^//^ ^, ^ ..», Beiträge zur Kenntniß des Staats- und Volkslebens in seiner historischen Entwickelung. (5 i n g l> l e i t l> t und h c r a u s g c g c d e n Mcdrich Bodmstedt. 7> A. B r o ct h a u ^, Russische Fragmente. Zweiter Band. u.M5the Fragmente. Beiträge zur Kenntniß des Staats- und Volkslebens iil seiner historischen Elitwickelung. , Eingeleitet und herausgegeben von Friedrich Bodcnstedt. Zweiter Vand, Leipzig: F. A. Brockhaus. 1662, Itchck deZ jlueiten NundeZ. Seitc 1. Das Individuelle und das Allgemciue (Sociale). Von N. Hilarow...................................... 1 2. Ueber die Bauerngemeinde nnb den Grundbesitz. Pon A. Ko- s ch e l e w.................................... ...... 47 3. Historische Fragmente von A. S. Chomjakow........... 133 4. Ueber eine Handschrift aus der Zeit des Zaren Alerei Michai- lowitsch. Aufgefunden nnb unter dem Titel: Das russische Reich in der Mitte des 17. Jahrhunderts, herausgegeben von P. Bessonow .................................... 243 5. Ueber die Nrbciterassociationeu im Gouvernement Iaroslaw. (Schreiben an den Herausgeber der „Russischen Unterhaltungen".) Bon Iwan Aksakow.................... 305 0. Graf Morkow. Ein Beitrag zur Geschichte der russischen Diplomatie. Nach Peter Bartenjew.................. 317 Das Individuelle und das Allgemeine (Sociale). Russisch? FrlWNfitt!', il. Das Individuelle und das Allsscmciuc.^) (In Bezug auf einen in einer Zeitschrift abgedruckten Aufsatz des Herrn D.) Vie Vertheidiger des „Individuellen" und der „Individualität" halten die Ansicht, daß die Menschen als „Glieder der Gesellschaft, bcr Menschheit oder selbst des Universums" betrachtet werden sollen, für veraltet, ja, einige sogar für unchristlich. Nach ihrer Meinung wird durch derartige Grundsätze, wie: „für das Wohl der Gesellschaft muß man seine persönlichen Interessen zum Opfer bringen", oder: „In der Gesellschaft muß einer für alle und müssen alle für einen einstehen" — ein moralischer Communismus gepredigt, werden vernunftwidrige Verhältnisse aufgestellt. Wir sind einer vollkommen entgegengesetzten Ansicht. Nach unserer Meinung soll sich nämlich der gebildete nnd noch dazu christlich gebildete Mensch für nichts anderes ansehen als für „ein Glied der Gesellschaft, der Menschheit und selbst des Universums"; wir sind der Meinung, daß die Grundsätze, welche von unsern Gegnern verdammt werden, durchaus keinen moralischen Communismus ausstellen, — dieses Wort in dem Sinne von irgendetwas Vernunftwidrigem genommen — sondern daß sie im Gegentheil wahrhaftige, menschliche Verpflichtungen sind. In dem eigenen Vorgefühle, daß ihre Ansicht anf Einwürfe stoße, beeilen sich nnscre Gegner, den Leser durch die 1) Man sehe die Schlußbemerkung zu diesem Aufsatz. 1" 4 Behauptung für sich zu gewinnen, daß sie, iudem sie die Achtung gegen die menschliche Individualität vertheidigen, unendlich weit von dem entgegengesetzten Extrem entfernt sind, die Aufopferung aller für eine Persönlichkeit zu forderu, daß ihre Ansicht durchaus kein Egoismus, fondern nur Individualismus sei. Alleiu alle Gründe, welche vou ihneu in diesem Sinne angeführt werden, beWeifen nach unserer Meinuug vollkommen das Entgegengesetzte von dem, was sie sagen wollen, und bestätigen im Gegentheil, daß ihre Theorie namentlich Egoismus ist, wofür sie uur den Rainen gewechselt haben. Wir beginnen mit der Behauptung, daß der reine Egoismus in jenem extremen Sinne, in welchem ihn der Autor des von uns zu analysirenden Aufsatzes versteht, eine vollkommene Absurdität ist. Ein einzelnes Individuum kanu allerdings iu der Glut seiner erhitzten Phantasie zuweilen den Wunsch hegen, daß „sich alle für seine Persönlichkeit zum Opfer bringen möchten", allein von der Faselei einer krankhaft entwickelten Einbildungskraft bis zu ihrer praktischen Ncatisiruug, ja mehr noch — bis zu ihrer allgemeiueu Rea-lisirung, bis zu ihrer Erhcbuug zu einem Princip allgemein menschlicher Beziehungen — ist es nnendlich weit. Ein beliebiges einzelnes Individuum, N. N., mag vielleicht einige Einfältige finden, welche einwilligen, sich für seine Persönlichkeit zu opferu, allein die Mehrzahl der Menschen wird sich, und noch dazu zu der Mehrzahl seiner persönliche« Interessen, ganz anders verhalten. Der Grund ist einfach. Wenn N. N. seine persönlichen Interessen hat, so ist dies auch mit allen übrigen der Fall; und weuu N. N. will, daß sich die übrigen für seine persönlicheu Iuteresseu opfern, fo finden im Gegentheil alle übrigen ihr persönliches Interesse darin, sich fiir niemaud zu opfern. Demnach rcalisiren wir einen endlosen Egoismus, selbst in einer einzelnen Person genommen, in keinem Falle. Wie aber kann der Gedanke entstehen, denselben 5 zu einem allgemeinen Princip zu erheben? Es wäre dies der Inbegriff aller Absurdität und allen Widerspruchs. Wie kann man einem jeden