vetter, oder seinem Neffen, dem Sohne seines leiblichen Bruders, oder irgendeinem, ihm am nächsten stehenden Geschlechte vererbt, mit Ausnahme derjenigen, welche sich gegenseitig heira-then können."^) Der hier gebrauchte Ausdruck zeigt, daß der Mensch ein nächstes Geschlecht haben konnte; wenn auch die Geschlechter selbst verwandt waren, so stellte das Geschlecht wiederum keine Zusammengehörigkeit der Verwandten dar, denn die Geschlechter schieden sich nntcreinander innerhalb der Grenzen der Verwandtschaft; hier ist das Wort Geschlecht (pozi.) in dem Sinne einer verwandten Familie gebraucht, wenn man will mit deren Nachkommenschaft, als der natürlichen Folge der Familie; mit der weitern Nachkommenschaft hörte jede Verwandtschaft vollkommen auf. Demnach wurden die Geschlechtsrechte auf das Erbe bei uns wic bei den andern Slawen in späterer Zeit und zwar durch die Regierung eingeführt. ^) 1) Ebend.. I, 268, 269. 2) Herr Newolin vermochte in seinem allgemeine Anerkennung verdienenden Werke das nur zu deutliche, einer jeden Geschlechtsorgan:" 133 Es ist bemerkenswerth, daß, wenn irgendwo, sei es auch nur theilweise, eine Geschlechtsorganisation gefunden werden kann, dies in dem Geschlechte Rurik's der Fall ist, welches aus der Fremde herbeigerufen, kein einheimisches gewesen ist. sation entschiede» widersprechende Zeugniß deß russischen Gesetzbuchs über die Erbfolge nicht wahrzunehmen. Allein welche Schlußfolgerungen zieht der Autor hieraus? Er sagt: „Diese Bevorzugung der Descendenten vor den Seiteuverwandten und die vollkommene Ausschließung der letztcrn von der Theilnahme an dem Erbe standen in einem gegenseitigen Znsammenhang: Die ucue Ordnung der Erbfolge konnte zuerst nur als ein vollkommener Gegensatz zn der frühern erscheinen" (Gesch. d. R. R. Ges.. III, 351). Wenn Herr Newolin die Ordnung der Erbfolge nach dem russischen Gesetzbuche eine neue nennt, was war denn die frühere? Der Herr Verfasser scheint in den ältern Zeiten das Vorhandensein einer Geschlechtsorganisation anzunehmen. Nachdem der Verfasser die Reihenfolge der Rächer in dem russischen Gesetzbuche aufgezählt, sagt er: „Die Reihenfolge der Rächer bei Iaroslaw ist eine Reihenfolge des Altersrauges der Individuen im Geschlechte" (S. 845). Sonderbar. Hiernach wäre der Bruder der Aelteste von allen, dann tcime der Sohn mzd dann der Vater. (!) Wer möchte wol zugeben, daß in irgendeinem Geschlechtswescn der Vater nach der Ordnung des Altersranges nicht nur nicht deu ersten, sondern den dritten Platz einnehme? Ferner, in der Voraussetzung, daß die benannten Personen auch nicht beisammenwohnen könnten (was vollkommen so ist), fügt der Verfasser bei: ,, Folglich lebten bereits zur Zeit Iaroslaw's die Glieder eines Geschlechts nicht nach einer allgemeinen Norm, miteinander ver-unt" (S. 345). Also war dies vor Iaroslaw der Fall; aus diesen Worten ersehen wir, daß der Verfasser in der ältern Zeit bei den Slawen eine Geschlechtsorganisation annimmt. Allein worauf gründet f'ch eine solche Voraussetzung? Hierüber gibt uns der Verfasser keine Aufklärung. — Der Verfasser glanbt, daß die Individuen in derselben Ordnung erbten, in welcher sie als Rächer aufgezählt find; allein als-bcnm würde der Vater den Sohn beerben, und wiederum in dritter Reihe. Hierfür sind nach unfcrm Dafürhalten keine Beweise vorhanden und verspricht dies vollkommen der slawischen Organisation, in welcher anfänglich ein gemeinsamer Familienbesitz vorhanden war, und in welker deshalb die Frage ein? andere Bedeutung erhält. Weiter unten lagt der Autor, indem er die Erbfolge in dem ausführlichen, russischen ^esetzbuche näher betrachtet: ,,In der Form einer allgemeinen Norm 134 Ist es wol möglich, eine derartige Voraussetzung anzunehmen, daß das Geschlechtsprincip, welches dem Rurik'schen Geschlechte eingeimpft wurde, vollkommen aus Rußland ver-schwuuden sei? Die Ungereimtheit einer solchen Voraussetzung springt zu sehr in die Augen. Ueberdies haben wir gesehen, daß vor Rurik, von alters her, bei den Slawen kein Geschlechtsprincip vorhanden war. Noch bemerkenswcrther ist, daß Rußland gegen die Geschlechtsrechte der Fürsten (Knjäsen) vollkommen gleichgültig war nnd offenbar nicht die geringste Theilnahme für Geschlechtsfragen hegte. Nirgends ist ersichtlich, daß die Städte für den Aeltesten oder für die Rechte ihres Knjäsen auftraten. Sie beschützen den Knjäs, oder jagen ihn davon, je nach ihren Beziehungen ;u demselben, je nach dem Umstände, ob sie ihn lieben, ob er ihnen gut ist, konnte der Vorzug der Descendenten vor den Seiteuverwandten in den Gesetzen nur bann anerkannt werden, wenn das Familienband dnrch verschiedene Ereignisse tics erschüttert war. Offenbar erfolgte die Erschütterung desselben (des Familienbandes) in dem Privatleben und die Erschütterung im socialen Leben in einer nud derselben Zeit, in der Periode der Partcikämpfe, welche in Nnßland von dem Tode Iaro-flaw's an bis zum Einfalle der Mongolen wütheten" (S. 351—352). Aber warum war es namentlich damals nnd warnm war es früher vorhaN' den? Der Verfasser selbst sagt weiter nntcn: „Wenn nach dem ausführlichen russischen Gesetzbuchc zur gesetzlichen Erbfolge in der That nur dic Kinder des Verstorbenen bernfen wnrden, mit Ausschluß seiner Brüder, so mnß man annehmen, daß in dem Zeitranme zwischen der Veröffentlichung des ausführlichen russischen Gesetzbuchs nnd der Ver ttffentlichnng des Sndebniks Johann's III. das Recht der gesetzlichen Erb-folge sich anch auf die Seitenverwanbten ausdehnte" (S. 355—356)-Man sieht also hier, wann und wie die Familienrechte bestätigt wurden-In diesen Worten des geehrten Verfassers liegt ein gewisser Widerspruch mit seinen vorhergehenden Worten. Uebrigens scheint der geehrte Verfasser in dem zweiten Vande seines Werks das Geschlechtswesen in den ältern Zeiten zu verwerfen. Wir wollen uns jedoch jetzt in keine wettern Erörterungen einlassen, weil zu diesem Zwecke der Kritik des ganzen Bnchs ein besonderer Aufsatz gewidmet werden mttßte. 135 und ob es für ihr sociales Leben sicherer und vortheilhafter ist, mit ihm oder ohne ihn zn leben. Dieser Mangel an Theilnahme an der Geschlechtsfrage, welche das Volk doch so nahe berührte, zeigt darauf hin, daß das Gefchlechtsprincip im Volke gänzlich fehlte. Herr Solowjew erblickt in dem Volte ein Geschlechtsprincip und hält dasselbe für einheimisch. In der fürstlichen Druschina sieht er bereits ein anderes Princip, welches sich von dem Geschlechtsprincip loszumachen sucht. Die Druschina bildete und ergänzte sich durch Fremde. Herr Solowjcw spricht sich über dieselbe also aus: „Diese dem Fürsten nahe steheuden Leute, diese fürstliche Druschina, wirkt auf die Bilduug der neuen Gesellschaft dadurch mächtig ein, daß sie in dcu Mittelpunkt derselben ein neues Princip, ein Standesprincip bringt, welches dein frühern Geschlechtsprincip widerstreitet."') Warum aber war die Rangordnung — in welcher man (wenngleich schwerlich mit Recht) die Spur eines Geschlechtsprincip findet, in welcher aber doch nur ein genea--logisches Princip vorhauden ist — namentlich nur bei deu Bojaren, den Nachkommen der Druschina, den Erben ihres Geistes uud ihrer Organisation, kurz bei den im Heere die-uenden (im Kriegsdienste stehenden) Leuten vorhanden, während das Land, das Volk, alles, was sich außerhalb der Druschiua befand, von demselben gar keine Kenntniß hatte? Dieser Umstand spricht ebenfalls stark gegen die Anficht der Herren Vertheidiger des Gefchlechtswesens. Es gibt also zwei Erscheinungen, wo man in gewisser Beziehung (wenngleich nicht in der Art, wie dies die Herreu Anhänger Evers' wünschen) Spureu der Gcschlechtsorganisa-tion entdecken kann. Es ist dies das Geschlecht Rurik's mit seinen Rechtsstreitigkeitcn uud die Rangordnung, Aber beide 1) Arch. d. Iur. Gesch., Abth. I, S. 17. 13tt Erscheinungen sind keine einheimischen, wenigstens nicht in ihrer Grundlage. Das Geschlecht Rurik's ist ein herbeigerufenes; die Rangordnung war bei den Leuten vorhanden, welche die Nachfolger der fürstlichen Druschina waren, die sich durch fremde Ankömmlinge ergänzte. An beiden Erscheinungen aber nahm das Land oder das Volk (die wirklichen Einheimischen) durchaus keinen Antheil. Lassen wir nun die historischen Beweise beiseite und gehen wir auf die Sitte, auf die Sprache über. Die Neuvermählten werden bei uns selbst bis auf den heutigen Tag: Knjäs und Knjägina — Fürst und Fürstin — genannt. Herr Solowjew erblickt hierin einen Beweis für seine Ansicht, „weil dieselben bei dem Eintrittc in die Ehe Gebieter eines Hauses, Oberhäupter eines besondern von ihnen auszugehenden Geschlechts werden"') — (als ob der Begriff Gebieter eines Hauses und Geschlechtsoberhaupt eins und dasselbe wäre). Wenn eine Geschlechtsorganisation vorhanden ist, so kann die neue Familie, welche in dem Geschlechte erscheint, nicht ein neues Geschlecht und die jungen Gatten — Geschlechtsoberhäupter sein; denn sonst würde sich jede neue Familie von dem Geschlechte trennen und ein besonderes Geschlecht bilden, während die jungen Gatten Geschlechtsober-häuvter werden müßten, denn ihre Kinder können auch eine eheliche Verbindung eingehen, die ihnen den Namen — Knjäs und Knjägina — gibt. Wenn dies der Fall ist, wenn jede neue Familie ein neues Geschlecht ist, wo ist dann das Geschlecht selbst, wie es die Herren Vertheidiger des Geschlechtswesens verstehen? — Es existirt kein solches: es stellt sich uns nur die abgesonderte Familie, eine jede als folche für sich bestehend dar. Demnach widerspricht die Benennung Knjäs 1) Arch. b. Gesch. d. Iur. Zeugn., Nbth, I, S. 17. 137 und Knjägma, was immer dieselbe auch bedeuten möge, ganz deutlich der Meiuuug von dem Geschlechtswesen. Es ist eine bekannte und selbst bis auf den heutigen Tag in aller Kraft bestehende Sitte in Rußland, einen jeden nach dem Namen seines Vaters zu benennen; diese Sitte finden Wir auch in der ältesten Zeit. Aber zugleich sehen wir bei der Nothwendigkeit der Benennuug uach dem Vater in der ältern Zeit durchaus keine Benennung nach dem Geschlechte; cs gibt keine auf das Geschlecht Bezug habenden Beinamen. Dieselben sind auch jetzt bei dem Volke, bei den Bauern, welche ihr altes Wesen beibehalten haben, nicht vorhanden. Ausnahmen hiervon sind außerordentlich selten und lassen sich leicht durch den Einfluß der sogenannten gebildeten Klassen erklären. Die Bauern haben nur persönliche Beinamen — wir finden dieselben auch in den ältern Zeiten —, aber weiter nichts. Die uuumgänglich nothwendige Benennung nach dem Vater und der Mangel einer Benennung nach dem Geschlechte deuteu entschieden auf der einen Seite auf die Kraft des Familienprincips und Familieuwesens — auf der andern Seite auf das Nichtvorhaudensein des Gefchlechtsprincivs und zugleich des Geschlechtswesens hin. Das russische Volk, welches alle Familienbeziehungen so weichlich mit Namen ausgestattet hat (Lw^pl,, 3<),,oLllg, ue-^o-lg, m^pilu-b u. s. w., Schwager, Schwägerin, Braut, Irauenbruder), hat keine Ausdrücke für das französische: stÄn^ ynols oder petit neven. Hier begannen für dasselbe "ffenbar schon die Grenzen der Verwandtschaft. Statt aousin ^braucht das Volk das zusammeugesetzte Wort: üMii, Mow-l'"znuji, d. h. Bruder zweier Familien (wir haben dies weiter "ben erklärt). Um den Bruder einer und derselben Familie 6u bezeichnen, sagt dasselbe: 6paii> p^noü (leiblicher Bruder); ^ würde dies sehr ungenügend sein, wenn das Wort po^M ^ allgemeine Bedentung des Worts po^ hätte; offenbar 138 bedeutet dies i der Bruder der Familie; d. h. einer Familie (oMuiu Mn). Aber, wird man uns entgegnen, was bedeutet denn das Wort i»»Mu? — ko/lu« (die Verwandten) bezeichnet die Einheit der Abstammung; außerdem konnte dieses Wort anch die Familien-Verwandtschaft bezeichnen. — Allein wir gebrauchen das Wort poHil« in einem viel weitern Sinne. — Allerdings, allein dies thun wir, die gebildeten Klassen — dies ist unsere eigene Sache —, aber nichtsdestoweniger hat zMu» bei nns nicht die Bedeutung, welche dem Worte von den Anhängern Evers' beigelegt wird. I'lMi-na (Verwandtschaft) bedeutet bei uns die verwandtschaftlichen Bande, welche überall und immer statthaben. In Betreff des Worts pu,ii> selbst ist zu bemerken, daß in der gegenwärtigen Sprache uuferer übergebildeten Gesellschaft das Wort pn^ in einem viel weiteru und zugleich unbestimmten genealogischen Sinne gebraucht wird, aber auch hier bedeutet es nicht die Zusammengehörigkeit der Familien, bedeutet nicht Zweig — Linie (uoFblin). Diese patriarchalische Bedeutung wurde ihm von nusern Gelehrten beigelegt. Die Geschlechtsbegriffe, wenn dieselben bei uus existireu (in uuse-rer übergebildeten Gesellschaft), sind eine spätere Erscheimmg-Wir haben auf die Theilnahme der Administration an dieser Sache hingewiesen. Die Ausdrücke: ni. po,ii, ,i pt>Hi>; und ni> Mu ,i MU, «37. POM V7> P<»/I1> (von Geschlecht zu Geschlecht, von Familie zu Familie) widersprechen wiederum der Ansicht der Herren Anhänger Evers'. Diese Ausdrücke bezeichnen eine Reihe von Familien, und wie hier im allgemeinen gesprochen wird, !^ wird auch das Wort pl>Li> in dem Sinne von Geschlecht Generation (iK)«<»>likn>o) genommen. Herr Solowjew glaubt, daß das Wort n^u» (Stamm) zur Bezeichnung der Geschlechtslinien gebraucht wird.') Dew" 1) S. Eolowjew, Geschichte Rußlands, S. 46. 139 nach ist näoiM (Stamm) eine Unterabtheilung von l»«>/^ (Geschlecht), es verhält sich zu l»<>^> wie der Theil znm Ganzen, wie irgendetwas zu etwas Ausgedehnten», denn Herr So-lowjew sagt: „Die Einheit des Geschlechts, die Verbindung der Stämme wurde einzig und allein durch die Geschlcchts-oberhäupter (po/wnÄ^b»«««) erhalten.') Folglich war das Geschlechtsoberhaupt — das Oberhaupt eines Geschlechts und einiger Stämme. — Wir können jedoch mit einer solchen Definition des Worts n^ml uicht übereinstimmen. Wenigstens beweist der Gebranch der Worte po/v^ und ii^üuil, daß im Gegentheil das Wort nozi, eine viel engere, u^m» dagegen eine viel weitere Bedeutung hat. Schon der Ausdruck: lw/li»-n^Mli, »n paz^ — nil n^tMOlili — deutet daranf hin. Wenn N'lowi (Stamm) ein Theil von i«i/ii> (Geschlecht) wäre, so wäre keine Nothwendigkeit vorhanden, dem Worte l">^ auch noch das Wort n^Nü beizufügen. Folglich wird ii^m« in der weitesten Bedeutung verstanden, und es ist dies in dem Ausdrucke: uii poz^ — »li M6IWMI so fühlbar, daß es jeder Russe nicht anders versteht; mit andern Worten, dieser Ausdruck bedeutet: »^ w^no ukii, p<>/i>, 110 u i^ioiuoml (nicht nur kein Geschlecht, sondern auch keinen Stamm). Noch deutlicher tritt bies in dcu kirchlichen Bestimmuugen über die Ehe hervor. 2) Hier ist deutlich zu ersehen, daß das Wort wi«wl, wenn dasselbe eine engere Bedeutung hätte, als p»M. (denn es ist Nach der Ansicht des Herrn Solowjew ein Theil von l»«/^) nicht angeführt zu werden brauchte; es würde hinreichen zu sagen: „ui, pu^." Aber hier wird das Wort po/ii. erwähnt, 1) Ebenb., S. 46. 2) Im Original folgcu hier noch ausführlichere überzmg«,dc Be-^eise, welche in der Uebersetzung fortgelassen wurden, da ihre Beweistraft eben nur in der eigenthümlichen Bedeutung der altrussischen Ausdrucksweise liegt. V. 140 und überdies nach pa/^ auch noch das Wort n^i««» angeführt. Dies zeigt offenbar, daß es cine viel weitere Bedeutung hatte: deshalb war es auch verboten, sich nicht nur in der Familie (dem Geschlechte) (ui> 9<>/i^), fondern auch in dem Stamme (vi. n^«!«0««) zu verheirathcn. Wo aber hörtc das Geschlecht auf? Dort wo der Stamm (n^iu) anfing; der Stamm fing sehr nahe an: die Kinder des Bruders oder der Schwester waren bereits nH6«»»uniln. In den russischen Liedern nennt die Tante ihre Nichte (n^6«li»»nun) „?di iwc^mati, z,^ n^e» iWilw."') Demnach bestimmt dieses Wort „n.,«Mzl" die Grenze von po^i,, die Familiengrenze, in ihrer Beziehung zu einem andern verwandten Geschlechte, wie einer verwandten Familie. Irgendeine besondere Geschlechts-(Familien)Bedeutung hat n^eiuli bci uns nicht und das Wort selbst kommt nicht sehr häufig vor, sodaß das Gebäude des Geschlechtswesens von unsern Gelehrten nicht darauf fußen kann. Wir nehmen an (anf Grund der von uns oben angeführten Beweise), daß pu/ii, in der eigentlichen, bestimmten Bedeutung 061»!'» (Familie) bedeutet. Welche Bedeutung aber hat nun das Wort esmd»? Wir glauben (ebenso wie Herr So-lowjew), daß clM,.» von cui^mido» herkommt, leiten aber aus dieser Etymologie nicht die Bedeutung von Gatte und Gattin (wie dies Herr Solowjew thut)^), sondern eine andere Bedeutung ab. Nach unserm Dafürhalten stimmt e6«t>», von 1) Tereschtschenk, Russ. Wesen. II. 176. 2) S. Solowjew, Russ. Gesch.. Aumerk. 47. Herr Solowjew sagt: ce»l>» (von eo-»i»<»<)) bezeichnete ursprünglich die Frau. die Gattin (<"-iipni^K», c<>-»«!!«»), später aber begann es die aus der Ehegenossenschaft Hervorgehenden nnd Zufammenwohnenden zu bezeichnen. Die Frauen unterzeichneten sich in ihren Briefen an die Männer gewöhnlich: l'»u« ?»«» X. X. ce«>>>l«u?bc» bedeutete «lOMmi-ri.c». In den Eidesformeln wird die Verpflichtung auferlegt, sich nicht mit einem Gliede der Herrschaft zu verheirathen. 141 00iMgil,o» herkommend, auch nüt andern ähnlichen Ableitungen überein und bedeutet 001031.) coM'b, lMiui.) o»6»i.. Dieses Wort zeigt deutlich auf den gemeindeartigen Charakter hin, welchen bei uns die Familie (eeiul,«) hatte; es drückt ganz fühlbar die gemeindeähnliche Seite der Familie aus. — Zur Bekräftigung unserer Worte führen wir aus dem Sudcbnik Johann's IV. den Gebrauch des Worts csinkll an: „» ui. o6«i- CKaxt MHoriü ak>hh AKyn, ceaiLnmn ii 3ar0B0pu bcjhkhmh^; fevner: /|(kto commhui ii 3aroBopu nx oöbHCKax^ roBoparb HenpaB/i)""; eBcnfc: „n He vuhvtt» k^ Yocynapm Ha xt ceMbH n 3«i-oVs)^l>i »rniiLklunltl."l) Hier wird das Wort e^il>« sFa-milic) nnt 33l0ul>i,i, (Verabredung) in eine Reihe gestellt; offenbar wird hier c^mi^li in der Bedeutung von coi-Moio, eiai«», «01031. (Zustimmung, Bündniß, Vereinigung) gebrancht; zum Beweise dessen ist in einer der Abschriften des Sudcbnik statt Oeinkll — ul'"w^ (Genossenschaft) gesetzt. Die archäo-graphischc Commission fetzt neben dieses Wort ein Fragezeichen; allein diefe Verwechselung ist unserm Dafürhalten nach vollkommen begreiflich und klärt vieles auf. Die von uns angeführten Beispiele beweisen wol hinlänglich, daß das Wort Wmkli so viel bedeutet wie co6p3«i6 (Versammlung), coiwi. ooiwi, (dasselbe), indem es auf diese Weise seine gemeindeähnliche Seite ausspricht, was mit allen oben angeführten Nachrichten so sehr im Einklänge steht. ^) 1) Ebend., S. 254, 256. 2) So erklären wir auch den in den Eidesformeln vorkommenden Gebrauch des Worts eozibnnui-d«!, welches auch Herr Solowjew durch bas Wort ctxMnai'bc» erklärt. Die Benennung «oNbnua statt «»«a Eran) ist keine diminutive, sondern eine Persönliche Form (ähnliche Beispiele finden sich viele), und konnte sich allerdings auf neu:' (Frau) beziehen, welche mit dem Manne durch die Bande der Ehe, durch das Princip der Familie vereinigt ist; wir erinnern an das Wort «o«i>- 142 Wir glauben jctzt die Existenz des Geschlechtswesens bei den Slawen durch unsere Hinweisungen auf das Familienwesen im besondern, sowie auf das Gemeindewesen hinlänglich widerlegt zu haben. Wir halten es für nothwendig, hier noch einige specielle Hinweisungen auf das Gemeindewesen bei-zufügen. Aus den oben angeführten alleu Zeugnissen, aus dem Urtheilsspruche öiubufcha's, ja theilweise aus der Organisation der Familie selbst, haben wir das sociale Leben, die Volksgemeinde ersehen, welche ein selbständiges, freies Stimmrecht besitzt. Durch wen werden die Waräger herbeigerufen? In der Chronik heißt es einfach: „Mma ?^«n, ^m^, (^wnchnil ,i tlpiiUi'Ut."') Die eigenthümlichen Benennungen der Stämme oder der Bürger bezeichnen in den Chroniken gewöhnlich die Stadt. So bebeutet lli.iuim das Volk von Kiew — Nmw-roMMl'i das Volk vou Nowgorod u. f. w. Hier sehen wir die Namen der Stämme und haben ein volles Recht, denselben Sinn anzunehmen; die Vorsteher und Nettesten werden mit keiner Silbe erwähnt. Folglich war die Berufung Rurik's ein Act des freieu Volkswillens. Dies nöthigt uns zur Annahme eines Volks-, eines Gememdewesens. Selbst die Herbeirufung des Fürsten, insbesondere durch Stämme, wclche sogar fremd waren (die Slawen, Tschnden), hält jeden Gedanken von einem Geschlechtswcfen fern. Es ist dies ein bürgerlicher, staatlicher und selbstbewußter Act. Wir erklären hier nicht dessen Gründe und begnügen uus mit dem, was für unsere Beweise direct erforderlich ist. In dem Vertrage Oleg's mit den Griechen, noch deutlicher aber in dem Vertrage Igor's spricht sich die Gemeindeorgani-sation, welche man nicht plötzlich und mit einem mal einführen 1) Russen, Tschudcn, Slowenen und Kriwitschen. 143 tonnte, vollkommen aus. Wir wollen früher Veröffentlichtes nicht wiederholen und verweisen die Leser auf eine frühere Abhandlung, worin wir diese Verträge genau dargestellt haben.') In diesen Verträgen wird die Gesandtschaft von dem Großfürsten, den Knjäsen, Bojaren und Kaufleuten und dem ganzen Lande abgeschickt. Es ist dies ein vollkommen sociales Wesen. — Es ist dies die nämliche Erscheinung, welche wir anch in der Folge sehen werden, und welche die Form des Landesraths — 3^io«l,« ^M«, der Laudesversamm-lung — 36mo«iti Ooöopi, annahm. In diesen Verträgen tritt die Bedeutung des ganzen Landes, des ganzen Volks hervor. Eine solche sociale Organisation ist dnrchaus nicht auf das Geschlechtsprincip gegrüudet, sondern widerspricht demselben geradezu. Igor zog Abgaben, nahm Tribut von den Drewljanen; er beherrschte sie jedoch nicht, denn dieselben hatten ihren eigenen Fürsten Mal. — Dies erleichtert unsere Forschungen noch mehr; das slawische Wesen mußte bei den Drewljanen in seiner eigenthümlichen Gestalt betrachtet werden. Wie war aber dasselbe beschaffen? Betrachten wir W näher. Igor, welcher nach höherm Tribut verlangt, geht zu den Drewljauen nnd nimmt ihnen den Tribut ab und kommt dann endlich wiederum in der nämlichen Absicht. Nachdem sich die Drewljanen mit ihrem Fürsten Mal berathen ("icht aber Fürst Mal für sich allem) und saheu, daß die Gewaltthätigkeiten kein Ende nehmen würden, ermordeten die-selben Igor. Nach diesem sprachen die Drewljaucn (d. h. das Volk) wiedernm: „Nehmen wir Olga nach dem Tode unsers Kirsten Mal." — Es ist hier von Interesse, daß wir auch später einem vollkommen ähnlichen Falle begegnen: Die Nowgoroder verheiratheten ihren Fürsten: „ omenums lioLui-opoMi,, 1) Moskauer Zeitung, Jahrgang 1850, Nr. 87. 144 Die Drewljanen sendeten ihre vornehmsten Manner an Olga. Nachdem diese Männer zu Olga gekommen, beginnen sie: „lioc,M»l>l H6p«vbo«9li ^i»Hn" („wir sind Gesandte des drcwljanischcn Landes").2) Dieser Ausdruck ist ganz dentlich-Auch wurden dieselben offenbar nicht von der Stadt Iskorosv jän allein, sondern von dem ganzen drewljanischcn Lande abgesendet; denn es entstand hierauf ein Krieg mit allen Drcwljanen; auch ist dies darans ersichtlich, daß in der Folge von der Aussöhnung aller übrigen Drewljanen die Rede ist, mit Ausnahme von Iskorostjän, welches nicht wegen des Hei-rachsantrags, fondern wegen der Ermordung Igor's kämpft, die nur von ihnen allein vollbracht worden. — Knjäs Mal war wahrscheinlich der gemeinsame drewljanische Knjäs; das ganze drewljanische Land bittet für ihn. Allerdings sagen in der Chronik dic Drewljanen zu Olga: „u»iim «uaM ^o6M o^?7," („unsere Fürsten sind gut")^); allein dies darf gewiß nicht in dem Sinne genommen werden, als hätten dieselben gleichzeitig viele Knjäsen gehabt, sondern — daß die drewl-janischen Knjäsen immer gnt zu sein pflegten; ganz so wie der Russe sich bei Feodor Iwanowitsch im allgemeinen ausdrücken konnte: „)" nan uap» z^u«" („wir haben gute Fürsten")-— Nachdem Olga Rache an den ersten Gesandten genommen, verlangt sie neue, angesehene Gesandte; — denn sonst, sagt sie, läßt mich das kicwsche Volk nicht ziehen. Nachdem die Drewljanen dieses vernommen, wählten sie die edelsten Männer aus, welche drewljanisches Land besaßen^), und schickten sie zu Olga, welche Rache an ihnen nahm. Aus dieser 1) Vollst. Samml. d. niss. Chron., I, 148. 2) Ebend., S. 24. 3) Ebend., S. 24. 4) Ebend., S.24. 145 ganzen Erzählung ersehen wir, daß in dem Vordergründe die Drewljaneu, das Volk, handelnd und verfügend auftritt. Sie sitzen mit ihrem Knjäsen Mal zu Rathe; sie beschließen, ihn mit Olga zn verheirathen; sie schicken wiederum die edelsten Männer, nnd endlich solche, welche drcwljanisches Land besaßen, wahrscheinlich die Aeltesten, voll denen weiter unten die Rede sein wird. Allein wir sehen auch, daß nicht diese edeln Männer, nicht diese Aeltesten verfügen und Gesandte senden, sondern daß im Gegentheil das Voll hierüber entscheidet, daß das Bolk dieselben sendet. Ueber den edeln Männern, über den Aeltesten, über dem Fürsten (Knjäs) Mal, dessen später auch mit keinem Worte mehr Erwähnung geschieht, stehen die Drewljanen, steht das Volk. Die Acltestcn (enz^niliiulnu) bei den Drewljaneu waren wahrscheinlich erwählte Autoritäten, über welchen (wie aus dieser Erzählung deutlich ersichtlich ist) die Autorität des ganzen Landes stand. — Demnach ist das drewljanischc Wesen ein reines Gemeindewesen, welches sicherlich noch in die Zeit vor Rnrik fällt. Als Swjätoslaw in Pcrcjaslaw lebte und Kiew nnr mit Mühe durch den Heerführer, Wojwoden Pretitsch von den Pe-tschenägen befreit wurde, ließe» die Kiewer ihm sagen, daß er sein Land verlassen habe nnd ein fremdes suche, sie erinnern ihn an feine Mutter nnd seine Kinder, an seine Familienobliegenheiten. ^) Man kaun nicht behaupten, daß hier zwischen dein Fürsten und dem Volke dnrchaus kein Geschlechts- oder patriarchalisches Verhältniß stattgefunden habe. Hiermit stimmt vielleicht auch Herr Solowjew übercin; auch er ist der Meinnng, daß das Oefchlcchtswefen nach der Berufung Kuril's in Verfall komme. Nur Herr Kawelin allein sieht dasselbe in Rußland bis zu Peter dem Ersten! ^bige Stelle ""s der Chronik über Swjätoslaw haben wir deshalb ange- 1) Vollst. Samml. d. russ. Chron.. I, 28. 10 146 führt, um auf die Stimme des Volks hinzuweisen, welche sich bei dieser Gelegenheit erhob. Swjätoslaw, welcher wie es scheint den Entschluß faßte, zu Olga nach Perejaslawl überzusiedeln, setzt in Kiew den Iaropolk, den Oleg dagegen bei dcn Drewljancn — „«i» /^penHxi." — wie es heißt, ein. Zugleich langen die Nowgoroder an und verlangen für sich einen Kujä's mit der Drohung: „wenn Ihr nicht kommt", sagen sie, „werden wir uns cinen andern Knjäs suchen." Eine solche Sprache ist nur bei ciner socialen Organisation möglich, an welcher das Volk durch seine Versammlungen theilnimmt, und welche auch nach den Chroniken bald in Nowgorod scharf hervortritt. — „Wenn jemand zu euch kommen mag", antwortet Swjätoslaw den Nowgorodern. Iaropolk und Oleg weigern sich. „Gib uns Wladimir", sprechen die Nowgoroder. „So nehmet ihn", erwidert Swjätoslaw. Die Nowgoroder nehmen Wladimir und gehen von dannen. ^) Man sieht hier uuter anderm, daß cs für die Fürsten nicht sehr lockend war, nach Nowgorod zu gehen. Wir wissen nicht ganz genau, in welchen Beziehungen Nowgorod zu den kiewfchen Fürsten unter Oleg, Igor und Swjätoslaw staud. Nachdem Oleg vier Jahre laug geherrscht, verließ er Nowgorod und zog gegen Süden. Allein was bedeutet der Ausdruck „verlassen"? Wenn wir uns an das Zeugniß der Niton'schcn Chronik über die Empöruugen der Rowgoroder unter Rurik, an das Zeugniß über Wladimir erinnern, wenn wir uns den in den spätern Zeiten entstehenden unabhängigen Geist der Nowgoroder ins Gedächtniß zurückrufen, so drängt sich unwillkürlich der Gedanke auf, daß Oleg gezwungen wurde, Nowgorod zu verlassen, daß auch ihw die Worte zugerufen wurden: „Der Weg ist offen, wir ver- 1) Vollst. Samml. d. russ. Chron., I, 10. 147 neigen uns vor dir!" Es ist allerdings richtig, dasi Oleg ein ganzes Heer sammelte, in welchem Slowenen waren (gewiß Nowgoroder); allein da er ohne Kampf, unter gegenseitigem Einverständnisse abzog, konnte er dieselben allerdings im Heere haben. Auf jeden Fall hatte Oleg, indem er Nowgorod verließ, nicht die Absicht, wieder zurückzukehren, denn er nahm den unmündigen Igor mit sich fort. Rußland verließ Nowgorod und ging auf den Süden über; dorthin übertrug es auch seinen Aufenthalt und seinen Namen. Es ist bemerkenswerth, daß Nestor nach der durch Oleg erfolgten Besitznahme von Kiew neuerdings wiederholt; es waren mit ihm die Waria'ser und Slowenen und die übrigen, welche Nüssen genannt wurden.') Daher ist es auch begreiflich, warum man das südliche Rußland vorzugsweise Rußland nannte. Von Norden übersiedelte das herbeigerufene Rußland hierher und dort befestigte sich die Thätigkeit der russischen Knjäsen. Im Anfange scheint übrigens die Benennung russisches Land (k/ccilg» 36^il>) und russischer Knjä's (?^e«M llu»3l.) eine engere Bedeutung gehabt zu haben, d. h. sie bedeutete das kicwsche Land und den kicwschen Fürsten. Die Drewljancn sagen von Igor: ,,c« Il»u3i, Mixon^ ^o«gw"") („dieser Fürst wurde von einem Russen ermordet") und machen auf diese Weise einen Unterschied zwischen sich und Rußland. Wir finden auch in der Chronik die Stelle: „l!oM»o, lNK« Ul'ill'k 3OUOU3N I'^cl," („die Poljanen, welche sich jetzt Russen nennen")^) Welches nun auch die Ursache gewesen sein mag, weshalb Oleg von Nowgorod hinwegzog, so bleibt doch immer dasselbe Factum, daß Rußland auf den Süden überging. Nowgorod unterbrach jedoch nicht die Ge- ll Ebend., S. 10. 2) Ebend., S. 23. 10* 10* 148 meiuschaft »lit den von ihm zuerst herbeigerufenen Russen und den südlichen Slawen. Aeine Beziehungen zn dem Knjäs (Fürsten) wurden kaum alterirt. Nestor sagt, daß es den Warägern auf Anordnung Oleg's eine jährliche Abgabe von 300 Griwen bezahlte, indem man Frieden schloß (»nM Ll^n).') (300 — ist wahrscheinlich ein Fehler, denn die Chronik sagt, daß sie diese Abgabe bis zum Tode Iaroslaw's entrichteten, während es bei Iaroslaw nicht 300, sondern 3000 heißt, mit der Bestimmung, wem die Snnime eigentlich zu verabfolgen sei.) Was bedeutet der Ausdrnck: „niM /rkM" (indem man Frieden schloß) ? Etwa deshalb, damit die Waräger Nowgorod vertheidigen, dessen Heer bilden und ihm den Frieden erhalten sollten? Eine derartige Deutuug erscheint uns etwas geschraubt, es kann in diesem Ausdruck kein so complicirter Sinn enthalten sein. Viel einfacher scheint uns die Annahme, daß die Nowgoroder diese Summe entweder für ein Bündniß (für eine Einigung) mit Oleg entrichteten, oder um des Friedens willen, um den Frieden zn erhalten, d. h. um mit ihm selbst iu Frieden zu leben, nämlich mit Oleg, der sie in Ruhe ließ. Die folgende Stelle in der Chronik hat offenbar hierauf Bezug: „^»ol^W)' «6 c)M)' HoBtropoA'fe it ypOKOMi jaioimo Ktieuy Aßt, Twcauy rpiiBHfc on 104a AO ro^a, a thchhio HoBtropoA* rpnxcwb pa3AaBaxy; a TaKO naaxy noca^HHUH HoBropoACTin, a HjiocjiaBi no'ia cero «6 Main Ili>lml>'"2) („Iaroslaw aber war in Nowgorod und hatte an Kiew eine alljährliche Abgabe von 2000 Griwen zu entrichten, während 1000 in Nowgorod an die Gridins vertheilt wnrden; ebenso viel bezahlten auch die Nowgorodcr den Posfadniks, aber Iaroslaw wollte ferner nichte mehr entrichten"). 1) Ebend., S. 10. 2) Ebend., S. 56. 149 Demnach wurde diese Abgabe bis auf Iaroslaw fortent-richtet. Wir sehen hier, daß die Abgaben nur an Kiew und die Gridins entrichtet wurde. Wer waren aber die Gridins? Die fürstliche Leibwache. Seit die Nowgoroder ihren eigenen Fürsten hatten, kam ein Drittheil der Abgabe anf dessen Leibwache und zwei Drittheile gingen nach Kiew (wie allerdings c>nch früher) uud anf diese Weise belief sich die ganze Summe »uf 3000 Griwen. Wahrscheinlich war die Ansicht, daß man, sobald ein Fürst vorhanden, nicht genöthigt sei, eine Abgabe nach Kiew zn entrichten, der Grnnd weshalb Iaroslaw die Entrichtung der Abgabe verweigerte. Bei dieser Weigerung läßt sich sehr natürlich eine Theilnahme der Nowgoroder annehmen. — Außer diesem Abgabenverhältniß au den Knjäsen von Kiew oder an Kiew selbst sehen wir, daß in Nowgorod Possadniks (Stadthauptleute) saßen; von wem dieselben aber erwählt wurden, ist schwer zn bestimmen. Wir wissen, daß dieselben später manchmal von dem Fürsten, mauchmal von dem Volte eingesetzt wurdeu. Uebrigeus konnten die Possad-niks in jedem Falle die Nowgoroder weniger bedrücken. Unter Swjätoslaw bekamen die Nowgoroder ihre Posfadniks satt. Und wünschten sich einen Fürsten und nahmen Wladimir. Diese ganze Organisation nnd alle diese Beziehungen Nowgorods tragen auch nicht eine Spur von Geschlechtswesen cm sich. Aber je weiter wir vorgehen und je ausführlicher die Chroniken sind, desto deutlicher nnd kräftiger tritt die Organisation der Gemeinde nnd der Volksversammlung auf. Wir führen einige Beispiele an. Unter Isjaslaw I. hören wir bereits die sehr vernehmbare Stimme der Gemeinde in Kiew. Als im Jahre 10N7 isjaslaw mit Wsewolod, beide von den Polowzern geschlagen, "ach Kiew floh, beriefen die Kiewer eine Volksversammlung "uf den Marktplatz uud ließen dem Knjäs sagen: „Die Polow- 150 zer haben sich über das Land ausgebreitet; gib uns, o Knjäs, Waffen; wir wollen noch mit ihnen kämpfen." Isja^ slaw hörte nicht daranf. Das Volk befreite den gefangenen Wseslaw und machte ihn zum Knjäs. Isjaslaw entfloht) Im ^ahre 10W ließen Swjätolpolk nnd Wladimir dem Oleg sagen: „Komme nach Kiew, damit wir einen Vertrag feststellen bezüglich des russischen Landes, vor den Bischöfen nnd Igumenen und vor den Männern, unsern Vätern, nnd vo» den Einwohnern der Stadt, damit wir das russische Land gegen die Heiden vertheidigen. "^) Die sociale Organisation ist in diesen Worten deutlich ersichtlich. Später erscheint sie als Landesrath (3««««»» H)»»), als Landesversammümg (3^i»c>liü So entschließt sich Swjätolpolk im Jahre W97, nachdem er Wassilko in Fesseln geschlagen, nicht selbst, demselben Böses zuzufügen, sondern er beruft die Bojaren und Bewohner von Kiew zu einer Berathung und theilt ihnen dessen An-schlage gegen seine Person mit, welche ihm von David hinterbracht worden waren. Die Bojaren nnd das Volk sprachen: „Dir, o Fürst, geziemt es über dein Haupt zu wachen; wenn David die Wahrheit gesprochen, so möge Wafsilto seine Straft empfangen; wenn aber David die Unwahrheit gesprochen, so möge die Rache Gottes über ihn kommen und er sich vor Gott verantworten."') Diese vorsichtige Antwort nahm Swjä-toslaw für eine Zustimmung zu der Missethat, welche er an Wassilko verübte. In demselben Jahre, als Wolodar und Wassilko David in Wladimir (im Süden) belagerten, ließm sie nicht David, sondern den Bewohnern von Wladimir fagen: „Wir sind nicht 1) Ebend., S. 73, 74. 2) Ebend., S. 98. 3) Gbend. S. 110. 151 gegen euere Stadt und gegen euch herangezogen, sondern'gcgen unsere Feinde, die Rathgeber David's; wenn ihr euch für dic> selben schlagen wollt, so find wir bereit; wenn nicht, so lie» fert uns unsere Feinde ans." Nachdem die Bürger dieses gehört, beriefen sie eine Versammlung und sprachen zu David: „Liefere diese Männer aus, wir schlagen uns nicht für sie; für dich mögen wir uns schlagen; wenn du sie nicht auslieferst, so werden wir die Stadtthore offnen, du aber sorge selbst für dich." David wollte seine Rathgeber durch M verbergen und sendete sie nach Luzk; einer ans ihnen floh nach Kiew, und die andern wendeten sich gegen Turijsk. „Und nackdem das Volk erfahren, daß dieselben in Turijst seien, rief es zu David und sprach: Gib diejenigen heraus, die sie verlangen, wenn nicht, so öffnen wir die Thore. David lieferte seine Nathgeber ans."') Im Iahrc 1140 wurde Igor nach seinem Bruder Wße-Wolod Olgowitsch Knjäs von Kiew: „Igor aber war dm Kiewern unangenehm nnd sie schickten nach Pereiaslawl zu Isjaslaw und ließen ihm sagen: Komme zu uns, o Knjäs, wir verlangen dich; Isjaslaw zog nach Kiew; auf dem Wege kamen ihm die Mönche und das gesammte Volk entgegen und sprachen: Du bist unser Fürst; wir wollen Olgowitsch nickt; eile dich, wir sind mit dir. Alsdann kamen die Bewohner don Biälgorod und Wassiljew mit denselben Worten: Komme, bu bist unser Fürst, wir wollen Olgowitsch nicht. Endlich kamen auch von den Bewohnern von Kiew erwählte Männer und sprachen: Du bist unser Fürst, komme! Nir wollen Olgowitsch nicht; wir wollen nicht wie ein Erbe anheimfallen; wo wir deine Fahne sehen, dort werden wir Uns um dich scharen." — Ini. Jahre N47 siegte Isjaslaw 1) Gbend., S. INi. 114. 152 über Igor und wurde Knjäs von Kiew. Nachdem Isjaslaw mit den Söhnen Oleg's beschlossen hatte, zn seinem Onkel Georgij zu ziehen, versammelte er die Bojaren, seine ganze Leibwache sowie die Bewohner von Kiew und sprach zu ihnen: „Ich bin mit meinen Brüdern, mit Wladimir und Is-jaslaw Wßewolodowitsch übereingekommen, wir wollen gegen Iurjei, nnsern Oheim ziehen und gegen Swjätoslaw, nach Susdal, weil Iurjei meinen Feind Swjätoslaw Olgowitsch bei sich aufgenommen; auch der Bruder Nostislaw wird sich dort mit uns vereinigen; er wird mit denen von Smolensk und von Nowgorod zu mir kommen." Nachdem die Bewohner von Kiew dies vernommen, antworteten sie: „Fürst, ziehe nicht mit Rostislaw gegen deinen Oheim; besser ist es, sich mit ihm auf irgendeine Weise zu vergleichen; glaube nicht den Söhnen Oleg's und mache dich mit ihnen nicht auf deu Weg." Isja-flaw erwiderte dem Volke: „Sie haben mir das Kreuz geküßt (sie haben mir geschworen); ich habe mit ihnen zu Nathe gesessen und ich kann dicft Fahrt nimmermehr aufschieben; ihr aber eilet euch." — Die Bewohner von Kiew antworteten: „Fürst! Zürne uns nicht; wir können unsere Hand nicht gegen den Wolodimir'scheu Stamm erheben^); wenn aber gegen die Söhne Oleg's, sind wir bereit, wir und unsere Söhne." — So weigerten sich die Bewohner von Kiew gegen Isjaslaw. Isjaslaw begab sich nut den Söhnen Oleg's auf den Wcg, erkannte aber bald deren Verrath, hob den Zug auf und sendete zwei Boten, Dobrinka und Radilo nach Kiew an seinen Bruder Wladimir, an deu Metropoliten Klim, an den Oberbefehlshaber (i-l.lo,iuM) Lasar und ließ ihnen sagen: „Versammelt alle Einwohner von Kiew in dem Hofe der heiligen Sophienkirche; mögen meine Gesandten ihnen meine Rede vortragen und ihnen die Berrätherei der tschernigowschen Knjä'se" !) Iurjn war der Sohn Wladimir Mvnomach's. 153 erzählen." Wladimir begab sich zu dem Metropoliten und bcrief die Einwohner von Kiew. Die Einwohner von Kiew versammelten sich alle, von dem höchsten bis zum niedrigsten, in dem Hofe der heiligen Sophienkirche, bildeten eine Volksversammlung und setzten sich. Wladimir sprach zu dem Metropoliten: „Mein Bruder hat zwei kicwsche Männer gesendet, damit sie seinem Bruder Mittheilung machen." Dobriuka und Radilo traten vor und sprachen: „Es küsset dich (Wladimir) dein Bruder, er grüßt dic Metropoliten, er küsset Lasar und alle Einwohner von Kiew." Die Bewohner von Kiew sprachen: „Verkündet, was der Knjäs euch aufgetragen hat." — Die Boten sprachen: „So spricht der Kujäs: Ich habe euch erklärt, daß ich mit meinem Bruder Rostislaw und mit Wolodimir und Isjaslaw Davidowitfch gegen meinen Oheim, gegen Iurjei zu ziehen gedachte, und habe euch mit mir geheu hnßen. Ihr habt mir erwidert: Wir können nicht die Hand gegen den Wolodimir-schen Stamm, gegen Iurjei erheben; allein wenn gegen die Söhne Oleg's, so gehen wir mit dir und mit uns unsere Söhne. Jetzt thue ich euch knnd: Wladimir Davidowitsch und Isjaslaw, und Wßewolodowitsch Swjätoslaw, welchen ich viel Gutes erwiesen, haben mir das Kreuz geküßt (haben nur geschworen); nun habe« sie ohne mein Wissen nnd insgeheim auch dem Swjätoslaw Olgowitsch geschworen uud haben an Iurjei gesendet, au nur aber einen Verrath begangen und wollten mich entweder gefangen nehmen oder für Igor er-lNorden, allein Gott und das heilige Kreuz haben mich beschützt. — Jetzt aber, meine kiewschen Brüder, was ihr gewünscht, was ihr mir versprochen habet — erfüllet, kommet ZU mir nach Tscheruigow gegen die Söhne Oleg's, eilet klein und groß; wer ein Pferd besitzt, setze sich zu Pferde; wer keins besitzt, besteige ein Boot. — Sic wollten nicht allein unch todten, sondern auch euch vertilgeu." - Die Bewohner von Kiew sprachen: „Wir freuen uns, daß Gott dich uud un- 154 sere Gemeinde vor so großer Verrätherei errettet hat; wir kommen dir mit unsern Söhnen zu Hülfe, wie du begehrest." ^) Wir haben diese im hohen Grade interessante Erzählung beinahe wörtlich aus der Chronik wiedergegeben, indem wir die Ipatjew'sche und Lawrentjcw'schc Abschrift benutzten uud von der buchstäblichen Treue nur dort abwichen, wo dies die heutige Sprache gebot. Die Bewohner von Kiew wollen nicht ihre Hand gegen den Stamm Wolodimir Monomach's erheben. Es handelt sich hier durchaus nicht um Geschlechtsrechte. Monomach war die jüngste Linie; allein er war von dem Volte geliebt, und aus Achtung gegen ihn wollte man nicht gegen seinen Sohn kämpfen. Dem Monomach'schen Stamme gehörte auch Isja-flaw Mstislawitsch an: er war ein Enkel Monomach's.^) Es handelt sich hier durchaus nicht um fürstliche Rechte, denn die Bewohner von Kiew erkennen Isjaslaw als ihren Fürsten an und wolleu sich nur nicht schlagen, nicht die Hand gegen Iurjei erheben. Zum Beweise, daß hier auch nicht einmal ein Gedanke über den Altersrang Iurjei's vor Isjaflaw vorhanden war, führen wir an, daß, als Wjätschslaw, der ältere Bruder Iurjei's, welchem nach dem eigenen Zugeständnisse Iurjei's und Isjaslaw's der Altersvorraug gehörte, zu der nämlichcu Zeit in Kiew faß, als der frühere Herrscher desselben aus demselben fortzog. Die Einwohner von Kiew sprechen zu Isjaslaw: „Iurjei ist aus Kiew fortgezogen, während Wjätschslaw weilt; allein wir wollen ihn nicht."') Isjaslaw berief alsdann selbst den Wjätschslaw nach Kiew, 1) Vollst. Samml. d. russ. 6hron., I, 130—137. Ebend. II, 23—34. 2) Hier ist das Wort n<,t?,m, (Stamm) angewendet; offenbar sprachen hier die Bewohner von Kiew nicht blos von den Kindern und nicht blos von ber Familie Monomach's; sie gaben im Gegentheil dem Begriffe der Familie oder des Geschlechts eine weitere Ausdehnung u^ gebrauchen deshalb das Wort n/ei»». 3) Vollst. Samml. der rufs. Lhron., ll, 49. 155, nannte ihn seinen Vater nnd ehrte ihn sein ganzes ^eben hindurch als solchen. Factisch war Iöjaslaw Fürst von Kiew, aber gegen Wjätschslaw bewies er beständig eine kindliche Ehrfurcht. Die Bewohner von Kiew erfreuten sich an einem so einträchtigen und rührenden Verhältnisse. — Isjaslaw Mstislawitsch starb in Kiew im Jahre 1154. „Und nachdem die Bewohner von Kiew Rostislaw in Kiew eingesetzt hatten, sprachen sie zu ihm: Wie dein Brndcr Isjaslaw den Wjätschslaw geehrt, so ehre auch dn denselben; aber solange du lebst, ist Kiew dein!"i) Hier verfügt das Volk über das Fnrstenthnm Kiew. Rostislaw war der Bruder Isjaslaw'S und von demselben am meisten geliebt. (5r stand zu Wjätschslaw vollkommen in demselben Verhältniß wie sein Bruder Isjaslaw. Bald sollte Rostislaw gegen Iurjei zu Felde ziehen. Nnf der Heerfahrt wnrdc ihm die Nachricht gebracht, daß Wjätschslaw in Kiew gestorben sei. Rostislaw eilte nach Kiew, erwies Wjätschslaw die letzte Pflicht und kehrte zu seinem Heere zurück. Er hatte vor gcgen Tschernigow zu ziehen, allein seine Leute wider-riethen ihm dies, indem sie sprachen: „Gott hat deinen Onkel hinweggenommen, und du hast dich mit dem Volke in Kiew noch nicht vertragen; gehe lieber nach Kiew und vertrage dich mit dem Volke. Wenn, nachdem du dich mit dem Volke vertragen, dein Onkel Iurjci gegen dich heranzieht und es dir genehm ist, mit demselben Frieden zu schließen, so schließe Frieden — wenn nicht, so werden wir mit ihm den Kampf beginnen."2) Dieser Rath der Männer legt das .Verhältniß des Volks zu den Fürsten hinlänglich dar. Im Jahre 1158 (im Jahre 1157 lat. St.) beriethen sich die sämmtlichen Bewohner von Nostow, Susdal und Wolodimir, 1) Ebend., II, 75. 2) Ebeud., II, 75, 76. 156 umgürteten Andreas, den ältesten Sohn Iurjei's nnd setzten ihn auf den Thron in Nostow, Susdal und Wolodimir, weil er seiner vielen Tugenden wegen von allen ganz besonders geliebt wurdet) Im Jahre 1159 verjagten die Gewohner von RostM und Susdal den Bischof Leon, weil er die Kirchen vermehrte, und die Popen plünderte. ^) Im Jahre 1176 herrschten die Söhne Nostislaw's (Iaro-polk nnd Mstislaw) als Fürsten in dem Lande von Rostow und begannen das Volk dnrch Auflagen zu drücken, schenkten den Bojaren Gehör, und die Bojaren zeigten ihnen den Weg um große Guter zn sammeln. Die Fürsten beraubten sogar die Kirche der heiligen Mutter Gottes von Wladimir. Alsdann begannen die Bewohner von Wladimir und sprachen: „Wir haben die Fürsten ans freiem Willen genommen^), aber sie 1) Vollst. Samml. b. russ. Chron., ll, 80. 2) Cbend., I, 149; II, 89. 3) ,,>!« ee»u u«Aii«n ««»»» npinM «^ caöÄ" (Vollst. Samml. b. ruff. Chron., I, 159); in andern Abschriften heißt es: „inu eci»i>, ««Mo», «»»3» lipin^u «1. «nüÄ.^ Nach unserer Meinung wäre zu lesen: ,,»« t^»b>, «o.miu, «»»3« I^!!».IU «l, «uü'k." Die Bewohner von WladimN' nehmen sich ihre Fürsten selbst. Ihr Fürst war Michalko; allein daZ roftowsche Land zog gegen sie heran und hatte auch die Bewohner von Murom und Njäsan in seinem Gefolge. Die Bewohner von Rostow wollten die Söhne des Rostislaw. Da die Bewohner von Wladimir den Hunger nicht zu ertragen vermochten, entschlossen sie sich freiwillig, die Söhne Rostislaw's zu nehmen, weil, wie die Chronik hinzufügt, die Bewohner von Wladimir nicht gegen die Söhne Rostislaw's, sondern gegen die Bewohner von Nostow kämpften. Nachdem sie beschlossen, die Belagerung nicht länger auszuhalten, sprachen die Bewohner von Wladimir zu dem Fürsten Michalko: „Schließe Frieden, o Fürst, oder sorge für dich." Michalko erwiderte: „Ihr habet recht, warum solltet ihr meinethalben zu Ornnde gehen?" nnb er zog nach Süden. Dic Bewohner von Wladimir nahmen die Söhne Rostislaw s mit Freuden, allein dieselben begannen das Volt und die Kirchen zu berauben, und die Dinge änderten sich. (Vollst. Samml. d. russ. Chron., ?, 159, 159,) 15? berauben nicht nur das Land, sondern auch die Kirchen. Traget Sorge, o Genossen!" — Sie sendeten an die Bewohner von Rostow und Susdal, „indem sie ihnen ihren Schaden kund gaben"; diese aber wollten sie aus Feindschaft nicht unterstützen; alsdann riefen die Bewohner von Wladimir ihren frühern Fürsten Michalko wieder znrück und entschlossen sich von neuem zum Kampfe gegen die von Rostow uud Susdal. Michalko kam mit feinem Bruder Wßewolod und mit Wladimir Swjätoslawitsch. Die Söhne Rostislaw's wurden geschlagen uud floheu. Michalko wurde Fürst von Wladimir, zur großen Freude des Volks, und erstattete der Kirche der heiligen Mutter Gottes das Eigenthum zurück, welches er dem Iaropolk abgenommen. ^) In der ganzen von uns angeführten Erzählung stehen die Bewohner von Rostow, Susdal uud Wladimir mit ihren Perfügungen im Vordergründe. Einige Zeilen weiter unten enthält die Chronik die in hohem Grade bemerkenswerthen uud wichtigen Worte- „Die Bewohner von Nowgorod, die von Smolensk, von Kiew uud von Polozk und alle Gewalten (vwttoin, ^tm^l, — Gaue, Landbezirke; weiter oben ist das Wort »Men. in demselben Sinne angewendet) vereinigten sich anfänglich auf einer Volksversammlung, wie auf einem Rathe, wo die Aeltestcu zu Rathe sitzen, wobei auch die Beistädte (iMropuM) anwesend sind. Und hier", fahrt die Chronik fort, „wollteu die Städte Altrostow und Susdal und sämmtliche Bojareu ihr Necht geltend machen, sie wollten nicht das Recht Gottes walten lassen, sondern wie es uus gefällt, spracheu sie, wer-wir handeln; Wolodimir ist uusere Beistadt. Allein die Bewohner von Wolodimir vertheidigten standhaft ihr Recht und wurden durch Gott auf der gauzen Erde ihrer Gerechtigkeit wegen verherrlicht."^) Bei der voltsthümlicheu Organisation 1) Vollst. Samml. d. russ. Chron., I, 15'), 160. 2) Ebend., I, 160. 158 der ganzen Gaue oder Länder stimmten die neuen Dörfer und Städte, welche Beistädte (npiilop>, Vild aus t>e> Vegenwarl, Russische Fragmente. I. 11 (Nachstehender Aufsatz ist rin Auszug aus eiuem äußerst mnsassenden Werke des Herrn Iwan Atsalow, welches im Jahre 1854 im Auftrage der Kaiserlichen Geographischen Gesellschaft vollendet wurde.) Unter der allgemeinen Benennung der ukrainischen Messen versteht man die ganze Neihe der in der Ukraine für Engrosgeschäfte stattfindenden Messen, welche im Laufe des Jahres regelmäßig einander folgen, einem nnd demselben Systeme angehören und mit wenigen Ausnahmen von den nämlichen Kaufleuten besucht werden. Wir führen dieselben hier namentlich auf: die Dreikönigs-, Mariähimmelfahrts- und Mariähilfsmesse in Charkow; die Cliasmesse in Poltawa; die Bntterwochen-und Christihimmelfahrtsmesse in Romen im Gouvernement Poltawa, die korc'nische Messe auf der Korcnischen Heide im Gouvernement Kursk; die Krenzerhöhnngsmessc in Krolewez ^n Gouvernement Tschernigow; die Mariäovfermessc in ^umü, im Gouvernement Charkow; die Georgeumesfe in ^lisabethgrad im Gouvernement Cherson. Die Uebersicht des Handels uud Treibens auf diesen Messen bildet den Inhalt uuferer Arbeit, welche in zwei Theile zer- 11* 164 fällt, wovon der erste die Schilderung jeder einzelnen Messe, nebst Bemerkungen über den Ort, wo sie stattfindet, enthält, während der zweite specielle Andeutungen über den Handel mit jeder bedeutenden Waarengattnng, oder vielmehr eine Monographie der Waaren, ihrer Handelsbestimmung und ihres Herumwandcrns von einem Marktzollhanse zum andern bringt. Znm bessert: Verständniß des Ganzen werden wir unserer Schilderung des südrussischen Handelslebens einige orientirende Bemerknngcn über die Natur des Bodens vorausschicken, die Unterschiede hervorheben, welche zwischen Klein- und Großrußland bestehen, nnd an der Hand der Geschichte zeigen, wie diese Gegensätze cutstanden sind. In viele einzelne Theile zerstückelt, durch innere Unrnhen erschüttert, vom Süden her dnrch die Polowzcr bennruhigt, welche gegen Norden strebten und mächtiger in Wladimir als in Kiew waren, bewahrte Nußland nichtsdestoweniger bis znm 15j. Iahrhuudert seine Einheit, uud bewahrten die rus--fischen Fürsten die Baude der Tradition, des Glaubens nnd der Stammeseinheit. Der plötzliche Einfall der Tataren, welche sich wie ein Fenermeer über ganz Rußland ergossen, erschütterte jedoch alle Grundlagen des entstandeneu Gebäudes, zerklüftete das Reich, drängte das nördliche Rnßland noch weiter nordwärts, bedeckte das südliche mit Staub uud Asche und berief, nachdem er den Zusammenhang zwischen beiden für lange Zeit zerrissen, sie zu verschiedenen historischen Geschicken, den einst nngttheilteu Strom in zwei Arme theilend. Großrnßland befreite sick von dem Drucke der Tataren, überwand die Gewohnheit, in verschiedene Kleinstaaten getheilt zu sein, verarbeitete durch eigene Kraft und den Glauben an seinen Beruf alle zerstrcnten Elemente, schloß sich endlich zn einem gewaltigen Körper zusammen und be- 165 schaftigte sich unter der Herrschaft der moskauischen Zaren uüt feiner innern Organisation. Fremde, Kaufleute und zum Handel berechtigte Bürger sowie verschiedene Handelsgenossenschaften, nicht mehr durch die fnihern innern Streitigkeiten bemgt, erweiterten die Grenzen des innern Handels; das Handelswescn ward selbständig. Anders entwickelten sich die Znstände in Klcinrußland. Allerdings lebten die Anfänge des Bürgerthums, welche nnter den Trümmern der eingeäscherten Städte fortwnrzelten, mit der durch die Beihülfe des heidnischen Vitaucn bewirkten Befreiung von dem tatarischen Joche von neuem anf und übten sogar ihre Rückwirkung anf die innere politische Gestaltung des litauischen Fürstcnthums; allein es war dies keine freie, selbständige Thätigkeit des Volksgeistes, sondern vielmehr ein untergeordnetes Verhältniß, welches die Gewalt selbst durch die Dauerhaftigkeit seines Wesens überwältigt hatte. Während der tatarischen Verheerung mußte die südwestliche Bevölkerung Nußlands bei dem gäuzlichcu Mangel eines Zusammenhangs unt dem uördlichcu Nußland natürlich auf dcn Weg einer Stammcseinseitigkeit geratheu, es mußte in sich jene Stammes-Eigenthümlichkeit entwickeln, welche sich vor dem Einbrüche der Tataren wenig bemerkbar machte und sich dnrch die beständige Berührung mit den audern nördlichen slawischen Stämmen abschliff nnd fich vielleicht völlig ausgeglichen hätte, wenn 'lleinrnßlaud langer in dem gemeinsamen Bestände des ltaunnesverschiedcnen Rußlaud verblieben wäre. Wegen die-^Charakters näherte sich das südwestliche Nnßland während ^' Trennung von dem femersciis eigenthümlich cutwickelteu Nördlichen Nnßland mehr dem westlicheu als dem nordöstlichen ^lawcnthnm, uud war zugleich mit crstcrm dem Einflüsse icncr feinden Elemente unterworfen, welche damals das ^uizc westliche Slawcnthmn in sich aufnahm. Endlich zeigten 166 die stolzen Anmaßungen des katholischen Polen, welchem Litauen sich anschloß, dem orthodoxen südwestlichen Lande die Gefahr, welche seine moralische Selbständigkeit und deren einzige Schutzmauer, den Glauben, bedrohte. Von jetzt an erscheint Kleinrußland — wenn auch nicht zu einen: selbständigen politischen Leben, so doch zu einer selbständigen, momentanen historischen Thätigkeit bernfeu. Ans der einen Seite widerstand es dem Andränge der Nogaior nnd der Bewohner der Krim, welche beständig feine materiellen Eristenzmittel zn verschlingen drohten, auf der andern hielt es, wenn auch vorübergehend und mit Sträuben sich der historischen Zufälligkeit eines politischen Bündnisses mit dem feindlich gesinnten Katholicismus unterziehend, für seinen Glauben und feine Nationalität Wache und schützte sowol Glauben als Nationalität mit dem Schwerte. Fast zwei Jahrhunderte hindnrch sich bald gegen die Einfälle der Tataren, bald gegen die Uebergriffe der Polen vertheidigend, beständig im Kampfe nnd unvergleichliche Thaten des Heldenmuths und der Kühnheit verrichtend, fand dasselbe keine Zeit, sich mit seiner innern Organisation zu beschäftigen, nnd zerfiel in zwei Stände: in den der Krieger uud deu der Baueru, in das KosackeuthnM und in das Bau er nth um. Die Städtebevölkcrung war kraftlos, ja die Städte selbst wnrden nach nicht nationalen, fremden Principien eingerichtet; wir werden davon weiter nnteu ausführlicher reden. — Viele Drangfale nnd vieles Elend hatte Kleinrnßland zn erdulden — aber wie viel Leben, wie viel Glanz nnd Nnhm haftete auch an diesem historischen Bernfe! So viel Leben, fo viel Nnhm, daß das KosackeN-thum beinahe alle moralischen Kräfte, beinahe die ganze Thätigkeit des nationalen Geistes in sich absorbirte. Die Vergangenheit, welche Kleinrußland durchlebt hatte, war eine fo stürmisch bewegte, eine so von Heldenmuth strahlende Ver- 167 Mlgenheit, daß selbst jetzt, ungeachtet des innern nationalen Bewußtseins, daß der frühere Beruf zu Ende und die Vergangenheit auf immer vorüber sei, Kleinrußland gleichsam immer noch von den einst vollbrachten Großthaten ausruht, sich immer noch nicht all das neue Leben gewöhnen kann und von Zeit zu Zeit durch Phantasien des einstigen Kosackenruhms aufgerüttelt wird. Selbst jetzt noch wird der einfache Land-Maun in deu Liedern in dem poetischen und bei dem Volke beliebten Bilde des Kosacken besungen. — Als Chmelnizki den Zusammenhang mit Polen für immer zerriß und zur Organisation Kleinrußlands schritt, mußte er dentlich wahrnehmen, daß die hundertjährigen Kriege dem Lande durchaus keine Bürgschaft für eiuc weitere politische Entwickelung, für eine Politische Selbständigkeit errungen hatten. Die Gefahr war vorüber: mit ihr erlosch auch der Bernf zu einer selbständigen historischen Thätigkeit, und das ruhmvolle Kosackenthum verlor jode lebendige praktische Bedeutung, jedes gesetzliche Recht auf eiue historische Existeuz. Kleinrnßlaud war mit Großrnßland vereinigt; die getrennten Bäche flössen wieder in einen gc-Weinsamen Strom zusammen. Aber erfüllt vou den stolzen ^nimernngen an seine selbständige Thätigkeit, suchte es eifersüchtig und hartnäckig eine enge moralische und politische An-uähernng zu vermeiden; unter dem schützenden Obdach verschiedener „Conditions", welche jeder nationalen historischen Bedeutung entbehrten, welche anf das Trugbild einer politischen Organisation gegründet waren, die ihm vollkommen sremd und von der ihm widerstrebenden polnischen Administra-llon eingeführt worden, träumte es immer noch vou einer selbständigen politischen Entwickelung. So vcrlaugte es z. B. b"u Nußland die Beibehaltnng des Magdeburger Stadtrechts, Elches dnrch Privilegien der polnischen Könige den vcrschi> denen kleinrnssischen Städten verliehen worden war, eines 168 Rcchts, welches dem tleinrusfischen Wesen vollkommen fremd, kein dauerndes politisches Wesen begründet hatte und in das Volksleben nicht eingedrungen war. Wie es mit allen historischen Erscheinungen, wenn sich dieselben überlebt haben, zu geschehen pflegt, unterlag anch das Kosackenthum einer innern Zersetzung, gereichte dem Vaterlande znm Nachtheil, befleckte es mit Blut uud hielt dessen materielles Gedeihen zurück. Uebrigens wnrdeu seine stolzen Ansprüche auf cine länger fortdauernde Eristenz gleich im Anfange von dem Richterstuhle der Geschichte durch den Verlust aller Selbständigkeit auf dem rechten Ufer des Duicpr bestraft, welches nach dem Andrnssow'schcn Vertrage unter die Herrschaft Polens kam, sie wurden durch den Verfall Klein-rußlanbs, durch die Veruichtung seiner Integrität und Einheit bestraft. Polen vernichtete nicht nur den Begriff, sondern selbst den Namen des Kosackenthmns; es vertheilte die Oe-wohner Kleinrußlands und dessen Ländereien unter die polnischen Magnaten — und das rechte Ufer des Dniepr konnte nur noch mit Neid auf das linke hinüberblicken. Rnßland verfuhr anders; es dehute die kriegerische Orga-nisation des Kosackcnthums auf das ganze ihm uuterworfene Kleinrußland aus; es behielt (bis zum Jahre 1782) seine Emtheilung iu zehn Negimeutcr und die Eiutheiluug der Ne-gimenter in Sotnien bei und unterstellte es der kriegerischen Kosackcuorganisatiou. Alle bürgerlichen Augclegenhciten gehörten m das Bereich der Polkowuiks'), der Sotniks^) und der übrigen Kosackeuantoritaten, welche, nachdem sie ans diese Weise zu einem herrschenden Beamtenstande geworden, allmählich iu die Schljachta eiutrateu, zu Pauen und endlich zu russischen Beamten uub Adelicheu und später zu russische" 1) Polkownik — Ncgimentsoberst. 2) SoNnt — Führer von 100 Mann. 169 Gutsbesitzern wurden. Was jedoch die Städte betrifft, so bestand ihre eigenthümliche Organisation bis gegen das Ende des 18. Jahrhunderts in unveränderter Weise fort. Wir haben oben erwähnt, daß Kleinrußland in der Periode seiner kriegerischen Thätigkeit in zwei Stände zerfiel, in das Bauernthum nnd in das Kosackcnthnm. (5m kleinrussischer Nirgerstaud cxistirte beinahe gar nicht. Die polnischen Könige, welche sich der Organisation dieses Standes, welcher leicht durch materielle Interessen zu fesseln ist, und -der Organisation der Städte aus strategischen und administrativen Zwecken annahmen, bildeten in der That Städtegemeindcu, welche Privilegien nach dem magdcbnrger Stadtrcchte genossen, und welche aus verschiedenem zusammengelaufenem Volke bestanden. Allein alle diese Anstrengungen vermochten deuuoch keinen Bürgerstand im Volke zu schaffen; trotz der Privilegien drängte sich die Bedö'lkeruug uicht znr Stadt, soudcru W den Flecken, welche auch jetzt noch größtcnthcils bevölkerter und fast immer belebter als die Städte sind. Es hat jemand ganz richtig bemerkt, daß in Kleinrußland die Städte den Necken und Dörfern, die Flecken und Dörfer den Städten gleichen, beider waren die tleinrussischeu Schriftsteller zu Nihlngierig und wendeten dieser Seite des kleinrussischcu Lebens ;u wenig Anfmerksamkeit zu. Wir haben deshalb keine zuverlässigen Angaben für die Geschichte der Ttädtebevölkerung in Kleinrußland. Doch kann man gewiß mit Bestimmtheit behaupten, daß Städte sowie eine städtische selbständige Thätigkeit iu Kleinrußland nie vorhanden wareu uud selbst heute noch nicht vorhaudeu stub; daß die Städte in Kleinrußland sich erst jetzt bilden und entstehen, nachdem sie von großrussischen Kaufleuten bevölkert worden sind; daß das hochtrabende Wagdeburgcr Recht gar keine Wnrzcl iu dem Volksleben geschlagen hatte, daß diese fremde Pflanze dnrch sich selbst verirrte und verwelkte, und zwar noch vor dem Manifest vom 170 Jahre 1785, welches über Kleinrnßland die allgemeine Städte' ordmntg verbreitete, welche von Katharina II. in Rußland eingeführt worden war. ^) Es erlosch ohne den geringsten Kampf, ohnc anch uur eine Erinnerung an sich zu hinterlassen. Die Spnren der frühern Organisation haben sich nnr noch dari'ü erhalten, daß mali bei allen feierlichen Professionell nnd Leichenbegängnissen der Handwerter noch die alten Zunftfahnen herumträgt, welche letztern von den Königen verliehen wnrdcn; ferner darin, daß die Benennung Mjäschtschanin, trotz dem Sinne, welcher diesem Werke dnrch die russischen Gesctzc beigelegt ist, im Voltsgebranche in Kleinrußland einen Stadtbewohner im allgemeinen, einen Bürger bedeutet und mit größerer Vorliebe angewendet wird als in Großrußland, so-daß nicht selten ein Mjäschtschanin in den städtischen Rath gewählt wird, obgleich sich in der Stadt zu gleicher Zeit auch Kanflcnte befinden) anch kann man ans Grabsteinen und Denkuiäleru manchmal die Aufschrift lesen: „Der ehrenwerthc Mjäschtschanin N. N." Warum aber erheben sich uach Beendigung der innern Streitigkeiten, nach dem Abschlüsse des Andrussow'schen Vertrags die Industrie nnd der Handel in Kleinrußland nicht mit nener straft auf neuen, echt nationalen Grundlagen? Viele erklären diese Lebensunfähigkeit der Städte, diesen Mangel an einem thätigen, die Vermittclnng zwischen dem Producenten und Consumentcn herbeiführenden, Stande dnrch die klein-russische Trägheit, welche von lokalen und klimatischen Verhältnissen herrühre. Allerdings befriedigt der frnchtbare Boden und die üppige Natur leicht die mäßigen Bedürfnisse der ländlichen Bevölkerung; der Boden nnd die Natnr fordcr» nicht znm Kampfe nnd zur Thätigkeit ans lind erzeugen an 1) Jedoch mit Ausnahme von Kiew, in welchem dn> allgemeine 35"'" ordnung erst im Jahre 1635 endgültig eingeführt ward. 171 und für sich keinen industriellen und Handelsgeist. Kein Zweifel, das; alle diese lokalen Bedingungen sich auch in dem Charakter des Volks, besonders iu der warmen und poetischen Seite seines Geistes, in dem feinen Gefühle fnr Schönheit, in dem weichen Charakter seiner Gesänge und Melodien wiederspiegeln. Allein der Boden in den Gouvernements Tain-bow und Saratow ist ebenso fruchtbar; das Klima sowie die Natnr ist in Griechenland und Südsrankreich noch viel wei« cher und üppiger, und dennoch kann man weder den Griechen noch den Bewohnern der Provence den Borwnrf der Trägheit machen. Ob der Kleinrnssc von Natnr ans träge sei oder nicht, ist schwer zu bcnrtheilcn; allein es ist kein Zweifel, daß er jetzt träge ist, daß er, gleichsam ansrnhend von seiner angestrengten historischen Thätigkeit, alle seine innern Kräfte noch nicht in Fluß kommen läßt. Hartnäckig an seinem Wesen festhaltend, welches sich unter Einwirkung ezclusiver historischer Umstände herangebildet, betrachtet er alles, was mit ihm vorgegangen, mit Verwunderung und einem gewissen Zweifel, ohne selbst im Stande zu feiu, sich die Frage über seineu eigenen politischen Berns zn lösen. Hätte Großrnßland selbst nach Pcter dem Großen den Weg selbständiger Entwickelung eingeschlagen, so hätte sich Kleinrußland leicht der allgemein russischen Sache angeschlossen; es fiel ihm jedoch schwer, an der falschen Richtung aufrichtigen Antheil zu nehmen. Während das Uebel, an welchem Großrußland litt, sick wenigstens als ein selbstverschuldetes, folgerichtiges, als ein dem nationalen historischen Begriffe verständliches Uebel darstellte, mußte Kleinrußland gewissermaßen fnr fremde Fehler büßen. Das Eindringen des russisch-deutschen Rcgierungs-elements in den großrnssischen nationalen Boden, die Einführung der Leibeigenschaft der Bauern, die Einführnng des Adels im Sinne der Urkunde Katharina's; alle diese Erscheinungen erklären uns das Schwanken des Kleinrussen, das 172 unwillkürliche Aufrütteln feiner Erinnerungen nnd die damalige, jetzt bereits nicht mehr vorhandene Abneigung gegen den Moskal.') Uebrigens vermochten alle Anstrengnngcn Ma> zeppa's nnd anderer gleichgefinntcr Schwärmer, wie fich dies in der That anch gezeigt, nicht über den gesunden Sinn des Volks zu trinmphireu, welcher, nachdem er einmal die Nothwendigkeit einer Wiedervereinigung des ganzen rechtgläubigen Rußland erkannt, den Entschlnsi faßte, zn dnldcn nnd auszuharren, bis das Ungemach vorüber sei. Nachdem Klcinrußland auf diese Weife einerseits die erworbenen Anrechte an ein bürgerliches Leben mangelten, andererseits für dafselbe aber die Nothwendigkeit vorhanden war, sich nach den kriegerischen Stürmen von neuem ;n or-ganisiren, nachdem es einerseits in feinen höchsten Repräsentanten durch die ruhmvollen historischen Erinnerungen aufgerüttelt, andererseits einem bereits fertigen, aber ihm fremdartigen Regicrnngsorganismus unterworfen wurde, verblieb dasselbe in seiner Entwickclnng beinahe auf der nämlichen Stnfe, auf welcher es sich in der Mitte des 17. Jahrhunderts befand. Nach dem Andrnssow'schen Vertrage wnrde die Bevölkerung Kleinrnßlands durch den häufigen Znflnß von Auswanderern, der von dem rechten Ufer des Dniepr stattfand, noch dichter. Das Kosackcnthmn siedelte sich anf einzelnen Höfen, in Dörfern, Flecken nnd in den Vorstädten größerer Städte an nnd gab sich friedlichen, ländlichen Hcschäftignngen hin. Allein die Bedcntung der Städte ward dadurch nicht erhöht, der Kosack wurde nicht Kanfmann und sein Handel beschränkte sich bloS anf den Verkanf von ^andesvroducteu, auf den Verkauf von Erträgnissen seiner eigenen Arbeit, feiner eigenen Ernte nnd seiner hänslichen Gcwerbsthätigkeit. Es ist begreiflich, daß 1) d. h. Moskowitcr. 173 bei einer solchen Lage der Dinge, bei einer solch geringen Bedeutung der städtischen Mittelpunkte und der kaufmännischen Betriebsamkeit die ländlichen Märkte für die Bevölkerung eine besondere Wichtigkeit erhalten mußten. In der That finden sich dieselben auch nirgends in einer solchen Anzahl vor als in Kleinrußland. Nach officiellen Angaben ^) nehmen in Äe< zug ans die Zahl der Märkte in ganz Rußland die Gouvernements Charkow uud Poltawa den ersten Nang ein; in dem einen finden 425, in dem andern 37^ städtische und ländliche Märkte statt, während sich ill dem Gouvernement Wladimir die Zahl derselben nnr auf zehn bclänft. Allein nicht nur rücksichtlich der Zahl uuterscheidet sich Kleinrußland von Groß-rnßland. Der Charakter der Märkte selbst ist ein ganz verschiedener. Der kleun'nssische Markt dauert eine od^er zwei volle Wochen nnd manchmal noch länger und wiederholt sich an einem und demselben Platze gegen sechsmal des Jahres, indem er während der Zwischenzeit anf andere Orte übergeht, fodaß die Märkte taufende von kleinen Marktbezirken bilden. Derselbe Charakter ist auch auf die Messen für Engrosgeschäfte übergegangen. So finden z. B. in Charkow vier Messen statt, von denen eine jede ungefähr einen Monat dauert; in Nomen gab es deren drei u. s. w. Cm Markt, welcher drei eder vier Monate im Jahre in Anspruch nimmt, der ganz ^ou denselben Kaufleuten und Waaren besucht wird, der an einem nnd demselben Punkte stattfindet, kann nicht als ein Nartt in dem allgemein genommenen Sinne betrachtet wer-bcn: die ländlichen und städtischen Märkte in der Ukraine kragen den Charakter eines mobilen, in beständiger Bewegung slch befindlichen Markts, der sich das ganze Jahr in seinem ^'ch'e herumdreht. Cs ist begreiflich, daß eine ähnliche Er« scheinung, welche die großrnfsifchen Kaufleute sowic die Juden "—^^ 1) Poltawaev Gouvernements-Zeitung, 185)4, Nr. 6. 174 zu benutzen trachteten, zur Entwickelung der den Kleinrussen eigenen Gewohnheiten der Trägheit und Langsamkeit in hohem Grade beitrug, während diese Gewohnheiten wiederum ihrerseits diese Erscheinung selbst bis heute noch unterstützen. Was kann auch in der That bequemer sein als die Einrichtung: zu Hause sitzen zu bleiben, weil man weiß, daß bald wieder die Messe und mit ihr Kaufleute herbeikommen, welche Waaren bringen und wieder audcre Waaren dafür einkaufen? Hier dürfte es am Platze sein, die Worte des Verfassers der im Jahre 1789 herausgegebenen „Topographischen Beschreibung der charkowschen Statthalterschaft" anzuführen. Wir geben zuerst einige interessante Zeilen über den lleinrussischen Charakter wieder, welche übrigens in dem Autor — der, wie aus dem Buche hervorgeht, ein Großrusse ist — einige Parteilichkeit zu Gunsten der Ukraine erblicken lassen: „Die weißen, reinlichen und hellen Bauerhä'nser, die gutbearbeiteten Gärten, die angelegten Obstgärten zeugen von einer Lebensweise, die sich sehr von der Lebensweise anderer unterscheidet. Dies ist der Grund jener Sympathie nnd jener aufrichtigen Zu-neignng, welche mit Wohlgefallen von allen Fremden empfunden wird, welche in ihre Dörfer kommen uud dort Quartier nehmen. Der Geist europäifcher Gesittung, fern voll aller asiatischen Wildheit, erfüllt die innern Gefühle mit einem gewissen Wohlbehagen; der Geist der Ehrliebe, welcher zu einer Erbtugend der Bewohner geworden ist, verhindert jede sklavische Unterwürfigkeit und Kriecherei, — er ist der Stimme der Obrigkeit gern gehorsam, aber ohne knechtische Furcht-Der Geist allgemeiucn Wetteifers hält den Despotismus nnd Monopolismus in gehörigen Schranken." Ueber den Handel drückt sich derselbe Autor wie folgt aus: „ Der Handelsbetrieb ist in der ganzen Ukraine sehr bedeutend, allein ihr Handel, wenngleich von zweiter Hand, beschränkt sich nnr auf dic Bedürfnisse des Hanfes, derselbe dient mehr zur Führuug eines 175 anständigen Lebens als zur Erwerbung von Reichthümern. Ferner: „Den Handel der an der Heerstraße gelegenen Dörfer kann man in Beziehnng auf die ganze Statthalterschaft als ausgebreitet betrachten, allein der zu einer und derselben Zeit stattfindende Eintauf und Verkauf', der an bestimmten Tagen des wahres festgesetzt ist, verhindert den Zusammenfluß des Ge-sammthandels in den Städten. In früherer Zeit suchten sich die Städte, Flecken und Dörfer zu bestimmten Zeiten festgesetzte Nlärkte zu verschaffen, was die Gründung häufiger Messen 5Ur Folge hatte, deren oft sechs und noch mehrere an einem und demselben Punkte stattfinden, zum Nachtheil des gesetzlich klaubten Handels der Städtebewohner." Unterdessen hatten die Kleinrussen Mangel an Holz, an Glas, an eisernen Geräthschaften und andern Gegenständen, Welche Kleinrußland nicht erzeugte nnd welche es bei dem Mangel an Fabriken nur aus Oroßrußland oder aus Polen beziehen konnte. Auf der andern Seite war es felbst reich an rohen Prodncten, deren feinc Nachbarn bedurften. Allein nicht für eine gefchäftige Handelsthätigkeit geschaffen und mit der bürgerlichen Organisation des Nordens unbekannt, ging ber Klcinrnssc nicht nur früher, sondern geht anch jetzt noch selten zum Verkaufe nnd Eintauf von Waaren nach Groß-ll>ßland, er sncht die Quellen seines Unterhalts fast nie in ^n nördlichen Gouvernements, nnd wenn ihn die Nothwendigst je zwingt, die heimische Scholle zn verlassen, so zieht er ^ vor, nach dem Süden zu gehen, an dcn Don, nach Bess-^abien. Es brauchten deshalb dio großrussischen Gcschäftö-^Me nicht erst anf eine Aufforderung von feiten des Kleinbussen zu warten, sondern sie kamen ihm sozusagen in das '^"us, indem sie ihn durch ihre Waare verlockten, ihn der ^uannchmlichkeit des Transports enthoben und ihm ihre Waa-^n auf terminloscn Credit aufbanden. Im Anfange hemm-^" "och die damaligen Zollfchranken, welche Großrußland von 176 Kleinrußland trennten, diese Beweguug; allein mit der Auf-hebnng der Zollschranken und mit dem Aufhören der Zollgebühren strömten Tausende von Kaufleuten aus den Gouvernements Orlow und Wladimir sowie aus den großrussischen altgläubigen Dörfern des Gonveruements Tschernigow scharenweise nach der Ukraine und belebten deren ländliche Messen. Dieser friedliche, industrielle Angriff, dieses beständige Eindringen des thätigen, lebendigen großrussischen Elements findet nicht nnr bis zum heutigen Tage noch statt, sondern ist sogar stets im Zunehmen begriffen, mit dem einzigen Unterschied, daß das nomadisircnde großrnssischc Handelsvolk dort allmäb-lich seinen bleibenden Wohnsitz aufschlägt. Nach dem Zeugnisse von Kaufleuten begann die Znuahmc dieser städtischen Mittelpunkte sowie die Vermehrung der Kapitalien schon vor vierzig Jahren. Wer aber vergrößert diese städtischeu Central-pnnkte in Kleinrußland? Die großrussischen Kaufleute. Wenn man der Herkunft aller nnr etwas bedeutender Kaufleute der ukrainischen Städte nachforscht, so zeigt es sich, daß sie fast alle aus Kaluga, Ielez, Tula und aus andern rein großrussi-schen Orteu herstammen. Die Handelsleute aus den Kreisen Kowrow nnd Wjasnikow des Gouvernements Wladimir, welche unter dem Namen Opheni bekannt sind, licßcu sich, nachdem sie das Land kreuz und quer durchzogen und sich mit demselben hinlänglich bekannt gemacht hatten, den Städten Neuruß' lands zuschreibe,! — der größte Theil des neurussischen Kaufmannsstandes ist aus ihnen zusammengesetzt. Ganz abgesehen von Sumii uud Charkow, zwei Städten, welche von russischen Kanflenten erbaut wurden, wird auch in Poltawa, Loäiwitza uud Lubuü der Haupthaudcl von Großrnsseu, der Klein- uud Detailhandel von Juden betrieben. Wir bestätigen dies dadurch, daß wir uns auf die von uns durchgesehenen Namensverzeichnisse der Kaufmannschaft in vielen Städten Kleinrußlands uud auf die von uns person' 177 lieh eingezogenen Erkuudigungen berufen; allem wir haben zu Gunsten unserer Ansicht auch ein Zeugniß aus früherer Zeit. Schafonsky, der bekannte Verfasser der „ Topographischen Beschreibung der tschernigowschen Statthalterschaft", welche in den Jahren 1785 und 1780 verfaßt und im Jahre 185>l in Kiew herausgegeben wurde, bemerkt auf Seite 21: „Es gibt in Kleinrußland mit Ausnahme der njäschinscheu Griechen fast gar keine wirklichen großhandeltreibenden Kaufleute, ja selbst nicht einmal ordeutliche Kleinkrämer sind vorhanden. Der Handel befindet sich fast ausschließlich in den Händen großrussischer Kaufleute, welche nut denselben auf den häufigcu Messen umherziehen. „Wenn auch in deu Städten", fährt Sckafonsky fort, „besonders in Kiew, eingeborene Kaufleute vorhanden sind, welche mit verschiedenen Kleinwaareu hau> deln, so bilden sie im Vergleich mit den großrussischen Kaufleuten eine sehr kleine und ungenügende Zahl." Ferner auf Seite 22: „In ganz Klcinrußlaud gibt es unter den eingeborenen kleiurussischeu Kaufleuten auch nicht einen einzigen, welcher 30000 Rubel Kapital besitzt," Auf diese Weife rührt sich der Kleinrusse fast uic von der Stelle, nachdem die Juden nnd Großrnssen sich der Befriedigung feiner Bedürfnisse angenommen und sich allen mit dem . Handel verbundenen Unannehmlichkeiten unterzogen haben. So-wol Jude als Moskal zerren beständig an ihn:, aber nur mit Widerstreben unterwirft sich das hartnäckige Wefen des Kleinbussen dem Einflüsse der lchteru. Womit dieser innere Kampf enden wird, ob der Volksgcist wieder erwachen, ob derselbe in der Industrie oder auf einem andern Felde der Thätigkeit zum Vorschein kommen wird, nachdem er das Terrain des Handels cinem dazn geeiguctern Stamme überlassen, diese Irage wagen wir nicht zu entscheiden; wir weifen nur auf die Thatsache hin uud stellen es den gebildeten Klemrusseu au-heim, unsere Angaben durch statistische Nachforschungen zu 178 prüfen. Wir sind der Ansicht, daß diese Forschungen sie nn-ter anderm zu dem Resultate führen werden, daß die Klein-rusfen aus den freien Ständen sowol auf dem ^ande als in den Städten in großer Zahl in den Beamtenstand übertreten, daß nur ein sehr kleiner Theil in den Gilden eingeschrieben ist und daß sehr viele der in den Gilden Eingetragenen gar feinen Handel treiben. Uebrigens sind auch einheimische Kaufleute in ziemlicher Anzahl vorhanden, weshalb wir es nicht für überflüssig halten, die charakteristischen Hauptmerkmale, welche den kleinrussischen Kaufmannsstand von dem großrussischen unterscheiden, etwas näher zu betrachten. 