einzelnen Individnnm sagen: „Deiner Persönlichkeit muß alles Allgemeine znm Opfer gebracht werden?" Dies würde so viel bedeuten, als wenn man zugleich sagen würde, daß es weder persönliche noch allgemeine Interessen gebe, so viel, als wenn man sowol das persönliche Streben als das sociale Princip völlig umstoßen nnd folglich sich selbst, seine eigene Thesis in ihrem tiefsten Wesen widerlegen würde. In der That aber werden die persönlichen Interessen nnr durch die gegenseitigen Dienste, die einer dem andern leistet, gewonnen. Da aber niemand andern umsonst Dienste erweisen will, so wird folglich ein jeder, wenn er von dem andern nur Opfer fordert, eben dadurch ans die Erreichnng seiner eigenen Interessen verzichten müsse». Aber zugleich damit wird sich auch ein jeder eben dadurch von der Gesellschaft ausschließen, denn die Gesellschaft wird dnrch diese gegenseitigen Dienste gehalten. Wenn demnach der Autor fürchtet, daß man ihm den Wunsch zuschreiben könne, den Egoismns in dnn nnendlichen, soeben erklärten Sinne zu vertheidigen, so mag er sich beruhigen. Dies fällt wol niemand ein: denn die Vertheidigung einer solchen Art von Egoismus wäre wol die bemit-leidenswcrthcste Absurdität, es würde dies so viel bedeuten, als eine allen in die Augen fallende Unmöglichkeit zn vertheidigen. Ja, es wäre sonderbar, von jemand nnr anznnehmen, daß er sich hierzu entschließen würde. Allein worin besteht denn die Ansicht der Vertheidiger der Individualität? „Das Individuum", sagen sie, „darf seine persönlichen Interessen nicht dem allgemeinen Nohle zum Opfer bringen." Was soll damit gesagt sein? Doch wol mit andern Worten nur dies: Wenn das allgemeine Wohl, oder besser — das Wohl aller und eines jeden, außer mir — erfordert, daß 6 ich auf irgendeinen meiner Vortheile verzichte, so mnß ich den Schaben der Gesellschaft zulassen, mein eigenes Interesse dagegen wahren. Eine Schildwache steht auf einem Posten, von dessen Vertheidigung die Sicherheit von zehntausend ihrer Kameraden abhäugt. Darf sie wol den Ihrigen bei dem Herannahen des Feindes ein Zeichen geben, weuu ihr dies das Leben kosten kann? Nach der Theorie der Herren Vertheidiger der Individualität braucht sie es nicht; wenigstens wird dies dem freien Willen des Soldaten anheimgestellt. Denn sonst müßte er sich ja für „ein Glied der Gesellschaft" ansehen, es wäre dies eine Art von „obligatorischer Brüderschaft" — „ein moralischer Communismus", wie sich Herr D. und Comp. ausdrückt. Man hat einen Räuber vor Gericht gebracht. Gegen Bezahlung einer Sportel findet sich leicht eine Gelegenheit, ihn freizusprechen. Ist dem Richter erlaubt, dies zu thun? Und warnm nicht, fragen wir, wenn man streng der Theorie unserer Gegner folgt? Seiu eigenes Interesse darf man nicht dem Wohle der Gesellschaft zum Opfer bringen! Man verlangt von mir Steuern. Sie sind ebenfalls eine Nothwendigkeit für das Wohl der Gesellschaft. Allein sie berühren auch mein Interesse. Warum soll ich dasselbe zum Opfer bringen? Die Ansicht, „daß in der Gesellschaft einer für alle und alle für einen einstehen sollen" — ist veraltet, wendet man uns ein. Und gerade die Steuern sind ein fac-tifcher Ausdruck und eine Realisirung dieses „Einstehens aller für einen und eines für alle". Kurz, man könnte eine zahllose Menge von Beispielen anführen, in welchen die perfönlichen Interessen mit den allgemeinen in einen ähnlichen Conflict gerathen, und überall wäre folglich nach der Theorie des Herrn D. jegliches Individuum berechtigt, ganz so zu verfahren, wie wir dies ? oben beispielsweise gezeigt haben. Wie heißt uun diese Theorie? Der Autor nennt sie Individualismus. Mag few. Allem der Name ändert nichts an der Natur der Sache. Es ist klar, daß derjenige, welcher die NichtVerpflichtung, seine persönlichen Interessen dem allgemeiuen Wohle zum Opfer zu bringen, vertheidigt, eben dadurch auch die Nothwendigkeit vertheidigt, das allgemeine Wohl den persönlichen Interessen zum Opfer zu bringen. Oder kürzer gesagt, derjenige, welcher die Nichtverpflichtnng persönlicher Opfer für die Gesellschaft vertheidigt, vertheidigt, nur mit andern Worten, gerade jeueu greuzeuloscn Egoismus, den er sich niemals entschließen würde in seiuer vollen Nacktheit aufzustellen oder in seiner wahren Gestall zu vertheidige», von dem er wie vor der schreiendsten Absurdität oder der offenbarsten Unmöglichkeit zurücktreten würde. Allein wie geht dies eigentlich zu? Sehr ciufach. Nicht immer wird dasjenige deutlich erkannt, was ausgesprochen wird. Der Individualist, welcher das Princip der Individualität vertheidigt, glanbt uud wünscht durchaus uicht deu Egoismus zu vertheidigen, am allerwenigsten in seiner unendlichen, so sehr empörenden und ebenso uumöglich zu realisirenden Bedeutung. Aber iu der That ist dies deuuoch der Fall. Und es ist namentlich deshalb der Fall, weil das Princip der Individualität schon an uud für sich mit der Idee der Gesellschaft nicht vereinbar ist. Die Gesellschaft ist nämlich eine Beschränkung der ^udividualität. Wir oereiuigeu uus iu der Absicht zu einer Gesellschaft, daß ein jeder von uns auf einen Theil seiner persönlichen Freiheit verzichte — wir begeben uns, und zwar ein jeder, seiner Erciusivilät. Sobald wir demnach die Individualität nicht nur als ein Princip hinstellen, sondern ihr anch einfach eine selbständige, unendlich unabhängige Bedeutuug beilegeu, uutergrabcu wir eben dadurch unvermeidlich die Grundlage der Gesellschaft, wir 8 berauben sie der Freiheit, und zwar zu unserm eigenen Nachtheile. „Das Allgemeine hebt nicht die Theile ans", spricht Herr D. vollkommen richtig. Allein gerade dies zeigt anch, daß der Theil namentlich als Tbeil, nicht aber als eine selbständige Absondernng betrachtet werden innst. Wenn wir dem Theile eine selbständige, abgesonderte Vedeutuug geben, so vernichten wir gerade dadnrch das <^anze. Das Ganze ist gerade deshalb ein (Ganzes, 'veil es an?ere Gan;e zu seinen Theilen hat. „Die Individualität dient allem znr Grundlage", bemerkt wiederum Herr D. „Die individnalität vernichten wollen, heißt die Welt vernichten wollen." Das zweite ist richtig; allein das erste steht mit demselben dnrchans nicht in einem nothwendigen Znsammenhang. Die Glieder des Körpers vernichten wollen, heißt den Körper selbst vernichten wollen. Allein folgt hicrans, daß die Glieder dem ganzen Körper znr Grundlage dienen? Knrz, soviel wir nns anch in Betrachtnngen ergehen mögen, die Negation der untergeordneten Bedeutung der Individualität an nnd für sich ist schon eine Negation jeder Bedeutung des Allgemeinen; folglich ist die Idee von der Nichtverpflichtnng zu persönlichen Opfern, vou dein Mangel an Znsammengehörigkeit (Solidarität) der Individnen in Beziehung auf die Gesellschaft, von der Unnatürlichkeit einer durch Gegenseitigkeit bedingten Sorge aller und eines jeden, der eigentliche Egoismus in seiner selbstzerstörenden Beden-tung. Individualismus ist uämlich Egoismus, nur mit dem Unterschiede, daß dieser Egoismus ein versteckter ist, der sci> nem ursprünglichen Widersprüche noch den neuen Widerspruch der innern Inconsequenz beifügt — indem er trotz seines Grundprineips gerade dasjenige zu erhalten wünscht, dessen 9 Vernichtung er eigentlich anstrebt, dessen Vernichtung gerade sein eigenes Wesen ausmacht. Die zahlreichen Vertheidiger der Theorie, als deren Repräsentant Herr D. erscheint, sagen nns: „Aber wir verwerfen ja nicht die gegenseitigen Dienstleistungen, durch welche die Gesellschaft besteht. Wir erkennen im Gegentheil deven Nothwendigkeit an, und glauben sogar, daß dieselben zur eigcneu Erhaltung und Entwickelnng der persönlichen Interessen nothwendig find. Wir verneinen nur die Nothwendigkeit der Aufopferung. Das Wohl der Gesellschaft kauu dieser Aufopferung entbehren." Wir entgegnen hierauf von unserer Seite: „Dies ist eitler Wahn. Die einfache Dienstleistung unterscheidet sich von der Aufopferung dadurch, daß bei der ersten ein gegenseitig vortheilhaftcr Eintausch und zwar ein vortheilhafter Eintausch von gleichem Werthe vorausgesetzt wird. Sobald dies uicht mehr der Fall ist, hört die Dienstleistung auf, eine einsacke Dienstleistung zn sein, und wird zur Aufopferung. Ist aber bei der Erfüllung gesellschaftlicher Pflichten dasjenige, was das einzelne Individuum vou der Gesellschaft erhält, immer demjenigen an Werth gleich, was es denselben abtreten muß? Um nicht lange nach Beifpielen zu suchen, wenden wir nns zn einem vou jenen, die wir bereits angeführt haben. Der Soldat tritt der Gesellschaft das Men ab nnd erhält als Ersatz . . . ., allein hier kann nicht einmal die Rede von einem Ersatze uud einem Empfange selbst, noch viel weniger vou deren Vortheil nnd deren Werthgleichhcit sein. Hier ist selbst die Idee eines Ersatzes nicht anwendbar. Das Leben ist durchaus nicht das, was z. B. die Arbeit, oder das durch die Arbeit erworbene Kapital, oder im allgemeinen ein beliebiges Eigenthum ist, kurz, tein solches Eigenthum, bei dessen Verlust ich nichtsdestoweniger bleibe, nicht verschwinde. Wer das 10 Leben bargibt, gibt sich selbst dar. Das Object des Eintausches und das eintauschende Individuum fließen hier vollkommen zusammen, und die eine der eintauschenden Parteien verschwindet selbst. Auf diese Weise ist die Darbringung des Lebens immer eine Aufopferung. Hier die Möglichkeit eines Ersatzes sehen zn wollen, würde so viel heißen, als zwei Seiten annehmen zn wollen, wo im ganzen nnr eine existirt, so viel, als die Vernichtung für eine Erwerbung halten zu wollen." Vielleicht wendet man uns auch dagegen ein- — „Aei der normalen Organifation der Gesellschaft ist der Dienst des Soldaten ein Pertrag wie jeder andere. Auch das Leben hat, wie alles, einen