1) In Kleinrußlaud gibt es keine so scharf hervortretende Trennung der Stände je nach der Art ihrer Beschäftigung wie in Großrußland, es gibt dort keine solche Absonderung der gebildeten Stände von dem gemeinen Volke, wie sie in letzterm e^istirt. Bei uns (in Rußland) nahm das kaufmännische Wesen, welches mit den höchsten Klassen der Gesellschaft in Berührung kommt, zugleich aber auch dem Volke wieder nahe steht, jene eigenthümliche, sonderbare Gestalt an, welche die Typen zu der Komödie Ostrowsky's lieferteu. Diese Thpen sind in Kleinrußland vollkommen unbekannt; in dem tleinrnssischen Kaufmannsstande ist nichts dergleichen wahrzunehmen. Der unbemittelte Pan, der auf seinem Einzclhofe wohnende Kosack, der zu einer Gilde gehörende Kaufmann, der Bürger — diese alle leben auf einem und demselben Fuße, alle führen eine und dieselbe Lebensweise, sprechen dieselbe Sprache und stehen auf einer und derselben Bildungsstufe; man vermag dieselben nicht voneinander zn unterscheiden. Die Weiber tragen noch viel weniger ein Merkmal ihres Standes an sich; die angeborene Grazie, der Geschmack am Schönen, die künstlerische Harmonie der Ideen, die aufs höchste gesteigerte Verfeinerung im Gebiete des Gefühls (aM besten beweisen dies ihre Volkslieder), dies ist allen Klein- 179 russinnen auf gleiche Weise eigen und verdeckt den Mangel an Bildung; in Rußland dagegen ist die Kaufmannsfrau eine typische Erscheinung und unterscheidet sich sehr scharf uon den Frauen der übrigen Stände. Iu Rußland besteht das eigentliche Kennzeichen des Kaufmauusstandes schon im Barte; in Kleinrußland rasiren sich alle Stande. — In Rußland er-inuert die adeliche Abstammung an jene scharfe Abgrenzung, welche in der Zeit vor Peter in Rußlaud zwischen dem Soldaten — und den: Bauernstande (wir verstehen unter letztcrm auch dcn Kaufmannsstand) existirte; in Kleinrußland zerfiel der Soldatcnstand selbst wieder in einen Adels- und Beamtenstand und iu einen Bauern- (Kosackeu-) uud theilweise Kaufmannsstand. 2) Der großrussische Kaufmann vereinigt in sich auf eine sonderbare Weife den Hang zur Beweglichkeit mit der ^iebe zu einem festen Wohnsitze, die Gier nach Geld mit dem Hange zur Verschwendung. Er verschließt seine Einnahme nicht in einer altmodischen Truhe, fondern er bringt dieselbe entweder in Umlauf zur Vergrößerung seines Kapitals oder zur Hebung des Handels, oder er verwendet sie dazu, sich verschiedene Bequemlichkeiten und ein angenehmes Leben zu verschaffen, natürlich nur vom kaufmännische!: Standpunkte aus betrachtet; so liebt er zum Beispiel mit Pferden, mit Geschirren und Equipagen zu Paradiren, er ist cm großer -Bauliebhaber, er baut insbesondere gern steinerne, dauerhafte Häufer, welche zwar nicht von gefälliger Bauart sind, aber der Stadt doch immer ^einige Schöuheit verleihen, womit dcr Kaufmann gern großthut. Auf allcn Straßen, welche dic ukrainischen Marktplätze unter sich verbinden, sehen die Post-Halter und Postknechte immcr mit Ungeduld der lustigen Zcit entgegen, wo die „moskauer Kaufleute" kommen, und lange nachher erzählt man sich noch von dcr Durchreise dieser kauf-Männischeu Gäste, von ihren Fahrtcn lind ihren freigebig ge- 13" 180 spendeten Trinkgeldern. Diese Züge findet man bei dem klein-russischen Kaufmann nicht. Seine Sparsamkeit artet fast in Geiz aus; der Reicbe stellt nicht nur seineu Reichthum nicht zur Schau aus, sondern er stellt sich sogar arm und ist im allgemeinen nicht zur Wohlthätigkeit geneigt. Die großrussischen Kaufleute, welche das ganze Jahr hindurch in der Ukraine von einer Messe zur andern ziehen, kaufen sich uicht felten Häuser an den verschiedenen Marktplätzen, banen dieselben um und richten sie ein, während die kleinen russischen Kaufleute, selbst wenn fie reich sind, sich mit kleinen ans Holz gebauten oder mit Lehn: und Reishol; zusammengeklebten Häuschen begnügen. Die großrussischen Kanflente suchen, wenu es nur irgend ihre Mittel erlauben, sich au ihren Handelsplätzen mit danerhaften steinernen Magazinen zu versehen, oder die hölzernen mit Eisen zu decken. — Man findet steinerne Kanfhöfe sowol in Charkow als in Sumü und auf der Korcnischcn Heide, kurz überall, wo das großrussische Handcöelcment stark vertreten ist. Dagegen gibt es in Kro-lcwe; weder hölzerne noch steinerne Buden; in Romen nur alte verfaulte hölzerne Budenreihen. In Lochwiza (im Gouvernement Poltawa) befindet sich ein kleiner hölzerner Kanfhof, welcher jedem durch fciu buntes Dach auffällt: einige Buden sind mit Eisen gedeckt, andere hart an dieselben anstoßende mit Holz. Man kann ohne weiteres annehmen, daß die er-stern großrussischen, die kleinern — kleinrussischen Kaufleuten gehören, und man wird sich nicht irren; es ist in der That so der Fall. Es gibt nichts Traurigeres, als der Anblick der gegenwärtigen kleinrussischen Städte. Krolcwez, in welchem feit zweihundert Jahren alljährlich eine reiche Messe abgehalten wird, welche den Einwohnern durch das Vermicthcü von Wohnungen und Standplätzen bedeutende Vortheile einbringt — Krolewez ist ein erbärmliches Dorf im Vergleiche zu Njäschin oder Putiwl, welche Städte kaum zwanzig Werst 181 von Krolewez entfernt sind: allein Putiwl ist eine großrussische Stadt und Njäschin ist von Griechen erbaut. Man kann vielleicht in Uebereinstimmung mit den: Verfasser der Beschreibung der charkowschcn Stadthalterschaft einwenden, daß „die Messen den Städten ihr eigentliches Mart" auspressen; allein wir weisen auf die Stadt Sumü (im Gouvernement Charkow) hin, welche ihre Bedeutung einzig nur ihren Mi Messeu verdankte und sich in weniger günstigen Verhältnissen befand als Romen und Krolewez. Während in Sumü außer den Kaufläden 97 steinerne Häuser und 69 kaufmännische Kapitalien vorhanden sind, befindet sich in Krolewez, dessen Messe die beiden Messen von Sumü an Verkehr übertraf, nicht ein einziges steinernes Haus und belauft sich die Zahl der Kapitalien nur auf 12; in Romen, dem berühmten Marktpnnkte, dessen drei Messen funfzehnmal stärker sind als die von Sumü, sind im ganzen nur U> steinerne Häuser uud 76 Kapitalien mit Einschluß der jüdifchen vorhanden. Unter der Zahl der einheimischen Kaufleute ist es wiederum der großrussische Kaufmann aus Sumü, der die Oberhand hat uud iu Romen einen beständigen Kaufladen besitzt. Dies alles läßt sich nur dadurch erklären, daß Krolewez und Romeu kleinrussische Städte sind, wo der großrussi-sche Geist vorherrscht, während die Stadt Sumü uutcr der Mitwirkung des großrussischen Handelselemcnts auf nicht kleinrussischem Boden erbaut wurde, denn das Gouvcrnemeut Charkow oder die slobodifche Ukraine ist durchaus nicht Klein-rußland . . . hierüber werden wir uno jedoch in dem Absätze über Charkow genauer aussprcchen. Z) Ein weiterer Unterschied zwischen den großrussischen und kleinrussischen Kaufleuten besteht in der Art und Weise des Handels selbst. Erstens feilscht der Kleinrusse fast nie, sondern hält sich beim Verkaufe an einen und denselben festgesetzten Preis, welcher selbstverständlich durch die Handels- 182 Verhältnisse bedingt wird und wobei der Kleinrusse größten-theils ehrlich verfährt und uicht überbietet. Wir haben die gewöhnlichen kleinrussischen sowie die großrnssiscben Kaufleute aus Wladimir und Iaroslaw auf den Märkten absichtlich beobachtet. Was kostet das Ding, z. Ä. die Gans? — lautet die Frage des Käufers. „Dreißig Schag"'), erwidert sitzen bleibend der Kleinrusse. Man bietet ihm nach der russischen Gewohnheit zu haudelu einen Griwcnik . . . „Und zwei Groschen" (d. h. Dengas), entgegnet phlegmatisch der Klcinrussc und wendet sich auf die Seite. Der Großrusse dagegen erkennt seinen Käufer sogleich an der Kleidung, an der Sprache, am Benehmen, und ist gleich mit sich im Reinen, ob er von ihm das Doppelte des wirklichen Preises begehren soll oder nicht. Er verkauft manchmal so billig, daß der Kleinrusse, mit welchem er ganz dieselben Waaren verkauft und dem er die Käufer abjagt, dies gar uicht zu verstehen vermag und unwillig über ihn wird. Der Kleinrusfe begreift nicht, was für ein Vortheil bei einem solchen Handel herauskommen soll, und lächelt oft schelmisch, iudem er sich vorstellt, daß der Moskal dabei verlieren müsse! Aber auch der Moskal lächelt, wartet aber nur auf „die Gelegenheit", und entschädigt sich dann bei dieser Gelegenheit reichlich fnr allen Verlust. Wir wollen diese Art und Weise durchaus nicht vertheidigen, allein man mnß zugeben, daß er Käufer damit herbeizieht. — Der kleinrnssische Kaufmann begreift durchaus uicht, warum mau für den Armen die Preise ermäßigen, den Reichen aber theuerer bezahlen lassen soll. — Zweitens verkauft der kleinrussische Kaufmann mit wenigen Ausnahmen nie auf Credit, während der ganze russische Handel auf einen sehr gewagten, wahnsinnigen Credit, auf das verzweifeltste Risico 1) Schag — bedeutet zwei Kupferkopeken Assignation, nach der alten Groschenrechmmg. - 183 gegründet ist. Wir werden an seinem Orte noch über den Credit im russischen Handel sprechen, einen Credit, welcher durch keine Bankrotte zu erschüttern ist; allein es ist sehr begreiflich, daß der nicht creditirende Kaufmann sich mit einem sehr mäßigen, wenngleich sichern Gewinn begnügen mnß, und daß man ohne Unternehmungsgeist, ohne kühnes Wagen, keinen größern Erfolg im Handel erwarten darf. Werfm wir jetzt einen historischen Ueberblick auf das frühere Marktsystem und betrachten wir auf welche Weise dasselbe in das gegenwärtige System überging. Zur Zeit, als Kleinrußland eine wirkliche Ukraine, d. h. ein Grenzlaud war, als Rußland weder im Galtischen, noch im Schwarzen, noch im Asowschcn Meere Hafen besaß, wurde der ganze Handel Rußlands mit fremden Ländern, mit Ausnahme von Archangel, durch die Ukraine und durch Polen vermittelt, welch letzteres selbst für Rußland ein fremdes Reich war. Es ist begreiflich, daß sich die ganze Handelsthätigkeit an die Grenzen zog, und daß die Grenzmesscn damals eine besonders wichtige Bedeutung hatten. Krolewez, Romen und Njäschiu erfreuten sich damals solcher Messen. Jan Kasimir, König von Polen, ließ im Jahre 1664 in dem schon damals eMirendcu Flecken Krolewez, dem Sitze eines Sotnik, eine Festnng erbanen, um — bemerkt eine im Manuscript vorhandene Beschreibung der norduowgorodschen Statthalterschaft') — „die kleinrussische Kaufmannschaft mit Schlesien in Ver-bindnng zu bringen und dadurch den Handel zu fördern". 1) Die Handschrift befindet sich in Tschernigow. Ihr Autor ist der-, selbe Schafonsku, welcher auch die „Beschreibung der tschernigowschen Statthalterschaft" verfaßte. 184 Dieses gab Veranlassung zur Gründung der Kreuzerhöhungsmesse, welche jetzt noch existirt. Bogdan Chmelnizki — sagt die obengenannte Handschrift — welcher Kleinrußland zum Handel ermuntern wollte, berief die Griechen und befreite dieselben durch ein unterm ^. Mai 1l^57 in Tschigirin gegebenes Universal von allen Leistungen nnd Abgaben. In Njäschin wurden große Messen gehalten, worunter insbesondere die sogenannte Wßejädnimcsse, welche erst im Jahre 1^47 abgeschafft wurde. — Nomen war von alters her durch seine beiden Messen, durch die Christihimmelfahrts- und die Elias-messe berühmt. Hier kommen großrussische, polnische und kleinrussische Kaufleute, Griechen aus Njäfchin, Walachei: nnd Deutsche aus Danzig und Lübeck zusammen. Nach der Vereinigung des linken Dnieftrufcrs mit Rußland behielt Klein-rnßland sein besonderes Zollsystem (Induct und Evection) bei und blieb von Rnßland durch die dortigen Zollschranken, welche sich in Brianst und Siäwök befanden, getrennt. Ana-iog mit den kleinrussischen Grenzmessen — waren die Messen n Großrußland: die swinskische, in der Nahe des swinski-schen oder wie es jetzt heißt, des swcnskischcn Klosters, zwei Werst von Grianst, und die kore'nische, ^? Merst von Kursk. Die letztere hatte übrigens, wie es scheint, bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ihre Bedeutung vorzugsweise für die russische Ukraine.^) In einem Ukas vom Jahre 108Z") durch welchen die Gewichtszölle auf der swinstischen Messe dem kiewopctscherskischen Kloster bewilligt werden, ist erwähnt, 1) Bekanntlich wurde die Benennung Ukraine aUen Grcnzplätzcn Nußlands, darunter auch den jetzigen Gouvernements Kürst uud Tam-bow beigelegt; später wurde diese officielle Benennung nur noch auf Kleinrußland und das Gouvernement Charkow angewendet, welches, zum Unterschiede von der lleinrussischen Ukraine, die slrbodische genannt wurde. 2) Vollst. Ges. Samml., Bd. 2, Är. !i93. 185 daß die Erhebung deS Wagezolls von dem brianskischen Zoll-inspector und den Geschworenen vorgcuonnnen werden soll, während es in einem Ukas aus dem Jahre N00 heißt, daß zum Erheben der Wagczölle von den makarjewschcn und swiustischen Messen eigene Bürgermeister aus dem mostaui-schen Rathhause abgeschickt werden sollten. Als Peter I. Asow erwarb, befahl er durch einen Utas vom 14. März 1701: daß die swinslische Messe im Zähre 1701 noch wie ehedem, in Zukunft aber nicht mehr abgehalten werden soll. Den Griechen wurde als Handelsplatz Asow, den Polen Smolensk angewiesen, während die Nnsscn mit denselben an beiden Plätzen concurriren durften; in Asow wurde die Messe ans den 20. August festgesetzt. Diese Verordnung wurde im Jahre 1711") aufgehoben und verordnet: daß die fwinskische Messe wieder wie ehedem stattfinden soll. Man sieht, daß die makarjewsche (jetzt uischegorodsche) die trolcwezische uud swiuskische Messe in gegenseitigen Handelsbeziehungen zueinander standen; denn vom Jahre 1728 bis zum Jahre 1757 inclusive finden wir eine ganze Reihe von Ntascn, welche die Termine dieser drei Messen hin und wieder veränderten. Durch Utas ^) vom 10. Inli 182dl wurde dcu Kaufleuten befohlen, sich auf der malarjewfchen Messe bis zum 27. Juni einzufindeu uud ihre Geschäfte bis zum 8. Juli zu beendigen, um dann zur rechteu Zeit auf der swiustischcn Messe cinzu> treffen, welche am l. August zn enden hatte, „weil", heißt es in dem Utase — „die matarjewsche Messe jetzt am 8. Juli beginnt und bis zum 20. und noch länger danert, uud weil die russischeu Kaufleute mit ihren Waaren von dort nicht früher als am 15. August anf der swinskischcn Messe eintref- 1) Ebend., Bd. 4, Nr. 1?1<;. 2) Ebend., Nr. 2387. A) Ebend., Bd. ft, Nr. 530«. fen können, während die Griechen, die Polen und andere Fremde nach der frühern Gewohnheit am 1. August eintreffen und ohne die rnssifchen Kaufleute abzuwarten, nach der kro-lewezischcn Mesfe ziehen, die am 1. September beginnt, die rnsfischen Kaufleute aber, welche erst nach deren Abreise auf der swinskischen Mesfe ankommen uud dort nicht viele fremde Kaufleute antreffen, dann ebenfalls der krolewezifchen Messe zueilen, was eine Verminderung der Zollgebühren auf der swinskischen Messe zur Folge hat". In dem Maße, als sich der russische Handel hob, vermehrte sich auch der Zudrang zu der krolewezischen Messe, um so mehr, als dieselbe auf der kleinrussischen Grenzlinie gelegen, besondern Bedingungen unterlag und die Zölle in Klcinrußland geriuge wareu. Der bedeutende Ausfall an Zollgebühren auf der fwinskifcheu Messe veranlaßte den Senat, den Termin der krolewezischen Messe vom September anf den December zn verlegen. Diese Maßnahme rief einen Protest von feiten eines Mitgliedes der Kriegskanzlei, des Fürsten Anton Iwanowitsch Schachofsky hervor, welcher an den Senat berichtete, daß der Ausfall an Zollgebühren auf der swinskischen Messe von den übermäßigen auf die Waaren gelegten Zöllen herrühre; das brianskische Zollamt fand es auch seinerseits für nothwendig, die Zollgebühren zu erniedrigen und dieselben mit dem kleinrussischen Tarif in Einklang zn bringen. Der Senat stellte die frühern Termine wieder her und ertheilte dem Kammer- und Com-merzcollegium den Auftrag, die Frage in Betreff der Zölle in besondere Erwägung zu ziehen. Dreizehn Jahre dauerte die Corresponds zwischen den Collegien, bis dieselben endlich beantragten, den December als Termin der krolewezischen Messe zu bestimmen, was auch von dem Senate bestätigt wurde; „damit aber niemand", heißt es in dem Ukase, „auf der krolewezischen Messe vor dem festgesetzten Termine zu handeln beginne, ist ein Offizier mit einem Commando dahin 157 abzusenden". Dennoch gelang es dem kleinrussischcn Deputaten, Geueralcornet Ehanenko nnd dem Kosackencommandan-ten Wassilij Gudowitsch, die Zurückverlegung des Termins vom 1. December auf den 14. October zn erwirken. Am 30. December 1753 erschien der berühmte Ukas der Kaiserin Elisabeth über die Aufhebung aller innern Zollämter und jeder Erhebung von Zöllen im Innern des Landes. Auf die Bitte der Einwohner von Krolewez, welche von dem Hetman Grafen Rasumowski befürwortet wurde, und welche die Wie-dereinführnng des alten Termins im September betraf, erwiderte damals der Senat, daß die frühere Veränderung der Termine aus dem Grunde vorgenommen worden sei, um sich die Zölle, welche auf der swinskischen Messe erhoben würden, ungeschmälert zu erhalten, und daß jetzt keine Nothwendigkeit vorhanden sei, die alten Termine zu verändern; „was jedoch die Störung betreffe, welche hieraus für die swinskische Messe erfolgen könnte", setzte der Senat hinzu, „so können die Kaufleute zu ihrem eigenen Vortheile auf die krolewezische Messe ziehen und dort handeln". ^) Auf diese Weise existirt die krolewezische Messe heute uoch, indem sie an demselben Termin im September beginnt; die swinskische Augustmcsse wurde aufgehoben, dafür aber entstand die swinskische Mariahilfsmesse, welche zwar nicht in den officielleu Listen verzeichnet ist, und welche nicht fowol durch das Zusammenströmen des Volks und die Lebhaftigkeit des Kleinverkaufs, sondern vielmehr durch die Zusammenkunft von Kapitalisten und Kaufleuten eine außerordentliche Wichtigkeit erlangt hat, indem letztere mit Salz, Flachs, Hanf und andern sogenannten Hafenwaaren, d. h. mit Waaren, die nach den Häfen geliefert werden, handeln. Waaren gibt es auf die- 1) Vollst. Samml. d. Ges., Bd. 9, Nr. 6583, 6964; Bd. 13, Nr. 9009, 9663. 9988; Vb. 14, Nr. 10695. 188 sem Marlte fast gar leine, sondern es werden nur Muster zugeführt. — Nach der Abschaffung der Zölle wurde der Handel lebhafter und zugleich mit demselben auch die Messen, deren Bedeutung für den fremden Handel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts besonders stieg. Der Handel der baltischen Häfen war noch sehr unbedeutend. Die Häfen am Schwarzen und Asow-fchen Meere waren erst vor kurzem einverleibt worden, die neurussischen vändcr waren noch Wüsteneien; Deutschland hatte schon damals in der Erzeugung von Wollwaarcn den Vorrang, die englischen und amerikanischen Spinnereien waren noch in einem sehr jugendlichen Zustande: Baumwollgarn und Flockbaumwolle bezog man damals in Rußland aus der Türlei. Nir werden in Nachstehendem zeigen, in welcher Form sich der Meß-Handel nach dem Jahre 1780 darstellt, und uns dabei auf das Zeugniß Schafonsky's, Sujew's, Schtfchetatow'S und anderer berufen ^); wir lassen deshalb hier die ukrainischen Groß-handelsmcfscn, welche damals von der russischen Kaufmannschaft besucht wurden, der Reihe nach folgen: 1) Die njäschinsche Wßejädin- und Mariahilfsmesse: Njäschin befand sich damals in einem blühenden Zustande, die njaschinschen Griechen betrieben einen ausgebreiteten Handel. Aus Rußland brachte man Pelzwert auf die Messen, welches, besonders die feine Gattung, in großer Menge nach der Türkei verkauft wurde; ferner russische Erzeugnisse aus Flachs, Hanf und Wolle, grobe gesponnene Wolle, Leinwand, Zwillich; von der Wolga, dem Don und dem Dniepr brachte man frische, gesalzene und getrocknete Fische, aus der Krim Salz und Schafpelze; einige Colonial- und fremde Manufactur- 1) Siehe in der Tschernigowschen Gouvernements Zeitung den Aufsatz von Kitschenek iiber den früheru Handel in Kleinrußland; das Tagebuch von Wassilij Sujew von Petersburg bis Cherson (Petersburg .17«?); Schtschelatow'ö Geographisches Lriilou lMMmi Iftoi). ,189 Waaren, welche nach dem Petersburger Haftn gebracht worden, wurden von den moskauer Kaufleuten zugeführt; der größte Theil der fremden Waaren aber kam über die Binnengrenze: aus Danzig, Königsberg, aus Graz (Seesen), aus Breslau (schlesisches Tuch u. s. w.); ans Italien kamen die verschiedenen venetianischen Seidenwaaren durch Ungarn und Polen; ans Ianina gekochte Seide, ans Turnowa rothes Baumwollzeug (Kumatsch), aus Ndrianopel und Pbilivpopel Nohfeide, Flockseide und gesponnene Baumwolle, ans dem Archipel verschiedene Weine, getrocknete Früchte und Vanmöl. Von den russischen Kaufleuten nahmen an dem Handel einen besonders thätigen Antheil: die Kanfleute aus Moskau, aus Bolchow-Biälew und ans den altgläubigen Sloboden des Gouvernements Tschernigow. 2) Die Krenzerhöhungsmesfe in Krolewez, von welcher wir schon bereits oben gesprochen. 3) Die Cbristihimmelfahrts- und Eliasmesse in Nomen, welches vor der Errichtung des tschernigowschen Regierungsbezirks zu dem luvnüfchen Regimente gehörte. „Vorzüglich berühmt ist die Eliasmesse", heißt es in dem Lexikon Schtschekatow's, „es finden sich hier Kaufleute aus den verschiedenen russischen Städten, sowie fremde mit Seiden-, Baumwoll-, Kameelgarn-, Silberwaaren und sonstigen Waaren ein, insbesondere wird ein bedeutender Handel mit dem Taback getrieben, welchen man hier in großer Menge bant." 4) Kursk war nach dem Zeugnisse des Reisenden Sujew und dem Lexikon Schtschekatow's damals durch seinen Handel sowie durch seine Verbindungen mit fremden Kaufleuten und den leipziger Messen berühmt. Im Jahre 1781. gab es in der Stadt Kursk 1070 Seelen, welche dem einheimischen Kanfmannsstande angehörten, während damals in der ganzen tschernigowschen Statthalterschaft mir 834 d?m einheimischen 190 Kaufmannsstande angehörige Seelen vorhanden waren, worunter 535 Großrussen und 299 Kleinrussen. ^) Anf der kore'nischen Messe kaufte Moskau außer fremden Waaren Honig, Hanf, Fett, Wachs, Leinöl, Borsten, Hornvieh und Pferde in großer Menge. Diese Messe war sowol für die fremden als für die tleinrussischcn Producte von Wichtigkeit: an Kleinruß-land angrenzend stand dieselbe zugleich mit der matarjewschen und durch diese mit der irbitschen Messe in Zusammenhang. Kursk war damals der Centralvunkt zwischen dem Westen und Osten Rußlands, zwischm Moskau und dem Süden. 5) Die am ersten Sonntage in der großen Fasten und am Feste Maria Opfernng beginnenden Messen in Sumn lehnten sich an das System der von uns bereits genannten Messen an ^ sie hatten aber für den Handel mit fremden Waaren damals eine viel größere Bedeutung als die Messen von Charkow. 6) Von den gegenwärtig eMirenden vier charkowschen Mesfen vermittelten nur zwei einen ziemlich ausgebreiteten Handel mit russischen Waaren. Die am Dreitönigs- und Mariahilfsfeste beginnenden Messen waren ganz unbedeutend. Nach der letzten Theilnng Polens und spater nach der Einverleibung Bessarabiens erweiterte sich die russische Binnengrenze, die Steigerung der amerikanischen nnd englischen Manufacturthätigkeit fowie der immermehr in Anfnahme kommende Gebrauch von Baumwollgefvinsten verminderte die Bedeutung der deutschen Manufacturen. Petersburg, Riga, Odessa und Taganrog zogen den ganzen äußern Handel Nußlands an sich. Der neue russische Vandstrich bevölkerte sich, es erhoben sich Städte, denen sich dann der kaufmännifche großrussische Stamm zuwendete. Dies alles übte eine große Wirkung anf den ukrainischen Meßhandcl aus. Kleinrußland 1) Schafonsly, Beschreibung der tschermgowschen Statthalterschaft. 191 hörte auf, eine Ukraine zu sein, und wurde zu einem Mittellande zwischen Groß- und Neurußland; es eröffnete sich ein neuer Markt für den Absatz der russischen Waaren, eine neue reiche Fundgrube für Rohproducte. In der That ging Kleinrußland, sobald in Neurnßland ein selbständiges thätiges ^eben begann, offenbar zurück. ^) Das Laud hatte keine Fabriken oder dergleichen Einrichtungen, weil es an Brennmaterial mangelte und die Bevöllernng hierzu nicht geeignet war, aber auf dem ganzen Striche zwischen Don und Dniepr stand der Getreidebau, die Viehzucht, die Schafzucht, die Bienenzucht, der Gartenbau, die Tabacksindustrie und Branntweinbrennerei in hoher Blüte. Das Getreide gedieh in reicher Fülle — allein es war keine Gelegenheit zum Absätze desselben vorhanden. Die neurnssischcn Landstriche hatteu nicht nur Ueberfluß an Getreide, sondern sie versendeten dasselbe noch in ungeheuerer Menge ins Anstand. Auch nach den Häfen des Schwarzen nnd Asowschen Meeres war der Absatz nicht möglich, denn der Transport war theuer und mit Schwierigkeiten verbunden. Der Dniepr ist nur bis Krementschug schiffbar, während von hier angefangen die Schiffahrt durch Wasserfalle erschwert wird nnd mit Gefahren verbunden ist. Es kommt vor, daß zur nämlichen Zeit, wo man in dem Gouvernement Cherson den Weizen um acht oder zehn Rubel Silber kauft, in dem mittlern Kleinrnßland nur drei Rubel dafür bezahlt werden, daß es in dem nördlichen dagegen gar keine Käufer gibt. Die weitausgedchntcn fetten Weideplätze der neurussischeu Landstriche machen dieselben für Viehzucht ganz besonders geeignet; die Ernährung des Viehes ist dort billig 1) In den in der Zeitung dcs Ministeriums der kaiserlichen Domänen (Jahrgang 1844) enthaltenen Aufsätzen der Herren kjälin und Natowitsch finden wir eine vortreffliche Darstellung der kleinrussischen Han-belsindustrie. 192 und fördert die Vermehrung desselben, aber sie bewirkt ein Herabgehen der Preise, was für den Absatz des kleinrussischen Viehes von Nachtheil ist, dessen Erhaltung dort theuerer kommt, weil bei der dichten Bevölkerung Kleinrußlands das Heu mit jedem Jahre im Preise steigt. Das nämliche Uebergewicht auf feiten des neurussischen Landes zeigt sich auch bei der Schafzucht, welche das Haupterträgniß der südlichen Steftpen-güter ausmacht. Die Gärten des kurskischen und orlowfchen Gouvernements richteten den Obstbau in Kleinrußland zu Grunde. Auch die Bienenzucht geräth infolge der Ausrottung der Wälder und Wiesen und der immer dichter werdenden Bevölkerung in Verfall. Es bleibt nun nur noch der Tabacksbau übrig, welcher in einer ziemlich umfassenden Weise be trieben wird, allein auch dieser befindet sich wegen der billigen Preise auf keiner hohen Stufe der Entwickelung. Am besten verwerthet man das Getreide in Kleinrußland zur Branntweinbrennerei, denn Branntwein ist dort der einträglichste Artikel. Allein die Branntweinbrennerei wird durch die hohen Abgaben erschwert, der Absatz nach den nicht privilegirten Gouvernements durch die Pachtbarrieren verhindert. Es ist begreiflich, daß angesichts eines so reichen neuen Marktes, wie er fich in dem neurussischen Landstriche zeigte, die Thätigkeit des Meßhandels sich näher gegen Süden ziehen mußte: Charkow begann sich zu heben, die charkowschen Messen überflügelten die von Sumn; wahrscheinlich ging zu derselben Zeit (wir haben hierfür keine be^ stimmten Anhaltspnnkte) anch die Mariahilfsmesse in Njäschm ein, an deren Stelle die Mariahilfsmesse in Eharkow trat. Dies war die ^age der Dinge bis zum Erscheinen des Tarifs vom Jahre 1,^22. Keine Regierungsmaßnahme brachte je in Rußland einen solchen Umschwung in dem Industrie-Wesen hervor als dieser berühmte Tarif. Die Gouvernements Moskau, Wladimir und Kostrama bildeten von nun an einen 193 vollständigen Mannfacturbezirt; die ganze Bevölkerung erhielt cine neue, eine industrielle Richtung; Hunderttausende von Händen kamen in Bewegung, Hunderte von Fabriken brachten alltäglich eine Masse von Erzeugnissen hervor, welche abgesetzt werden mußten. Die Ukraine und der neurussische Landstrich boten einen fertigen, ansgedchnten Markt dar; dorthin richteten sich die Blicke der Industriellen, und das ganze frühere System der ukrainischen Messen nahm eine andere Wendung; die Bedeutung der Marktplätze ward total verändert. Die Städte und Märkte, welche früher einen bedcntcnden Handel mit fremden Waaren betrieben, kamen in Verfall (Knrsk, Njäschiu, die korenische und die Wßcjädinmcssen), während sich im Gegentheil schnell jene Messen hoben, welche auch früher für den Absatz russischer Waaren wichtig waren, jene Punkte, welche dem neuen Markte näher lagen nnd nicht mit der Concurrenz fremder Waaren nnd des Schmuggelhandels zu kämpfen hatten. — Zur hauptsächlich herrschenden Waare wurden die Zeng- und Pelzwaaren oder die Erzeugnisse russischer Manufacture; sie gaben dem ganzen Mcßhcmdcl Bedeutung, Leben und Richtung und theilten die Messe je nach der Eigenschaft der Waaren in Sommer- und Winter-messen; die Messen erhielten nicht sowol durch den dort vor sich gehenden Absatz der Rohproducte des Landes, sondern vielmehr durch die Zufuhr der Waaren aus dem Norden eine besondere Bedeutung; die im Winter stattfindende Dreikönigsmesse und die im Sommer stattfindende Eliasmesse erhoben sich zu Messen ersten Ranges. Um den Leser sogleich auf den gegenwärtigen Standpunkt bezüglich der Bedeutung der ukrainischen Messen zn stellen, bemerken wir erstens, daß der auf diesen Messen stattfindende Absatz russischer Manufactur-crzengnisse sich auf die Summe ron 22 Millionen Rubel Silber belauft, was ungefähr ein Drittheil des Gesammt-wcrths der Production aller russischen Manufakturen beträgt Niissischi,'Fn-,,,,„c,ttc, I 1I 194 und den Absatz an Kurzwaarcn (schönen Waaren) auf der nischegorodschen Messe um das Doppelte übersteigt; zweitens, daß auf den ukrainischen Hauptmessen gegen 200 Buden eröffnet werden, welche nur für den Engroshandel mit Manu-facturwaaren bestimmt sind, und daß von der Zahl dieser 200 Nummern gegen 150 auf selbstproducirende Fabrikanten kommen, welche die Waaren aus erster Hand, ohne Vermittelung von Kaufleuten, feil bieten. In den Jahren 1846 und 1847 ging die am ersten Sonntag der großen Fasten beginnende Messe in Sumü und die Wßejädinmcsse in Njäschm von selbst ein nnd es entstand die Vutterwochemnesse in Romen; im Jahre 1852 wurde die Eliasmesse von Nomen nach Poltawa verlegt. Seit dieser Zeit hat keine weitere Veränderung mehr stattgefunden, und wir wollen nun das ukrainische Meßsystem in seinem gegenwärtigen Zustande betrachten. Wir beginnen mit der Mariäopferungsmesse in der Stadt Sumü. Sumü ist von Moskau 047, von Charkow 170 Werst entfernt. Der gesetzliche Anfangs- und Schlußtermin der Messe ist der 21. November und der 0. December — dieselbe beginnt jedoch etwas früher nnd endigt etwas später. Die Waaren, welche von Moskan nach der Dreikönigsmesse gehen, halten hier unterwegs an, um die bequeme Ninter-straße zu benutzen. Die Messe hat ihre Eigenthümlichkeiten, welche wir in einem besondern, ihrer Schilderung gewidmeten Abschnitte darstellen werden; hier bemerken wir nur, daß sie in einem schnellen Verfalle begriffen ist und wahrscheinlich in kurzer Zeit gan; eingehen wird, denn sie erweist sich bei dcr Zunahme sowol der Sumü umgebenden städtischen Mittelpunkte als auch des Lokalhandels in der Stadt Sumü selbst als vollkommen unnöthig. Von der Mariäopfernngsmcfse gehen die Waaren nach (5harkow anf die DrcikönigSmcsse, während die Kaufleute nach Hanfe eilen, um dort die ersten 195 Weihnachtsfeiertage zuzubringen, und dann nach Charkow zurückkehren. — Die Dreikönigsmesse beginnt am t!. Januar und dauert den ganzen Monat; der Pferdemarkt dagegen bc^ ginnt einen Monat vor der Kurzwaarenmesse, und zwar schon m der ersten Hälfte des December. Die Dreikönigsmesse ist die besuchteste aller ukrainischen Messen. Gegen hunderttausend mit Pferden und Ochsen bespannte Wagen und Schlitten führen die verschiedenartigen Waaren von den verschiedenen Enden Nußlands, von dem Gouvernement Nischegorod, aus Besfarabien, dem Kaukasus und aus Riga herbei. Hier drängt sich die ganze vollständige Fahl aller Meßtauflcute, aller Verkäufer und Käufer zusammen, hier ist der Hauptstapelplatz der Waaren, welche von einer ukrainischen Messe zur andern wandern müssen. Auf den charkowschcn Messen und der von Sumü haben die Juden keine Handelsrechte, d. h. sie dürfen dort nur als Käufer ohne Waaren, aber nicht als Verkäufer erscheinen. Ist die Drcikönigsmcsse zu Ende, so werden die Waaren wieder eingepackt, es werden die Wagen geladen und es schlägt dann die lange Reihe von Fuhrwerken die Richtung nach Nomen ein. Die Agenten reisen mit der Post oder mit eigenem Fuhrwerk; die Posthänser sind voll Leben und die Wirthe bewillkommnen freudestrahlend die freigebigen moskauer Kaufleute. Die Kaufleute eilen nach Nomen auf die Butterwochemmsse (200 Werst von Charkow entfernt), wohin unterdessen ein kleiner Theil frischer Waaren auch von Moskau aus gesendet wird. Es ist hier am Orte zu bemerken, daß bei dem Kurzwaarcnhaudel zu ieder Messe eine neue Zufuhr von Waaren eintrifft, direct vom Platze her, außer den Ueberrcsten, welche von einem Jahrmarkt zum andern hcrumgesendet werden. Früher begaben sich die Kaufleute von Charkow zuerst auf die Wßejädinmcsse nach Njä-schin und dann auf die am crstcn Sonntage in der Fasten beginnende Niesse nach Enmü, seit dem Jahre 1846 aber 13* 196 haben sie sich die Erlaubniß zur Abhaltung der Butterwochen-messe in Nomen erwirkt, welche, nachdem sie die beiden oben genannten Messen herabgedrückt hatte, denselben deu Vortheil bot, daß sie die überflüssigen Ausgaben und Reisen verminderte, sich in der Mitte zwischen den beiden Städten befand und zugleich die dritte Messe in Rcmcn, also au einem uud demselbeu Platze war. Man sollte glauben, daß diese uutergeordnete, sozusagen nur zur Reserve dieneude Messe nicht von moskauischen Großhändlern, sondern nur von einheimischen Kaufleuten besucht wurde — allein dies ist deuuoch uicht der Fall. Die moskauischc Kaufmannschaft hält es für vortheilhaft, auch iu dieser Gegend, näher gegen Westen, eine Messe zu haben uud deu Käufer, welchem die Umstände nicht erlaubten, auf die Dreikönigsmesse zu kommen, selbst zu besuchen. Zudem ist diese Messe wegen der Theilnahme der Juden wichtig, welche viele Waaren kaufen uud dieselben größtenthcils baar bezahlen. Es erscheinen daher auf der Butterwochenmesse iu Romen wiederum die Fabrikanten und vorzüglichen großhandeltreibenden Meßkauflcutc selbst, uur, wie dies sich von selbst versteht, in geringerer Zahl als auf der Drcikönigsmesse. Die offtciell bestimmte Zeitdauer der Butterwochenmesse ist vom 17.—24. Februar, allein dieselbe dauert nicht weniger als zwei volle Wochen. Iu dieser Jahreszeit beginnt in Kleinrußland uicht selten schou der Frühling, es tritt Thauwettcr ein, die Straßen werden unfahrbar, die Pferde sinken in den Schmnz ein, die Fuhrwagcn bleiben stecken nnd können nicht mehr vom Platze; auf der ganzen Straße von Charkow nach Romen trifft man auf Waaren, die verloren gegangen sind. Allein das Handelsbedürfniß ist offenbar derart, daß es die Kaufleute veranlaßt, alle Hindernisse, welche die Naiur in den Weg legt, zu überwinden und alles Ungemach des Wetters, alle Mühselig' ketten und selbst Verluste zu ertragen, um fa keine Kunden 197 zu verlieren. „Der Kunde", sagen die Kaufleute, „läßt sich nicht wie eine Sprungfeder behandeln (die man wieder biegen kann); erscheint er auf der Messe und findet feinen Kaufmann nicht, so geht er zu einem andern, der früher gekommen, und bleibt dann auch bei diesem!" Im Februar des Jahres 1853 waren die Wege in einem folchen Zustande, daß die Messe gar nicht stattfand, d. h. die Waaren trafen erst nach dem Freitermine ein, und die Kaufleute, insbesondere die Kurzwaarenhandler, mußten, um nicht große Verluste zu erleiden, ein Kapital declariren, d. h. sie bezahlten die Gildenabgaben für das Recht zu handeln und figurirten nicht als Meßkanfleute, fondern als Kaufleute „anderer Städte". Sind die Geschäfte auf der Butterwochenmesse abgeschlossen, so reisen die Kaufleute nach Hanse, indem sie einen Theil ihrer Waaren in Romen bis zur Christihimmelfahrtsmesse liegen lassen, einen Theil aber wieder nach Charkow zurückschaffen. Einige schicken ihre Waaren zur Georgeumcsse (21. April), auch beizeiten nach Elisabethgrad. Diese Messe entstand vor ungefähr 25 Iahreu; d. h. sie existirte zwar schon früher, trat aber erst damals in die Reihe der ukrainischen Engrosmessen. Dieselbe hat auch jetzt noch keine große Bedeutung lind ist schwächer als alle übrigen, ja selbst als die sumüschen Messen; allem sie ist nichtsdestoweniger bemerkenswert!); erstens, weil dort gegen zwanzig und noch mehr Fabrikanten aus Moskau und im allgemeinen aus dem großrussischen Manufacturbezirke erscheinen; zweitens, weil auf diefer Messe gegen 750000 Rubel Silber für russische Manufacturwaaren umgefetzt werden; drittens endlich, weil sie den besten Beweis von der Strömung des Handels gegen Süden, gegen den neurussischeu Landstrich liefert, trotz der Entferuung Elisabeth-grads, trotz der Unbequemlichkeit und der hoheu Transport-Preist. Elisabethgrad ist von Nomen 300, von Charkow A74 Werst entfernt. Man scheint von dieser Messe in dem 198 Civilressort gar keine Nachrichten zu besitzen, weil Elisabeth-grad, in dem Bezirke der Militä'rcolonien liegend, nicht der Civilverwaltlmg, sondern der Militärverwaltung unter der all« gemeinen Oberleitung des Departements der Militärcolonien unterstellt ist. Von der elisabethgrader Messe werden die nicht abgesetzten Waaren theils wieder von neuem nach Charkow, theils zurück nach Nomen zur Kreuzerhöhungsmesse gebracht. Dieselbe ist schwächer als die Butterwochenmesse und auch nicht von langer Dauer (sie währt nur zehn Tage), weil die Kaufleute theils auf die kormische Messe nach Kursk, theils auf die Dreifaltigkeitsmesfe nach Charkow eilen, ja manche sogar auf beide zugleich zu kommeu suchen. — Die Dreifaltigkeitsmesse hat trotz ihrer Benennung dennoch einen bestimmten Termin, den 1. Juni. Sie ist ausschließlich Wollmesse; vorzüglich wird hier spanische, gereinigte und gewaschene Wolle umgefetzt, deren Werth sich auf anderthalb Millionen Rubel Silber beläuft. In dieser Beziehung nimmt dieselbe die erste Stelle unter den Wollmessen Rußlands ein. Die Kaufleute nennen sie auch „Pancnmesse", weil die Producenten und Perkäufer der Waare „Pane", Gutsbesitzer sind, für welche die Wolle den Hauptartikel ihrer Einnahme bildet. Da sie ihre Wolle baar bezahlt erhalten, so kaufen sie bei den dortigen Detailhändlern alles Nöthige für deu Hausbedarf ein; die Kreuzerhöhungsmesse ist die beste Zeit für deu charkow-schen Kleinhandel. Zum Einkaufe der Wolle finden sich hier größtentheils die Tuchfabrikanten felbst sowie österreichische und preußische Kaufleute, die Juden aus Berditschew und selbst einige russische Kaufleute ein. Die korcnische Messe beginnt gewöhnlich am neunten Mittwoch nach Ostern und gilt bei den Kaufleuten als eine hitzige Messe, d. h. es werden die Geschäfte in einigen Tagen abgemacht; natürlich bezieht sich dies nur auf die Meßwaaren, bei denen Kapitalien umgesetzt werden, d. h. auf die Manu- 199 facturerzeugnisse. Nichtsdestoweniger dauert die Messe zehn Tage und mit Einschluß der Ankunft und Abreise der Kaufleute zwei Wochen. Wir haben bereits oben bemerkt, daß feit der Verminderung unsers Binnenhandels nach außen die Bedeutung von Kursk in Verfall gekommen ist; seit der Veröffentlichung des Tarifs ist dieselbe noch mehr gesunken, es hat sich, nachdem die Strömung des Handels nach dem Siiden, nach dem neurussischen Markte begonnen, auch die Bedeutung der kore'nischen Messe, als eines großrussischen Grenzmarktpuntts verloren. Diese Stelle hat jetzt Charkow eingenommen und es ist daher sehr begreiflich, daß der Umsatz der kore'nischen Messe sich mit jedem Jahre vermindert und dieselbe schnell ihrem Verfalle entgegengeht. Juden gibt es anf dieser Messe nicht; auch vom Süden kommen keine Käufer, weil dieselben mehr die Christihimmelfahrts- und Eliasmesse im Auge haben; es bleiben demnach nur Käufer ans den znnächstgelegenen Orten übrig. Die Eigenthümlichkeit dieser Messe besteht darin, daß sie sich sozusagen anf dem Rande des ukrainischen Meßcyklus, auf dem Scheidepunkte zweier Systeme befindet; durch sie lehnen sich die ukrainischen Messen an das System der nordöstlichen Messen, d. h. der rostowschen im Gouvernement Iaroslaw, Und der mschegorod-scheu und irbitschen an. Hier erscheinen viele Kaufleute und Fabrikanten, welche nicht über die korcnische Messe hinaus, welche nicht nach Süden reisen und sich von hier direct nach der mschegorodschen Messe begeben. Es versteht sich von selbst, daß auch die übrigen Fabrikanten, welche nack der Ukraine Handel treiben, größtcntheils ihre Waaren ebenfalls nach Nischnij-Nowgorod senden, aber nicht von der Ukraine, sondern unmittelbar vom Platze aus, sodaß diese zwei Messen nichts miteinander gemein haben. Da die Käufer auf der kore'nischen Messe vorzugsweise Großrussen sind, so nnterschei-den sich auch hier die Waaren von jenen Waaren, welche 200 nach der Ukraine gesendet werden, durch eine gewisse Solidität des Geschmacks und bnrch Dauerhaftigkeit; so gehen hier z. B. untcr den Fabriterzeugnissen größtentheils die blauen, d. h. mit blauer Farbe gefärbten Waaren, während in der Ukraine besonders bunte Zeuge im Gange sind. Die alte berühmte korenische Messe wäre schon längst in Verfall gerathen, wenn sie sich nicht durch die im Handel so wichtige Macht der Tradition und der Gewohnheit erhalten würde. Wiederum werden die Waaren eingepackt, wiederum ziehen die Fuhrwagen in langer Reihe dahin; es naht die Zeit einer Messe, auf welcher von neuem alle Meßfactoren in voller Anzahl erscheinen: Mitte Juni beginnt die Cliasmesse in Pol-tawa. Bis zum Jahre 1852 wurde sie in Romen abgehalten, in diesem Jahre aber nach Poltawa verlegt. Diese Verlegung wurde von der Regierung gegen den Wunsch der Kauft lcute überhaupt, welche nicht gern von alten Gewohnheiten abgehen, gegen die Proteste, Klagen und das Geschrei der romenischen Einwohner vorgenommen; es geschah dies nicht aus Handelsrücksichten, sondern einzig deshalb, um die Be-deutung der an Einkünften armen Gouvernementsstadt Poltawa zu heben. Man muß jedoch in Wahrheit bekennen, daß diefe Maßnahme trotz ihres gewaltthätigen Charakters einen vollkommen guten Erfolg hatte, weil sie mit den innern Forderungen des Handels selbst zusammenfiel, welche von den: die Messen besnchenden Kaufmannsstande durchaus noch nicht begriffen werden. In dem Abschnitte über Poltawa werden wir die Ursachen des Emftorbliihens der poltawaschen Messe eingehend besprechen; allein der Leser kann ans dem von uns Gesagten leicht selbst den Schluß ziehen, daß bei der Strömung des Handels gegen Süden, bei der Bedeutung, welche der neurussische Markt für denselben erhielt, die Verlegung des Meßpunkts mehr in die Nähe diefes Markts mit der allgemeinen Nichtnng des Handels im Einklänge stand, und 201 deshalb unzweifelhaft durch einen vollkommenen Erfolg gekrönt werden mußte. Allerdings wäre cs vielleicht nützlicher gewesen, wie einige vorschlugen, die Messe nach Krementschug zu verlegen, einer Stadt, welche sich der Vortheile der Schiffahrt erfreut; allein auch in Poltawa zeigte sich die Eliasmesse gleich bei dem ersten mal besser, als dies früher in Romcn dcr Fall gewesen. Ohne diese innere Bedinguug des Gclin« gens hätte die gewaltsame Verlegung des Marktes, wie jeder Zwang in Sachen des Handels, durchaus kciuen Nutzeu gebracht, sondern ihn eher zu Grunde gerichtet als gehoben; wir haben bereits oben gesehen, daß die dreißigjährigen Anstrengungen der Regierung, den Termin der krolewezer Messe zu verändern, die durch das innere Bedürfniß erstarkte Gewohnheit nicht zn überwinden vermochten. — Für die Zeug-uud Pelzwaarcn sind zwei Hauvtmesseu des Jahres unumgänglich nöthig, eine Wintermesfe für die Sommer- und wiederum eine Sommermesse für die Winterwaaren; auf der Engrosmcsse im Sommer versieht man sich mit warmen Stoffen für den Winter; im Winter dagegen mit leichten Zeugen und kühlen Stoffeu für deu Sommer. Deshalb ist auch auf der Eliasmesse besonders der Handel mit Tüchern und wollenen Zeugen sowie mit Pelzwaaren sehr start; dieselbe hat in dieser Beziehung ein bedeutendes Uebergewicht über die Dreikönigsmesse. Einer der hauptsächlichsten Artikel der Eliasmesse ist die spanische Wolle, weshalb dieselbe auch nach der Drcifaltigkeitsmefse den ersten Rang unter den Wollmessen einnimmt und gegen dreißig fremde Känfer herbeizieht. Aber ganz besonders wichtig ist diese Messe für die Kaufleute durch die Theilnahme der Juden, welche, scharenweise sich einfindend, die Waaren im Großen nnd im Detail verkaufen, große Summen Geldes in Umlauf fetzen, eine ungeheuere Masse fremder Galanterie- und Manufacturenwaaren zuführn, aber noch in einem ungleich ho'hcrn Maßstabe bei dm 202 russischen Kaufleuten russische Fabrik- und Manufacturerzeug-nisse einkaufen. Die Eliasmesse sollte officicll aui 20. Juli beginnen nnd am l. August endigen — doch dauert dieselbe bedeutend länger. Kaum haben die Kaufleute ihre Rechnungen abgeschlossen, so wird wieder gepackt und von dannen gezogen. Am 15. August beginnt die Mariähimmelfahrtsmesse in Charkow, welches von Poltawa nach der Fahrstraße l2(> Werst entfernt ist. Die Verlegung der Eliasmesse nach Poltawa hat der Mariähilnmelfahrtsmesse in Charkow sehr geschadet. Die zu schnelle Aufeinanderfolge der Termine (die Zwischenzeit beträgt nur einige Tage oder eine Woche) sowie die kurze Entfernung scheint dieselbe eigentlich ganz überflüssig zu machen; allein die Mariähimmelfahrtsmesfe hat einige Eigenheiten, welche ihr als eine starke Stütze dienen und ihr einen ehrenvollen Platz in der Reihe der ukrainischen Reservemessen anweisen. Der Termin der Mariähimmclfahrtsmesse fällt mit der letzten Herbstfahrt der Salzführer nach der Krim zusammen; da dieselben mit ihren Ochsenwagen leer fahren, so laden sie hier gern die Waaren um einen sehr billigen Preis auf und bringen sie unterwegs nach den verschiedenen Orten ihrer Bestimmung; sehen dieselben einen trockenen, anhaltenden Herbst vorans, so liefern sie die Waaren nach Odessa, nach Besf-arabien und nach Rostow am Don und an andere Orte im Südsn, welche sich zum Ueberwintern eignen, damit sie sogleich beim Beginn des Frühlings Salz oder Fische laden nnd dann wieder den Rückweg antreten können. Der hohe Frachtpreis macht eine wichtige Bedingung für Waaren von geringem Werthe ans, indem man bei ihrem Preise die hohe Fracht nicht herauszuschlagen vermag. Diese Waareu werden von den Kaufleuten schwere genannt, nicht wegen ihres Gewichts, sondern wegen des Verhältnisses des Preises der Waare zu den Frachtkosten. So nennt man z. B. das Eisen, 203 die weißen Fische — schwere Waare, denn es beträgt der Preis für das Pud von 1 Rnbel bis zn 1 Rubel 50 Kopeken, wobei man noch für den Transport von Pferden 35> Kopeken nnd noch mehr per Pud zu bezahlen hat. Dagegen wird das Pfund Silber — ganz dasselbe Gewichtspfund, leichte Waare genannt, weil die Frachtkosten desselben unbedeutend sind. Besonders werden viele dieser sogenannten schweren Waaren nach der Mariähimmelfahrtsmesse gebracht, weil der um diese Zeit durch die Salzführer vermittelte Transport derselben billig zu stehen kommt. Die Mariähimmelfahrtsmesse dauert vom 15. Angnst bis znm 1. September und etwas länger. Haben die Kaufleute auf der Mariähimmelfahrtsmesse ihre Handelsgeschäfte abgeschlossen, so ist der jährliche Meßcyklus dennoch nicht zn Ende; sie beladen von neuem ihre mit Pferden oder mit Ochsen bespannten Fuhrwagen und sind von neuem voll geschäftiger Thätigkeit: es gilt jetzt auf die Kreuz-erhöhnngsmesse nach Krolewez zu eilen. Uebrigens wird ein bedeutender Theil von Waaren gleich direct von Poltawa, von der Eliasmesse dorthin gesendet. Krolewcz ist W5> Werst von Poltawa und 280 Werst von Charkow entfernt. In dieser Stadt beginnt, wie dem Leser bereits bekannt, die Messe sogleich nach dem Kreuzerhöhungsfestc, am 14. September, allein es werden schon früher Ladenjnngcn dorthin gesendet, um die Plätze für den Handel einzurichten. In Krolewez gibt es weder steinerne noch hölzerne Budenreihen und die Besitzer der Budenplätze auf dem Marktplatze sind verbunden, dem Miether eine mit einem hölzernen Fnßboden, mit Fachbretern nnd einem Budentisch sowie mit einem Aastdache und Bastwänden verscheue Bude zu erbauen; ein jeder Ladenjunge ist dann um seine Bude besorgt, treibt den Besitzer nnd die Arbeiter znr Eile an — und schon nach einigen Tagen entsteht eine ganze Stadt von Leinwand, von aus Bast geflochtenen Dächern und 204 Wänden mit langen Budenreihen, mit Gassen und Gäßchen. Krolewez, der äußerste Meßpunkt gegen Westen, nähert sich bereits dem nordwestlichen Handelssysteme. Nach der Verlegung der Eliasmesse von Romen nach Poltawa begann sich die krolewezische Messe bedeutend zu heben. Die aus dem Westen und Nordwesten kommenden Käufen (aus Volhynien, Tschernigow und Weißrußland), welche früher zwar Romcn besuchten, aber wegen der weiten Entfernung nicht mehr nach Pollawa gingen, wendeten sich jetzt nach Krolewez. Auf diese Weise lebte diese Messe nach einem zweihundcrtjährigen Bestehen und nachdem sie so viele Handelsstürmc überdauert, wieder vou neuem auf, erhielt von neuem eine wichtige Handclsbedeutung, welche am beredtesten davon Zeugniß gibt, wie wenig sich dieser Landstrich in einer so langen Zcitperiode entwickelt hat. Die Messe von Krolewez wird schon deswegen von den Kaufleuten hoch gehalten, weil sie der letzte Markt des Jahres ist, an welchem die Juden theilnehmen. Hier trennen sich die moskauer Kaufleute von ihnen — bis zur Butterwochenmesse in Romen. Nach der krolewezischen Messe werden die Waaren von neuem nach Charkow auf die Mariahilfsmesse gebracht, welche einige Tage nach dem 10. October beginnt und den ganzen Monat hindurch währt. Sie ist ebenfalls eine ziemlich starke Reserve- oder Hülfsmesse und es werden auf ihr besonders jene Waaren umgesetzt, mit welchen man sich noch eilig vor dem Eintritt der Winterkälte versehen muß, z. B. mit Hülsenfrüchtcn und Eßwaaren, mit Weinen u. s. w. Für den Kurzwaarenhändler ist sie deshalb wichtig, weil die wladimirschen Kleinkrämer oder Hausirer nach der Mariahilfsmesse ihre Handelszüge uach der Ukraine beginnen. ' Dies sind die elf oder besser gesagt zehn großen Messen — die Dreifaltigteitsmesse ist ausschließlich nur Wollmarkt—, welche gleichsam einen Kreis, einen Gürtel bilden, der die Ukraine umfaßt. Die Meßpunkte, welche auf dem äußersten Rande 205 dieses Kreises sich befinden, sind demnach folgende: Krolcwcz, der äußerste, nordwestlichste Punkt, Kursk, oder die korenische Messe, der nordöstliche, Charkow, der südöstliche, Poltawa, der südliche Punkt, wenn wir nicht Elisabethgrad mit einrechnen, welches den äußersten südwestlichen Marktvnnkt bildet. Auf diese Weise befinden sich Sumü nud Nomen innerhalb der Peripherie des Marktkreises. Aber wic viele Mühe, wie viel Zeitverlust wird hierbei nicht aufgewendet, wie viele Waaren werden nicht beschädigt und verdorben, wie viele Ans-gaben und unnöthigen Verluste werden nicht verursacht! Auf jeder Messe muß man die Waaren auspacken und sie dann wieder von neuem einpacken, und so diese Operation zwanzig-mal wiederholen; der Transport von einem Marktpunkte znm andern macht im Laufe des Jahres 2405 Werst aus. Allerdings erscheinen nicht alle Fabrikanten und Kaufleute auf allen zehn Messen, einige besuchen nur die drei charkowschen, die korc'msche nnd die Eliasmessc, andere gehen weder auf die sumüsche noch auf die Georgenmesse — wieder andere dagegen besuchen alle zehn, ja einige sogar alle elf Messen. Die Mehrzahl der Kaufleute besucht acht Messen: die drei charkowschen, die kormische und Eliasmesse, die beiden in Nomen und die in Krolewcz. Die Benennung, beweglicher Markt, kann von den kleinen Märkten genau auf die ukrainischen Messen übertragen werden. Der Naum, welcher von dem Marktkreise eingenommen wird, ist so cnge, daß die zehn Messen gleichsam einen einzigen, das ganze Jahr hindurch ununterbrochen fortdauernden Markt bilden, welcher der Reihe nach von einem der sechs Plätze nach dem andern verlegt wird. Bei diesem Meßhandcl Macht sich das Bestreben bemerkbar, die Zahl der Hin- und Herfahrten ;u verringern und in einem gewissen Sinne sich seßhaft zu machen. Deshalb werden auch an cincm und demselben Punkte mehrere Messen abgehalten: so in Charkow drei 206 oder sogar vier, in Romen zwei, während hier drei und in Suinü früher zwei stattfanden. Ueberall, wo mehr als eine Mesfe stattfindet, bilden sich auch permanente Waarennicdcr-lagen. Die Meßthätigkeit zog die Handelskraft nach den Städten Sumü und Charkow und bevölkerte diese Städte mit Meßkanfleuten. Nachdem die Kaufleute gegen dreißig Jahre lang auf den charkowschen Messen Handel treiben, in Charkow ihre beständigen Niederlagen haben, dort ihre bekannten Kunden besitzen, welche sich auch anßer der Meßzeit um Lieferun> gen von Waaren an sie wenden, so lassen sich sehr diele derselben Charkow zuschreiben, anfänglich als fremde Kaufleute, um das Recht zu handeln anch nach Beendigung der für die Messe bestimmten Termine zu genießen, und treten dann später gänzlich in die Reihe der angesessenen charkowfchen Kaufleute über. So werden jetzt viele Buden mit Eifen, mit Hackenartikeln, mit Pelzwaaren, mit Gold- und Tilberwaarcn, mit rohen Fischen, getrockneten Früchten, Buden, welche frü< her nur während dreier Monate Engroshandel trieben, jetzt auch wahrend der übrigen Monate nicht mehr geschlossen. Wahrscheinlich hätte sich der Handel längst zwei oder drei Centralpunkte ausgewählt, wo er sich dann niedergelassen und wo er auf eiue regelmäßige, normale Weise betrieben wordcn wäre, wenn nicht für die Producenten von Knrzwaaren vor allem die Nothwendigkeit des Absatzes vorhanden wäre, und dieselben sich nicht veranlaßt sehen würden, beständig neue Märkte aufzusuchen nnd sozusagen mit ihren Waaren den trägen Consumenten nachzulaufen. Wir haben bereits oben bemerkt, daß von 2 fische Handel insbesondere eine so vollkommen lebendige und freie Erscheinung wie das Leben ist, und als ein solches auch der Einwirkung aller möglichen Znfälligkeiten nnd tansend kleinen fast nnbemerkbarm Umständen unterliegt. Er bewegt sich nicht nach den voransbestimmten Gesetzen eines abstracten Systems, weshalb es auch in der Handelsstatistik so schwierig ist, gerade und scharfe Linien zu ziehen. Eine große Bcden-tuug im Handel haben eingeführte Gewohnheiten, alte Bekanntschaften, persönliche Verbindungen, von alters her bestehende Beziehungen, ja sogar Sympathien, welche sich auf 224 die Gleichheit der Mensverhältmsse und der Abstammung gründen. So ist z. B. der starobjälische Kreis ganz von Großrussen bewohnt und wurde erst im Jahre 1819 von dem Gouvernement Worouesch losgetrennt nnd der von Kleinrusseu bewohnten slobo-dischen Ukraine einverleibt; trotz dieser Einverleibung hat derselbe seine frühern Beziehungen zn den Kaufleuten von Woronesch, Ieletz und Liwün, überhaupt mit den nördlich nnd nordöstlich liegenden großrussischen Gouvernements bewahrt. Von dem Gouvernement Woronesch nehmen an dcm ukrainischen Meßhandel vorzüglich jene Kreise Antheil, deren Bewohner kleinrussischer Abstammung sind. Bei der Ansiedelung der slobodischen Ukraine, befand sich unter der Zahl der fünf slobodischen Kosackenregi-mcnter, welche von der moskauer Regierung schon vor Peter I. errichtet wurden, auch ein ostrogoschskisches Regiment; die Regimenter existiren schon seit lange nicht mehr; Ostrogoschsk ist eine Kreisstadt des Gouvernements Woroncsch geworden, allein sein früherer Zusammenhang mit der slobodischen Ukraine spricht sich dadurch aus, daß desseu Einwohner, trotz der größern Nähe von Woronesch, dennoch ihre Kurzwaaren aus Charkow und nicht aus Woronesch beziehen. Auf der andern Seite erblühte am Don, in Woronesch, in Tambow nnd in diesem ganzen südöstlichen Theile das Handelslcben viel früher als in dcm Gouvernement Charkow, nnd die vor alters angeknüpften Handelsverbindungen dieser Landstriche mit Rußland bestehen bis heute noch fort. Es ist deshalb nicht zu verwundern, daß sich der Don, wie die Kaufleute sich auszudrücken Pflegen, nach Makaria, d. h. dem nischegorodschen Meßpunkte zuneigt — dies erklärt sich durch die Meßverbindung des Don nnd der Wolga — allein anch rücksichtlich seiner Beziehuugen zu Moskau nimmt derselbe nicht seine Zuflucht zu der Vermittelung der charkowschen Messen, trotz der Nähe und der Bequemlichkeit, die sich ihm dnrch das zahlreiche auf dieser Messe stattfindende Zusammenströmen der 225 moskauer Kaufleute darbietet. Eine schr wichtige Rolle im Handel spielen die Worte: „zur rechten Zeit" und „gangbare Artikel". Der Kaufmann, welcher z. B. von: Don nach Charkow zu gehen genöthigt ist, mn dort Waaren zu verkaufen und wieder andcrc cmznkaufen, welche er an keinem andern Orte bekommt, kauft, wenn er es an der Zeit hält, auch andere Artikel, welche in seinem Geschäfte gangbar sind, z. B. Pfropfen. Allerdings wäre es naher, die Pfropfen direct aus Odessa zu beziehen, allein hierzu muß man Verbindungen mit Odessa anknüpfen, eigene Fuhrleute miethen, welche diesen Weg noch nicht gemacht haben, während vom Don nach Charkow schon lange eine Straße dnrch die Salzführer gebahnt worden ist. — Der Handlungsdiener eines großrussischen, der Stadt Lochwiza zugeschriebenen Kaufmanns und selbst von großrussischer Abstammung, heirathet cine Klciurussiu aus Oadjatsch, eröffnet iu Oadjatsch einen Eiseuhandcl und knüpft nicht nur mit Moskau und Tnla mit Umgehung der Messe Handelsverbindungen an, soudern handelt auch mit aus Moskau verschriebeucu Waareu in Romcn und in andern Städten, welckc doch, was Lokales uud Entfernung anbelangt, ihm speciell viel vortheilhaftere Bedingungen bieten würden. Was die Frage betrifft, warum der Handel mit Sensen und Tüchern gleichsam ein Eigenthumsrecht der Stadt Rülsk gewesen uud theilwcise dies selbst jetzt noch ist, so wollen wir hier einige Aufschlüsse folgen lassen, welche nicht ohue Interesse sind, uud, wie wir glauben, über viele eigenthümliche Erscheinungen des russischen Handels Licht verbreiten. Man erzählt sich nämlich, daß ein gewisser Kaufmann Philimonow, welchen die Dentschen ans. Achtung für seinen außerordentlichen Vorstand und seine kaufmännischen Talente mit dem Prädicate „von" beehrten, diesen Handel zuerst in Nülst eingeführt nnd die Verbinduugen rülskischer Bürger mit fremdeu Kaufleuten zuerst vermittelt habe. Diese Be- Mitfsische ssrllssnu'Nt,!. s. 15 226 nennung ging auch nach Rußland über, sodaß nicht nnr in Rülsk, sondern in allen «inliegenden Landschaften sogar bei dem gemeinen Volke der berühmte Kaufmann unter dcm Namen „von Philimonow" bekannt war. Nach seinem Tode ging sein Handelshaus zu Grunde, und seine Nachkommen, welche zu einem andern Bcrnfe übergingen, haben die Stadt längst verlassen, allein sein Andenken lebt bis heute noch unter den Einwohnern von Rülsk fort. Auch jetzt existirt in Rülsk ein Kaufmann Philimouow, einer der bedeutendsten Sensenhändler, welcher jedoch dnrchaus kein Verwandter, sondern nur ein Namensvetter des Gründers des rülskischen Senseuhan-dels ist; allein es ist bemerkenswerth, daß der gewöhnliche im Munde des Volks gebräuchliche Name des gegenwärtigen Philomonow — Vontschikow ist, gleichsam zum Unterschiede vou dem Titel des vollen „von", dessen sich einst der berühmte von Philimonow bediente. Es ist in der That merkwürdig, wie viele Bedeutnng die Persönlichkeit eines einzelneu Mannes für das Handelsleben der Gesellschaft hat. Die Beziehungen Rülsks zu dem Auslande waren durchaus uicht infolge vortheilhaftcr, lokaler Bedingungen entstanden, und man kann sich aus gar keinen geographischen Gründen erklären, warum der Sensenhandel sich gerade in Rülök und nicht in Putivl, in Kiew oder in Gluchow festgesetzt hat___Allein es erschien eiu unternehmender Mann, welcher, mit kühnem Beispiele vorangehend, den Kapitalien eine neue Bahn brach, und bald bewegte sich beinahe die ganze Gesammtheit der rülskischen Bürger auf der eröffneten Bahn, indem ihnen die zu einem allgemeinen Erbgute gewordeneu uud bereits angeknüpften Beziehungen, die Bekanntschaft mit ausländischen Kaufleuten sowie der Credit und die Erfahrung Philimonow's zu statten kam. Auf diese Weise wurde der Scnsenhandel in Riilsk eingeführt und gefördert und zum Eigenthum der 227 Stadt gemacht -^ so drang er in Handel und Wandel ein, es bildeten sich Gewohnheiten und Traditionen und der Handel hielt sich beinahe während einer Reihe von hundert Jahren in Rülsk als eine Art von Monopol, welches übrigens, wie wir bemerkt, weder dnrch lokale Bedingungen, noch durch formelle Rechte, sondern nnr durch die'lebendige Gewohnheit und dadnrch gesichert ist, daß es, wie sich die russischen Kaufleute bei ähnlichen Gelegenheiten auszudrücken pflegen, „bereits schon so eingeführt ist", „daß dies schon seit undenklichen Zeiten in Rülsk so gewesen". Freilich ist eine solche Grundlage gerade nicht die sicherste, und die rülskischcn Kaufleute beklagen sich gegenwärtig bitter über den Verfall des Sensen-Handels, während er doch gerade im Gegentheil einen noch größern Aufschwung nahm und nur in andere Hände überging. Nachdem die Einwohner von Nülsk einmal in ständige Beziehungen zu den ausländischen Kanflentcn getreten waren, und Deutschland häufig besuchten, führten sie anch andere ausländische Handelszweige bei sich ein; indem sie ihre Handelsageuten zum Einkaufe von Sensen verschickten, begannen sie auch Borsten, Roßhaare, Häute, Federn und Flaumfedern und andere ähnliche Waaren nach dem Auslande zu senden, und kauften außer ihren Eicheln in Breslau und andern Städten Tuche, welche damals insbesondere in Schlesien in vorzüglicher Güte verfertigt wnrden. Deshalb befindet sich auch jetzt, nachdem ausländische Tuche fast gar nicht mehr gekauft und dieselben ganz dnrch die Erzeugnisse der in Rußland, Poleu uud in den Ostseeprovinzen sich befindenden Fabriken verdrängt werden, der Tuchhandel nach der Ukraine fast ganz in den Händen der rülskischen Kaufleute. Ohne diese Definition wäre es schwer zu begreifen, warum auf allen Messen namentlich rülslische Buden Tuche verkaufen und die rülskischcn Kaufleute in Charkow ständige, reichhaltige 15* 228 Tuchmagazine besitzen, während doch der Tuchhandel ihnen gerade so von der Hand liegt wie den andern benachbarten Städten. Oehen wir jetzt zn einigen Bemerknngen über die Känfer und Verkäufer über. 1) Fast alle mit Zeugwaaren handelnden moskauer Kaufleute und selbst Fabrikanten, welche ihre Waaren, aus erster Hand verkaufen, können nur Verkäufer genannt werden, uud zwar in dem Sinne, als sie selbst auf den Messen keine Einkäufe macheu. Uebrigens kaufen auch einige Tuch- uud Leder-fabrikanteu, welche ihre Erzeugnisse verkaufen, hier auch Rohmaterial für ihren Betrieb — nämlich Wolle und Häute eiu. Einige erscheinen nur als Käufer, z. B. aus der Krim uud aus Bessarabicn; manche kaufen mehr ein als sie verkaufen, bei andern ist wicder das Gegentheil der Fall. Die Kanf-leute der tschernigowschcn Sloboden kaufen eine Menge Manu-factnrwaaren ein nnd setzen dagegen eine Menge von ökouo-mifcheu Handelsartikelu ab. ^) Im allgemeinen ist es schwer, eine scharfe Grenzscheide zwischeu den Verkäufern und Käufern zn ziehen. Ebenso wenig läßt sich 2) eine strenge Einthcilnng der Handeltreibenden in Fabrikanten nnd Kaufleute vornehmen, d. h. iu solche, welche ihre Waarcu ans erster, und in solche, welche dieselben aus zweiter Haud verkaufen. Wir haben schou oben bemerkt, daß viele Fabrikanten, welche selbstverständlich dci einer statistischen Darstellung unter die Klasse der Waarenvroduccnten gerechnet werden, in ihren Buden auch Erzeugnisse fremder Kauflente feil halten, „für ihre Knnden", wie sie sich ausdnickeu; diese erscheinen daher in Bcziehuug auf diese Erzeuguisfe schon als Kaufleute, welche 1) Ökonomische Artilel — hierunter versteht man Pich, Fische, Borsten, Federn, Flaumfedern, Flachs, Hanf, Honig, Wachs, Fett u. s. w. 229 aus zweiter Hand verkaufen. 3) Gerade so bringen Engros-kauflcute deu Engrosverkauf manchmal zu einem so uubedeu-teuden Verhältniß herab, daß derselbe vollkommen in einen Detailhandel übergeht. Manchmal verkauft auch der Detailhändler, wenn sich ihm Gelegenheit darbietet, seine Waaren in großen Partien; mauchmal fiuden sich beide Arten des Handels in einer uud derselben Person vereinigt. So handeln z. B. die Pelzwaarenhändlcr mit billigem Pelzwerk im Großen, während sie theuere Pelze stückweise verkaufen. 4) Vei der Vergleichuug amtlicher Angaben muß man immer im Auge haben, daß der Name der Stadt, welcher ein Kanfmaun angehört, mit feinem Handel häufig gar nichts zu schaffeu hat. So liest man z. V. iu den amtlichcu Listen: „Berdianskische Kaufleute mit Schmuckwaaren und Tüchern"; „Ieiskische Kaufleute mit Eisenwaaren" u. s. w. Iu der That aber stellt es sich heraus, daß der bcrdiauskische sowie der jeiskische Kauf-mauu Berdiansk und Ieisk uoch gar nicht einmal gesehen hat — sondern in Bogörodsk oder in Ieletz wohnt. Weil Ber-diausk und Ieisk vrivilegirtc Städte siud und die denselben Einverleibten das Ehrenbürgcrrecht eher erhalten alö in andern Städten, so sind viele großrussische Kaufleute für diesen Vortheil eingenommen, ja die Juden haben hieraus sogar eine eigene Art von Speculation gemacht. Als eine nothwendige Bedingung, um den Namen eines einheimischen Kaufmauus zu erhalten, wird in dieseu Städten die Ansassigmachung gefordert — das ist eiu unbewegliches Eigenthum, eil, Grundstück oder ein Haus; deswegen erscheinen auf den Messen nicht selten Juden bei den russischen Kaufleuten mit dem Anerbieten, sie der Stadt Ieisk oder Bcrdiansk znschreiben zn lassen, erhalten hierfür Vollmacht und Geld, kaufen oder bestellen ein elendes alls Stroh uud Vehm oder ähnlichem Material erbautes Häuschen und bringen dann ihrem Vollmachtgeber alle nöthigen Documente und Papiere. 5) Durch die Namen, 230 welche aus Gewohnheit einigen Artikeln beigelegt werden, kann man ebenfalls irre geführt werden. So trifft man z. B. auf jeder Mesfe eine provisorisch erbaute nnd in einigen Städten sogar ständig vorhandene hölzerne oder steinerne Bndenreihe nnter dem Namen „Susdalische Reihe". Fast alle großrussischen Kaufleute, welche mit Baumwollwaaren handeln, werden in der gewöhnlichen Sprache Susdali und ihre Waaren snsdalische Waaren genannt. Insbesondere wirb diese Benennung den Fabrikanten und Waaren des Gouvernements Wladimir und sogcir denen des Gouvernements Kastroma beigelegt. Unterdessen kommen von Susdal nur zwei Kaufleute (die Gebrüder Nasarow), uud aus deu übrigen Kreisen des Gouvernements Wladimir fünfzehn. — Ist diese Gewohnheit nicht eine lebendige Spur der nationalen, historischen Erinnerung, ein Widerhall ans längstvergangenen Zeiten, als jener ganze Landstrich dem Volke noch nntcr dem ruhmvollen Namen „Susdal" bekannt war? Es gibt viele Waaren, welchen ihre Beueunung durchaus nicht entspricht. So schließen z. V. die Hülsenfrüchte'Artikel den Begriff von Hülscufrüchteu fast gar uicht in sich und follteu dieselben eher Bictualieu heißen. Unter den Nadel-waarcn ist fast gar keine Nadel zn finden oder dieselbe macht deu allergeringsten Theil jener Artikel aus, worunter mau verschiedene Galanteriewaaren von gewöhnlicher Arbeit uud vou der geringsten Qualität versteht. Es ist sehr schwer zu bestimmen, was man eigentlich unter der Benennung „Mate-rialwaareu" uud „getrocknete Früchte" versteht: es sind dies Artikel, mit welchen sowol die Material- als Fruchthäudler handeln; jeder Victnalienhändler nennl seine Waaren Material-Waaren. Größtenthcils werden dieselben in den amtlichen Zeitungen zu den russischen Waaren gerechnet, während doch die Früchte — insofern man unter denselben getrocknete Früchte nnd Rosinen versteht — aus Griecheulaud, dem Archipel, aus 231 der Türkei und Kleinasien — die Materialwaaren, d. h. Wurzelkräuter nnd Farben, gleichfalls von dem Anslande bezogen werden. 6) Ebenso werden aus Gewohnheit, deren Ursprung wahrscheinlich von den Kaufleuten selbst längst vergessen ist, viele ganz ungleichartige Artikel in einer und derselben Bude zugleich verkauft, d. h. einer derselben erscheint gleichsam als Zugabe zu dem Hauptartikel. So werden z. B. in den Buden der mit Gsen handelnden Engroshänolcr auch Peitschen verkauft; so wird neben dem Zncker größtentheils auch Papier, aber kein Znckerpavier, sondern einfaches Schreib- und Packpapier vertauft; neben den Nadel- oder einfachen Galanteriewaaren werden auch eiuige in den Materialhandel einschlagende Artikel, insbesondere Farben n. s. w. geführt. Uuter die Zahl der auf deu Messen erscheinenden Waaren-verkäufcr, welche insbesondere wegen der Art ihres Handels bemerkenswert!) sind, mnß mau im allgemeinen anch die Fischhändler, die Salzführer, und die sogenannten Samowosi oder Selbstfnhrwcrker rechnen. Die Waare der Salzführer besteht eigentlich aus Salz und Fischen; wir werden noch einmal anf dieselben znrückkommcn, wenn wir anf die Anöfuhr zu sprecheu kommen; Samowosi oder Eelbstfnhrwerker nennt man jene handeltreibenden Bauern, welche ihre Waaren mit eigenen nicht gemietheten Pferden nnd Ochsen znführcn. Solche Samowosi kommen z. B. ans dem Gouvernement Saratow mit Roßhaaren uud Murmelthierfellen, aus dem Gouvernement Nifchegorod mit rnssischcn Schwämmen, mit Moosbeeren und verschiedenen Arten Matten; aus Poljässic mit polnischen Schwämmen u. s. w. Für jene unserer Leser, welche mit dem russischen Handelslebeu wenig bekannt sind, möchte es nicht überflüssig erscheinen, wenn wir ihnen erklären, was man eigentlich uuter „Prassolstwo", ciuer gewissen Art vou Handel, dessen wir weiter oben schon einigemal erwähnt haben uud der in unserm Vatcrlande sehr stark entwickelt ist, zn verstehen hat. 332 „Prassolstwo", nennt man den aus erster Hand, den bei den eigentlichen Producenten vor sich gehenden Aufkauf solcher gleichartigen Gegenstände der ländlichen Hanswirthschaft nnd hänslichen Industrie, welche, einzeln in: Besitze der Producenten, an und für sich keine besondere Bedeutung und keinen Werth haben. Nur miteinander, in eine einzige Messe vereinigt, sind dieselben zu verwenden, erhalten sie einen Werth und eine Bedeutung im Haudel. Es sind diese Artikel sogenannte Sannnelartikel. Die Wichtigkeit dieses Industriezweigs für Nußland erklärt sich sowol durch die Schwäche der städtischen Centralisation als auch insbesondere dadurch, daß bei uns die ökonomische Industrie nicht in den Händen weniger Oekonomeu coucentrirt, sondern ein Eigenthum des ganzen Bauernstandes ist, daß unsere Landbevölkerung auf einer zahllosen Meuge getreuutcr Wirthschaften lebt, von welchen eine jede ihrcu Grund uud Boden, ihren kleinen Antheil au der allgemeinen Voltswirthschaft und Industrie hat. Nehmen wir z. B. einen dieser Artikel, die Borsten: die Bäuerin sammelt ein kleines Büschelchen Borsten von ihren Schweinen; an und für sich, getrennt genommen, hat dieses Büschelchen gar keinen Werth, nun aber erscheint ein Hausirer mit Waaren, nimmt der Bäuerin das Büschelchen Borsten ab, bezahlt ihr hierfür eine Kleinigkeit oder gibt ihr irgendein zinnernes Riuglein dafür, und sammelt ans diese Weise eine ungeheuere Menge vou Mschelcheu, welche, von kleinen Kanfleuteu auf größere übergehend, in die Fabriken wandern oder auch ins Ausland versendet werdeu. Der diesen Handel betreibende Hansirer dient als Vermittler zwischen dem Bauer- und Kaufmannsstaudc, er erspart dem Bauern die Ausgaben, welche nut dem Trausport der Waaren an den Platz ihres Absatzes verbunden find, und briugt dem bäuerlicheu Haushalt so manche Vortheile. Auf der einen Seite würde die dünne Bevölkerung, die ungeheuern Ausdehuungm, der Man- 233 gel an bequemer Communication ein nnübersteigbarcs Hinderniß für den Absatz kaufmännischer Waaren bilden, wenn daS nomadenähnliche Volk herumwandernder und herumfahrender Krämer dieselben den Käufern nicht zuführen würde. Auf der auderu Seite würden ohne ihre thätige Vermittelung die unermeßlichen Reichthümer Nußlands, welche unter dem Volke in Millionen von Theilchcn zerstreut vorhanden sind, noch lange ein todtes Kapital bleiben. Es wäre äußerst nützlich und interessant, die Dimensionen dieser Handelskraft und den Mechanismus ihrer innern alten Organisation zu kennen. Diese eigenthümliche Art von Handelsthätigkeit umfaßt ganz Rußland, wobei sie sich natürlich je nach den Lokaloerhält-nisfen und deu Artikeln ändert, uud verschiedene charakteristische Eigenthümlichkeiten annimmt, welche wieder in viele Nnterabtheilungen und Gattungen zerfallen. ^) Einige Zweige dieser Handelsindnstrie haben sogar ihre innern, ungeschriebenen Satzungen, ihre eigene couventionclle Sprache (z. B. die Leinwandhändler ans Uglitsch u. a.). In Kleinrußland sowie in Niederrußland nnd an der Wolga wird sowol dieser Handel als anch die Artikel selbst mit verschiedenen Namen bezeichnet. Mit diesem Handel befassen sich insbesondere die Bewohner dcr tschenügowschen Sloboden, über welche wir uns noch eingehender anssprechen werden; ebenso auch die Bürger nnd theilweise die Sauern der Gouvernements Kursk uud Woroucsch und die Bewohner des Fleckens Raschewka 'm Kreise Gadjatsch. Raschewka ist eine sehr interessante, >veun auch gerade nicht die einzige derartige Erscheinung in 1) Zu den Gegenständen dieses eigenthümlichen Handels im weilern Sinne gehört auch Fett, Hanf, Hornvieh, im allgemeinen jene Artikel, welche sozusagen im einzelnen, stückweise gesammelt werben bissen; im engern Sinne, in welchem wir ihn hier verstehen — Ersten, Federn, Flaumfedern, Honig, Wachs, Spanische Fliegen, kleine Felle, Leinwand u. s. w. 234 Kleinrußland. Dieselbe ist so wenig bekannt, daß wir uns einige Abschweifungen erlauben, um dieselbe eingehender zu schildern, indem wir uns hierbei auf uusere persönlichen Forschnngeu und auf Nachrichten berufen, welche in der „ Poltawaischeu Gouvernements-Zeitung", Jahrgang 1851, mitgetheilt waren. Der Flecken Naschewka im gadjatschischen Kreise, 17 Werst von GaHatsch entfernt, zählt gegen 2000 Eiuwohner, welche aus Kosacken, Bürgern, freien und herrschaftlichen Bauern bestehen. Außerdem sind ungefähr acht raschewkaischc Kosackcn der Stadt Gadjatsch zugeschrieben. Die bedeuteudsteu derselben sind die Tichanowitsch und Chandro. In der im Jahre 1786 verfaßten Beschreibung der tschcruigowschcn Statthalterschaft finden wir über Naschewka folgende Zeilen: „Die Eiuwohner handeln größtcntheils mit Houig, Wachs uud verschiedenen Artikeln, welche sie an die großrussischen Kaufleute verkaufen; sie ziehen zum Einkaufe dieser Waaren, besonders von Hasen-, Kaninchen- uud Katzenbälgeu, alleuthalbcn umher und verkaufen diefelben dann in rohem Zustande, weshalb sie von ihren Nachbarn auch Katzenschinder geheißen werden." Wir wissen nicht, ob sie diesen Namen behalten haben; wir haben sie anders, nämlich Bürsteumänncr ueunen hören. Dieser Handel wird nun auf folgende Weise betrieben. Die Einwohner des Fleckens Raschewka, vorzugsweise die Kosackcn, bilden uutcr sichArtclls^) von je 6—10 Mann. Eine jede Artell schießt nun Geld zusammen, wählt sich einen Anführer oder Ataman und nimmt dann durch feme Vermittelung bei einem der raschewkaischen Kaufleute eiuc bestimmte Quantität von Nadelwaarcn, borgt mauchmal anch noch Oeld von ihm, uud zwar nur auf Ehreuwort uud ohne alle Quittung; man bezahlt dann für sich uud seine Familie die Abgaben, nimmt einen Paß uud macht sich reisefertig. Vor der 1) Artell - Genossenschaft. 