Preis, der eine schätzt es höher, der andere niedriger, je nach Umständen. In der Perspective zweier Todesarten findet N. N. den satten Tod auf dem Schlachtfelde für sich für vortheilhafter als den Hungertod aus Mangel an Arbeit; weiter ist es nichts ^- dies ist der ganze Begriff von dem Dienste des Soldaten. Hier findet derselbe Austausch der Dienste nnd der Nerthverhältnisse statt wie überall; denselben hier verneinen wollen, würde so viel heißen, als ihn bei jeder Arbeit verneinen zu wollen, bei welcher das Leben des Arbeiters einer Gefahr ansgesetzt ist." Auch hierauf cntgeguen wir von unserer Seite: „Wir begreifen die Möglichkeit eines Vertrags, wenn man fein nicht allzn sehr gesichertes Leben, oder selbst auch ohnehin gefährdetes Leben aufs Spiel setzen muß; aber wir streiten demselben vollkommen jeden Sinn ab, wenn das Verlangen gestellt wird, bei der vollen Möglichkeit, ohne jeden Verlust sich das Leben zu erhalten, dennoch einem gewissen Tode entgegenzugehen. Der Soldat kann gerade so wie der Bergmann gegen eine gute Belohnung sein Leben einer Gefahr aussetzen; allem wir begreifen nicht, warum die Schildwache den unvermeidlichen Tod vorziehen sollte, wenn dieselbe durch Verrath sich sehr gut das Leben erhalten kann?" ... — „Frei- 11 willige Verpflichtung ..." — „Allein von dem Standpunkte des persönlichen Vortheils aus hat die freie Verpflichtung nur dann eine Macht übcr mich, wenn ich mich einem größern Verluste durch die Verletzung als durch die Erfüllnng derselben aussetze. Was aber kann größer sein als der Verlust des Lebens, welchen die Schilowachc von der Erfüllung des Vertrags zu erwarten hat? Wenn, abgesehen von alledcm, die freie Verpflichtung über ihn keine Macht hat, wenn nicht etwas Höheres als das persönliche Interesse ezistirt, was zwingt ihn seinem Worte treu zu bleiben? Wir kommen wic-drr zu dem nämlichen Schlüsse: daß das Princip des persönlichen Interesses für die Erfüllung der gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht ansreicht, und daß ohne persönliche Aufopferung das allgemeine Wohl nicht gewahrt werden kann." Doch wollen wir hier nicht alle Sophismen bekämpfen, welche leider von dem jetzt nur allzu herrschenden Individualismus angewendet werden, um seiue Unhaltbarkeit zu verdecken. Man müßte zu diesem Zwecke eiu ganzes Buch schreiben. Sie laufen alle auf eius und dasselbe hinaus; sie alle zeigen bei einer aufmerksamen Betrachtung auf den bodenlosen Widerspruch hin, auf welchem ihre Theorie steht, indem sie ihr egoistisches Princip vertheidigen, zugleich aber die Idee der Allgemeinheit zu bewahren suchen. Wir gehen nun zu dem Aufsatze über, welcher zu den vorliegenden Bemerkungen Veranlassung gegeben. Es ist natürlich, daß der Verfasser bei seinem Princip die Bedeutung der Allgemeinheit und überhaupt die vernünftig-moralischen, gegenseitig-menschlichen Beziehungen unberührt lassen möchte. Sehen wir nun, welche Beweisgründe er hierzn in Allwendung bringt. „Der civilisirte Mensch" — sagt'der Verfasser — „unterscheidet sich auch dadurch von dem wilden, daß er außer seinen persönlichen Interessen auch für allgemeine, nationale und 12 allgemein-menschliche Interessen empfänglich ist." Dies ist vollkommene Wahrheit! Damit dieselbe aber zn einem Beweisgrunde für den Individualismus diene, mnß vorerst dargethan werden, daß die Fortschritte der Civilisation mit der Entwickelung der Individualität als solcher identisch sind; und darin liegt auch die ganze Frage. Herr D. nimmt mit vielen andern an, daß den Fortschritten der europäischen Civilisation die mit denselben gleichzeitig stattgehabte Bewegung in der Entwickelung der Individualität zur Grundlage gedient habe. Wir dagegeu uehmen geradezu das Gegentheil au; wir bchaupteu, daß die Civilisatiou sich außerhalb der Entwickelung der Individualität und häufig im Gegensatze zu derselben entwickelt habe; daß das persönliche Princip die Fortschritte der Civilisation gehemmt habe, aber nicht derselben förderlich gewesen sei. Der Katholicismus ist die höchste Weihe der persönlichen Autorität in der Sphäre der Religion; ihm entspricht im Leben vollkommen die Form der feudalen Verhältnisse. Dasjenige, was die Grundidee des gegenwärtigen Individualismus ausmacht — die Idee der individuellen Selbstachtung — entstand, entwickelte sich und erhielt namentlich in jener Zeit ihre Bedeutung. Jene Zeit war aber die Zeit der Knechtschaft, der Barbarei und der höchsten Roheit. Der Protestantismus milderte das persönliche Princip, nachdem er die persönliche Autorität gegen die persönliche Freiheit vertauscht, in Beziehung auf die abstracte Autorität: ihm entspricht die gegenwärtige, moderne, sociale Organisation, gegründet anf das sogenannte sociale Gleichgewicht — anf das abstracte Gleichgewicht gegenseitig sich widersprechender oder sogar feindlicher Elemente. Und diese Milderung des persönlichen Princips, namentlich die Entfernung der directen, persönlichen Autorität uud dereu Ersatz durch die abstracte Autorität, trug ihre Früchte auch in den Fortschritten der Civilisation (Aufklärung). 13 Doch möchte hier die Frage am rechten Orte sein, ob denn auch bei alledem die Knechtschaft in Enropa verschwunden sei? Nein; sie hat ihre Form nnr gegen eine andere vertauscht. So viel ihr auch klügeln möget, die gewaltsame Herrschaft, welche heutzutage das Kapital über die Arbeit ausübt, dies Recht, gilt für die alte patriarchalische Gewaltherrschaft des Herrn über deu Knecht. Der Unterschied besteht blos darin, daß das Recht der Gewaltherrschaft in andere Hände, aus denen der Aristokraten in die der Reichen übergegangen ist; und dadurch, daß es dieselben Resultate auf eiueul größcrn Umweg uud durch eineu complicirtern Proceß erreichte, seine frühere Unmittelbarkeit verloren hat. Schließlich wollen wir auch noch von einer andern, erst um entstandenen Macht sprechen, welche im Begriffe steht, die nackte Macht des Reichen herabzudrücken und, wenn möglich, sich ganz an deren Stelle zu setzen, obgleich letztere viel snbtilcr als die frühere Macht des Herrn, aber bei alledem doch sehr bemerkbar ist, und sich ourch ihren Druck jetzt bereits fühlbar macht, uud welche die heutigen Publicistcn als den Inbegriff aller Freiheit, als die Blüte der Ausklärung, als den fchließlichen Ausdruck der normalen Civilisation lobpreisen. Wir sprechen von der Macht der öffentlichen Meinung. Obgleich wir die ganze Berechtigung der öffentlichen Meinung in vollein Maße anerkennen, sobald dieselbe iu der That ans den unverletzten, öffentlichen Geist gegründet ist, und fügen wir bei, sobald sich der öffentliche Geist selbst den höhern Anforderungen unterordnet, so sind wir nichtsdestoweniger der Meinung, daß bei dem jetzigen herrschenden Princip die einzige Form, in welcher sich die Macht der öffent-llchen Meinung verwirklichen kann, ganz dieselbe Gewaltherrschaft über die Freiheit ist und sein wird, wie jede andere. Es wird dies nicht die Herrschaft des Herrn über den Knecht, nicht die des Pflanzers über den Neger, nicht die des Reichen 14 über den Armen, sondern die Herrschaft mit größerer Gewandtheit und größerm Scharfsinn begabter Individuen über treuherzigere und ehrlichere, bescheidenere, wenngleich vielleicht auch manchmal weniger begabte Individuen sein. Und diese Herrschaft ist, wenn mau will, noch schlimmer als jede andere. Sie ist eine Herrschaft dcr Verführung und der List, sie ist eine Herrschaft, welche nicht nur die physische Seite des Menschen, nicht nur den äußern Alisdruck seiner Ueberzeugung zerstört, sondern den heiligsten Zufluchtsort der menschlichen Freiheit angreift. Sie ist desto gefährlicher, je snbtiler sie ist: sie tödtet die Freiheit in ihrer Wurzel, und zwar unter der Form der Achtung, welche sie gerade gegen dieselbe Freiheit zu hegen scheint. >) Wir spreche« selbstverstäudlich in dcr Voraussetzung, daß bei alldem immer dasselbe Princip der Individualität festgehalten wird. Das von uns soeben Gesagte dient zugleich auch als Antwort auf die Meinung Herrn D.'s, die er fast mit allen gemein hat, daß „die gauze Geschichte dcr Civilisation eine Geschichte der Emancipation dcr Individualität sei". Der Autor hat selbstverständlich die europäische Civilisatiou im Auge. Nein, erwidern wir, die Geschichte der europäischen Civilisation ist die Geschichte der Veränderungen, welche in den verschiedenen Formen der Knechtschaft stattgefunden haben. Es ist dies unvermeidlich, und zwar deshalb, weil der europäischen Geschichte das so sehr gepriesene Princip der Individualität zu Grunde liegt. Bei dem individuellen Princip, bei dem Strcbeu, der Individualität als solcher, in der streugen Bedeutung dieses Worts, eine Ausdehnung zu geben, ist eine Unterjochung unvermeidlich. Die Ursache ist dieselbe, durch welche der Autor sehr richtig den eitelu Wahu des Commu- 1) Dieser Artikel wurde geschrieben, ehe das Buch John Mill's: ,,0il liberty ", in Rußland bekannt wurde. 15 nismus verwirft. Unter den Menschen gibt es keine Gleichheit, ober mil andern Worten und strenger ausgedrückt — keine physische nnd moralische Gleichartigkeit (Identität), nnv kann keine solche geben. Wenn man also dem Individuum als solchem eine Ausdehnung gibt, so gibt man nämlich gerade jenen Vorzügen eine Ausdehnung, welche natürlicherweise der eine vor dem andern hat, und damit unterdrückt man zn-glcich, indem man dem einen eine Ausdehnung gibt, unvermeidlich deu andern. Die Civilisation ist thatsächlich ein Streben nach Emancipation. Der Drnck wird gefühlt; er drückt durch seine Schwere, man wirft ihn ab, — allein man wirft das Factum selbst ab, ohne dessen Princip ,;n vernichten, nnd doch wirft man es im Namen eben dieses Princips ab. Das Princip