235 Abreise versammelt sich die ganze Artell bei dem Ataman, welcher einen Theil der Waaren sowie das Geld unter die einzelnen Mitglieder vertheilt, mit allgemeiner Znstimmnng Zeit nnd Ort des Znsammenlebens bestimmt, worauf dann der ganze Artell nach verschiedenen Nichtnngcn und auf verschiedenen Wegen, zn Fuße, mit einem Felleisen oder einem Tragkorbe auf dem Rücken, auseinandergeht, während der Ataman nut dem Reste der Waaren nnd des Geldes auf seiner Telega sich direct nach dem Versammlungspnnkte begibt. Die einzelnen Glieder der Artell kaufen selten etwas um baares Geld, sondern tauschen fast immer gegen ihre billigen Nadelwaaren, Borsten, Federn, Flaumfedern, altes, zerbrochenes Kupfer, Felle, Wachs nnd dergleichen ein. Dieser Tausch ist viel vortheilhafter als der Verkauf. Die russischen Nadel- oder vielmehr ordinären Galanteriewaaren sind von einer ganz ungewöhnlichen Billigkeit. Vs gibt kleine Fingerringe (zinnerne), von denen das Hundert 20 Kopeken Assignation kostet. Allerdings sind dies die billigsten; es gibt auch an-dcrc Finger- und Ohrringe, welche das Stück 4 Kopeken nnd sogar 10 Kopeken Silber kosten? Es ist einleuchtend, daß der Verkauf um baares Geld gar keinen Vortheil bringeu würde; allem bei dem Tausche trägt jede Kleinigkeit ungeheuere Procente. Es gibt gewisse Artikel'), welchen kein nkrainisches Bauermädchen oder junges Bancrwcib zu widerstehen ver-Mag; für eine gewisse Art von Fingor- oder Ohrringen, welche von den Bauern dcö Dorfes Sidorow im Kreise Nerechtsk des Gouvernements Kastroma verfertigt werden, gibt die kleinrnssische Bäuerin gern alles her, was sie während des gauzeu Jahres an Borsten nnd Geflügelfedern gesammelt, sowie viele andere unbedeutende Gegenstände ihrer Wirthschaft, welche ihr nichts kosten, aber in Masse einen nngehencrn 1) l(<,^>«i.l.3!N'kisKu » 3^1,-n.lwäi.lm — gewlssc Gattungen von Ringen. 236 Werth erhalten. Doch werden diese Artikel auch manchmal um Geld eingekauft. Znr bestimmten Zeit finden sich alle Genossen an dem Versammlnngspnnfle ein, lie.fern dem Ata-inan die eingetauschte», Waaren ab, stellen ihm Rechnnng über das Geld nnd legen ihm die noch vorhandenen nnd übrig gebliebenen Waaren znr Besichtigung vor. Der Ataman sieht sogleich, wer pünktlich gewesen und wer nicht, und aus welcher Ursache: ist das Saufen oder im allgemeinen die eigene Schuld des Mitgliedes die Veranlassung gewesen, so wird sogleich durch die Kameradschaft der Spruch gefällt und der Schuldige auf der Stelle bestraft. Sind die Geschäfte der Kameradschaft glücklich gegangen und haben dieselben einen guten Gewinn abgeworfen, so werden alle Rechnungen geschlossen, worauf die Waaren von neuem vertheilt werden, von neuem ein Versammlnngspnnkt bestimmt wird nnb sich die Genossenschaft wieder auf die Reise macht. Ans diese Weise kommt die Artcll (Genossenschaft) bis zu den Ufern des Asowschen Meeres, sich beständig verbindend und wieder auseinander gehend, bald in eine einzige ungetheiltc Gemeinde sich verwandelnd, um einen Richterspruch zu fällen, bald wieder in getrennte selbständig handelnde Individuen zerfallend, denn der Erfolg eines jeden h'^,g^ von feinen persönliche» Eigenschaften, seinem Unternehnmngsgeiste, seiner Klugheit und seinem Charakter ab. Allerdings dehnen nicht alle Genossenschaften ihre Züge so weit ans; einige von ihnen beschränken ihre Züge anf die Gouvernements Kiew nnd Cher-son, und wiederholen dieselben zwei- bis dreimal des Jahres; diejenigen, welche bis an das Asowsche Meer, zu den Kosacken am Schwarzen Meere uud bis au die ^inie gehen, bringen ungefähr ein Jahr auf der Wanderschaft zu. Hat die Genossenschaft alle vom Hanse mitgenommenen Waaren umgetauscht und die ausgeleerte Telega mit diesen nenen Waaren beladen, 23? so kehrt dieselbe nach Hause zurück. Der Ataman überläßt dem Kaufmann, welcher die Waaren und das Geld vorgestreckt, die ganze mitgebrachte Waare um den Kaufpreis. Der Kaufmann zieht von dem Gcsammtwerthe der Waare die ihm znrückznerstattcnde Summe ohne Interessen ab und bezahlt dann das übrige in baarcm Gelde. Nun wird in der Genossenschaft selbst znr Abrechnung geschritten. Der Erlös wird zu gleichen Theilen unter alle vertheilt, wobei das Geld, welches in die Kasse gelegt worden, ciuem jeden ganz zurückerstattet wird; der Ataman erhält für sein Fuhrwerk noch einen besondern Antheil. Demjenigen, der keinen Eifer bezeigt hat, wird von seinem Antheil mit allgemeiner Uebereinstimmung ein Abzng gemacht. Alle Abrechnungen werden nach der Versicherung des Verfassers des erwähnten in der „Pol-tawaischen Gouvernements-Zeitnng" abgedruckten Aufsatzes an einem Tage abgeschlossen; man endigt mit einem kleinen Schmaus uud die Gesellschaft geht anöeinandcr. Die Zahl aller Hausirer wird auf ungefähr 10W Mann geschätzt. Mit Raschewka vereinigen sich behufs dieser Industrie anch die Dörfer Liutenka, Sary, Vissowka uud Charkowez. Es gibt eine eigene Sorte Borsten, welche man raschewkaer Borsten nennt; das raschewkaer Wachs, welches in den dor-tigen Fabriken bereitet wird, hat im Handel gleichfalls einen gnten Nnf. Die raschewkaer Kaufleute finden sich zum Verkaufe der auf diese Weise gewonnenen Waaren auf der Dreikönigs-, der Autterwochen- uud Christihimmelfahrtsmesse sowie auf der kore'nischcn nnd Eliasmesfe ein. Für den Absatz animalischer Artikel erscheint die Butterwochcnmesse als die geeignetste. Wenden wir uns jetzt zu den Käuferu, wir verstehen dar-unter die Känfer zngeführter, russischer Artikel. Die Meß-kauflente unterscheiden dieselben wie folgt: 1) in städtische 238 Käufer; 2) in Karaimi; l>) in Juden; 4) in Armenier; 5) in Sloboschanen; 6) in Opheni oder in wladimirschc Käufer; 7) in russische oder jüdische Hökerweibcr. 1) Der städtische Käufer — ein im Handel angenom-mener Ausdruck — bezeichnet den städtischen, ansässigen, lokalen Detailhändler. Dieser Käufer ist der solide O^iM-iu6«in.,l>lllM), wirkliche Kaufmann, welcher in der Regel cm unbewegliches Eigenthum besitzt und größtentheils russischer Abstammung ist. 2) Die Karaimi sind aus dem Gouvernement Tanrien. Sie sind zwar Juden, aber keine Talmudisteu und behaupten, baß fie schon nach der ersten babylonischen Gefangenschaft aus Iudäa ausgewandert seien, und halten sich deshalb nicht für Theilnehmer an der Kreuzigung dcs Erlösers. Ans diesem Grunde verlieh ihnen auch die Negierung nach der Vereinigung der Krim mit Nußland verschiedene Eremptionen uud Privilegien und dadurch einen gewissen Borzug vor den tal-mndistischen Juden; auch genießen sie im Handel bei den Kaufleuten selbst einen größern Credit als die Inden. Die Frage über ihre Abstammung scheint bis heute noch keine endgültige Lösung gefunden zu haben. Einige halten sie für Nachkommen der Chasaren, welche sich zum jüdischen Glanben bekannten. Es unterliegt keinem Zweifel, daß viele nichtjüdifche Gewohnheiten in die Lebensweise der Karaimi Eingang gefunden haben. Die Weiber leben ganz abgeschlossen und diir-fen sich nicht vor Männern zeigen; ihre Kleidung ist vollkommen orientalisch, sie sprechen unter sich größlenthcils tatarisch u. s. w. Sie eignen sich sehr für den Handel und viele von ihnen besitzen in der Krim große Kapitalien. Sie kaufen sehr viele russische Manufacturerzeugnisse. 3) Die Inden. Die Juden sind die thätigsten Käufer, besonders russischer Manufacturwaaren, welche sie in dem ganzen westlichen Theile Rußlands und selbst in Weißrußland 239 verbreiten; sie kaufen auch viele Prassolartikcl, welche sie nach dem Auslande versenden. Fast der ganze Handel mit ausländischen Waaren, welche über die Binnengrenze importirt werden, wird dnrch Indeu, welche theils russische, theils österreichische Unterthanen sind, betrieben. Brody, Berdi-tschew und Dubuo sind die Haufttdrehftuukte dieses Handels; durch sie stehen die ntraimschen Messen in einem gewissen Zusammenhange mit der leipziger Messe, insbesondere was feines Pelzwerk betrifft. Die Indeu dürfen weder auf der korenischcn noch auf den charkowschen Messen Handel treiben; doch dürfen die einer Kaufmannsgilde angehörenden auf letztern sich einfinden, um Einkäufe zu machen. Es versteht sich von selbst, daß dieses Verbot nicht strenge gehandhabt werden kaun, und die Juden erscheinen auch auf den charkowschen Messen unter dem Namen von Kaufleuten, Handelsagenten und Handlnngsdienern in großer Anzahl nnb zwar nicht allein, sondern mit Waaren. Die Maßregel bezüglich der Juden ist deshalb so schwer in Ausführung zu bringen, weil die russischen Kaufleute selbst ihren Handel begünstigen, indem sie ihnen die Möglichkeit verschaffen, in russischen Bnden, hinter einem eigenen Verkaufstischc, als scheinbare Handluugsdiener, ihre Waaren zn verkaufen. Auf jenen Messen, auf welchen die Juden freies Kaufs- und Verkaufsrecht haben, geben sie dem Handel gewissermaßen eine eigenthümliche, fieberhafte Lebendigkeit, sie laufen uud rennen mit einer emsigen Geschäftigkeit umher und begleiten jedes Wort mit allen möglichen Gesticnlationen; überall ertönt ihr schneller aus Gurgel-lauten bestehender Dialekt, überall, bei jedem Schritt halten sie den Besucher auf uud bieten ihm ihre Waaren an. Besonders finden sich viele Juden auf der Eliasmesse ein; wie bie Hellschrecken fallen sie über die Stadt her, verkaufen ihre Waaren aus Buden und Boutiquen, aus Hütten, oder unter eincm aufgespannten Stück Tuch, oder unter Zelten, im 240 Großen und im Detail; bald breiten sie ihre Waaren anf Tischen aus, bald tragen sie dieselben hernm, bald gehen sie damit hcmsiren. Beginnt der Sabbat, so verschwinden mit einem mal die Juden und in der Stadt herrscht eine wahre Todtenstille; der Handel in den russischen Buden wird zwar nicht unterbrochen, geht aber viel langsamer, viel ruhiger uud ohne alles Geränsch vou statten. Der Handel der Juden ist um so bemerkeuswerther, als au jeden jiidischeu Großhändler sich Hunderte von unansehnlichen, armen Iltdeu heraudräugen, welche die Naareu aus seiner Bude nehmcu und sie im Detail verkaufen. Diese Lebendigkeit des Detailhandels vermehrt die Masse des baaren Geldes anf der Messe; deswegen gelten auch die Messen, auf welchen Iudeu handeln, als Geldmessen. Die Juden nnterstiitzen sich immer uutereiuander,. sie haben ihre Bankiers, ihre Lieferanten uud ihre Fuhrleute. Mit deu großrnssischen Kauflenteu stehen sie iu sehr gntenl Einvernehmen nnd werden vou deuselbeu mit dem Schmeichelnamen „Schidki" (Iüdcheu) belegt. Die Kaufleute halten sie- nicht für allzu gefährliche Concurrenteu. Es ist in der That sonderbar, daß es uuter den russischen Juden wenig gcdiegeue oder wie sich die Kaufleute ausdrucken, fundamentale Leute gibt, was wahrscheinlich iu ihrer zu großen Eilfertigkeit und in ihrer allzu großen Gier seinen Grund hat. Der Jude verkauft nicht selten seine Waaren viel billiger als er sie selbst gekauft; er muß immer baares Geld haben, durch dessen Umsatz er den erlittenen Verlust wieder zu ersetzen hofft. Die Kaufleute fagen, daß, ehe der Russe einen Rubel zweimal umdreht, der Jude denselben schon fünfmal umgewendet hat. Doch hindert dies alles die großrussische" Kaufleute nicht, sich in jenen Gouvernements, wo die Juden freies Domicil- und Handelsrecht haben, ansässig zu mache" nnd im Handel ein ständiges Uebergewicht iiber die Mische Rasse zu behaupten. 241 4) Die Armenier sind armenische Kaufleute aus Na chitfchewan und Astrachan. 5) Opheui. Opheni heißen die Hansirhandel treibenden Ballern aus dem kowrowschen und theilweise aus dem wjä-snikowschen Kreise des Gouvernements Wladimir, welche in großer Anzahl in der Ukraine und die ncnrussischen Landes, theile kommen, und dort vorzugsweise mit Zeugwaaren, auch Galantcriewaaren, Geschirren und Büchern herumziehen und diese in den Städten, ans Höfen, Dörfern und sslecken zum Berkaufe ausbieten. Sie haben größteutheils mit den Paneu, den Gutsbesitzern zu thun, weswegen auch die Waaren, wo-mit sie handeln, eine Stufe höher stehen als diejenigen, welche von den herumziehenden Sloboschaueu feil geboten werden. Die ans Kowrow kommenden Hausirer sind an die Stelle derjenigen aus Orel getreten, welche in frühern Feiten den ganzen Kleinhandel in der Ukraine im Besitze hatten. Kaufleute, welche beinahe ihr ganzes Leben anf Meßrcisen zugebracht, haben uns erzählt, daß vor nugcfähr W —40 Jahren ein gewisser Handelsbauer aus dem Dorfe Schachow mit dem Namen Kossobokow eristirte, welcher das Haupt aller orlowschcn Hansirer gewesen und einen unbegrenzten Credit und große Achtung bei der Kaufmannschaft genoß. Die Erinnerung an ihn hat sich gewissermaßen in ein märchenhaftes Gewand gekleidet. War Kossobokow nicht auf der Niesse, so gab es auch keinen Handel — sobald er aber erschien, lebte alles auf; er allein kaufte auf einmal die halbe Messe aus. So sprechen die alten Leute von ihm. Wie dem nun sein mag, dieser Kossobokow nahm Waaren über seine Kräfte, konnte sie nicht mit Vortheil absetzen und rief, "ls er sah, daß die Sache schief,'giug, seiue Agenten mW Diener zusammen, theilte die uoch übrigen Waaren unter sie aus und kehrte nach' Hause in sein Dorf zurück. Das Ausbleiben Kossobokow's von den Messen wunderte anfangs die Nussischr Fragment«!. I. 1^ 242 Kaufleute, versetzte sie aber bald iu Uuruhe; eudlich suchten sie ihu in seinem Dorfe auf uub fanden ihn auf dein Felde mit einem groben Bauerngewaude angethan hinter dem Pfluge, als wenn er in seinem öeben nie Kaufmann gewesen wäre. Die Kaufleute verständigten sich, erhielten 30 Kopeken vom Rubel — aber viele machten Bankrott. Diese Katastrophe zog den Fall der orlowschen Hansirer nach sich und brachte die städtischen Centralpunkte empor. An der Stelle der Bewohner des orlowschen erschienen die Bewohner ^des kowrowschen Kreises, deren Handel anfänglich sehr gnt ging; gegenwärtig aber ist deren Handel nach der Ukraine beständig im Abnehmen begriffen, indem derselbe durch den Handel der Sloboschancn und der einheimischen Kaufleute verdrängt Wird; jetzt haben sich die Einwohner des Gouvernements Wladimir, wie die Kaufleute sich ausdrucken, auf Sibirien geworfen. — Die Hausirer stehen uuter ihren Herren. Mancher Herr — ein kowrowscher Kaufmanu oder ein Kapitalien besitzender Bauer hat gegen acht Hausirer oder Agenten, mit welchen er einen Vertrag folgender Art abschließt: Er gibt z. B. feinem Agenten Waaren im Betrage von 5(M Rubel Silber und zugleich Creditrecht oder die Ermächtigung auf den Namen des Herrn wiederum Waaren im Betrage von 5000 Rubel Silber auf Credit zu uehmen; außerdem besitzt der Ageut an eigenem Kapital gegen Z000 Nubel, welche er der gemeinsamen Summe zuschießt: der Gewinn wird zu gleichen Theilen getheilt, die Auslagen werden gemeinsam getragen und von dem erzielten Gewinne abgezogen; die Ausstände dagegen fallen alle dem Agenten anheim, d. h. für alles, was er auf Borg verkauft, muß er haften. Sind die Waaren nicht abgesetzt, so ist der Herr verpflichtet, sie von seinem Agenten wieder zurückzunehmen, zieht demselben jedoch iu diesem Falle 10 Procent von dci'n Verkanfspreise der Waaren ab. Es gibt Kaufleute, welche mit ihrem Agenten 243 nicht weniger als 15000 Rubel Silber zu verrechnen haben. Außerdem sind sie gehalten, die Gildcnabgaben zu entrichten, nm beständig das Recht zu haben, in den verschiedenen Kreisen Handel zn treiben; die Herren treiben in vielen Städten zu gleicher Zeit auch einen beständigen Lokalhandel in eigenen Bnden. So hat z. B. der kowrowfche Kaufmann Tschcrny-schew Budeu in Tschernigow nnd Prilliki nnd noch in irgend zwei andern Städten des (Gouvernements Cherson; Sasonow hat Buden in Nülsk, Lgow, Pntiwl. Der Agent hat einen Gehülfen, welcher Zn trag er (Handlager) nnd bei einigen auch „Junge" genannt wird. Der Agent geht nicht, sondern fahrt herum; manchmal sind deren vier bis fünf beisammen, von denen ein jeder fünf bis sechs mit Waaren be-ladenc Wagen besitzt. Der jährliche Wandercnrs dieses Handels beginnt bei den wladimirschen Kaufleuten größtentheils mit der Mariahilfsmessc; hier empfangen sie von den Knrz-waarenhändlern ihre Waaren nnd ziehen danu je nach Maßgabe des Absatzes ans die Mariäopfernngö-, Dreikönigs- und Butterwochenmesse, um dort wieder neue Waaren in Empfang zu nehmen. Im Sommer kehren sie nach Hause zurück; jedoch nicht alle, sodaß von acht Agenten etwa zwei zurückbleiben, nm bei den Gutsherren, welche mit Wolle auf die Drci-faltigkeitsmesse kommen, die Rückstände einzukassiren. Die eigentlichen Herren finden sich nur ein- oder zweimal des Jahres zur Abrechnung ein. Die Opheni genießen Vertrauen und stehen in gutem Rnfe. 6) Die Sloboschanen. So heißen die Bewohner der großrussischen, altgläubigen Sloboden in den Kreisen Mglin, Nowosybkow nnd Starodub des Gouvernements Tschernigow: sie tauchten schon im 17. Jahrhundert unter dem Schutze ber in deu Annalen des Schismas berühmten Wiätka auf und zwar in dem Landestheile, welcher damals noch zu Polen gehörte; sie wurden jedoch von Peter I. von dort nach 16" 244 dem gegenwärtigen tschernigowschen Gouvernement versetzt. Einst berühmt durch ihre Hartnäckigkeit im Ketzerthum, sind diese Sloboschanen heutzutage nicht weniger berühmt durch ihre Industrie und ihren Handel. Wir verweisen z. B. auf den Marktplatz Klinzü, wo das ganze Jahr hindurch gegen 22 Tuch-, Woll- uud Lcincnfabriken im Gange sind, worunter sieben mit Dampfkraft arbeiten. Sie treiben Han^ del mit Hanf und verschiedenen Prassolartikeln, welche sie entweder durch rigaer Kaufleute oder wie es während des letzten Kriegs der Fall gewesen, über Kowuo uach dem Auslande versenden, uud welche sie in der ganzen Ukraine und in den ueurussischen Landestheilen zusammenkaufen. Die slo-bodischen Händler gehen am weitesten von allen, nach dem ^ande der Kosackcu des Asowschen und des Schwarzen Mec-res, ia selbst bis an die kaukasische Linie, von woher sie Borsten, bekannt unter der Benennung „Linienborsten", sowie Haseubälge verschiedener Gattung zurückbringen. Die Feng-Waaren, Ellenwaaren, welche sie in großer Menge aufkaufen, gehören, wie wir bereits oben bemerkt, der geringern Qualität nnd Sorte an, —^ als Sarpinka, Nanking und «^«wnu« 'wLM,i. Die Art und Weife ihres Handels unterscheidet sich in gewisser Beziehung von der in Wladimir herrschenden Methode. Früher soll die Sache ans folgende Weise betneben worden sein: ein einziger Herr hatte gegen 100 uud noch mehr Jungen oder Korbträger, unter welche er die zu verkaufenden Waareu vertheilte, gegeu 4 Pud auf den Korb. Jetzt hat sich das System etwas geändert. Nämlich ein Kaufmann hat gegen 400 und noch mehr Korbträger (mau behauptet, daß der Kaufmaun Gussew dereu gegen 800 habe), welche unter 10—20 Agenten stehen. Oft kann in an den Aus' druck hören: „Dies ist ein großer Kanfmann — er hat 15 Agenten." Der Herr, welcher unter feine Agenten oder unmittelbar unter die in seinem Dienste stehenden 245 Jungen die Districte vertheilt, welche sie zum Zwecke des Handels bereisen müssen, hat in jedem Districte Stationen oder Ceutralbuden, weshalb er nicht selten in sieben bis acht oder noch mehr Städten sein Kapital declarirt uud die Gilbenabgaben entrichtet. Aus diesen ^entralbuden werden, wie man nns versichert hat, die Waaren an niemand im einzelnen abgegeben, sondern es werden damit uur die Agenten und zwar nach einem eigenen Contract versehen. Der Herr überläßt denselben die Waaren nach ihrem eigeutlichm Werthe, indem er sich mit ihnen vorerst über den Gewinn verständigt, welcher nicht unter 10 Procent beträgt, und ihnen den Zeitpunkt und den Ort der Abrechnung bestimmt. Bei der Ab-, rechnung zieht er seinen ausbedungenen Gewinn ab und nimmt die nicht abgesetzten Waaren ohne Abzng zurück. Als die Hauptstation des Kaufmanns Gussew, des bedeutendsten der slobodischen Kaufleute, galt vor einigen Jahren das W Werst von Elisabtthgrad entfernte Dorf Wertljäjewka; außerdem aber besaß derselbe uoch viele Stationen in den Gouvernements Cherson und Ciisabcthgrad sowie ans der Linie. Das Jahr beginnt für die Sloboschaucn mit der krolewezer Messe — den Sommer bringen sie zu Hause zu. Auf der krolewezer Messe erscheinen die Herren selbst mit dem ganzen Heere ihrer Jungen nnd Agenten, verseheu dieselben mit Waaren oder benachrichtigen die moskauer Kaufleute, welche-zugleich Fabrikanten sind, wie viel sie diesem oder jenem Agenten anvertrauen, d. h. wie viele Waaren fie ihm auf Borg überlassen können. Für einen jeden Agenten wird in der Bude eine eigene Rechentafel angelegt, deren Abschrift von dem Fabrikanten dem Kaufmann eingehändigt wird, welcher sich ebenfalls felbst mit Waaren für seine Centralbude versieht. Auf den übrigen Messen erscheinen vorzugsweise jene Sloboschanen, welche sich aus irgendeinem Grunde auf der krolewezer Messe nicht einfinden konnten. Zur Dreikönigs- 246 messe suchen sie sich größtcntheils alle von nenem wieder cin-zufinden, um dort ihre Artikel aufzufrischen, d. h. sich mit neuen Waaren zu versehen. Auf der Christihimmelfahrtsmesse in Nomen sind sie schon auf dem Heimwege begriffen; sie machen keine Einkänfe mehr, sondern rechnen mit ihren Herren ab und geben ihnen die nicht abgesetzten Waaren zurück. Freilich finden sich nicht alle rechtzeitig auf der Christihim-mclfahrtsmesse ein, nnd manche kommen erst spät an; im Sommer dagegen gehen die Agenten und die Inngen nach Hanse. Die Sloboschanen werden vorzugsweise Korbträger und Hausircr genannt, weil sie nicht fahren, sondern gehen und ihre Waaren in Körben tragcn. Für alle seine Agenten liquidirt der Herr selbst, wobei er mir für jene auf Nechnnng genommenen Waaren haftet, welche das dem Kaufmann für einen jeden Agenten angewiesene Quantum nicht übersteigt. Wenn z. B. der Fabrikant oder der mit Knrzwaarcn handelnde Kaufmann mehr Waaren, als bestimmt sind, abgibt, so muß er selbst sehen, wie er mit dem Agenten znrecht kommt, ohne daß sich der Herr weiter darnm kümmert. Auf den ukrainischen Messen finden sich gegen dreißig solcher Herren ein. Bei den moskauer Kanflenten gelten übrigens die Sloboschancn als ein grobes, ungeschliffenes, weniger „gebildetes" Volk als die Opheni aus Wladimir, und erfreuen sich keines so guten Rufs als die letztern. 7) Die groß- und klcinrnssischen Hökerweiber sowie auch die Jüdinnen. Diese erhalte» gewöhnlich die Kurzwaaren, welche bereits auf allen Messen signrirt haben nud auö der Mode gekommen sind. Sie verkaufen ihre Waaren ebenfalls anf den Mefsen im Detail, anf den Trot-toirs, anf Bänken und an Pfeilern sitzend, nnd händigen dann den Erlös den Kaufleuten ein, indem sie hiervon gewisse Procente für sich in Abzug bringen. Manchmal kaufen sie auch Waaren auf eigene Rechnnng. Diese Waarenreste 247 werden von den Juden Ramscha genannt, ein Wort, wel« ches gegenwärtig auch von den russischen Meßhändlern angenommen zu sein scheint. Betrachten wir nnn, auf welche Weise diese ganze Waarenmasse hin- und hergeschafft wird. Die Art und Weise des Hin- und Hertransports ist eine zweifache; derselbe wird entweder durch Fuhrleute mit Pferden oder auch durch mit Ochsen bespannte Fahrzeuge bewerkstelligt. Die Waaren werden entweder durch die Transvortcomvtoirs, oder bnrch Accordan-tcn, oder durch die Fuhrleute und Salzführer selbst zum Weitertransport übernommen. Tranoportcomptoirö cMiren in Charkow zwei; ihre Thätigkeit ist im Vergleich zu der Gesammtmasse der zu befördernden Frachten eine unbedeutende. Von 60000 Frachten, welche im Jahre 1854 nach dem Schlnsse der DreikönigS-mcsse von Charkow ans nach verschiedenen Orten abgesendet wurden, treffen (nach Privatnachrichten, welche wir gesammelt), auf das Comptoir nicht mehr als 5000 Fnhren. Wir sprechen hier von der Dreikönigsmesse allein. Während des Sommers und im Laufe des ganzeu Jahres werden durch die Transportcomptoirs allerdings ziemlich viele Frachten mit spanischer Wolle an die Fabrikanten nach Moskau gesendet. Die Versendung durch ein Comptoir kommt theuerer als die gewöhnliche Weise, denn die zu versendenden Waaren werden größ-tentheils verassecnrirt. Ohne Assecuranz bietet sie dem Kaufmann weniger Sicherheit als die Privatperson eines Nccor-danten oder eines seit lange bekannten und erfahrenen Fuhrmanns; die Assecnranz aber veranlaßt zu nnnöthigen Ausgaben, welche der Kaufmann gleichfalls zu vermeiden sucht. Das Comptoir verfährt nach festgesetzten Regeln und Statuten, es ist sozusagen schon eine Art von Bchörde, mit welcher man nicht so nach Belieben verkehren kann, wobei man verschiedene Formalitäten beobachten, nnd im Falle etlvaö zu 248 Verlust geht, eine lange Correspondenz zu führen hat. Folglich ist das Comptoir ohne Asfecuranz für den Kaufmann eine völlig überflüssige Vermittelung. Auf der Dreikönigs" messe gibt es gegen 20 russische Accordanten. Alle zusammen haben nach der Angabe eines gewissenhaften charkowschen Accordanten, mit Namen Gräschanow, im Jahre 1854 ebenfalls nicht mehr als 5000 Frachten übernommen. Sie erhalten von der mit dem Kaufmann accordirlen Bezahlung einen bestimmten Theil, welcher nach der Zahl der Fuhren berechnet wird; das übrige erhalten die Fuhrleute. — Die Juden und Armenier haben ebenfalls ihre Accordanten, welche von der Drcikönigsmesse im Jahre 1854 gegen 7000 Fuhren absendeten. — Außerdem aber wurden mehr als 40000 Fuhren durch nur gemiethete Fuhrleute abgesendet, größtentheils durch die nämlichen, welche die Waaren auch zur Messe gebracht hatten. Diese Transportindustrie hat sich dem Handel so angepaßt und hat sich mit dcm Wesen desselben so verwebt, daß in dem Hin- und Hertransport der Waaren fast gar keine Stockung entsteht. Jeder Kaufmann hat seine bekannten, verläfsigen Fuhrleute, welche seit 10 und noch mehr Jahren von seiner Arbeit leben; sie finden sich selbst bei dem Kaufmann ein, laden selbst auf, packen ein, und befördern die Waaren an den bestimmten Punkt, wo sie ebenfalls irgend" einen bekannten Kaufmann haben nnd immer wieder eine Fracht für den Rückweg finden. Sie bilden bei ihren Fahrten unter sich Artells oder Kameradschaften, wobei sie natürlich aus sich selbst einen Starosta oder Aeltesten wählen. Der Name Iswoschtschit wird eigentlich nur dem großrussischen Fuhrmann beigelegt. Der klcinrussssche Fuhrmann wird Furschtschik, und seine von ein Paar Ochsen gezogene Telega Fura genannt. Der Pferdefnhrmann fährt gewöhnlich mit drei Pferden; auf einen mit drei Pferden bespannten Wagen werden 75 Pnd geladen — auf einen ein- 24:) spännigen 25 — nicht mehr. Auf eine Fura labet man nicht weniger als 30 Pud, nnd wenn die Ochsen gut sind, sogar 40 und selbst 50, was uatürlicl, von der Kraft der Ochsen, der Entfernung nnd der Witterung abhängt. Da jedoch die Ochsen größtenteils abgemattet sind, so kann man im Durchschnitt das Gewicht der Fracht, womit eine Fura beladen wird, nicht höher als auf 25 Pnd anschlagen. Beide Arten von Fuhrwagen, die mit Pferden und die mit Ochsen bespannten, unterscheiden sich sehr scharf voneinander. Der Iswoschtschik fährt im Sommer und im Winter; der Fursch-tschik nur im Sommer. Im Winter gibt es kein Grasfutter, er bcschlägt seine Ochseu nicht, weshalb dieselben, wenn sie auf Schnee gerathen, ausgleiten. Der Iswoschtschik übernimmt die Waaren auf Termin, d. h. er macht sich verbindlich, dieselben bis zu einer gewissen Zeit an Ort und Stelle ;n bringen; der Furschtschik dagegen kann sich nicht dnrch einen Termin binden; denn die Ochsen können, wenn Regenwetter eintritt, nicht ziehen, ihr Hals wird infolge des Regens und durch den Druck des hölzeruen Jochs wnnd; man muß also halt machen und besseres Wetter abwarten. Der Iswoschtschik legt innerhalb 24 Stnndeu gegen 50 Werst zurück; die Ochsen machen nicht mehr als 30 Werst, und wenn der Weg nur ein wenig schmuzig ist, nur 15, 10 Werst und oft »och weniger. Der Furschtschik übernimmt nur selten Waaren für „Rußland", sondern zieht diesem „seine eigenen Plätze", die südlichen vor; der Iswoschtschik fährt bis an das Eudc der Welt, wenn er nur versichert ist, daß er auch Beschäftigung für den Rückweg findet. Dagegen sind die mit Ochsen bespannten Fuhren unvergleichlich billiger als die mit Pferden bespannten, nnd zwar deshalb, weil die Ochsen sich im Sommer nur mit Grasfutter nähreu und der klein-russische Furschtschik iu seiner Lebensweise unvergleichlich genügsanier ist als der großrussische Iswoschtschik. Bekannt- 250 lich liebt der großrussische Iswofchtschik eine gesunde und nahrhafte Kost, er spart auch kein Futter für seine Pferde, hält des Tags wol zweimal an den PostHöfen an, wo cr sein Mittag- und Nachtessen, Hafer und Heu für die Pferde, sowie Stallung und Nachthcrberge baar bezahlt. Der Klcin-russe dagegen hält nnd übernachtet immer ans freiem Felde, auf dem Felde verzehrt er sein Mittag- und Abendbrot, cr zündet sich ein kleines Feuer au, kocht sich aus der Grütze, die er von Hause mitgenommen, seine Kascha, ißt gedörrte Fische dazu, und bedarf weiter uichts; seine Ochsen ernährt er mit billigem Grasfutter, das cr mauchmal sogar umsonst erhält. Uebrigens wird auch der Ablieferungstermin der Iswoschtschiks nicht immer mit Zuverlässigkeit eingehalten. Im Jahre 1854 waren beim Beginn der Drcitöuigsmcsse die Wege so bodenlos, daß die entkräfteten Pferde nicht mehr weiter konnten, und die Fuhrleute die Waaren in den verschiedenen Dörfern und Stadien abluden und sie im Stiche ließen. Es herrschte damals eine große Noth unter den Kaufleuten; endlich wurde in der Art Abhülfe getroffen, daß sich die Fuhrleute bei solchen Gelegenheiten immer an die Ortspolizci wenden mußten, welche dann dem Eigenthümer der Fracht hierüber Nachricht zu geben und die Güter in Verwahrung zu nehmcu hatte. — Im allgemeinen geht die Sache uoch sehr einfach von statten. Auf jeder Messe kann man dic Bemerkung machen, wie die Fuhrwerke, wenn sie auf dem Marktplatze aligelaugt find, halten und wie der Fuhrmann, nachdem er aus dem Stiefel den Frachtbrief heransgezogen, sich bald an diesen, bald an jenen Kaufmann mit der Bitte wendet, ihm die Buden der bctreffeuden Kaufleute zu zeigen, dcuu nicht selten führt ein und derselbe Trausport die Waaren nicht nur eines, sonderu vieler Kaufleute zugleich. In Wahrheit aber mutz man eiugestehen, daß bei diesen' 251 Erwerbszweige viele Zeit und Kraft umsonst verschwendet wird, am meisten bei der kleinrnssischen Transporteinrichtnng. Uebrigcns vernrtheilt sich schon eine solche Ordnung der Dinge von selbst nnd mnß dieselbe auch unweigerlich verschwinden; ob aber bald — und wann — ist schwer zu entscheiden. Die klcinrnssischcn Fnrschtfchiks werden anch Tschumaki genannt, obgleich dieser Name eigentlich nnr jenen gebührt, welche an den Don und nach der Krim gehen, um dort Salz und Fische zu holen. Dieser Erwerbszwcig ist so alt, ist so mit dem ganzen kleinrussischen Wesen, den Traditionen und der Natnr Kleinrußlauds sowie mit der dasselbe von Süden umgebenden Steppe verwachsen, daß das nahe bo vorstehende Ende dieses Erwerbszweiges Kleinrnßland im allgemeinen, der Steppe des Schwarzen Meeres aber insbesondere, ohne Zweifel vieles von ihrem bisherigen, poetischen Reiz entziehen wird. Wir nehmcu gewiß keinen Augenblick Anstand, dieser Handclsmethode das Todcsnrtheil zu fällen und die Anleguug vou Eisenbahnen vorzuschlagen, aber es wäre doch sonderbar, wenu wir bei dem Uebertritte iu eine ueue Lebeussphäre nicht mit einem gewissen Knunner zurückblicken, und uicht von deu allmählich bei nns erlöschenden, alten, seit Jahrhunderten bestehenden Volksgewohnhciten einen frenndschaft-lichen Abschied nehmeu würdeu! Die Vollsftoesie hat diesen Gcwohuheiteu eiueu sehr großen Theil von Liedern gewidmet"), welche durch ihre melancholische nnd einförmige Melodie — die Oedc nnd die Einförmigkeit der Steppe, die stille nnd abgemessene Bewegung der Zugthiere ausdrücken. Uud nicht nur die Lieder, sondern auch die Bilder der Maler fanden gar oft einen Stoff in der von keinem Horizont begrenzten Steppe mit ihren: wolkenlosen Himmel, mit ihrer brennenden Sonne nnd ihrem aschfarbigen Heidegras, iu deu träge sich fortschleppenden Ochsen, in dem sonnengebränntcu Tfchnmak, 252 der in seinem getheerten Hemde, mit seiner kurzen Pfeife, trotz der sengenden Mittagshitze ohne Hnt langsam einherschreitet. Uebrigens würden die Züge diefcr Fuhrleute nicht nur eine poetische Schilderung, sondern anch cm anfmcrksames Studium verdienen. ^) Ihre innere Organisation bietet manches Interesse; aber noch interessanter sind die Wege, welche nur ihnen bekannt sind, und welche sie sich schon zu einer Zeit durch die Steppen bahnten, wo dieselben noch ganz wild und wüste waren, und zwar nicht allein durch die Steppen, sondern durch Kleiurußlanb selbst. Es herrscht die Meinung, daß die Wege dieser Fuhrleute alle Berge und Uebergänge umgehen. Es ist jedoch sehr schwierig, von einem Tschumak hierüber Aufklärungen zu erhalten, weil er sich nicht gern ausfragen läßt, am wenigsten aber von einem Großrussen, welcher nicht kleinrussisch spricht. Es gibt nach der russischen Ausdrucksweise frühe und späte Tschumaki. Der friihe Tschu-mat geht im April und Mai nach der Krim ab, kehrt zurück, und macht sich dann Ende August von neuem auf den Weg, und heißt dann ein später. Uebrigeus fahren manche von ihnen nur im Frühjahr, andere wieder nur im Herbst: manche kommen im Falle trockener Witterung sogar von ihrer zweiten Reise rechtzeitig zurück, andere bleiben dort den Winter über. Da die Zeit der letzten Neise, wo die Tschumaki mit ihren unbeladenen Wagen eine Fracht für den Hinweg suchen, mit der Zeit der Mariähimmclfahrtsmesse zusammenfällt, so gibt ihr dieser Umstand eine besonders wichtige Bedeutung für die schweren Waaren. Die russischen Kaufleute unterscheiden den krimschen Tschumak, welcher nach ') Wenn sich die Tschumali auf die Reise begeben, bilden sie unter sich Genossenschaften (Artells), wählen einen Ataman, verpflichten sich während der Reise alles gemeinschaftlich zn haben und leisten sozusagen auf jeden persönlichen Besitz und auf jeden persönlichen Gewinn Verzicht, 253 der Krim, an den Don mid nach dein Asowschen Meere geht, von dem odessaer Tschmnak oder dem klewrussischen Fnrsch-tfchik, welcher sich nnr von seinem Fuhrwerke ernährt und weder Salz noch Fische zuführt. Die krimschen Fuhrleute kommen nicht ans die Eliasmesse, sondern finden sich größtentheils auf der Mariähimmelfahrtsmeffe in Charkow ein. Vtall kann sich von der Ansdehnnng dieser Erwerbsart einen Begriff machen, wenn man bedenkt, daß für den Transport des Salzes allein, welches nur dnrch das Gouvernement Charkow geht, und zwar nach der Berechnung Roßlawski's in einer Qnantität von 3 Mill. Pnd, 100000 Wagen nöthig sind, wenn man auf den Wagen im Durchschnitt 30 Pnd rechnet; da mm das Salz in zwei Reisen geliefert wird, so bleiben, Wenn wir diese Zahl zur Hälfte nehmen, immer noch 50000 Fuhren, welche, nachdem sie zum Zwecke des Salztransportes leer abgehen, mit Waaren beladen werden können. Uebri-gcns ist es ganz unmöglich, die Zahl der auf den Messen vorhandenen Wagen zn bestimmen, denn viele von ihnen, sowol großrussische als kleinrussische, laden während einer einzigen Messe die Waaren ab, nehmen eine ncne Fracht, bringen dieselbe an einen nicht weit entfernten Pnnkt, kehren znrnck und nehmen dann noch eine zweite Fracht. Die Preife des Transports unterliegen natürlich manchen Schwankungen nnd hängen von verschiedenen zufälligen Umständen ab. Nach einer von uns vorgenommenen genanen Berechnnng kommt der Transport der Waaren, wenn derselbe sämmtliche zehn Messen nmfaßt, im Falle hierbei nur Pferdewagen verwendet werden, anf 11 Nnbel 55 Kopeken Assignation, werden aber Pferde- und Ochsenwagcn benutzt — auf 9 Rubel 70 Kopeken Assignation durchschnittlich per Pud; wir verstehen hierunter nicht den Transport der Waaren von dem Orte ihrer Erzeugung, sondern nur den Hin- nnd Hertransport zwischen den einzelnen Messen, welcher nach der 254 abgekürzten Fuhrmannsrechnung 2405 Werst beträgt. Doch ist nicht jeder Artikel für einen ähnlichen Hin- nnd Hertransport geeignet; übrigens wird auch, wie wir bereits Gelegenheit hatten zu bemerken, nicht jeder Artikel von Messe zu Messe transftortirt. Nichtsdestoweniger sind die Ausgaben für den Transport sehr bedeutend. Es ist begreiflich, daß die Kaufleute die Ausgaben zu vermindern wüuschcn und deshalb mehrere Messen an einem und demselben Pnnkte abzuhalten suchen, und daß in dem Handel mit schweren Waaren ein sichtliches Streben nach Stabilität zu bemerken ist. Leider haben wir bis hente noch keine specielle Karte der Transport- uud Fahrstraße« in Rußlands und ebenso wenig eine detaillirte Schilderung derselben. Man kann sich nicht genug wundern, auf welche Weise diese Straßen vom Volke gebahnt wurden ohne Beihülfe der Wissenschaft und zwar in einer für die so ungehenere Ausdehnung außerordentlich geraden Linie und Kürze. Wir Wolleu hier uur einige erwähnen. Von den Straßen, welche die Ukraine durchschneiden, sind bemerkenswerth: der Sagaidak, der Romodan und die muraw-sche Straße (N/M^M luMx^). Sagaidak heißt die Straße zwischen den Flnßchen Worskla und Pßol; Romodan heißen einige die Straße von Perejaslaw nach Lubnü und vou ^ubnii nach Sjänkow und Gadjatsch — andere dagegen die Straße von Lochwiza nach Krcmentschng. Was die alte murawsche Straße anbelangt, so ist in dem Buche der Großeu Tra-cirung ein Theil derselben in der Nähe folgender Grenz-scheiden angegeben: „10 Werst oberhalb Nowoi-Gorodischtsch liegt Gadskoje. 20 Werst von der murawschen Straße fiel das Flnßchen Pßolez in das Flüßchen Pßol, unterhalb der biälgorodischen Straße, welche von Biälgorod nach Kursk führt ... der Fluß Wortzkla aber entsprang von der murawschen Straße oberhalb des Flnßes Lipowoi-Doncz und floß längs der murawschen Straße bis zur Einmüdnng des Fluß' 255 cheus Rabün und bis zu Merla und stoß von Merla in den Dniepr." Einige Forscher nennen jene Transportstraße murawsche Straße, welche vom Don nach Waluiki (Gouvernement Wo-ronesch) nnd von da nach Tim (Gouvernement Kursk) und dann an die Okka, also im allgemeinen vom Don an die Okka führt; andere nehmen an, daß sich diese Benennung auf jene Straße bezieht, welche vom Dnievr (im Gouvernement Ieka-tarinoslaw über Smijew (Gouvernement Charkow) bis zur Stadt Tim, also im allgemeinen vom Dniepr an die Okka führt. Uebrigcns ist die murawsche Straße genau auf der Karte angegeben, welche sich bei der Wovlanow'schcn Beschreibung der Ukraine (XVII) befindet. Wir aber können unsererseits noch mit Sicherheit bemerken, daß die von der Districts-straße von Liwnü (Gouvernement Orel) nach Bialgorod (Kursk) führende Straße bei den großrussischen Fuhrleuten murawsche Straße genannt wird. Im allgemeinen nehmen die Waaren von Moskau nach Charkow folgenden Weg: Von Moskau nach Tula auf der Chaussee . . 169 Werst Vou Tula biegen sie ab und schlagen die Poststraße bis Iefremow ein.........131 „ Von Iefremow nach Liwnü (Gouvernement Orel) auf der Districtsstraße........89 „ Von Liwnü nach Staroi-Oskol nnd «7^ Von Staroi-Oskol nach Biälgorod Von Biälgorod nach Charkow auf der Poststraße 75 „ Auf der Karte von Schubert sind nur die Districtsstraßen von Iefremow nach Liwnü und von Liwnü nach Staroi-Os-kol angegeben; von Staroi-Oskol nach Biälgorod aber ist keine Transportstraße angegeben. Außer den Kosten für den Transport hat der Kaufmann 256 auch noch so manche Ausgaben anf der Messe selbst zu bestreiten: für die Miethe der Bude, für Kost und Logis, wobei noch während der Meßzeit alles im Preise steigt. Für die Bude in der Kurzwaarenrcihe allein mnß er manchmal das Jahr hindnrch gegen l Schagi, d. h. 12 Kopeken Assignation, sodaß man, wenn man einen ganzen Silberrubel gegen Dreikopekenstilcke Knvfergeld umwechselt, hierfür an alten Kupfergroschen m^l 257 3 Rubel 50 Kopeken Assignation, sondern 4 Rubel Assignation erhält. Indessen gilt auch dort der Silbcrrubel (Karbowanez) in Silber oder Papiergeld 3 Nnbel 50 Kopeken Assignation. Das Schock (Kopa) Groschen gilt einen halben Rubel (Poltina) Assignation. Man mnß jedoch bedanern, daß die von den Polizeiämtern oder Meßcomitc's über den Umsatz einer jeden Messe an das Ministerium des Innern einzusendenden Berichte ungemein nachlässig abgefaßt werden und sehr grobe Irrthümer enthalten. Ans jeder Messe befolgt man in dieser Beziehnng eine eigene Methode, sodaß es beinahe unmöglich ist, hieraus eine allgemeine Znsammenstellung zu macheu. In einem Berichte werden die Tücher, die Seiden- und Wollstoffe gesondert anf-geführt, in einem andern kommen sämmtliche drei Waaren-gattuugen nnter einer Kategorie vor, in einem dritten wird gar keine andere grobe Waare angeführt, sondern es sind nnr die kleineu Waareu angegeben, deren Zufuhr nicht einmal die Snmme von 1000 Rnbel Silber erreicht. In einem andern Jahre werden ans Vergessenheit, oder besser gesagt aus pnrer Gleichgültigkeit des Marktinspectors gewisse Artikel ganz weggelassen, obgleich sie auf der Messe vorhanden mid in den Verzeichnissen der frühern Jahre aufgeführt waren. Oder es kommt demselben plötzlich in den Kopf, die Fehler der frühern Jahre zu verbessern nnd die wirklich zngeführten, aber in den frühern Verzeichnissen ausgelassenen Artikel jetzt nachträglich aufzunehmen. Ob und was der Marktinspcctor vergessen oder nicht vergessen hat, daranf kommt es gar nicht an, aber die Statistiker zerbrechen sich den Kopf nnd kommen zu dem Schlnssc, daß „plötzlich ein Bedürfniß nach Waaren cnt-standen sei, welche früher nicht zugeführt wnrden", oder das; „der Handel in Verfall gerathe" u. f. w. — und kommen so zn einem falschen Nesnltate. Zum Schlüsse erlauben wir uns noch einige Worte über Russische Fragmente. I. 17 258 die Zukunft der Messen anzuführen. Seit der Aufhebung der am ersten Sonntag nach der großen Fasten, sowie der in der Woche vor Fastnacht stattfindenden Messe, und der durch den Einfluß politischer und kriegerischer Verhältnisse stattgefundenen Verlegung der Eliasmessc nach Poltawa hat sich das alte Meßshstem geändert, ohne daß sich das neue bisjetzt noch ganz zu befestigen vermochte. Es unterliegt keinem Zweifel, daß mit der Anlegung einer Eisenbahn von Moskau nach dem Schwarzen Meere sämmtliche au diesem Wege liegenden Messen eingehen werden, mit Ausnahme der Nollmärkte, welche man richtiger Waarenausstelluugen, die zu einer festgesetzten und bekannten Zeit des Jahres abgehalten werden, als gewöhnliche Messen nennen sollte. Was Charkow betrifft, so geräth dasselbe nach unserer Neberzeugung uicht nnr nicht in Verfall, sondern es wird dasselbe vielmehr zum Hauptsta-pelpunkte und Transitplatze für das ganze südliche Rußland, zu einem Centralkaufhofe werden, von welchem alle umliegenden Gegenden mit Waaren versehen werden. Iwan Aksatow. a) Anmerkung zu Seite 251. Als eine kleine Probe der Volkspoesie, von welcher Aksakow hier spricht unb welcher ich schon vor 17 Jahren ein besonderes Werkchen gewidmet habe („Die poetische Ukraine :c.", Stuttgart unb Tübingen, I. G. Eotta, 1845), möge hier ein Lieb in treuer Uebersetzung seinen Platz finden: Im grünen Wiesenthal silberhell Aufsprudelt der kalte Wasserquell. Treibt der Tschumak dort hin, seine Ochsen zu tränten: Aber sie brüllen, Ihren Durst nicht stillen, Und Unglück ahnend die Köpfe senken. Spricht er: O meine grauen Stiere, Daß ich euch nimmer zur Krim hinführe! Habt mich so trübe gemacht, Mich, der so jung noch, in« Unglück gebracht ... Am nächsten Sonntag, am frühen Tag, Tobt, tobt der jnnge Tschumak lag. Und man grnb ihm mit eisernem GrabeSscheit Eine Todtcngrube tief und weit, Unb Pflanzt auf den hohen Orabesraum Einen blühenden jungen Holunderbamn. Flog ein Knkuksweibcheu herzu, Hnb an zu rufen: Kuku, Kutu! Reich mir, mein Sohn, mein junger Aar, Reich deine rechte Hand mir bar! O gern, meine Mutter, mein i'cben, Wollt' ich beide Hände dir geben! Doch mich deckt eine feuchte Erbeuschicht Uud die feuchte Erde läßt mich nicht! F. «. 17* Ueber die historische Bedeutung der Verhandlungen der moskauer Synode im Jahre 1551. (In Beziehung auf Seite 02—122 des vierten Bandes der „Geschichte Rußlands" von H. Solowjew.) Das 16. Jahrhundert ist, wie alle wissen, die sich mit der russischen Geschichte beschäftigt haben, das bedeutendste Jahrhundert unserer Geschichte vor Peter. Diesem Jahrhunderte war die wichtige Aufgabe zu Theil geworden, das moskauische Reich zu einem Ganzen zu verschmelzen. Die Vereinigung des russischen Landes um Moskau herum war von den energischen und unermüdlichen moSkauischcn Fürsten schon gegen das Ende des 15. Jahrhunderts vollendet worden; doch war dies mehr in der äußern Form geschehen. Man mußte aus diesen durch die äußere Form sich näher gebrachten Gliedern erst einen lebendigen, von Einem Geiste beseelten Organismus schaffen, und diese Aufgabe wurde durch Moskau, und vorzugsweise schon im 16. Jahrhundert gelöst. Es ist allerdings richtig, daß die Gebiete, welche um diese Zeit mit Moskau vereinigt wnrden, schon von alters her russische Provinzen waren; allein nicht minder richtig ist, daß jede derselben vollkommen selbständig ihr eigenes rnfsisches Leben besaß. Jede Provinz hatte trotz der eingewurzelten allgemeinrussischen Grundlagen ihre eigenen Staatsinteressen, ihre 264 eigenen Ansichten von dem Leben der andern Provinzen, ihre eigenen Sitten und Gebräuche, ihre lokalen Bildungsmittel und sogar ihr lokales Heiligthum. Es ist natürlich, daß bei der Vereinigung dieser Provinzen mit Moskau nicht nur neue Territorien, nene Städte und Dörfer, sondern anch nene Interessen und Fragen des innern Lebens in den Bereich Moskaus gezogen wurden. Alle diese Interessen und Fragen wurden jetzt von den Provinzen, welche ihre Selbständigkeit anfgegeben hatten, auf den neuen historischen Factor — auf Moskau, übertragen, damit dieses, nachdem es die Früchte der frühern, provinziellen Thätigkeit in sich aufgenommen, dieselben in den allgemeinen russischen Lebenstypus verarbeite. Die ersten Schritte znr Lösung dieser nngehenern Aufgabe wurden von Moskau schon am Ende des 15. Jahrhunderts unternommen. Wir erinnern hier z. B. nur an den Sudcb-nik vom Jahre 1497, welcher an die Stelle des russischen Rechts (?^co««n IlMyM) und der urkundlichen Statuten der einzelnen Fürsten trat. Allein eine solche umfassende Aufgabe ließ sich nicht auf einmal löfen. Deshalb war es anch dem Sohne und noch mehr dein Enkel Iwan's III. vorbehalten, ein und dasselbe Werk, das Werk der innern Einigung des russischen Landes fortzusetzen. Zur Vervollständigung und zur Bekräftigung der historischen Wahrheit unsers gegenwärtigen kurzen Abrisses bemerken wir noch, daß für Ioann I^> die Lösung der Anfgabe, die ihm von seinem Jahrhunderte gestellt warb, noch viel schwieriger war als für scinc Vorgänger. Bei jenem unglücklichen Verlaufe, welchen nnscrc Geschichte in der Zeit seiner Jugend nahm, wurde vieles von dem, was durch seine Vorgänger geschehen, entweder verwischt oder vollständig zerstört. Wir haben den Beweis hierfür in seinen eigenen Worten, wenn er sagt: „daß viele Gewohnheiten früherer Zeiten, namentlich nach feinem Vater Wassili Iwanowitsch, dem Zaren des ganzen Rnßland, ausgerottet, 265 viele Eigenmächtigkeiten durch verschiedene Leute willkürlich eingeführt, viele frühere Gesetze aufgehoben und in vielem unkräftig und gegen die Gebote Gottes gehandelt worden."') Hierin bestand die Schwierigkeit im Innern des Reichs. Allem auch von außen erhoben sich Schwierigkeiten. Ueber vieles entstanden andere Ansichten, welche den allmählichen Lauf des rein russischen Lebens hemmten. Wir wissen, daß das russische Reich gegen das Ende des 15. Jahrhunderts mit den übrigen Reichen des Ostens und Westens in Beziehungen zu treten begann. Ohne zu behaupten, daß seine Beziehungen zn diesen nnd jenen von gleicher Ausdehnung nnd gleich langer Dauer gewesen, müssen wir doch die Wahrnehmung machen, daß gegen die Zeit Ioann's IV. die Folgen diefer Beziehungen bereits fühlbar wnrden. Es begannen sich Einflüsse auf das rnssische Leben und die russische Anschauungsweise von anßen her zn äußern, obgleich die eingewurzelten russischen Principien noch so kräftig waren, daß sie diese Neben ein flüsse beständig zurückhielten und absor-birten. Für den Historiker ist hier der Umstand wichtig, daß in Rußland Fragen auftauchte«, welche durch die Vergleichung des russischen Lebens mit dem Leben anderer Länder hervorgingen, daß sogar Versuche angestellt wurden, die russischen Fragen im Geiste des fremden Lebens zu lösen. Unterdessen waren jedoch, wir müssen dies wiederholt bemerken, die selbständigen und verschiedenartigen Strömungen des frühern provinziellen russischen Lebens nach Moskau geleitet worden. Alles was bisher Interesse oder Gewohnheit dieser oder jener Provinz gewesen, dies alles wurde jetzt zugleich mit der Provinz moskowitisch, alles erwartete seine Lösung von dem moskowitischen Geiste. Bei einer solchen Lage der Dinge erscheint im 16. Iahr- 1) Stoglaw, Kap. 4. 366 hundert in Moskau ein verständiger, leidenschaftlicher und was die Hauptsache war, ein junger Zar! Dies war Zar Ioann IV. Die guten und schlechten Seiten seines Charakters und seiner Erziehung vereinigten sich gleichsam absichtlich in ihm, damit er mit um so größerm Eifer sich den Aufgaben seines Jahrhunderts widme. Bei seinem Verstände mußte er die Gedanken seiner Vorgänger begreifen. Bei seinem innigen Enthusiasmns mußte er für die wirklich vorhandene Nothwendigfeit eingenommen werden, das russische Leben feiner Zeit zur Einheit und zur Wahrheit zu führen. Bei seiner unerschütterlichen, gleichsam immer erbitterten Willenskraft mußte er von dem Gedanken eingenommen werden, den Bojaren, welche das Reich während der Zeit feiner Ingend verwaltet hatten, in der That zn zeigen, was sie für Leute seien, und wohin sie die Verwaltung gebracht hatten. Er hatte sich kaum mit ihnen ausgesöhnt, er hatte ihnen kaum noch alle ihre Schuld vergeben und sie begnadigt, welch herrliche Gelegenheit, durch seine Thätigkeit zu zeigeu, daß er, indem er ihnen verzieh, sie auch „begnadigte". Die Eigenthümlichkeit und Schwierigkeit seiner Lage erkannte Ioann, wie wir aus seinen oben angeführten Worten gesehen, mit welchen er ausdrückte, daß er vieles von neuem anfangen müsse! Aber für solche Charaktere, wie Ioann IV., und in solchen Jahren liegt gerade in der Schwierigkeit einer Sache der Reiz derselben, und Ioann wich vor der Aufgabe, die ihm sein Jahrhundert gestellt, nicht zurück. Unmittelbar nach erlangter Volljährigkeit und zugleich mit dem Antritt der selbständigen Negierung des Reichs, schritt Ioann zu dem Werke der weltlichen und kirchlichen Staatsorganisation. Er fand einen würdigen Mitarbeiter an dem damaligen Metropoliten Makarij. Dieser würdige Bifchof nahm keinen Anstand, sich mit dem Zaren in das Werk der Organisation Rußlands zn theilen und ganz in dem Geiste 367 des Zaren zu handeln. Fast seit den ersten Jahren des Auftretens dieses Metropoliten in Moskau sehen wir denselben theils mit der Sammlung kirchlicher Nachrichten, theils mit deren Prüfung beschäftigt. So befahl er, alles, was man damals in Nußland an kirchlichen Schriftdenkmälern besaß, in ein großes Heiligenbuch zusammenzufassen. Bald begann er anch selbst die verschiedenartigen Abschriften des Nomokanon, Gesetzbuch Nikon's, zn sammeln und aus denselben ein einziges Sammelwerk zu bilden, als Material zur Herausgabe eines vollständigen Nomokanon für ganz Rußland. Während der Metropolit zur Ausführung dieser Arbeiten sich anschickte, berief ihn der Zar zn einer öffentlichen (officiellen) Thätigkeit. Im Jahre 154? schlug ihm Ioann vor, uach Moskau eine Synode zur Revision der lokalen (provinziellen) Heiligthümer zn bcrnfen, nämlich die Lebensbcschreibuugen der Heiligen, welche in den verschiedenen Provinzen Rußlauds geleuchtet hatteu, dort, wo dereu vorhanden, zu sammeln, nnd dort, wo keine vorhanden, solche einzuführen und auch den Gottesdienst für diese Heiligen einzurichten. Die Synode wnrde eröffnet und viele legenden und Satzungen, die derselben vorgelegt wurden, wurden von ihr revidirt, und zum allgemeinen Gcbranche für ganz Rußland bestätigt.^ I^ Jahre 1549 wurde wiederum eine Synode zur Fortsetzung dieser Arbeit eingesetzt. Boltin, welcher sich, wie es scheint, auf die eigenen Worte Ioann's im Stoglaw beruft, führt an, daß in demselben Jahre „die Reliquien nnd Bilder der Heiligen untersncht wurden", „denn", fährt er fort2), „als Rußland in viele einzelne Provinzen getheilt war, hatte jeder Kreis, jede Provinz, jeder Bezirk seine eigenen Heiligen". Durch diese Worte werden sehr scharf jene Grundlagen bezeichnet, aus welchen die Thätigkeit des 1) Act. Arch. Ex., Nr. 213. 2) Bemerkungen zu Leclerc, U, 251. 268 Zaren Ioanu und des Metropoliten Makarij hervorging. Unterdessen traf Ioann Vorbereitungen zu neuen legislatorischen Arbeiten, welche den ganzen Kreis des staatlichen und kirchlichen Lebens des damaligen Rußland womöglich noch vollkommener nmfassen sollten. Schon znr Zeit der Synode des Jahres 15-U» hatte er sich den Segen des Metropoliten und der Bischöfe erbeten, um den Sudebnik zu revidiren und zu verbessern. Im Jahre 1550 war diese legislatorische Arbeit bereits vollendet. Es wurde dann eine neue Synode zur Revision und znr Bestätigung des Sudebnit nnd der Gesetzes-nrkuudcn zusammenberufen und auf derselben Synode machte der Zar dem Metropoliten Makarij und den übrigen Bischöfen den Vorschlag, für das Kirchenregiment dasselbe zu thun, was er für das Staatsregiment gethan, d. h. alles zerstreut Umherliegende nnd alles Lose einer Durchsicht zu unterwerfen, nnd ersteres in eine Einheit zu bringen, letzteres aber zu con-solidiren. Die Antwort auf diefeu Vorschlag des Zaren war die Synode, welche sich im Jahre 1551 in Moskan versammelte und das Buch über die Kirchensatzungen herausgab, welches unter dem Namen Stoglaw (das Buch der hundert Kapitel) bekannt ist. Auf diese Weise schließt sich der Stoglaw an jene wich" tigen Regierungsmaßregeln Ioann's IV. und des Metropoliten Makarij an, welche das historische Verdienst dieser Männer begründen, und welche eine würdige Fortsetzung jener frühern Regierungsthätigkeit Moskaus waren, welche dort schou zur Zeit Ioann's III. infolge des Anschlusses der übrigen nordrussischen Provinzen an Moskan begonnen hatte. Der Stoglaw beschließt mit dem Sndebnik (das obenerwähnte Gesetzbuch Ioann's IV.) gleichsam das große Werk — das weltliche und kirchliche Gebäude Ioaun's IV. Sudebnik und Stoglaw sind die beiden Brennpunkte, in welchen sich alle verschiedenfarbigen Strahlen des frühern nordrnssischeu Provinzlebens con- 269 centriren; hier müssen sich diese Strahlen nach dem besondern moskanischen Gesetze brechen, um nach allen Seiten ausgehend, das nördliche Rußland durch das neue moskowitisch-rnssische Licht zu erleuchten. Nicht willkürlich räumen wir dem Stoglaw eine solche Stelle unter den legislatorischen Erscheinungen des 16. Iahr-hnnderts ein. Diese Stelle wurde ihm von Ioann IV. selbst angewiesen. In seiner Rede an die Synode der Bischöfe sagte Ioanu, daß diese ihre neue Arbeit die Fortsetzung und würdige Vollendung der übrigen administrativen Arbeiten jeuer Zeit sciu müsse, deren er hierbei kurz zu erwähnen für nöthig hielt. Wir lassen die eigenen Worte Ioaun's folgen: „Im siebzehnten Jahre meines Alters ward meine Seele mächtig bewegt, als ich erfuhr, daß ein großer und unerschöpflicher Reichthum vor vielen Jahren uuter unsern Vorältern verborgen und der Vergessenheit übergeben wurde, — die großen Glanzpunkte, die neuen Wnudcrthaten, welche vor Gott durch viele und unaussprechliche Wunder verherrlicht worden .. . Wir bitten darnm (der Zar erinnert an die Synode von: Jahre 1547) die Hohenpriester des ganzen russischen Reichs — in der Metropolis in den Erzbisthümeru und Bisthümcru, daß ein jeder in den ihm angewiesenen Grenzen, in den Städten, den Klöstern und den Einsiedeleien und überall Nachrichten über neue große Wunderthäter erforschen und anfsucheu lasse, uud zwar durch die heiligen Synoden und die Aebte nnd die Mönche, die Knjäsen uud Bojaren uud die gottesfürchtigen ^eute, wo irgend Wuuderthäter durch große Wunder nud Zeichen berühmt geworden. — Die Geistlichen aber sammeln baldigst die Kanone, die Lebensbeschreibungen und die Wunder dieser großen Heiligen und ncnen Wunderthäter — jeder Geistliche innerhalb seiner Grenzen, nach dem Zeugnisse der dort lebenden Einwohner, wo die Heiligen berühmt geworden. Und im neunzehnten Jahre meines Alters 270 kommen nach unserm Befehle die Erzbischöfe und Bischöfe nud die ehrwürdigen Archimandriten und Acbte zu uns und unserm Pater und Metropoliten Makarij in der Hauptstadt Moskau zusammen, uud legen die Kanone der neuen Wnndcrthäter, ihre Lebensbeschreibungen und ihre Wunder der Synode vor, berufen sich hierbei auf alle heiligen Synoden nnd tragen den Kirchen Gottes auf, dieselben durch Lobgesänge zn feiern ... Im einundzwanzigsten Jahre meines Alters und im achtzehnten meines Reichs . . . habe ich mir von euch den Segen er-beten, den Sudebnik den frühern Zeiten gemäß zu verbessern und zu bestätigen, damit das Gericht nach Gerechtigkeit handele und alles unerschütterlich für alle Zukuuft bleibe. Ich habe demnach nach Empfang euers Segens den Sudebnik verbessert uud habe, strenge Gebote erlassen, daß derselbe genau befolgt werde, das Gericht mit Gerechtigkeit verfahre nnd in alleu Dingen unbestechlich sei. Auch habe ich in allen Gegenden meines Reichs Aelteste (Staroste) und Geschworene eingesetzt, so wie Hundertmänner und Fnnfzigmänner in allen Städten und Flecken und in den Gauen und Bezirken und bei den Bojarensöhnen — und habe Gesetzesurknnden verfaßt. Diefer Sndebnik uud die Gesetzesnrkuudcn liegen nun vor euch, durchlesct dieselben und ziehet dieselben in Betracht, damit unser Werk ein gottgefälliges sei und vou euch gesegnet unwandelbar von Geschlecht zn Geschlecht fortbestehe. Wenn dieses Werk würdig ist, so soll, nachdem es auf der heiligen Synode bestätigt worden nnd den ewigen Segen erhalten, der Sudebnik und die Gesetzesurkunde unterzeichnet werden, welche im Staate Geltung haben sollen. Nachdem wir Gott um Beistand angefleht, so berathet im Verein mit uns alle Bedürfnisse, erwäget, verordnet uud bestätigt die Gefctze nach den Lehren der heiligen Apostel und der heiligen Väter, und nach den frühern Gesetzen unserer Vorfahren, damit jedwede Sache und alle Gewohnheiten in unserm Reiche während 271 euerö geistlichen Hirtenamtes und während unserer Herrschaft nach dem Willen Gottes geschehen. Diejenigen Gewohnheiten früherer Zeiten, welche nach nnserm Vater Wassilij Iwano-witsch, des Beherrschers ganz Nußlands, bis auf die jetzige Zeit verändert worden sind, oder die Willkür, welche eigenmächtig eingeführt worden, oder die frühern Gesetze, welche abgeschafft worden, oder was mit Misachtung der Gebote Gottes geschehen — sowie über alle irdischen Einrichtungen nnd über die Verirrungen unserer Seele — über alles dies unterredet euch in geistlicher Weise und berathet euch und setzt uns hiervon in Kenntniß. Wir aber crsnchen euch um euern geistlichen Nath und wünschen uus mit euch zu beratheu und im Namen Gottes alles Unrecht in Heil und Segen zu verwandeln. Aber auch unsere Nöthen und irdischen Mängel werden wir euch kund thun. Ihr aber urtheilt nach den Grundsätzen der heiligen Apostel und der heiligen Väter, und setzt alles uuter allgemeiner Zustimmung fest; ich aber neige vor euch, meinen Vätern, die Stirn mit meinem Bruder und meinen Bojaren." (Stoglaw, Kap. 4.) Diese Bezeichnung der Stelle, welche der Stoglaw unter den übrigen legislatorischen Denkmälern ans der Mitte des 16. Jahrhunderts einzunehmen habe, und nicht allein die Bezeichnung der Stelle, sondern auch die Bestimmung der Aufgabe des Stoglaw, ist für das Studium desselben außerordentlich wichtig. Es wird hierdurch dargethan, uon welch großer Bedeutung dieses Denkmal für seine Zeit gewesen, und wie enge dasselbe mit dem ganzen damaligen Wesen der Kirche und der Gesellschaft verknüpft war. Der Historiker, welcher diese Andeutung wahrgenommen und begriffen hat, erhält neben der Verpflichtung, in alle lebendigen Gliederungen des Stoglaw einzudringen — auch zugleich einen Leitfaden für seine Untersuchungen. Namentlich aber wird derselbe seinem Leser erklären: 272 1) den Kreis der Gegenstände, womit sich die Synode von 1551 beschäftigte. Es ist interessant, zu erfahren, worauf eigentlich damals die schöpferische Thätigkeit Moskaus gerichtet war. Dieser Kreis wird vor allem durch die Fragen gekennzeichnet, welche von dem Zaren den Vätern der Synode schriftlich übergeben wurden und welche in dem 5. und 41. Kapitel des Stoglaw enthalten sind. Allein der Kreis wird noch dadurch besonders erweitert, wenn die Synode, die Frage des Zaren benutzend, als eine Veranlassung selbst den Gegenstand der Frage in ihrer eigenen Bestimmung zu entwickeln beginnt. Hier findet der Forscher, daß die Aufgaben, welche durch den Stoglaw zn lösen waren, eine sehr weite Ausdehuung haben und sehr viele Seiten des staatlichen und kirchlichen Bebens umfassen. Der Gottesdienst und die kirchlichen Ceremonien, die Sitten nnd Gewohnheiten der Geistlichkeit, der weißen sowol als der schwarzen, die Sitten nnd Gewohnheiten der Laien — endlich die kirchliche Gerichtsbarkeit, die kirchliche Administration mit den verschiedenen Einzelheiten ihrer Organisation — dies sind die Gegenstände, womit sich die Vcrordnuugeu des Stoglaw beschäftige,:. Der Forscher ist verpflichtet, den Leser mit allen diesen Dingen bekannt zu machen. Sowol der allgemeine Umfang aller Aufgaben als auch der Umfang jeder einzelnen für sich ist hier von gleicher Wichtigkeit. Indem wir diefen Gegenstand berühren, müssen wir einige Bemerkungen darüber anssprechen, in welcher Form der In' halt des Stoglaw von dem Historiker wiedergegeben werden muß. Obgleich, wie wir oben angedeutet, dieser Iuhalt sich im ganzen auf eiuige allgemeine Abschuitte zurückführe« läßt, z.B. auf den Gottesdienst, die kirchliche Administration u.s.w., so ist doch in dem Stoglaw selbst diese Eintheilung nach Al" schnitten nicht festgehalten; es ist dies hier nicht, wie ;. B> ü> der Uloscheuije (Gesetzbuch des Zaren Alerei Michailowitsch) 273 * der Fall. In dein Stoglaw finden wir nach der Frage, z. B. über irgendeine gottesdienstliche Ceremonie, ein Kapitel über einen weltlichen Gebrauch, dann wieder über eine Ceremonie, dann wieder über die Gerichtsbarkeit n. f. w., kurz, es ist scheinbar kein System darin, sodaß dasselbe Kapitel manchmal über mehrere Gegenstände zngleich nnd nicht über einen und denselben Gegenstand handelt. Allein diese scheinbare Ordmmgs-losigkeit darf den Erklärer am wenigsten irre machen, sondern muß ihn vielmehr zur Systematisirung und Grnppirnng des Inhalts des Stoglaw veranlassen. Gerade in der Form, in Welcher der Stoglaw geschrieben, besteht sein System, und gerade dieses ist von großer Wichtigkeit für das Verständniß dieses Denkmals. Die Hauptorduung der Synodalbcstim-mungen ist durch die Fragen des Zaren angedeutet, welche alle beisammenstehen. — Die Synodalbestimmungen find die Antworten auf dieselben; allein diese folgen uicht sklavisch der Ordnnng der Fragen des Zaren, uud gerade darin liegt die ganze Wichtigkeit. Der Unterschied in der Ordnung der synodalen Antworten bezeichnet die eigene Ansicht der Geistlichkeit von der Sache. Welche Fragen mehr oder weniger wichtig erschienen, welche eine schnellere Lösung erforderten, welche aufgeschoben werden konnten, welche leichter oder schwerer zu entscheiden waren, alles dies ist hier zu ersehen. Ferner ist von einem nnd demselben Gegenstande in verschiedenen Kapiteln die Rede, und auch dies hat seinen Sinn, seine Bedeutung. Eiue jede solche Wiederholung ist, wenn man sie richtig vei> steht, ein anderer, nur ähnlicher, aber selbständiger Fall, — oder eine neue Seite der Sache, von welcher früher an seinem Orte die Rede gewesen; alles dies hat seiuc Bedeutuug. Kurz, der Erklärer des Stoglaw muß, weuu er das Denkmal nicht verunstalten will, in seiner Darstellung die ganze eigenthümliche Einrichtung desselben unausgesetzt bewahren. Mussische Fragmente. I. 18 274 2) muß nothwendig bestimmt werden, wieviel von dem Antheil an diesem wichtigen nnd interessanten Werke, wie der Stoglaw ist, dem Zaren, und wieviel hiervon der Geistlichkeit gebührt. Ein bereits verstorbener Historiograph hat, obgleich er zum ersten mal und dazu neben einer MelM anderer Arbeiten den Stoglaw bearbeitete, die Nothwendigkeit und Wichtigkeit ähnlicher Beobachtungen wahrgenommen und hat dieselben, wenngleich flüchtig, auch gemacht. „Diese Gesetzgebung", sagt derselbe, indem er den Inhalt des Stoglaw, wenngleich in kurzer Uebersicht, aber dennoch ziemlich vollständig gibt, „diese Gesetzgebuug gehört mehr dem Zaren als der Geistlichkeit an; ersterer dachte und ertheilte seine Rathschläge, letztere folgte nur seinen Andeutuugeu." Der Historiograph würdigte hier nicht den Antheil der Geistlichkeit, welche den Stoglaw selbständig bearbeitete und die Gedanken des Zaren Ioann in vielem vervollständigte; allein das ist wichtig, daß er schon durch diese Bemerkung andeutete, welche Fragen die künftigen Forscher des Stoglaw beschäftigen sollen. 3) ist es von Wichtigkeit', darauf hinzuweisen, in welcher Beziehung damals diese beiden Autoritäten bei dcr Abfassung des neuen legislatorischen Denkmals zueinander standen. Die gegenseitige Berührung des staatlichen und kirchlichen Rechts im Stoglaw ist so vielseitig und so nahe, daß die beste Form, nach welcher der Historiker den Begriff über das Verhältniß dcr Kirche und des Staats in Nußland im 16. Jahrhundert darzustellen hat, schwer zu fiuden ist. Und in der That begreifen die gewissenhaften Forscher unserer Geschichte, welche in derselben die Leuchte des Verstandes an dem lebendigen Feuer der Deukmäler selbst anzünden, und welche nicht beständig, wie bei uns jemand treffend bemerkte, in fremden Hütten mit der Bitte, „ihnen ein Feuer anzuzünden", umherirren, die ganze Wichtigkeit diefer Seite und 275 zeigen, indem sie dieselbe zu würdigen wissen, gehörigen Orts auf dieselbe hin. Wir erinnern uns hier unwillkürlich an eine Vorlesung aus der Geschichte der russischen Gesetzgebung, welche wir im verflossenen Jahre an der moskauer Universität zu hören Gelegenheit hatten. Wir lassen die Worte des gelehrten Professors über die gegenseitigen Beziehungen der welllichen und geistlichen Autorität in Rußland im 16. Iahr-huudert und über die Art, wie diese Beziehungen in der ftoalawschen Synode ausgedrückt sind, folgm: „Das Verhältniß des Staats und der Kirche, wie sich dasselbe in der Synode von 1551 aussprach, ist sehr bemerkenswerth. Auf der einen Seite bietet uns dasselbe ein überraschendes Beispiel von dem aufrichtigen Vertrauen des Zaren zu der Geistlichkeit ^ auf der andern Seite aber ein nicht minder seltenes Beispiel von Redlichkeit, Mäßigung nnd Klugheit dar, womit die russische Geistlichkeit von diesem Vertrauen Gebrauch machte. Nir sehen hier beutlich, daß die gegenseitigen Beziehungen der obersten Gewalt uud der Kirche im russischen Reiche in demselben wohlthätigen Einvernehmen im 16. Jahrhundert standen, wie dies im 11. und 12. Jahrhundert der Fall gewesen; — daß sowol die eine wie die andere Partei sehr wohl die Grenzen ihrer Pflichten erkannte und nicht daran dachte, sich einander die Rechte streitig zu machen, welche durch ihre heilige Verpflichtung bedingt waren, den Frieden und die Ordnung in der Gesellschaft zu erhalten. Während im 16. Jahrhundert im westlichen Europa blutige Kriege geführt wurden, die durch die unstatthaften und gesetzwidrigen Ansprüche der kirchlichen und wcltlicheu Macht hervorgerufen worden, während sowol die eine wie die andere Partei auf verschiedene schreckliche und entsetzliche Mittel sann, um sich gegenseitig zu vernichten — bietet zu gleicher Zeit in Moskau der selbst-henschende Zar der Geistlichkeit einen bedeutenden Theil seiner Gewalt über das Volt an, und es nimmt die russische 18* 276 Geistlichkeit, statt von diesem Vorschlag Gebrauch zu machen und unter dem Scheine der Verfolgung des Aberglaubens und der Ketzerei Foltern zu errichten und alle Arteu von Martern und Torturen nach Art der schrecklichen Inquisition einzuführen und auf Scheiterhaufen Zauberer und Ketzer zu verbrennen, um auf diese Weise das ganze Volk ihrer uumittelbaren Gewalt zu unterwerfen — in aller Demuth aus diesem reichen kaiserlichen Anerbieten den zwar nicht glänzenden, aber vielbedeutenden Antheil an dem moralischen Einflüsse auf das Volk durch die überzeugende Belehruug der Bischöfe uud Priester, und behält sich nur in den äußersten Fällen das Recht vor, zu Kirchenbußeu, zum Banne uud andern geistlichen Strafen ihre Zuflucht zu uehmen, welche durch die alten kirchlichen Grundgesetze bereits vorgeschrieben waren; alles andere ihr nicht Zugehörige gibt sie dem Zar zurück." Allerdings muß man zu einer solchen beachtenswerthen Ansicht über die Beziehungen der weltlichen und geistlichen Gewalt in Rußland während des 16. Jahrhunderts gelangen, wenn man im 41. Kapitel deS Stoglaw die Fragen 17, 19, 20, 21 und 22 liest, wo Zar Ioann die Verfolguug des Aberglaubens und der Häresie der Gewalt der Geistlichkeit übergibt, und wo diese letztere genau alle Fälle unterscheidet, „wann es dem gottesfürchtigen Zaren gebühre, sein kaiserliches Gesetz walten zu lassen", und wann die Geistlichkeit selbst die „rechtgläubigen Christen nach den Kirchengesetzcu iu deu Bann thun müsse". Nicht minder wichtig sind anch viele andere Kapitel, wie z. B. die Kapitel über die geistliche Gerichtsbarkeit, wo die Kirche weise und vollkommen gerecht ihre Selbständigkeit gegen das gleichzeitige Eiudringen vou Elementen des weltlichen Rechts in ihr eigenes Recht zu wahre» wußte. Alles dies ist in hohem Grade merkwürdig. 