bleibt; es lebt fort nnd sncht nach ueueu, und immer wieder ncueu, mehr und mehr subtilern Formen der Unterjochuug. Die ucue Form ist natürlich im Anfange nicht bemerkbar; allein anch sie kommt zum Bewußtsein; auch für sie kommt die Zeit, und man wirft sie ab, uud so geht es fort und fort, bis man endlich bemerkt, daß die Urfache nicht in dem Factnm, sondern in dem Princip selbst liegt. Kehren wir nun, um uns besser zu verstäudigen, zu dem bereits Gesagten zurück. In der Form, in welcher in dem gegenwärtigen Moment die Macht der öffentlichen Meinung erscheint, ist, wie wir bemerkt, das Princip des Drnckes verborgen, und zwar eines viel fürchterlichern Druckes, als dies bei allen frühern Formen der Fall war. Und was mm? Sprechet von der Immoralität, welche in dieser Quasi-Deffentlichkeit cxistirt. Nach einigen Aligenblicken erhaltener Aufklärung werdet ihr euch überzeugen, daß ihr mit dem Punkte der gegenwärtigen Begriffsverwirrung Europas zusammengetroffen seid. Man wird euch uicht hören. Die Gewalt, welche in der geistigen, gegenseitigen Verführung nnd M liegt, wird man gar nicht verstehen. „Was ist da für 16 eine Gewalt vorhanden?" wird man euch entgegnen: — „Ihr könnet vollkommen frei enere Meinnng bekennen, und ich nehme sie vollkommen frei au. Es liegt in meinem Willeu sie an-zunehmen und nicht anzunehmen." Und hierbei vergißt mau, daß die Vertheidiger der Sklaverei in der eugsteu Bedeutung dieses Worts vollkommen in derselben Weise argumcntirten. „Der Sklave", sagteu sie, ,,ist vollkommen frei, er dient mir als Sklave aus eigener Ueberzeugung, aus christlicher Demuth. Or ist mir von ganzer Seele zugethan und in seinem Dienste findet er einen Genuß. Wo ist denn hier ein Druck? eine Immoralität?" Allein man vergißt hierbei ebenfalls, daß, wenn es vollkommen iu meiner Gewalt liegt, eine fremde Meinung anzunehmen oder nicht anzunehmen, es streng genommen, und dies ist ja gan; gleich, anch vollkommen in der Gewalt des Negers liegt, bei dem Pflanzer in der Sklaverei zu verbleiben oder nicht, denn die physische Gewalt ist ja bei alledem auf feiten der Sklaven, — das numerische Ueber-gcwicht ist bei allcdem auf ihrer Seile. Es ist also ein Unterschied iu dem Grade des Druckes im eigentlichen Sinne nicht vorhanden, nnd der Unterschied besteht nur iu der Form. Allein die Sache liegt darin, daß die Idee der freien quasi-öffeutlichcu Meiuung jetzt i» vollem Gange, in voller Blüte ist; M begiuut erst ihrer wirklicheu Kraft entgegenzugehen; man siebt iu ihr vorerst nur uoch die emancipirende Seite; nnd in dem gegenwärtigen Moment ist sie in der That noch so beschaffen. Mit einem Worte, der Ansdrnck der öffentlichen Meinung paßt jetzt immer noch zur Freiheit (geht jetzt immer uoch der Freiheit cutgegeu), ist aber noch nicht zur vollen Macht gelangt. Und die Sache besteht ebenfalls darin, daß die gegenwärtige Zeit, das Factum des Druckes infolge der Verwirklichung des persönlichen Princips in einer Form fühlend, das Factum verwerfen will, sich aber unterdessen noch uicht von dem Princip selbst zu trcuueu wüuscht und 17 die Form einer persönlichen Abhängigkeit gegen eine andere gerade so persönliche Abhängigkeit vertauscht. Und dieses, wiederholen wir, muß uothwendigcrweise so lange fortdauern, solange es schließlich nicht in das allgemeine Bewußtsein eingedrungen ist, daß das Uebel hier nicht in der Form, sondern in dem Wesen selbst liegt; daß das Uebel in der Unrichtigkeit des eigentlichen Begriffs von der Freiheit liegt; daß die wahre Freiheit durchaus nicht die persönliche Freiheit ist, daß die Freiheit die ungehinderte Möglichkeit der Uebereinstimmung der Individualität mit jenen vernünftig-moralischen Grundsäkeu ist, welche in dieselbe gelegt sind, mit jenem göttlichen Samen, welcher uns allen auf gleiche Weise zum Zwecke des Emporwachsens verliehen ist; nnd daß schließlich in diesem Sinne die wahre persönliche Freiheit namentlich in der persönlichen Unterjochung, in der vollkommenen Selbstentsagung der Individualität, in deren vollkommener Selbstverleugnung und Selbstunterordnung unter das göttliche Gesetz besteht. „Achte vor allem dich selbst, wenn du willst, daß du von andern geachtet werdest", spricbt Herr D., seinem Princip der Individualität getreu bleibend. Ans dem Vorhergehenden kaun der Leser entnehmen, daß wir im allgemeinen gegen jede blos persönliche Achtung sind, mag sich dieselbe auf sich selbst, oder auf andere beziehen, und daß fic nach unserer Meinung in jedem Falle nicht als Zeichen einer vollkommenen Entwickelung dienen kanu. Allein wir bemerken hier die ganze Sophi-stik dieses Beweises, welchen uns, den andern folgend, Herr D. zur Vertheidigung des Princips der Individualität anführt. „Achte vor allem dich selbst" .... Wenn ich aber vor allem Mich, als mein eigenes Ich, als Individuum im strengen Sinne des Worts, nämlich als Iwan oder Stephan achten soll — so verstehe ich nicht, warum mich dann auch andere achten werden? Es herrscht hier durchaus leine Folgerichtigkeit. Russische Fragmcntl'. «. 