4) eutsteht die Frage: aus welchen Elementen b^ Regierung in dem Stoglaw ihre Verordnungen zusammen' 277 setzte? Die Beantwortung dieser Frage führt vor allem zu einer weitern über die Grundlagen und Quellen der Synodal-bestimmnugen vom Jahre 1551 und über die Art und Weise der Benutzung dieser Quellen. Wenn wir die Sache von dieser Seite betrachten, so sehen wir in dem Stoglaw, als einem kirchlich-legislativen russischen Werke, zwei Arten von Quellen, von welchen auch die zweifache Art ihrer Benutzung abhängt. Dem Ganzen liegen die kanonischen Quellen zu Grunde, die Denkmäler der Grundeinrichtungen der allgemeinen Kirche, — allein es gibt anch noch eine andere Art von Quellen, und diese sind die nomokanomschen, welche, ans die alten Vorschriften der byzantinischen Kirche sich gründeud, den lokalen Gebränchen und Bedürfnissen der russischen Kirche nur Platz machen. Hier zeigt sich zuerst der merkwürdige Einfluß, welchen das dem Stoglaw vorausgegangene russische Kirchenrecht auf denselben ausübte, während der Stoglaw, auf dasselbe sich stützend, selbst als eiu vorsichtiger, die Tradition beobachtender, aber dennoch selbständiger Factor im Bereiche des russischen Kirchenrechts zn erscheinen beginnt. In diesem Falle sehen wir in demselben beständig zwei Seiten, nnd zwar die eine als die Seite des Conservatismus, der Vorsicht, der Aufmerksamkeit gegen die harmonisch gegliederte Ordnung des kirchlichen Lebens und der Vesorgniß, deren Grundlagen umzustürzen, die andere dagegen als die Seite dcs Fortschritts, des Vorwärtsschreiten^ des Bedürfnisses, das Scinige zu verbessern und zu corrigireu. Zwischen diesen äußersten Grenzen bewegen sich die Satzungen des Stoglaw äußerst vorsichtig. Bei jeder Frage sucht er vor allem die allgemein-kirchlichen Satzungen der orientalischen Kirche vorzuführen; dort, wo die Frage eine rein russische ist uud allgemein-kirch-liche Bestimnnmgen dieselbe nicht berühren, oder wo solche Bestimmungen bereits durch russische Bischöfe dem russischen Leben angepaßt wurden, stützt sich der Stoglaw auf die ruf- 278 fischen Bestimmungen. Wo dies aber nicht der Fall ist, da gibt er seine eigenen, wohlerwogenen und wohlbegründeten Vorschriften, indem er auf die Landessitte Bedacht nimmt, welche er geradezu ein ungeschriebenes Gesetz nennt. So erscheint demnach als erste Quelle für den Stoglaw die Kormtschaja (das von dem Patriarchen Nikon gesammelte Kirchengesetzbuch), welches zugleich mit dem Glauben nach Rußland gebracht worden uud den allgemeinen Kanon und den byzantinischen Nomokanon in sich schließt. Nach ihr jedoch gründen sich die russischen Kirchengesetze auf die Synodalbestimmungen, von den Satzungen Wladimir's und Iaro-slaw's beginnend und mit den Bestimmungen jener Metropoliten fortfahrend, welche besonders sowol in Beziehung anf die Zeit als die Ideen dem 16. Jahrhundert nahe stehen, wie z. B. St.-Peter, Cyftrian, Photius u. a. Auf diese Weise ist schon in dem Stoglaw selbst immer deutlich zu ersehen, wie seine Bestimmungen zusammengesetzt wurden, — namentlich wie diese oder jene kirchliche Einrichtung des 16. Jahrhunderts, von der allgemein-kirchlichen (universellen) Quelle beginnend, verschiedene Stufen lokaler Erfindung und Anwendung anf das Leben durchläuft nnd bereits als eine rns-sische Einrichtung des 16. Jahrhunderts erscheint. So wollen wir z.B. sogleich die Quelleu zeigen, aus welchen die Bestimmungen des Stoglaw über die geistliche Gerichtsbarkeit znfammengesetzt wnrdenl nach den kanonischen Qnellen, als da sind: die Kanone der heiligen Apostel, der 9. Kanon der chalcebonischen Synode, der 15. der karthagischen und die Kanone der zweiten konstantinopolitanischcn, in welchen die Unabhängigkeit der Kirche und alles ihr Angehörenden von der Gerichtsbarkeit der weltlichen Gewalt bestimmt ist, setzt der Stoglaw wiederum die Bestimmungen des byzantinischen Nomokanons, Konstantin's des Grosien, Justinian's nnd Manuel Komncnns' auseinander. Nach diesem wendet er sich 279 bereits zu den russischen Quellen. Er führt hier deu Ustaw St.-Wladimir's, zwei Seudschreiben des Metropoliten Cyprian von Pstow au und bildet dauu seine Verordnungen aus diesen Grundlageu, indem er die kirchliche Gerichtsbarkeit nach deu lokalen russischen Bedürfnissen uud Bedingungen organisirt, diese Organisation aber mit deu obengcnannten Grundquelleu in Einklang bringt. Es ist sehr merkwürdig, daß, wie wir bemerkt, dort, wo die ursprünglichen, allgemeiu-kirchlichen kanonischeu Satzuugeu nicht widersprachen, oder wo diese durchaus keine Autwort auf die eutstaudeuen Frageu gabeu, die Bedeutung vaterländischer (Gewohnheit in ihrer ganzen Kraft hervortritt. Ueber die Bedeutuug dieser Gewohnheit spricht sich der Stoglaw in einer Stelle im allgemeine« wie folgt ans: „Ein jedes Land betrachtet sein Gesetz als ein Erbgut, welches nicht auf ein anderes übergehen kann, sondern ein jedes Land hält seine Gewohnheit für ein Gesetz. Wir Rechtgläubige haben nns aber, obgleich wir das wahre Gesetz von Gott empfingen, dennoch durch die Gottlosigkeit anderer Länder befleckt; weshalb anch Gott alle Arten von Züchtigungen wegen dieser Uebertrctung über uns verhängt" (Kap. 39). Und allenthalben, wo dies ohne Verletzung der Wahrheit geschehen konnte, ist der Stoglaw der Gewohnheit treu geblieben, indem er bemerkt, daß dies oder jenes „nach Gewohnheit" geschehe, daß mau durch „Tradition darau gewöhut" sei u. s. w. So wendete man sich z. B., als die Frage über die jährliche Abgabe, insbesoudere über das Quantum der-felbeu erhobcu wurde, au den Nomokauon; da aber in dem Nomokanon dieses Qnantum nicht bestimmt war, so wurde jeues Quantum festgesetzt, welches beinahe allenthalben im Gebrauch war, uud zwar mit folgendem Beisatze. Iu der Schrift heißt es: „Die Gewohuheit des Laudes ist ein ungeschriebenes Gesetz und soll ebenso festgehalten werden, als wenn dieselbe von dem gottesfürchtigen Zaren durch äußere 280 Gesetze festgesetzt worden wäre"; und da in Rußland schon der Großfürst Iwan Wassiljewitsch bestimmt hatte, ein gewisses Quantum zu nehmen, so wurde dieses auch festgesetzt. In ähnlichen Fällen ist es merkwürdig, wie sich der Stoglaw von abstracten Maßregeln fern hält, welche das Interesse der allgemeinen abstracten Wahrheit im Auge haben und deshalb leicht zur Vernichtung jener lebendigen Gewohnheit führen können, welche in dem wirklichen Leben Fleisch und Blut angenommen hat; auf gleiche Weise enthält sich derselbe jeder sklavischen Nachahmung alles Fremden, welches gewöhnlich erst nach vorausgegangener Vernichtung des Einheimischen und bisher vorhandenen platzgreifen kann. So hielt sich namentlich der Stoglaw von den Ansichten und Planen des Griechen Maxim fern, obgleich die Werke dieses berühmten Schriftstellers des 16. Jahrhunderts durch den Zaren und vielleicht auch durch den Metropoliten Makarij offenbar ihren Einfluß auf den Stoglaw ausübten. Noch ist hierbei zu bemerken, daß, wie die Verfasser des Stoglaw selbst sich jeder entschiedenen Aendernng an dem Landcsgesetze und jeder allzu kühnen, an die Stelle der einmal angenommenen Gewohnheit zu fetzenden Neucnmgen enthielten, dies ebenso auch von feiten ihrer Zeitgenossen verlangt wurde. Als dem Metropoliten Joseph die Synodalbestimmungen zur Durchsicht zugesendet wurden, zweifelte er bei Gelegenheit der Bestimmung über die verwitweten Geistlichen, ob die Synode ihrer eigenen Autorität hierin nicht etwas zn viel Bedeutung beigelegt und ob diese Bestimmung nicht etwa der allgemeinen Gewohnheit des Bandes entgegen sei, wenn sie die von der Synode von 1505 über denselben Gegenstand gegebenen Bestimmungen bestätige und sich außer Joseph von Wolozk auf keinen andern Vorgänger berufe: „Es ist, o Herr, in deinem Schreiben gesagt, daß anf der von deinem Großvater, deinem und unserm Herrn, dem Großfürsten Iwan Wassiljewitsch, gehal- 281 tenen Synode der Abt Joseph Wolozky zugegen war, als dein Großvater, unser Herr, über die verwitweten Geistlichen berathschlagte — allein auf dieser Synode deines Großvaters befanden sich die ehrwürdigen Archimandriten sowie Aebte und Vorsteher vieler Klöster und viele Mönche dieser Klöster, allein außer dem Abte Joseph, o Herr, ist keiner von denen unterschrieben, welche auf der Syuode deines Großvaters gewesen. Und ist dir, o Herr, die Synode deines Großvaters, unsers Herrn, genehm, so lasse auch die Archinlandriten und Aebte und Vorsteher jener ehrwürdigen Klöster bei jenem Abschnitte in deinem Schreiben unterzeichnet sein." So vorsichtig und aufmerksam verfuhr der Stoglaw, sobald er auf irgendetwas stieß, welches aus der allgemeinen Gewohnheit scharf heraustrat, wenngleich dieselbe bisher existirt hatte. Doch irrt sich derjenige sehr, welcher den Stoglaw wegen dieser Ehrfurcht für das Vergangene uud in das Leben Einge-drungeue einer siunlosen Inertion beschuldigen möchte: im Gegentheil handelt er dort, wo er seine eigenen Maßregeln treffen soll, vollkommen klar und frei. So z. B. die Bestimmung über die Maler, über die geistlichen Gerichte u.f.w. 5) wurde auf diefe Weise im Stoglaw der Selbständigkeit der russischen Hierarchie vieler Spielraum gelassen. Obgleich dieselben, wie wir soeben gesehen, in solchen Fällen dem Geiste des Vaterlands treu blieben, so kann man dennoch nicht behaupteu, daß keine Einflüsse von außen vorhanden gewesen, und dies zu untersuche,: ist für den Historiker äußerst interessant. Das gleichzeitige und vorausgegangene Leben Rußlands sowie die Ideen seiner vorzüglichsten Factoreu hat-lcn auf den Zaren uud den Metropoliten Einfluß —- und dies ist ebeufalls eine interessante Seite — interessant deshalb, weil sie uns zeigt, durch weu und namentlich in welchem Grade dieser Einfluß sich geltend machte. So ist z. B. drr Einfluß der Werke des Griechen Maxim auf den Stog- 282 law unzweifelhaft. Jeder, welcher die Werke dieses berühmten Schriftstellers und nach ihnen den Stoglaw selbst durchliest, muß nothwendigerweise nicht nur den Einfluß der Ansichten, sondern manchmal sogar der Ausdrücke Maxim's auf die Ansichten und die Ansdrücke des Zaren Ioann in seinen an die Synode gestellten Fragen wahrnehmen. Aber zugleich wird derselbe Leser in den eigenen Bestimmungen des Stoglaw, d. h. in den Antworten der Synode bemerken, daß die Ansicht Maxim's, die sich nicht selten bald in der Sphäre allgemeiner, abstracter Begriffe, bald in der Sphäre eines fremden, nicht rnssischen Lebens bewegt hatte, sich so fein und originell an den Ansichten und rein russischen Lebensgewohnheiten brach, daß sie, durch die Ansichten des Metropoliten Makarij nnd seiner Mitarbeiter geläutert, als eiue vollkommen russische erschien, und sich selbständig verwirklichte. Wie groß ist z. B. die Aehnlichkeit uud wie groß zugleich der Unterschied, wenn wir dasjenige vergleichen, was bei Maxim und im Stoglaw über die Geistlichkeit, insbesondere über die Klostergeistlichkeit geschrieben steht! Insbesondere lassen sich in diesen Beziehungen der Synode von 155l. zu den Ansicht ten Maxim's zwei merkwürdige Seiten unterscheiden: durch Maxim, den gelehrten Griechen, welcher viele Neisen im Occident gemacht hatte, machten sich zwei Einflüsse geltend — der des Ostens nnd der des Westens; hiervon kam der erstere z" besonderer Geltung. Dies kann man aus den bedeutungsvollen Hinweisungen auf die Gewohnheiten Konstantinopels, des Verges Athos und anderer orientalischer Orte ersehen """ Hinweisnngen, welche einigen Hinweisungen Maxim's ähnlich, im Stoglaw selbst aber als die Hinweisungen dort gewesener Mönche wiedergegeben sind. Dem zweiten Einflüsse dagegen widersetzte man sich. Ohne uns in weitere Einzelheiten einzulassen, weisen wir nur auf die eiue Gewöhnet des Feldes (no^e) oder des gerichtlichen Zweikampfes hm. 283 Dieser Gewohnheit trat Maxim scharf entgegen, indem er sich auf das Beispiel der lateinisch gebildeten, d. h. der westlichen Völker berief, bei welchen in der That die gerichtlichen Zwei< kämpfe damals beinahe vollständig abgeschafft waren. Allein der Stoglaw hob ebenso wenig wie der Sudebnik den gerichtlichen Zweikampf auf; er verbot blos, geistliche Personen zu demselben zn bcrnfen, nnd behielt sich, in Uebereinstimmung mit der Hinweisnng Marim's, die von dem Zaren Ioann auf der Shnode wiederholt worden war, nur die Ausschließung aus der Kirche gegen diejenigen vor, welche aus Aberglauben Zauberer und Wahrsager dabei zn Hülfe rufen würden. Dem Forscher des Stoglaw kann ebenso wenig entgehen, wie stark bei den Fragen über die Moralität der Laien, die Moralität der Geistlichkeit und die Einrichtung ihres Bebens der Einflnß sowol Maxim's als der Joseph'S von Wolozk und der übrigen bedeutenden Männer des 15. und ^- Jahrhunderts gewesen. Und je mehr er diese Seite studirt, desto deutlicher und bedentungsvoller werden sich vor ihm jene Elemente anfdecken, ans welchen bald dieser, bald jener Gedanke des Stoglaw entstand — ans welchen bald diese, bald jene Bestimmung desselben zusammengesetzt wurde. Was Pskow, was Nowgorod, was Moskau angehörte, was neu, was alt war nnd wiederhergestellt wurde — für alles dies gibt es eiue zahllose Menge oon Hiuweisungen im Stoglaw, nnd von der Entdeckung derselben hängt auch die Erklärung der historischen Bedeutung des Denkmals ab. 6) darf man anch die literarische Seite des Stoglaw nicht außer Acht lassen. Der verstorbene Karamsin war davon entzückt und behanptete, daß der Stil des Stoglaw durch seine Klarheit und Reinheit alle Bewunderung verdiene. In der That stellt sich der Stoglaw als ein Muster des Stils des 16. Jahrhunderts in jeder Art nnd zwar als ein allenthalben gelungenes Muster dar. In der Darlegung der administra- 284 liven Anordnungen ist er genau, deutlich und ungemein ausdrucksvoll. Wir führen hier keine Beispiele an, denn dieselben sind in unzähliger Menge vorhanden. Wenn sich der sogenannte Oeschäftsstil immer ebenso auf die Umgangs- und Schriftsprache seiner>Zeit bezöge, als sich die Sprache des Stoglaw auf die Umgangs- und Schriftsprache seiner Feit bezieht, so wäre kein besseres Verhältniß zu wünschen. In der Darlegung der moralischen Ueberzeugungen nimmt die Sprache des Stoglaw eine neue Schattirung einfacher, herzlicher Wärme an. Hierin sehen wir wiederum ein herrliches Muster einer ungekünstelten Sprache des kirchlichen Oberhirten zu der ihm anvertrauten Heerde. Endlich werden auch durch die Eingangsrede der Synode sowie durch die Neden des Zaren wiederum bemerkenswerthe Muster der oratorischen Beredsamkeit damaliger Zeit dargeboten — russische Muster, voll Originalität und würdig, den besten Erzeugnissen jener Zeit an die Seite gestellt zu werden. Wir können uns nicht das Vergnügen versagen, hier den wegen seiner gewählten Ausdrucksweise bemerkenswerthen und zugleich lebendigeu und naiven Anfang der synodalen Eingangsrede anzuführen, wollen übrigens im voraus bemerken, daß dies eine Probe der künstlerisch-literarischen Ausdrucksweise des Stoglaw ist, nach welcher man nicht die im hohen Grade genane und ernsthafte Darlegung des ganzen Stoglaw beurtheilen darf. Es handelt sich dort um etwas anderes und deshalb ist auch die Sprache eine andere. „Allergnädigster und barmherziger Gott, aller-weifester Schöpfer aller sichtbaren nnd unsichtbaren Geschöpfe, erhabener Fürsorger für das Leben und Heil der Menschen, der du in alle deine Geschöpfe, welche im Himmel, in der Sonne, im Monde und in den Sternen sowie auf der Erbe und im Meere sind, sowie in die Vögel und vicrfühigen Thiere, iu die Fische und die Gewürme den natürlichen Trieb gelegt hast, dir zu gehorchen, dem Menschen aber zur Be- 285 lehrung zu dienen, diesen guten Naturtrieb nachzuahmen und ihn zu seiner eigenen Gewohnheit zu machen, allen schlechten und unreinen Sitten aber zu entsagen und dieselben auf immer zu verabscheuen. Doch wolleu wir jetzt nicht von den übrigen Schöpfungen, sondern allein von der Sonne reden. Ueber dieselbe brückt sich irgendein Weiser also aus. Die Sonne, sagt derselbe, erscheint am Morgen in erhabener Pracht und bringt uns das Licht, uud die Finsterniß wird durch sie verscheucht, und der Mond verschwindet vor ihr und die Nacht besteht nicht mehr, und sie erleuchtet den Tag, erfüllt die Luft mit hellem Lichte, zeigt uns den Himmel in seiner Herrlichkeit, sie befruchtet die Erde, sie läßt das Meer erglänzen, und am ganzen Himmelsfirmament ist kein Stern mehr zu schauen, denn sie allein erleuchtet mit ihren Strahlen das ganze Weltall in seiner ungeheuern Ausdehnung. Wenn aber die mit den Sinnen wahrnehmbare Sonne solchen Glanz besitzt, wie groß muß erst der Glanz der überirdischen Sonne sein! Die mit den Sinnen wahrnehmbare Sonne trocknet, indem sie ans die Erde herabscheint, die irdische Feuchtigkeit — die überirdische Sonne dagegen bewirkt, indem sie auf uns niederscheint, dasselbe in der Seele, sie trocknet die Feuchtigkeit der Leidenschaften und die Unlauterkeit aus und reinigt uns von denselben, sie befruchtet das Feld der Seele, die Gärten der Tugend werden von ihr bewässert und genährt, damit sic allmählich emporwachsen. Die mit den Sinnen wahrnehmbare Sonne ist bald sichtbar und bald unsichtbar; die überirdische Sonne aber ist den Würdigen sichtbar, und sieht alle, welche zu ihr hinaufblicken. — Die mit den Sinnen wahrnehmbare Sonne spricht nicht und theilt niemand die Gabe der Sprache mit, die überirdische Sonne aber spricht zu ihren Lieblingen und theilt allen die Gabe der Sprache und des Gesichts mit, weil eben die überirdische Sonne Christus unser Gott ist, wie geschrieben steht — er gießt 286 über alle die Strahlen seiner Gnade aus und erleuchtet die Herzen der Gläubigen und gibt den irdischen Augen das Licht, weshalb der Herr auch sprach: Ich bin das Licht der Welt, ich bin auf die Welt gekommen, und ohue mich vermögct ihr nichts. Und durch diese Gnade wird jede Gott liebende Seele wie das Wachs erweicht und wird, nachdem sie die Form und das Zeichen der göttlichen Erkenntniß angenommen, eine göttliche Wohnung im Geiste. Diese beseligende Sonne sendete Christus unser Gott und barmherziger Herr nach seinen un-erforschlichen Nathschlüssen iu hellstrahlender Himmclsröthc herab in das Herz des gottesfiirchtigen Zaren und Großfürsten Iwan Wassiljewitsch, des Selbstherrschers von ganz Nußland — damit er weise regiere und Gutes thue —, denn alle Gabe des Guten und jedes Geschenk kommt von oben herab, vom Vater des Lichts u< s. w. Der gute Friedensstifter und mächtige Selbstherrscher, der herrliche Zar, mit großem Verstande und großer Weisheit gekrönt, das Reich in vollkommener Gottesfurcht erhaltend und durch die Gnade des Heiligen Geistes erleuchtet, ist von Erbarmen durchdrungen und dein hei" ßen Wunsche beseelt, nicht nur die Einrichtung der weltlichen, sondern auch der vielverschiedenen kirchlichen Verwaltung vorzunehmen u. s. w." Diese klare und trotz ihrer gewählten Ausdrücke dennoch natürliche Einleitung zu einer kurzen Geschichte der Synode von 1551 gibt einen Begriff von der literarischen Bedeutung des Stoglaw. Auf diese Weise muß der Forscher in dem Stoglaw, diesem russischen Nomokauon des Itt. Jahrhunderts, eine originelle, vielseitige Erscheinung von hoher historischer Bedentung für das alte Rußland erblicken. Um jedoch die historische Bedeutung dieses Denkmals vollkommen zu würdigen, muß der Forscher noch weiter gehen, er muß 7) bestimmen, welchen Einfluß dieses legislative Werk auf die ihm gleichzeitige sowie später folgende rufsische Gesellschaft 287 ausübte. Soviel aus dcn verschiedenen Acten, die heutzutage jedem mit der russischen Geschichte sich Beschäftigenden zugänglich sind, zu ersehen ist, ist es unzweifelhaft, daß dic Bestimmungen des Stoglaw sowol von der Staats- als Kircheugewalt vermittelst eigener Erlasse wirklich in Ausführung gebracht wurden. Die Maßregeln, welche durch die Synode von 1551 für eine gute Organisation sowol des geistlichen als Laienstandes geschaffen wurden, waren größtentheils so treffend, so lebenskräftig, daß viele von ihnen noch sehr lange nach der Herallsgabe des Stoglaw großes Ansehen genossen. Wenn die Wirkungen dieser Maßregeln anch manchmal erschlafften, so lag dieser Erschlaffung die Ursache zu Grunde, daß die Administration der damaligen Zeit durch andere Einrichtungen hiervon abgezogen wurde nud in ihrer Aufsicht nachließ, nicht aber, weil sie die von dem Stoglaw entweder neu aufgestellten oder aus dem frühern Leben wieder erneuerten Maßregeln für unnütz oder unpraktisch hielt. Nehmen wir z. B. die Anordnung des Stoglaw in Betreff der Einführung von Priesterältesten zur Aufsicht über die Kirchenzucht. Diese Maßregel, welche ehemals in Pfkow, einem Lande, welches nebst Nowgorod mehr als andere zur Zeit der TheilungSpcriode unserer Geschichte organisirt war und vielleicht auch an andern Orten existirt hatte, wurde wiederhergestellt, in Betracht gezogen und sehr vollständig im Stoglaw organisirt. Und was hatte sie für ein Schicksal? Erstens sehen wir, daß man sie augenblicklich nach Beendigung der Synode nicht allein in Moskau, sondern auch an andern Orten ein-znführeu begann, uud zwar in dem Maße, als sich der Gedanke der Regieruug bald dieser, bald jener Gegend zuwendete. Außer dem besondern Erlasse über die Einführung der Priester-ältesten in Moskau im Jahre 1551 führt sie der Metropolit Makarij in demselben Jahre durch seinen Erlaß vom 10. November in Wladimir ein; im Jahre 1556, durch einen Erlaß 288 vom 10. August, stellte sie der Erzbischof Pimen und zwar schon nach der moskauischen Organisation in Pskow wieder her; im Jahre 1558 wurde die Maßregel durch einen Erlaß des Metropoliten Makarij vom 2. Februar erst in Nowgorod und dann in dem von Moskau weit entfernten Kargopol eingeführt. Dies sprechen die uns bekannten Acten in Bezug auf die denselben bekannte Zeit deutlich aus. Daß dies auch an andern Orten und in spätern Zeiten der Fall gewesen, unterliegt keinem Zweifel. Schon im Verlaufe der Zeit von 1551—58 ist ersichtlich, daß die von dem Stoglaw aufgestellten Maßregeln sich nirgends als unpraktisch oder unnütz erwiesen. Doch gehen wir weiter. In Moskau erschlaffte aus verschiedenen, uns unbekannten Ursachen gegen Ende des 16. Jahrhunderts die Aufsicht über die Kirchenzucht. Was thut nun der Patriarch Hiob? Er gibt im Jahre 1594 einen Erlaß über die Einführung der Priesterältesten und zwar ganz in der Form heraus, wie sie der Stoglaw einrichtete. Zehn Jahre später schärft er dieselbe Maßregel abermals mit Strenge ein. Dies beweist, daß dieselbe befriedigend M, sobald die Administration sie in Ausübung brachte, sehr wirk' sam war. Ihre zeitweilige Unterbrechung zeigt blos auf die Schwäche der Administration hin, nicht aber auf die Unzu^ länglichkeit der von dem Stoglaw geschaffenen Maßregel. Als im Jahre 1651 der Zar Alexci Michailowitsch der Unordnung des Kirchendienstes seine Aufmerksamkeit zuwendete, erließ er zur Wiederherstellung der Ordnung einen Ukas, in welchem er an die Erlasse des Metropoliten Makarij erinnerte, welche derselbe auf Grund des Stoglaw nach allen Städten versendet hatte, und wiederholt selbst in Kürze diese Maßregeln-Die Einrichtung der Priesterältesten wiederholte und bestätigte selbst der Patriarch Adrian. Nehmen wir noch als Beispiel die Bestimmungen des Stoglaw über die geistliche Gerichtsbarkeit; es ist dies fast 289 der vierte Theil des ganzen Stoglaw, und betrachten wir, wie dieselben von den Zeitgenossen und dem spätern Geschlechte geschätzt wurdeu. Als der Metropolit Makarij seine ans den Stoglaw gegründeten Erlasse nmhersendete, stellte er die Kapitel über die geistliche Gerichtsbarkeit an die Spitze und wies mit einem gewissen besondern Stolze die Geistlichkeit auf dieselben hin, indem er bemerkte, daß er sie mit der Synode verfaßt habe, weil er vor allein auf seine Heerde Acht habe und derselben überaus zugethan sei. Der Patriarch Philaret nahm sie in sein Rituale (Trebnik) auf. Endlich ist es von außerordentlichem Interesse, das; der Patriarch Nikon die kirchlich-legislatorischcn Arbeiten des Stoglaw überaus hochschätzte, mit selbstverständlicher Ausuahme der Kapitel über die Bekreuzung mit zwei Fingern und das doppelte Halleluja, und daß er die Verfasser der Uloschenije deshalb tadelte, daß sie bei der Abfassung ihrer Arbeit die Bestimmungen des Stoglaw über die geistliche Gerichtsbarkeit nicht in besondern -Betracht gezogen^), obgleich in der Moschenijc viele andere Gedanken des Stoglaw zur Grundlage gedient hatten, wie z. B. in der Bestimmung über den Loskauf der Gefaugenen. Sehr bemerkenswerth ist es, daß selbst die orginellen, sozusagen persönlichen Meinungen des Stoglaw unter den spätern 1) „Entgegnung" — Manuscript der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. T>cr Patriarch Nikon nimmt in diesem Manuscript, in welchem er die Gesetze über die Unabhängigkeit der Kirche und aller ihrer Attribute von der weltlichen Gewalt zusammenstellt, auch die ersten Kapitel bcö Stoglaw auf, worin Zar Ioann Voll Vertrauen nnd Ehrfurcht dem Metropoliten Makarij die Einrichtung der ganzen russischen Kirche überträgt. „Geht hieraus nicht die erhabene Absicht und der Eifer des Zaren hervor", schließt der Patriarch Nikon nach diesen Auszügen, und fährt dann fort: ,,Und auf dieser Synode hat der Zar sowie sämmtliche Erzbischöfe im 53. Kapitel über die geistliche Gerichtsbarkeit u. s. w." Alles die geistliche Gerichtsbarkeit Betreffende ist dem Stoglaw entnommen. Russische Fragmente, l. IQ 290 Kirchenhäuptcrn Anklang fanden. So unterstützt der Patriarch Philaret durch den Stoglaw seine Meinung über die Wiedertaufe der Lateiner. Derselbe Patriarch nahm auch das Kapitel des Stoglaw über die Käppchen auf, um dadnrch der Vorliebe für fremde Kleidung entgegenzutreten. Wir wollen nicht einmal von dem Patriarchen Joseph reden, welchen wir nicht für eine exclusive Persönlichkeit zu halten wagen, indem er der vergangenen sowie seiner eigenen Zeit Trotz bot, nnd den Stoglaw leidenschaftlich, ja sogar bis zu seinen Fehlern liebte, wie dies z. B. die Meinung über die Bekreuzung mit zwei Fingern und das doppelte Halleluja beweist. Auf diese Weise hat der Stoglaw als historisches Factum des 16. Jahrhunderts seine wichtige Bedeutung, welche nachzuweisen ebenfalls die Aufgabe des Forschers sein soll, der sich unterfängt, über denselben zu sprechen. Aber auch außerdem ist 8) der Stoglaw als Material, als eine Sammlung von Daten zur Darstellung der verschiedenen Seiten des russischen Lebens des 16. Jahrhunderts — ein durch nichts zu ersetzendes Denkmal. Bon der Darstellung der umfassend' sten Bereiche des Lebens bis zu den geringsten archäologischen Zügen wird in demselben vieles mit den lebhaftesten und hellsten Farben geschildert. Aehulichc Denkmäler geben, wenn sie in die Hände eines Thierry oder Prescott fallen, denselben die Möglichkeit, ebenso frische und lebendige historische Gemälde zu entwerfen als die Geschichte der Mcrovinger oder der Erobernng von Peru. Der Forscher im Stoglaw muß in demselben auch diese Seite bemerkbar machen. Aus der ganzen bisherigen, wenn auch nur flüchtig von uns unternommenen Darstellung wird es, wie wir hoffen, dem Leser begreiflich werden, welch eine wichtige Bedeutung der Stoglaw für die Geschichte des 16. Jahrhunderts haben muß — insbesondere für die Darstellung „des innern Z"" 291 standes der russischen Gesellschaft zur Zeit Ioann's IV." Außer der vielseitigen Bedeutung des Stoglaw selbst muß alles, was über denselben geschrieben worden, schon deshalb einen um so größern Werth habcn, weil der Stoglaw in unserer historischen Literatur viel weniger bearbeitet ist, als z. V. der Sudebnik. Der Stoglaw als ein kirchlich-juridisches Denkmal schreckt, trotzdem dieser Theil der juridischen Wissenschaft bei uns noch eine sehr bedeutende Bearbeitnng gefunden, — nachdem derselbe einmal in die kitzlichen Fragen des Schisma hineingezogen worden, die Forscher beständig zurück, weil ihre Worte falsch gedeutet werden können; derselbe ist deshalb bisher noch nicht zur Veröffentlichung gelangt und bietet an sich ein noch völlig unbearbeitetes, wenngleich sehr ergiebiges Feld dar. Wird auch gerade kein Schritt nach vorwärts gethan, so wird doch eine Frage dadurch anfgewor-fen, uud was keine Lösung, ist wenigstens ein Verdienst in der historischen Literatur. Deshalb waren wir auch aufrichtig erfreut, in dem 7. Bande der „Geschichte Nußlands" des Professors Solowjew fast volle dreißig Seiten zn finden, welche dem Stoglaw gewidmet find. Die Wichtigkeit und das Interesse des Gegenstandes erweckten in uns den Gedanken, diesen Seiten des Bandes der „Geschichte Rußlands" einen Aufsatz zu widmen. Es versteht sich von selbst, daß wir auf diesen Seiten der Geschichte des Herrn Solowjcw, die er dem Stoglaw widmete, vor allem die Ansicht des Historikers über dies Denkmal suchten. Hierzu veranlaßte nns sowol die Wichtigkeit des Gegenstandes als anch die Neuheit desselben, sowie die ziemlich deutliche Hinweisung auf die Bedeutung des Stoglaw in dem Denkmale selbst, und endlich die einfache Vermuthung, baß, wenn ein historisches Denkmal aus der Sprache des Manuskripts in die Sprache einer doctrinär bearbeiteten Ge-Ichichte übertragen wird, die Arbeit des Historikers und dcsfen 19* 292 Vorzug vor dem einfachen Abschreiber darin bestehen müsse, daß derselbe ans den innern Sinn nnd die Bedeutung dieses Denkmals hinweise. In dem 7. Bande sehen wir auch wirklich das Bestreben, die Eigenthümlichkeit des Stoglaw verständlich zu machen. Der Autor beginnt seine Erklärung des Stoglaw wie folgt: „Wir haben gesehen, daß schon unter dem Großvater Ioann's des Schrecklichen die Kirche ihre Aufmerksamkeit der Verbesserung der Moralität der Geistlichkeit zuwendete, was die bekannte Bestimmung über die verwitweten Geistlichen zur Folge hatte; noch viel stärker trat unter der Re-gieruug Ioann's IV. das Streben hervor, die moralischen Krankheiten, woran die russische Gesellschaft litt, zu heilen. Dieses Streben, dies Erkennen der eigenen Mängel und der Widerwille sich mit denselben auszusöhnen, bekundete die Kraft der Gesellschaft und die Fähigkeit derselben zu einem weitern Gedeihen: da man aber fowol in der geschilderten Zeit als auch noch lange nachher trotz dieses Strebens sich nur auf die Andeutung dieser moralischen Krankheiten, auf den Ausdruck des Wunsches, dieselben zu heilen, uud auf Ermahnungen zu dieser Heilung beschränken mußte, so wurde das Uebel nicht ausgerottet, denn das Hauptmittel zu seiner Ausrottung konnte zu jener Zeit noch nicht in Kraft treten, obgleich die Nothwendigkeit desselben von den Besten des Volks erkannt wurde: dieses Mittel — die Aufklärung .. /") Folgendes ist die Ansicht, welche Herr Solowjew in seiner Geschichte der Forschung über den Stoglaw, wenn hier dieser Ausdruck am Platze ist, vorausschickt: „Der Stoglaw ist einer jener Versuche des 16. Jahrhunderts, die verfallene Moralität des russischen Volks wiederherzustelleu, allem ein in so hohem Grade kraftloser Versuch, daß die Verfasser des 1) Geschichte Rußlands, VII, 92. 293 Stoglaw die Krankheiten uns andeuteten, ohne die Mittel zu finden, dieselben zu heilen." Der Leser vermag jetzt selbst bereits zu urtheilen, inwieweit diese Ansicht eine historische genannt zu werden verdient, und Ansprnch darauf machen kann, ihren Gegenstand erschöpft zu haben. Wir sprechen nicht davon, daß der Stoglaw bei Herrn Solowjew als ein getrennter, außer allem Znsammenhange mit den übrigen kirchlich-staatlichen Maßnahmen stehender Gegenstand erscheint, obgleich der Zar Ioann IV., wie wir gesehen, ihn mit demselben verbindet, nnd deren Charakter als ein rein schaffender und positiver, zugleich auch der Charakter des Stoglaw ist; — daß deshalb die Andeutung der moralischen Krankheiten nur Nebensache ist, während das Wesentliche in der Verfassung einer neuen bestimmten kirchlichen Gesetzgebung nach alten Materialien liegt; daß auf diese Weise eine so wichtige historische Erscheinung wie der Stoglaw von Herrn Solowjew an und für sich durchaus nicht begriffen und durchaus nicht historisch beleuchtet ist, soudern daß nur seine untergeordneten Theile begriffen, oder besser gesagt, herausgenommen sind; von allem diesem sprechen wir nicht. Wir lenken nur die Aufmerkfamkeit des Lesers auf die Beschränktheit der von unserm Historiker ausgesprochenen Ansicht. Er behauptet: „Der Stoglaw deutete die moralischen Krankheiten an", und weiter nichts. Wir dagegen erblicken in dem Stoglaw etwas mehr als eine nur moralische Seite. Als ein kirchlich-legislatorisches Denkmal (und dies ist das Wesen desselben) enthält der Stoglaw, wie dies nicht anders zu erwarten ist, sowol juridische als auch administrative und gottesdienstliche Seiten — mit Einem Worte, alle Seiten der damaligen Gesellschaft, welche nur immer, nach dem Wesen des Kirchenrechts, unter den Einfluß der Kirche gestellt werden können, oder auf welchen die Kirche mit dem Staate in Berührung kommen kann. Wir können hier unmöglich begreifen, 294 wie Herr Solowjew in den Stoglaw nur eine moralische Seite wahrnahm, während doch z. B. die Kapitel übcr die geistliche Gerichtsbarkeit beinahe schon den vierten Theil der ganzen Handschrift des Stoglaw ausmachen, oder während z. B. in einer Menge von Kapiteln Fragen über die Ceremonien des Gottesdienstes nnd über verschiedene Fälle der Kirchendisciplin zur Lösung kommen. Nachdem Herr Solowjew auf diese Weise den eigentlichen Sinn des Stoglaw nicht begriffen, den ganzen Inhalt desselben nicht erfaßt hat und deshalb sich selbst darüber nicht klar geworden, welche Seiten in ihm wesentlich und welche von ungeordneter Natur sind, so konnte Herr Solowjew den Leser auch nicht mit dem Stoglaw in seiner eigentlichen Gestalt bekannt machen. Gleich nach der Eingangsrede, deren größere Hälfte wir soeben betrachtet und deren übrige wir später betrachten werdcn (sie handelt nämlich von der innern Unzulänglichkeit der Maßregeln des Stoglaw nnd von dem Mangel an Einfluß auf die gleichzeitige und nachfolgende Gesellschaft), beginnt Herr Solowjew den Stoglaw zu erklären, oder besser gesagt, Auszüge aus demselben zu geben. Wie aber geschieht dies alles? Nur die ersten Fragen des Zaren sind in der Darlegung Herrn Solowjew's noch ganz und unverletzt erhalten, nachdem dieselben anch in dem Stoglaw selbst sämmtlich auf einmal aufgeführt sind — obgleich es auch hier nicht ohne sehr bedeutende und wie wir sehen werden, der Wahrheit wesentlich nachtheilige Auslassungen abging. Alsdann werden die Bestimmungen des Stoglaw selbst in einem Auszuge wiedergegeben, aber nach welcher Ordnung und nach welchem Gesetze, — dies ist ein Geheimniß des Historikers. Es scheint, daß hier der Historiker statt des ganzen Manuscripts mehr das Inhaltsverzeichnis desselben benutzte, welches einem jeden Manuscript des Stoglaw beigegeben ist — nud daß er sich bei dieser Benutzuug des Inhaltsverzeichnisses, bei seinem 295 längern Verweilen an gewissen Stellen, bei seinen Forschungen und Auszügen durch den vorgefaßten Gedanken bestimmen ließ, daß der Stoglaw nur eine Andeutung der moralischen Krankheiten sei, unvermögend dieselben wegen des Mangels an Aufklärung zu heilen. Es versteht sich von selbst, das; außerdem auch einige ^andere stark in die Angcn springende Gegenstände, wie z. B. die Bestimmungen über die klösterlichen Erbgüter und die Malerfchulen und andere ähnliche der Ehre theilhaftig wurden, auf die Seiten des 7. Bandes der „Nussischen Geschichte" übertragen zu werden. Die Bestimmungen über die kirchliche Gerichtsbarkeit sind sogar ans mehreren Kapiteln in ein einziges zusammengefaßt, wenngleich es hierbei, wie bei allen menschlichen Arbeiten nicht ohne einige Lücken abging. Allein die ganze lebendige Aufstellung der Fragen und die Beleuchtung der iuteressanten Seiten der Sache, welche wir oben vorgenommen und worin das Hauptinteresse in der historischen Erklärung des Stoglaw besteht — ganz abgesehen von der Frage über den Einfluß des Stoglaw anf die ihm gleichzeitige nnd die auf ihn folgende Gesellschaft — worüber wir weiter unten reden werden — dies alles existirt für Herrn Solowjew nicht. Wer, was, wie, warum, weshalb, wozu? — Diese Fragen gelten ihm für überflüssig. Betrachten wir noch, ob das, was geschehen, auch gewissenhaft geschehen — ob die Auszüge vollständig, oder ob sie da, wo es sich um das ganze Wesen der Sache handelt, der Sache auch den nämlichen Sinn geben, welche diese in dem Denk« male selbst hat. Obgleich wir die Gcdnld hatten, bei Herrn Solowjew alle (fast dreißig) Seiten der Auszüge aus dem Stoglaw zu vergleichen, so wagen wir doch dem Leser, aus Furcht ihn zu ermüden, nicht alles vorzulegen, und begnügen uns deshalb nur mit einigen Proben. Auf Seite 94 legt der Autor die von dem Zaren an die Synode gerichteten Fragen so dar: 296 „Die Mönche und Popen sind dem Trunke ergeben; die verwitweten Popen geben durch ihr Betragen Aergerniß, sie verbleiben bei den Kirchen, verrichten alle kirchlichen Handlungen, und lesen nur keine Messe; der Mönch bant sich im Walde eine Zelle oder reißt die Kirche ein nnd geht dann mit dem Heiligenbilde in den Gemeinden umher, um zum Wiederaufbaue zu sammeln, erbettelt von dem Zaren Ländereien und Beisteuer an Getreide, und vertrinkt dann, was er sammelt u. s. w." Welch ein trauriges, erschütterndes Bild von dem Leben der russischen Geistlichkeit im 16. Jahrhundert stellt sich hier dem Leser dar! Völlerei, Liederlichkeit, Betrug! Der Autor selbst'machte die Wahrnehmnng, daß der Leser sich vor einer solchen Darstellung entsetzen werde, weshalb er auch, wie wir sehen, denselben zu beruhigen sucht, indem er sagt: daß dies nicht viel zu bedeuteu habe, daß dies der Natur der Gesellschaft angemessen gewesen. Aber trotz dieser Beruhigung ist es schwer zn begreifen, wie bei der großen Zuchtlosigkeit, bei der großen Verbreitung des Uebels, der Gedanke entstehen konnte, dasselbe auszurotten. Worauf gründete sich die Hoffnung, dasselbe bekämpfen zn können? Der Autor hat hierauf keine Antwort; seine Antwort liegt in der Reform Peter's; uns ist dies begreiflich ^ aber auf was konnten wol die Leute des 16. Jahrhunderts hoffen, welche mit den: weitverbreiteten Uebel den Kampf begannen? Alles dies ist unerklärlich. — Allein die Sache ist die, daß die Ausbreitung des Uebels nicht von solchem Umfange war, wie sie von Herrn Solowjew gezeichnet wird — daß die positive, die gute Seite der Sache entweder allen vor Augen stand oder bei allen in frischem Gedächtnisse war, man dnrfte ihr nur die Kraft gegen einige Uebertreter verleihen. Dies ist im Stoglaw bei jeder Frage und Antwort deutlich — nur bei Herru Solowjew ist dies alles weggelassen. So spricht z. B. der Zar Ioann, indem er mit der 18. Frage beginnt, 297 allerdings zu der Synode „von einem berauschenden Getränke in den verschiedenen Schichten der Geistlichkeit, und selbst von einem unmäßigen Trinken" — allein er fügt sogleich bei, daß für die Mönche Enthaltsamkeit schon in dem Gelübde, für die Weltgcistlichen schon in der Ordination und in der Weihe vorgeschrieben sei. Hier ist sogleich aus die wirklich vorhandene gute Seite der Sache hingewiesen, die jedem bekannt war, — nämlich auf die Gelübde des Mönchthums und die Satzungen der Geistlichkeit. Ein jeder weiß sie so zu achten und kennt sie dergestalt, daß man denjenigen, der sich vergißt, nur an sie erinnern muß, damit er wieder zu sich komme. Ferner spricht die 18. Frage von der Znchtlosigkeit der verwitweten Geistlichen; allem in dem Denkmal ist das bei Herrn So-lowjew ausgelassene Wort einige vorhanden — „einige in jeder Art von Zuchtlosigkeit". Auch am Schlüsse dieser Frage fügt der Zar sogleich bei: „In Nowgorod und in Pskow gab es zu Lebzeiten meiner Mutter und uuter dem ErMschof Ma-karij fcim) dem Stoglaw sehr nahe gelegene Zeit) bei den Kirchen nie verwitwete Popen und Diatone. Warum hat dies jetzt nachgelassen?" Es konnte also das Uebel nicht so groß sein; es war erst seit kurzem vorhanden, und jetzt erst begannen cs einige Uebertreter einzuführen, gegen welche aber auch die vielbedeutende Frage des Zaren gerichtet war: warnm dies jetzt nachgelassen habe? Ferner spricht die 20. Frage von dem Misbrauche einiger Mönche mit dem Sammeln für den Bau von Klöstern und Kirchen — allein auch hier werden dem Misbrauchc sogleich helleuchtende und gute Beispiele russischer Mönche uud Tempelgründer entgegengestellt, „wie die frühern heiligen Väter Gott Klöster erbanten, sich in denselben niederließen und sich vor der Welt verbargen" u- s. w. Endlich nahmen wir hier noch eine weitere Verstümmelung des Denkmals wahr. Herr Solowjew spricht, nachdem er von dem Uebel ein Bild entworfen, für welches 298 er alle schwarzen Farben an einem Punkt aufgetragen, ganz knrz: „Man muß würdige Aebte und Geistliche wählen" -^ dies ist die 21. Frage des Zaren. Der Leser, welcher diese mitgetheilte Stelle liest, kann, ans die vorausgehende Darstellung des Herrn Solowjew sich stützend, denken, daß solche Leute bisher gar nicht vorhanden gewesen und sich dann die Frage stellen: wo man dieselben wol finden werde? Allein in dem Stoglaw selbst lautet die Frage so: „Bisher wählte man makellose Priester und Aebte, nicht aufs Gerathcwohl und ohne vorausgegangene Prüfung; Männer, die nicht zum Zorne geneigt, die nicht dem Trunke ergeben" (so äußert sich der Zar über die ganze früher vorhandene Geistlichkeit), „die keine Nanfbolde waren nnd nicht ans schmnzigcn Erwerb ausgingen, Männer, welche gastfreundlich, gottesfürchtig, keusch, gerecht waren, welche sich jedes Bösen und der Trunksucht enthielten, das wahre Gesetz recht verstanden und im Stande waren, anch andere darin zu unterrichten." Aus diese Weise sehen wir in dem Denkmal selbst die Kraft des Guten nnd erkennen das Streben der Gesellschaft, das in sie cinge-drnngene Böse zn entfernen, nnd glauben, daß die derselben vorschwebenden hellen Beispiele des Gnten stark genug sind, um diese Reinigung vorzunehmen, ohne erst zn warten, bis das 19. Jahrhundert mit seiner Aufklärung zn Hülfe kommt. Ferner schreibt Herr Solowjew auf Seite W, indem er fortfährt, die Fragen des Zaren mitzutheilen, also: „sie verkaufen Fleisch von erstickten Thieren. Die Bauern bringen Kutjal) nnd am Vorabende und Ostersonntage Opferlämmer und Käse in die Kirche ... in Moskau wird dies alles auf den Opfertifch und den Altar gebracht." Bei Herrn So- ll Kutja, ein Kuchen aus Reis, Honig und Rosinen, welcher zur Gedächtmßfeier von Verstorbenen in die Kirche gebracht wirb. Anm. d. Uebers. 299 lowjew kommen diese Fragen in einer Reihe nacheinander nnd lassen einen unangenehmen Eindruck zurück. In dem Stoglaw selbst aber bilden sie die 32. und 36. Frage — zwischen denselben befinden sich noch drci andere Fragen, welche auf den zwischen den moskauer Kirchen nnd denjenigen von Nowgorod herrschenden Unterschied in Bttreff einiger kirchlichen Ceremonien hinweisen. Indem mm der Zar auf diese Weise von den kirchlichen Ceremonien sprach, machte er zugleich seine Bemerkung über den in Moskau herrschenden unschicklichen Gebrauch, Osterbrote und Opferlämmer auf den Altar zu tragen, was, wie er sagt, in Nowgorod nicht der Fall ist. Kurz, der Eindruck ist bei dem Lesen des Stoglaw selbst ein ganz anderer. Schon aus diesen Beispielen kann der Leser ersehen, wie bei Herrn Solowjew das Denkmal unbemerkt, Zug für Zug eutstellt wird, was wol davon herrührt, daß der Historiker, seine Hauptbedeutung nicht begreifend, irgendeine beliebige Seite desselben herausnahm und sie dcm Leser vorzuhalten beliebte. Diese Beispiele sind, wir wiederholen dies, sehr zahlreich. Es folgt hier noch eins, welches wir deshalb anführen, damit der Leser ersehe, wie gleich den Fragen des Zaren auch die Antworten auf diese Fragen w der Darstellung Herrn Solowjew's litten. Seite 98. „Auf die Klage des Zaren, daß die Schüler schlecht unterrichtet würden", schreibt Herr Solowjew: „die Synode antwortete: die Geistlichen stellen an die Stawlenniks die strenge Frage, warum sie so wenig lesen und schreiben können? und diese antworten: wir lernen bei unsern Vätern, oder bei unsern Meistern, und mehr können wir nirgends lernen"; allein ihre Väter und Meister wissen selbst wenig, während sie, als früher in Moskau, Groß-Nowgorod und in andern Städten viele Schulen existirten, schreiben, singen uud lesen lernten. Und wir haben nach dem Rathe des Zaren, durch 300 die Synode verordnet, gute Priester, Diakone und Kirchenvorsänger auszuwählen, welche verheirathet und gottesfürchtig und im Schreiben und Lesen bewandert sind, und in den Wohnungen derselben Schulen zu errichten, damit sie die Kinder mit aller geistlichen Zucht unterrichten, vor allem aber ihre Schüler in der Reinheit behüten und erhalten und sie vor jeder Schändung bewahren, insbesondere vor der häßlichen Sünde der Sodomiterei und Selbstbefleckung. Aus dieser Synodalbestimmuug ist, wie wir sehen, ein genügender Auszug gemacht — es wird gezeigt, daß die frühern Schulen aufgehoben uud daß in den neuen befohlen wurde, vor allem gegen die moralischen Krankheiten auf der Hut zu sein — allein es ist, unbekannt warum, aus der Frage des Zaren die Bemerkung über die frühern Schulen weggelassen, daß „es damals viele des Lesens, des Singcns und des Schreibens Kundige gegeben, und daß die Sänger und Leser und die guten Schreiber im ganzen Lande selbst bis heute uoch berühmt waren" (Kap. 25 d. Stogl.) — ebenso aus der Bestimmung der Synode über die neuen Schuleu — die Vorschrift für die Lehrer, daß sie ihre Schüler je nach dem ihnen von Gott verliehenen Talent die Kenntniß des Schreibens mittheilen und ihnen nichts verheimlichen sollten; daß die Schülerinnen alle Bücher lesen lernen sollten, welche die heilige synodale Kirche annehme, damit sie später und in der Zukunft nicht nur sich, sondern auch andern nützen und dieselben belehren könnten (ebendaselbst). Diese Andeutungen sind gewiß M die Geschichte der Aufklärung in Rußland von Interesse. Uebrigeus versteht der Autor unter Aufklärung etwas ganz Eigenthümliches und will dieselbe deshalb in ganz Rußland nicht vor dem 19. Jahrhundert anerkennen. Und wie viele andere Auslassungen viel wichtigerer und interessanterer Dinge kommen noch vor! So übergeht z. V-Herr Solowjew beinahe ganz das Zehnergericht, welches nach 301 dem Stoglaw in folgender Weise eingerichtet ist: Der bischöfliche Dessiatiunik oder Zehntrichter wohnt in der Stadt; er ist der Führer der Untersuchungen in geistlichen Sachen und nicht allein der Stadt und der Vorstadt (Possad), sondern des ganzen zur Stadt gehörenden Bezirks (Wolost). Die von ihm geführte Untersuchung wird dem Erzbischof (Archi-jerei) vorgelegt. Die bei der Führung dieser Untersuchuug vorkommenden Details sind sehr merkwürdig. Es ist hier zu bemerken, daß nach der nämlichen Synodalbestimmnng vom Jahre 1551 die ganze Exarchialgeistlichkeit in ihrer allgemeinen Versammlung für die Stadt uud den Possad Priesterälteste, für den Stadtbezirk und die Dörfer aber Zehntgeistliche zu wählen hatte. Die Listen dieser Gewählten mußten dem Bischöfe eingesendet werden. Aus diesen erwählten Vertretern der Exarchialgeistlichkeit befindet sich mm ein Pricsterältester, als Repräsentaut der Stadtgeistlichkeit, und ein Zehntgeistlicher als Repräsentant der Landgeistlichteit beständig und zwar in wöchentlichem Wechsel, in der Wohnung des Dessiatinnik oder Zehntrichters. Auf diese Weise ist, sobald ein Urthcilssprnch für einen der Stadt oder dem Lande ungehörigen kirchlichen oder geistlichen Diener nothwendig wird, bei der Untersuchung stets ein gewissenhafter Vertheidiger der Rechte des Angeklagten vorhanden, ein Vertheidiger, welcher mit dem Angeklagten einem und demselben Lebcnskreise angehört uud daher auch das Leben des Angeklagten und die Bedingungen desselben genau kennt. Sobald nun der bischöfliche Dessiatinnik die Untersuchung beginnt, so unterschreiben diese Priesterältesten und Zehntgeistlichen die Abschriften des Urtheils, um zu verhindern, daß der Führer der Untersuchung nachher die Sache nicht mehr umschreiben uud umändern könne. Außerdem müssen diese Priesterältesten und Zehnt-geistlichen auch für sich eine Abschrift von der ganzen Untersuchung nehmen, dieselbe unterzeichnen und sie einstweilen bei 302 sich aufbewahren. Ist nun die Untersuchung von dem Dessin-tinnik zu Ende geführt und geht die Sache an das Urtheil des Archijerei, —> so werden auch die Abschriften dieser Gewählten der Controle wegen vorgelegt. Diese Anordnung ist äußerst merkwürdig, denn wir sehen in derselben, wie sehr sich die Kirche in dem Geiste ihrer eigenen Administration dem allgemeinen Geiste der Administration jener Zeit näherte, welche das Wahlftrincip so hoch schätzte — während wir bei Herrn Solowjew hiervon nichts gewahr werden. Anf andere ähnliche Auslassungen und Corrumpirungcn in dein von Herrn Solowjew unternommenen Connnentar zu den Bestimmungen des Stoglaw, auf jene Auslasstmgcu und Corrumpirungen, welche von der willkürlichen Behandlungsweise des Denkmals herrühren, wollen wir nicht hinweisen. Es würde dies so aussehen, als vermöchten wir nur mit Anstrcngnng die Wahrheit unserer Behauptung zu beweisen, was wir jedoch vor allem vermeiden wollen. Auf diese Weise gibt der von Herrn Solowjew verfaßte Commentar des Stoglaw dem Leser keinen genauen nnd vollständigen Begriff von demselben. Uebrigens kann man sich hierüber gar nicht wundern; bei dem Mangel an einem objectiv-historischen Gesichtspunkt dem Stoglaw gegenüber, bei der beschränkten, nur anf einzelne Seiten des Gegenstandes gegründeten Anficht, konnte dies nicht anders möglich sein. Wir wundern uns vielmehr darüber, daß der Historiker, trotz seiner oberflächlichen Kenntniß des Stoglaw, sich dennoch entschloß, in so apodiktischer Weise sogar noch einige allgemeine Urtheile über denselben zu fällen. So spricht er schon gleich beim Anfange seiner Arbeit eine allgemeine Bemerknng über sämmtliche von dem Stoglaw aufgestellten Maßregeln aus: er erklärt diese Maßregeln für nutzlos, für änßerlich, für unzweckmäßig nnd unvernünftig. Wir lassen hier seine eigenen Worte folgen: 303 „Das Uebel wurde nicht ausgerottet, denn das Hauptmittel zu seiner Ausrottung konnte der Umstände halber noch nicht in Kraft treten, obgleich die unumgängliche Nothwendigkeit desselben von den Besten des Landes erkannt wnrde: dieses Mittel war die Aufklärung. Wegen Mangel eines klaren Lichtes mußte man im Finstern tappen, zu äußern Mitteln greifen, die nicht zum Ziele führten und sogar die moralische Würde des Meuschcu beleidigten, wie z. B. die Bestimmung über die verwitweten Diener der Kirche: wegen Mangel eines klaren Lichtes vermochte man die Gegenstände nicht zu unterscheiden und verwechselte wirklich moralische Mängel mit Gewohnheiten, welche in gar keiner Beziehung zur Moralität standen." Endlich erklärt Herr Solowjew wiederholt am Schlüsse feiner Darstellung des Stoglaw nicht nur diesen allein, sondern die ganze, allgemeine, hauptsächlich kirchliche Richtung, aus welcher derselbe hervorgiug, für unaufgeklärt, für noch in der Kindheit sich befiudcud, nur mit dcm Aeußcrn und mit Kleinigkeiten sich befassend, und stellt derselben die Richtung der griechisch-römischen Welt entgegen — natürlich um ihr hiermit einen Vorwurf zu machen. „Natürlich", so schließt unser Historiker seine Auszüge aus dem Stoglaw, „wendete sich bei dem Mangel an Aufklärung der noch in der Kindheit liegende Begriff unserer alten Schriftgelchrtcn nicht dem Geiste, fondern dem Fleische, dem Aeußern, den: mehr Erreichbaren zu, welches in den täglichen Bedarf des menschlichen Lebens einschlägt. Die aufgeklärte griechisch-römische Welt wendete bei der Erscheinung und Befestigung des Christenthnms ihre Aufmerksamkeit auf die hauptsächlich wesentlichen Gegenstände der neuen Lehre, und die Folge davon war eine allmähliche Losung der Fragen und eine allmähliche Feststellung der Dogmen ans den ökumenischen, universellen Concilien. Aber welches waren die 304 Fragen, welche die alten Russen beschäftigten und die Ruhe der Kirche manchmal gewaltig erschütterten? Die Frage, welche Speisen man an gewissen Feiertagen genießen solle, wenn dieselben zufällig ans Fasttage fielen, eine Frage, welche, wie wir gesehen haben, sowol im Süden als im Norden mit gleicher Heftigkeit sich wieder erneuerte; dann haben wir gesehen, wie sehr unter Ioann III. die kirchliche und politische Frage die Regierung beschäftigte, in welcher Weife man bei der Einweihung einer Kirche den Umgang halten sollte, ob gegen Sonnenaufgang oder gegen Sonnenuntergang. Der unrichtigen Lösnng dieser Frage wurden allgemeine Drangsale zugeschrieben. Noch in dem ersten Viertel des 15. Jahrhunderts entstand iu der Provinz Pskow die Frage, ob man das Halle-luja zweimal oder dreimal wiederholen solle .. . Ein anderer hatte den Einfall, daß man das Zeichen des Kreuzes mit zwei Fingern machen müsse ... Die Meinungen über das Bekreuzen mit zwei Fingern und die zweimalige Wiederholung des Halleluja sowie das Verbot sich den Bart zu rasiren und den Schnnrrbart zu scheren, mischten sich auch noch unter die Verordnungen der Synode von 1551 nnd verbreiteten sich zugleich mit denselben unter dem Namen der Vorschriften der stoglawfchen Synode." (S. 121—122.) So strenge ist das allgemeine Urtheil des Historikers über den Stoglaw. Betrachten wir nun, ob dasselbe auch gerecht ist. Wir haben oben gesehen, daß Herr Solowjew das Denkmal nicht mit so vollständiger und eingehender Aufmerksamkeit geprüft habe, um über dasselbe entscheidend urtheilen zu können. Wir hoffen hierfür noch weitere Beweise zu finden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß man bei einer so ausgedehnten und complicirten Arbeit, wie die Gesetzgebung der Synode von 15)51 ist, leicht in einige Extreme und Irrthümer gerathen tonnte. Wir wissen, daß auch bei der gegenwärtigen 305 Entwickelung der Gesellschaft neu sich bildende, legislatorische Arbeiten nicht selten ernsthafte Entgegnungen hervorrufen — warum sollte dies auch nicht in Beziehung auf die Gesetze des 16. Jahrhunderts der Fall sein? Wir sind durchaus uicht gegen die Einwendungen, welche gegen den Stoglaw erhoben werden, indem wir ihn selbst nicht für unfehlbar halten; wir wollen nur sehen, ob Herrn Solowjew's Einwendungen gegen den Stoglaw sich als gerechtfertigt erweisen. Herr Solowjew nennt die Maßregeln des Stoglaw gegen die Uebel äußerlich und zwecklos. Wir dagegen mußten, indem wir oben auf das Ansehen hinwiesen, dessen der Stoglaw bei den spätern Geschlechtern bestäudig sich erfreute, noth-wendig zu der Ueberzeugung kommen, daß seine Maßregeln echt und praktisch gewesen. Und das waren sie auch zum größten Theile. Herr Solowjew selbst führt auch nicht einen einzigen Beweisgrund für sein Urtheil an, mit Ans-nahme jener Hiuweisung auf die Gestimmung über die verwitweten Diener der Kirche, welchen die geistlichen Fnnctio-nen nntersagt werden, wenn dieselbell nicht in den Mönchsstand treten, womit nothwendigerweise die Ablegung des Gelübdes der Keuschheit verbuuden ist. Ohne auf eine nähere kirchlich-juridische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeit einer solchen Maßnahme einzugehen, wollen wir nur zeigen, daß der Stoglaw diese Maßnahme nur wiederholte, nachdem sie lange vor ihm schon von Männern, welche eine vollkommene Autorität besitzen, aufgestellt worden war. Wenn man den Inhalt dieser Verordnung des Stoglaw vollständig betrachtet, so ist leicht zu ersehen, daß zuerst im Kapitel 77 des Stoglaw, die Vorschrif! steht, welche betitelt ist: „Belehrung des heiligen Metropoliten Peter über die verwitweten Priester", worin das directe Gesetz enthalten ist: stirbt dem Popen das Weib uud geht derselbe ins Kloster und wird Mönch, so erhält derselbe seine Priesterwürde wieder zurück. Will er aber Rujfische Fragmente. I, y^ 306 in der Welt leben und die Wollüste der Welt genießen, so soll er keine gottesdienstlichen Handlnngen verrichten. Weiter enthält das Kapitel 78 „das Sendschreiben von Photins, dem Metropoliten von ganz Rnßland, an die Stadt Pskow über die verwitweten Priester"; Kapitel 79 enthält „die Samm-lnng geistlicher Regeln über ebendieselben verwitweten Popen und Diakonen des hochwürdigen Joseph von Wolozk. Endlich werden die Maßregeln wiederholt, welche eine frühere Synode, die schon im Jahre 1i>()Z in Rußland gehalten wnrdc, gegen das Uebel ergriff und auf welcher der Großfürst Iwan III-mit dem Metropoliten Simon, mit Genadij vou Nowgorod und dem ehrwürdigen Joseph oou Wolozk es für nothwendig hielt, den verwitweten Popen und Diakonen das Verbot der Verrichtung gottesdienstlicher Handlungen zu wiedrrholeu, was auch in Kapitel 80 des Stoglaw aufgeuommen ist. Auf diese Weise wcrdeu wir durch das Alter dieser Maßregel iu Rußland sowie durch die Autorität jener Männer, welche dasselbe schon vor der Existenz des Stoglaw vertheidigten, veranlaßt, über den Stoglaw selbst in diesem Falle anders zu urtheilen, als es Herr Solowjcw gethan. Gerade darin besteht der Werth aller Verordnungen des Stoglaw, daß er gegen das Uebel immer eine von alters her vorhaudeue Maßregel hervor suchte, welche bereits in Auwendung gebracht wordeu und ihren Nutzen durch die Erfahrung bewahrt hatte. Durch diese weife Aufnahme theilte der Stoglaw seinen Gesetzen immcr die Autorität der Lebendigkeit, des Alters und die moralische» Eigeuschafteu der Gesetzgeber mit. Und dies sind bei Gesetzen keine nuwichtigeu Merkmale. Es fällt sonach die Verantwort' lichteit über diese Maßregel, im Falle dieselbe nur äußerlich und nutzlos gewesen wäre, wie sich Herr Solowjew ausdrückt, nicht auf den Stoglaw, fondern auf deu Metropolitcu Peter und Photins oder auf den Großfürsteu Iwan III. oder anf die Metropoliten Simou, Genadij und Iofeph vou Wolozt) dein 307 Stoglaw gehört hier einzig nur die vorsichtige und conservative Art und Weisc an, womit er bei der Abfassung seiner Gesetze zu Werte ging. Es ist also kamn ein strenges Urtheil über diese Maßregel nöthig. Der Historiker ist mit ihrer Aenßerlichteit nnznfrieden, allein hier war nur ihre Allgemeinheit änßerlich — aber gewiß war auch sie nicht allzu äußerlich, nachdem sie so lange Zeit hindurch und von solchen Fac-toren für nothwendig gehalten wnrde. Bei all unserer Hoch^ achtnng vor unserer Aufklärung würde es uns aber gewiß nicht schaden, wenn wir bei Abfassung historischer Arbeiten nnsern Vorfahren in ihren eigenen Dingen mehr Vertranen schenkten; wir urtheilen zu dreist über dieselben ab nnd täu^ schen deshalb so leicht nns sowol als andere. Anch hierfür wollen wir nnsern Beweis bringen. Herr Solowjew macht, indem er sein Urtheil über die von dem Stoglaw gegen die Uebel seiner Zeit erdachten Maß. regeln ausspricht, noch die Bcmerknng, daß die Verfasser des Stoglaw „ans Mangel eines klaren Lichts die Gegenstände nicht gut zn nntcrscheiden vermochten nnd wirtliche nnd mora^ tische Krankheiten mit Gewohnheiten verwechselten, welche gar keinen Bezng anf die Moralität hatten". Herr Solowjew spricht hier offenbar von der Strenge, welche der Stoglaw gegen das Scheren des Bartes als gegen eine moralische Krankheit in Anwendung brachte. Demjenigen, welcher die Geschichte des russischen Lebens im 10. Jahrhundert nicht genau kennt, mag diese Verwechselung allerdings anffallend erscheinen. Dies kann jedoch, wir wiederholen es, nur dem-ienigcn begegnen, welcher den Zustand der Dinge im 1l>. Jahr» hnndcrt nicht kennt. In dem 16. Jahrhundert, wo die Ge> wohnheit des Barttragens in allen Ständen herrschte, wichen von dieser Gewohnheit nur eiuige ab, und dieser Abweichung lag auch iu der That eiue furchtbare Immoralität zu Grunde, Auf diesen Grund weisen sehr deutlich die Erlasse (Natase) 308 des Metropoliten Makarij in Wladimir und Kargopol hin, welche sehr umfassende Anszüge aus dem Stoglaw enthalten. In diesen beiden Erlassen finden wir bei einer nähern gegenseitigen Vergleichmig derselben, eine sehr bemerkenswerthe Pariante, welche die Frage über die Beziehung des Bart-scherens zur Moralität unmittelbar löst, und zwar spricht der Erlaß, welcher in Kargopol erschien, zu den Geistlichen: „Auf daß ihr alle rechtgläubigen Christen belehret und sie unterweiset, daß sie wegen der Unwahrheit keinen Eidschwur ablegen und den Bart nicht scheren, denn es thun dies nicht einmal die stnmmen Thiere." ') Der andere Erlaß in Wladimir nimmt diese Stelle so auf: Auf daß ihr u. s. w., daß sie wegen der Unwahrheit keinen Eidschwnr leisten und die häßliche sodomilische Sünde nicht begehen, denn es thuu dies nicht einmal die stummen Thiere. ^) Es wird hier der Ausdruck über die Gewohnheit des Bartscherens durch einen andern Ausdruck ersetzt, welcher sich schou unmittelbar auf die Mora' lität bezieht, was in unsern alten Denkmälern durchaus nicht vereinzelt vorkommt. In einem Abschnitte der Kormtschaja: „Verdammung der lateinischen Ketzereien", lesen wir ebenfalls: ich verdamme die unkeusche Lnst, den Bart zu scheren. In den Sendbriefen des Metropoliteu Photius und anderer 1) Beliebt es hier etwa den Verfasser des Erlasses einer Ungereimt' heit zu beschuldigen, weil die stummen Thiere den Bart nicht scheren? 2) Jetzt ist die Ungereimtheit schon verschwunden! Der Leser sieht jetzt, daß die scheinbare Ungereimtheit in dem alten russischen Leben bel uns daher kommt, daß uns entweder die Kenntnis; einiger Buchstaben abgeht, um seine ganze weise Erzählung durchzuleseu, oder daß wir, was wol am häufigsten geschieht, selbst ans eigener Fahrlässigkeit diese Buchstaben übersehen und dann, weil wir eben nicht zu lesen vermögen, uns über das vergangene Leben ärgern, wie sich die Kinder über das Alphabet ärgern, in welches sie dann selbst nicht mehr hineinsehen wollen oder tonnen, weil sie einige Buchstaben ober Zeilen Heranssserissen haben. 309 Bischöfe wird die Excommunication der in die häßliche Sünde der Sodomiterei Gefallenen mit den nämlichen Ausdrücken wiedergegeben, mit welchen der Stoglaw diejenigen, welche sich den Bart scheren, mit dem Banne belegt: „Sie sollen an den heiligen Uebungen nicht theilnehmen, sollen vom h. Abend-mahl n'ud allen Scgnnngen der Kirche ausgeschlossen bleiben." In dem berühmten Sendschreiben des Metropoliten Ma-karij an das Heer («i. (^illN^oiu^ nM^) ist ebenfalls die nahe Beziehnng der Gewohnheit des Bartschcrens ,;n den moralischen Krankheiten der damaligen Zeit sehr dentlich ersichtlich. Es läßt sich hierans ohne Zweifel der Schluß ziehen, daß, ganz im Gegensatze zn den Worten Herrn Solow-jM's, die Gewohnheit des Bartscherens eine in so hohem Grade nahe Beziehnng zu der moralischen Krankheit der So-domiterei hatte, welcher das Scheren des Bartes damals als ein geheimes Zeichen und vielleicht sogar als ein offenes Anshängeschild diente'), daß, wenn von dem einen die Rede war, ein jeder zugleich auch das andere darunter verstand, und daß mau, wenn man gegen das eine auftrat, nothwendigerweife auch gegen das andere anftreten mußte. (5s ist demnach augenscheinlich, daß der „Mangel an klarem Lichte", aus welchem bei dem Verfasser des Stoglaw die Verwechselung einer unschuldigen Gewohnheit mit der Moralität hervorgegangen sein sollte, in der That nicht bei den Verfassern des Stoglaw, sondern bei dem Historiker zu finden ist. Bei I) Der Grieche Maxim schrieb ganz offen hierüber und schlug vor, „diejenigen, welche eine solche Nbscheulichkeit begehen und keine Reue darüber bezengeu, mit dem Fenertobe zn bestrafen^. ,,Denn diese Schändlichkeit vermehrt sich nicht nnr bei Welllichen", schrieb er weiter, ».sondern auch bei den übrigen, von denen ich jedoch schweige, — deuu der Leser wird mich ohnehin verstehen." Der Stoglaw enthält eine besondere Frage sowie eine besondere Autwort über diesen Gegen stand. 310 ihm finden wir den Mangel an klarem Lichte in dem Studium jener Epoche, vou welcher er spricht. — Das Bartscheren gibt uns Veranlassung, die Aufmerksamkeit des Lesers anch noch ans jene Maßnahmen zn lenken, dnrch welche der Sto-glaw seine Verordnungen in Vollzug setzte. Herr Solowjew nennt die Mittel äußere, das Deutmal selbst aber sprlcht gerade das vollkommene Gegentheil aus. Wie sich im allgemeinen der größte Theil der Verordnungen des Stoglaw darauf beschränkt, die Geistlichkeit zu ermähnen, ihre Heerde zu unterrichten, und die Heerde zu ermähnen — ihrem Hirten zu folgeu — so siud auch im einzelneu gegen das Bartschercu, trotzdem die Shnode von 15>5l einen solchen Abscheu gegen dasselbe aussprach, im Stoglaw dennoch leine andern Maßregeln als die geistliche Vclehruug, und im Falle der Verstocktheit die Ansschließnug aus der Kirche ausgesprochen. Offenbar hat Herr Solowjew über das Denkmal abgeurtheilt, ohne sich mit demselben genau bekannt gemacht zu haben. Uebrigrns konnte dies auch bei dem unsteten Blicke und bei der eilfertigen Arbeit des Historikers, wie sich dieselbe in den von uns zergliederten Seiten darstellt, nicht anders der Fall sein. Statt seinen histonschen Blick immer mehr nnd mehr auf die von ihm darznstellendcu russischen Erscheinungen im Wesen des 16. Jahrhunderts zu conccntrireu, wird er in die Sphären anderer auf seinen Gegenstand gar nicht Bezug habender Erscheinungen nnd Begriffe hineingezogen. So spricht er z. B. hier von der russischen Kirche des 16. Jahrhunderts, vergleicht aber, wie wir gesehen, mit derselben urplötzlich die Kirche der ersten acht Jahrhunderte in der griechisch-römischen Welt, und tadelt die Russen deshalb, weil sie sich mit den Einzelheiten der Kirchendisciplin beschäftigten, nicht aber dogmatische Fragen anf allgemeinen Kirchenversammlnngcn entschieden, wie es die Christen der ersten Jahrhunderte 311 thaten. — Sonderbarer Einfall! Sollte denn Herr Solowjew ganz vergessen haben, daß der Kanon der orthodoxen Glaubenslehre in den ersten acht Jahrhunderten vollendet wurde, sollte er nicht wissen, daß im l<;. Jahrhundert die Aufgaben der Kirche nicht mehr dieselben sein tonnten wie in den ersten Jahrhunderten der christlichen Geschichte, als ob die Kirchenordnung nicht ans Griechenland zu lins gekommen, und als ob die Fragen dieser Ordnung uud dieser Ceremonien nicht griechisch-römische seien? Endlich, als ob irgendctwas in der Kirche überhanpt von geringfügiger Bedeutung sein tonnte? Wie im allgemeinen in der Geschichte, so hat auch speciell in der Kirchengrschichtc alles seine Bedeutung und seine Zeit — nnd wenn sich nnscr Historiker an die Vedeutnng der Tradition erinnern würde, welche letztere in dcr orthodoxen Kirche überhaupt, insbesondere aber im 1<». Jahrhundert hatte, als man es mit derselben im Westen so leicht nahm nnd als die Folgen dieses Leichtsinns fast bis zn nns drangen, so würde er verstehen, welch ernsthafter Sinn in allen Forschungen des Stoglaw über die einzelneu Züge dieser Tradition enthalten ist, er würde das Räthsel begreifen, wie diese Richtung des Stoglaw Rnßland vor dem Luthcrthume nnd zugleich vor einer Folge desselben — dem Verfall der Kirche und des Glaubens rettete.') Anf diese Weise ist die Einwendung des Herrn Solowjew, welche wir soeben analyfirten, vollkommen unstatthaft. Das Näherliegende aber, dessen Erforschung die unmittelbare Pflicht Herrn Solowjew's gewesen wäre, erscheint als nicht erforscht, nnd an die Stelle der Facta sind durch nichts gerechtfertigte Phrasen geseht. „Das Uebel wurde uicht ausgerottet", erklärt uns derselbe nnd mnthet uns zn, ihm anf sein Wort zu glauben, 1) Siehe die AmncMng am Schlüsse des Aufsatzes. 312 baß die Maßregeln des Stoglaw nicht wirksam gewesen seien. Aber trotzdem hat er nirgends gezeigt, wie der Stoglaw auf die spätere Kirche einwirkte, wie wir dies, wenn auch nur kurz, weiter oben angedeutet haben, wo wir die Forderungen cmssprachen, welche die heulige russische Wissenschaft an einen Forscher des Stoglaw stellt. Ohne hier dasjenige, was wir bereits ausgesprochen, zn wiederholen, wiederholen wir doch unsere Ueberzeugung, daß die Maßregeln des Stoglaw wirklich lebendig, praktisch und folglich auch wirksam gewesen, indem die Administration des Kl. und selbst des 17. Jahrhunderts dieselben jedesmal wiederherstellte, sobald sich ihr Blick jenen Misbräuchen zuwendete, gegen welche die stoglawsche Synode bereits ihre Verfügungen getroffeu hatte. Zufällig aber führt Herr Solowjew selbst an irgendeiner Stelle solche Thatsachen an, welche durchaus nicht für dasjenige fprechen, was er durch seine allgemeinen Phrasen ausspricht. So schreibt er z. B. Seite 114: „Nachdem auf der Synode des Jahres 1551 festgesetzt worden, daß die Klöster ohne vorhergehende Berichterstattung keine Erbgüter taufen können, bat der khrillische Abt mit seinem Convent im Jahre 1ü5l> nm die Erlaubniß, ein Erbgut für die festgesetzte Geldeinlage taufen zu dürfeu..." und erzählt dann, wie die Regiernng, sich namentlich nach dem Stoglaw richtend, in diesen» Falle die Rechte der Klosterverwaltung in Bezug auf die Erwerbung von Erbgütern beschränkte. Allein für unsern Historiker scheinen selbst jene Thatfachen nicht vorhanden zu sein, welche er selbst anführt. Sein Urtheil ist kühn und im vollen Sinne des Worts vollkommen nnab-hängig. So beeilt er sich, indem er seine Untersuchung über den Stoglaw vollkommen abschließt, denselben noch einmal deshalb zu beschuldigen, daß er nuter seine Verordnungen auch die Bestimmungen über das Bekreuzen mit zwei Fingern, über das zweifache Hallelnja uud über das Nichtscheren 313 der Bärte aufgenommen habe. Es ist hier weder der Ort, noch ist es unsere Sache, uns in eine genaue Untersuchung darüber einzulassen, in welchem Verhältnisse der Metropolit Makarij und seine Mitarbeiter zu den beiden ersten dieser Vcrordnnngen standen. Wir bemerken nur im allgemeinen, daß unsere kirchlich-archäologische Wissenschaft schon lange begriffen und, wo es nöthig, auch darauf hingewieseu hat, daß die Verantwortung für diese Bestimmungen nicht sowol dem Ttoglaw als der ihm vorausgegangenen Zeit angehört. Schon lange hat einer der scharfsinnigsten theologischen geistlichen Schriftsteller nnserer Zeit mit merkwürdiger Sicherheit den archäologischen Specialisten gezeigt, wie man eigentlich diese Punkte des Stoglaw betrachten müsse, indem er sagt: „Der Metropolit Makarij nnd seine Mitarbeiter beabsichtigten gewiß nicht eine Lüge zu bestätigen. Man muß annehmen, daß sie durch bereits vor ihnen vorhanden gewesene Bücher irre geführt wordeu siud." Durch diese scharfsiunige Bemerkung wurde am rechten Orte Licht über die Sache verbreitet, es wurden Nachforschungen angestellt, und es zeigte sich in der That, daß jene Artikel, auf welche die Synode vom Jahre 1551 während ihrer Sitzungen die oben genann-ten Verordnungen gründete, theils dem 15., theils dem 14. Jahrhundert angehörten. Alle diese Nachforschungen benutzte auch der Metropolit Makarij in seiner Geschichte der „altgläubigen Ketzerei" (MwM «lupooi^uiMi^unro MoiwM), Welche nnser Historiker Rußlands hätte zn Rathe ziehen sollen. Sein Urtheil über den Stoglaw wegen der Bekreuznng mit zwei Fingern und des zweifachen Hallelnja wäre dadurch gewiß bedcnteud gemildert worden, wenngleich der Stoglaw in der That beides bestätigte. Es ist endlich einmal Zeit, daß unsere historische Wissenschaft anf ehrliche Weise mit den historifchen Erscheinungen umgehe und ihre wirkliche Stelle und Bedentung darlege; — es ist Zeit, daß die Historiker Russische Fragmente. 1, ^i 314 einmal aufhören, in der Geschichte jede selbständige Bedeutung der Ereignisse zu verwerfen. Indem wir hier die Analyse der Auslassungen des Herrn Solowjew über den Stoglaw schließen, kaun das Wesen dieser Analyse in folgenden Worten zusammeugefaßt werden: Die Arbeit Herrn Solowjew's erklärt den Stoglaw nicht, sondern es wird gerade umgekehrt durch den Stoglaw, wenn man ihn aufmerksam durchliest, die Arbeit des Herrn Solowjew, leider aber unr vou einer uuuortheilhaften Seite, erklärt. Sollte etwa die ganze Geschichte Rnßlands feit den ältesten Zeiten „auf diese Art" gefchrieben werden? — Wir bedauern fehr, daß Herr Solowjew durch die Zeilen, die er über den Stoglaw geschrieben, seinen Lesern Veranlassung zu einer solchen Frage gibt. II. B .... w. Anmerkung zu Seite 311. Es bedarf wol kaum der Bemerkung, daß ich die Ansichten des Verfassers über „Lutherthmn", sowie über viele andere Pnnkte nicht theile, dieselben vielmehr unbegreiflich finde. Erkennen doch hente selbst die ersteil Gelehrten nnd Lichter der römisch-katholischen Kirche die welthistorische Größe Luther's nnd die segensreichen Folgen der Reformation dankbar an. Ich verweise hier nur auf das neueste Werk von Dllllinger „Kirche und Kirchen, Papst thumund Kirchenstaat", wo es unter anderm heißt (XXX): „Wir weigern uns nicht zu gestchen, daß die große Trennung und die damit verknüpften Stürme und Wehen ein ernstes über die katholische Christenheit verhängtes, nnr allzu sehr von Klerus und Laien verdientes Strafgericht waren, ein Gericht, welches läuternd und heilend gewirkt hat. Der große Geisterkampf hat die europäische Luft gereinigt, hat den menschlichen Geist auf neue Bahnen getrieben, hat ein reiches wissenschaftliches nnd geistiges Leben erzeugt. Die protestantische Theologie mit ihrem rastlosen Forschuugsgciste ist der katholischen weckend nnd anregend, mahnend und belebend zur Seite gcgau-gen; nnd jeder nnter den hervorragenden deutschen katholischen Theolo« gen wird es gern bekennen, baß er den Schriften protestantischer Gelehrten vieles verdanke/' Wenn die russischen Theologen und Kirchenhistoriker dieses wissen» schaftliche Bekenntniß nicht unterschreiben, so ist das für sie wahrlich kein feiner Ruhm. F. V. Truck von F. A. Nrockhaus ln Leipzig. MliÄnnll nnter Alexnnller II. DikoHemtUk. Zur innern Geschichte nnd äußern Politik von: Thron' Wechsel, bis auf die Geqenwart. 1,855—l.^iO, .-!. l Thlr. 21 Ngr. Diese, erste wirtlich llmfasscube und gründliche Darstellung der Enlwicke lungen und Neforlneu Nußlandc< seit dein Regierungsantritte dec« jetzigen Kaiserö bw auf die nilmittelbare Gegeinvart erhöht ihr Interesse noch durch tx>u gl^'ich^ ^citigcn Nachweis d^r darin bcdm^m Stcllilügcn der pctersbur^cr Politil zu dni drcnucnb!.'!! Fragen Elirofta^. Sic zcifallt in solg^nd»'Hauptadschnttt»,': dai< Kricgi'jahr, da^ Krömmgcijahr, da^ Jahr d^ ^lldahunilg^i^ d^ Ettiancipationö jähr, die <Äcgci,lvart. Ändmtungcu üdcr das Fa,nilicll- und ^k'!!lcindcl^b<'ll nnd dil' socialen Verhältnisse einiger Völker zwischen dem Schwarzen nud Kaspischen Meere. ^lois^csiiincliiiilicil und licsammc'llc ^l0ti;c>i von August Knljl'rrn l>on liaxt!,auscn. Zwci Thcilc. ^. 5 T,»tr. u> ^.'gr. l^'sttt' Tln'il, Äc'll cincm Tilclkupser, zwn Lithographie!! ülid ^ahllciäien >>ul; schuiltcu. Zweitcr Thci!. Mit zahlrcichcn Hohschuitt^i und ^ilicr ,^artc. Diescö ^crt' d«,' önÄhüit«! Verfasser« dcr „Sttidicl, iiber die iuin'lü ^ustäude Rußlands" ist vou de>nselbe!t auch in emMäM Nebevse!;»»g vcr ofjcutlich! worden nnd hat iu England die güusligsie Allsuahiue gesunden. E^ >ft eilie aus ei^euer Anschauung geschöpfte geistvolle Schilderung der (^egeuden am ,^>ui!ajl!^, der dortigen Völkerschaften: der Armenier, Georgier, Tschertesseu ?e., ihrer Zustände, nnd ihrec« Charatler^. Der Verfasser berüclsichtigt edeusow^'l die hochwichtige Vergangenheit dieser Gegenden ^ ^ inil de,i Nainen Proinelheli'., Nimrod, Argollautenzng, Cyrn«, Alexander, Ponipejlio ?c. verlniipst..... a<^ il>^ »icht minder wichlige Gcgeuu'art und Zntuufl, zunächst mit dem Namen Hchantt'l innig verbunden, dac« polilische wie dao sociale nud geistige ^eben. Der erfte Theil de<< Nert'<< enthält ans;er zal'lrcichen' iu den Terl georm! len Holzschuillcil eill geireues Porlrät des PaNiarchen ^iarses von Anneüicn in Hlahlstich ,tub z,vei Lithographien, Mbildungen der ^>erge M<