2 18 Die natürlichste und nächste Folge dieser Art von Selbstachtung würde sein, daß die andern ebenfalls sich selbst, aber nicht mich achten lernen. Wenn hingegen ich in nur eigentlich nicht mich, sondern vielmehr jene vernünftig-moralischen Gesetze, welche mir eingepflanzt sind, achten werde, oder auch jene nationalen und socialen Eigenthümlichkeiten, welchen ich zum speciellen Ausdruck diene, dauu können mich wirklich, und zwar infolge dessen, anch andere achten. Allein in diesem Falle wird der Wahlspruch: „Achte dich selbst" — eher bedeuten: „Achte eher andere als dich" — was einen vollkommen entgegengesetzten Siun gibt. Aus dieser Sentenz eine Schlußfolgerung zu Gunsten des persönlichen Princips ziehen zu wollen, bedeutet demnach so viel, als die Doppelsinnigkeit des Grundes dazn benutzen zu wollen, um eine falsche Schlußfolgerung zn ziehen. „Wir richten die Aufmerksamkeit", sagt Herr D., indem er das egoistische Princip zu vertheidigen lind unterdessen demselben seine egoistische Bedeutung zu nehmen wünscht, „wir richten die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der menschlichen Individualität, wir fordern Achtung für diefelbe..." „Ist dies etwa Egoismus?^ fragt er. — Je nachdem, entgegnen wir ihm, die Art der Bedeutung und die Art der Achtung ist, welche Herr D. fordert. Wenn er der Indivi-dnalität eine dienende (untergeordnete) Bedeutuug gibt, wenn er die Achtung nicht sowol für die Individualität als vielmehr für die vernünftige moralischen Gesetze fordert, so ist dies selbstverständlich kein Egoismus. Aber der Individualismus fordert uamentlich das Gegentheil, denn sonst würde er aufhören, das zu few, was er ist! „Wir sprechcu zu jedem Menschen" . . ., fährt Herr D. fort. Allein was beweist dies? Dadnrch sagt Herr D. zu jedem Menschen: „Sei Egoismus", aber er beseitigt den Egoismus durchaus nicht. „Wir sagen zu jedem Menschen", 19 bemerkt Herr D. weiter — „entwickele deine Kräfte, vervollkommene dich, damit du, je mehr du dich entwickelst, desto freier seiest." Dies ist etwas ganz anderes. Die Entwickelung und Vervollkommnung ist in der That das Princip der Freiheit, beide führen durchaus nicht zum Egoismus. Allem es handelt sich darum, ob beide aus dem persönlichen Princip hervorgehen? Auch dies erfordert eiueu Geweis. Inzwischen aber ist thatsächlich die wahre Entwickelung uud die wahre Vervollkommnung, wie wir bereits oben bemerkt, nichts anderes, als die Selbstentsagnng der Individualität und die Unterordnung der-selbeu unter höhere moralische Gesetze. Die wahre Freiheit des Menschen besteht nämlich in seiner Unabhängigkeit nicht nur von einer fremden, sondern auch von feiner eigenen Individualität, von seiuer eigeneu Willkür. „Achte die auderu", fahrt Herr D. in seiner Rede fort, „ sei in deinen Verhältnissen zu den Menschen gegen jedermann gerecht nud billig; habe immer vor Augen, daß sie ebenfalls freie Menschen sind, wie du selbst. Schätze ihreu Werth und sei nachsichtig gegen ihre Mängel." Dies ist alles sehr schön. Allein, wie läßt sich dies alles einzig und allein auf individueller Grundlage erreichen? Wo ist für mich die persönliche Anregung, gegen alle, in den Beziehuugeu zu ihnen, gerecht uud billig zu sein? Die Gerechtigkeit ist durchaus kein persönliches Princip. Ich weiß schließlich, daß auch die andern freie Individuen sind, wie ich selbst. Nun, möge also auch ein jeder für sich selbst sorgen, nachdem er ja dasselbe freie Individuum ist, wie ich selbst. Möge ein jeder selbst sich Gerechtigkeit suchen uud sie erlangen. Meine Sache ist, für mich selbst zu sorgen; mir ist meiu eigenes Interesse, nicht das fremde wichtig. Was habe uh für einen persönlichen Grund, andere Verdienste zu schätzen nnd gegen fremde Mängel nachsichtig zu sein? Verstehe ein 2* 20 jeder selbst, mir nothwendig zu sein, und dann werde ich feinen Werth schätzen, den er für mich haben wird. Und wenn ich Mängel sehe, was habe ich für einen persönlichen Grund, nachsichtig zu fein. Wäre dies nicht „eine verpflichtende Vrü-derschaft, eine Art moralischer Communismus"? Und wenn ich aus fremdeu Mängeln Nutzen ziehen kann, um auf ihre Kosten meinen Vortheil zu vergrößern, was habe ich für eiue Veranlassung, mich dessen zu enthalten? Ich habe keine Verpflichtung, andern meine Interessen zum Opfer zu bringen! Ich bin nicht schuld daran, daß N. N. schwächer, P. P. ärmer, R. R. weniger scharfsichtig als ich ist. Mögen auch sie ihre Maßregeln treffen, mögen sie sich entwickeln, mögen sie reich werden, wenn sie wollen und Gelegenheit finden. Sie find gerade so freie Individuen wie ich selbst. Ich mische mich nicht in ihre Angelegenheiten, mögen also auch sie mich nicht stören und mich nicht beengen. So urtheilt iu der That der streng durchgeführte Individualismus. Ihm entspricht im Veben auch die gauze Form der socialen Organisation, auf ihm beruht auch jenes berühmte Self-government, welchem sich die nordameritanischcn Staaten nähern, und dessen künftige, endliche Entwickelung namentlich in diesem Staate wir nns als nichts anderes vorstellen, denn als den äußersten, unvermeidlichen Ausdruck, welchen die individualistische Anfchanung, welche in der europäischen Geschichte im Keime begonnen, im Leben fiuden muß.') „Sorge für dich foweit deine Kräfte reichen, beute die andern aus, solange sie dich gewähren lassen. Mache dir keine Vorwürfe, wenn es schlecht paßt, lasse keine Gelegenheit vorüber- 1) Wir hoffen, daß der Leser beachte, daß wir nicht von der Selbstregierung im allgemeinen reden, sondern vielmehr von jener Selbstregierung, derer voller Realisirung Nordamerika entgegengeht. Dieser Gegenstand verdient übrigens eine besondere, eingehende Betrachtung. 21 ßehen, wenn sich dir eine solche darbietet." Dies ist in der That, um den rechten Ausdruck zu gebrauchen, das ganze Vrogramm dieser socialen Organisation, welche von einigen als der Inbegriff aller erreichbaren, menschlichen Freiheit hinbestellt wird, und welche, dem widerstreiten wir nicht, schließlich dennoch besser ist, als viele und sehr viele andere sociale Formen. Allein der Autor wagt nicht bis zu diesen Schlußfolgerungen zn gehen. Mit einer Inconseqncnz, die ihm in der That Ehre macht, möchte er die Ausbeutung des Nächsten nicht zulassen; er möchte Gerechtigkeit uud Nachsicht walten lassen. Wie ist dies aber bei einer Wahrnng des persönlichen Princips möglich? Wie ist dies zu erreichen, ohne seine persönlichen Interessen zum Opfer zu bringen? Bei einer vollkommen gleichen Sorgfalt (für sein eigenes Ich) nud bei vollkommen gleichen Interessen wird der Starke immer auf Kosten des Schwachen, der Reiche auf Kosten des Armen, der Verständige anf Kosten des Unverständigen leben. Wie soll eine Nachsicht gegen den Schwachen, den Nriuen und Unverständigen erreicht werden, ohne den Portheil des Starken, des Reichen und des Verständigen zu beeinträchtigen, welche alle drei an ihren Vorzügen dnrchaus uicht schuld sind? Und wie soll das Recht auf persönliche Vortheile dem einen gewahrt werden, ohue die andern an ihren Mängeln leiden zu lassen, an welchen sie größtentheils ebenso wenig schuld sind? Was ist aber in der That zu thun? Kanu mau etwa die Einrichtung treffen, von vornherein die Erscheinung dieser bcklagenswer-theu Mängel zu verhindern uud ebeuse die Erscheinung dieser schädlichen Vorzüge zn entfernen? Kann man, indem mau jedem das. Recht anf die ausschließliche Sorge für feme eigenen Interessen überläßt, einem jeden anch dir Mittel zur Erreichung dieser Interessen an die Hand geben? In der That stellt sich nur ein einziger Fall dar, um cincn jeden auf seine eigenen Interessen zu beschränken und 22 die allgemeine Gerechtigkeit zu wahren, nämlich das persönliche Interesse als den einzigen allgemeinen Motor gelten zu lassen, nnd zu gleicher Zeit der nothwendigerweise mit demselben verbundenen Gewaltherrschaft der einen und den persönlichen Leiden der andern vorzubeugen. Allein dies wird — Communismus sein! Communismus, — und dies ist in der That das letzte Wort des Individualismus, der unvermeidliche Ausgang feiner streng logischen Entwickelung. . . . Allein der Individualismus und der Commumsmus stehen sich feinblich gegenüber? —- Vollkommen: es gibt kaum noch eine andere Sphäre, in welcher die entgegengesetzten Meinungen sich so grimmig anfeindeten, als sich gegenwärtig diese extremen socialen Echulen anfeinden. Aber der Communismus ist nicht stichhaltig? — Ohne Zweifel — und der Verfasser hat in vielem vollkommen richtig/dessen Absurdität gekennzeichnet.... Was will dies sagen? — dasselbe will sagen, daß der Individualismus ebenso unstichhaltig ist, als der ihm entgegengesetzte Communismus, und zwar aus dein nämlichen Gruude, weshalb dies der letztere ist. — Die Hiebe, welche die Individualisten so verschwenderisch und mit so großer Meisterschaft gegen ihre Gegner führen, fallen iu gerader Richtung auf ihr eigenes Haupt zurück. Das Wesen liegt darin, daß sowol der Kommunismus als der Individualismus, beide in gleicher Weife, auf das egoistische Princip basirt sind; denn sowol der eine als der andere dienen auf gleiche Weise dem chimärischen Wahne, die exclusive Selbstbefriedigung der Individualität mit der Idee der Allgemeinheit aussöhnen zu könuen. Der Unterschied zwischen ihnen besteht nur in der Art und Weise der Anwendung des Grundprwcips. Und gerade in diesem Sinne sind beide falfch, obgleich sie einander entgegengesetzt sind; beide widerstreiten sich gegenseitig und dennoch zeigt zugleich jedes auf 23 das andere hm. Kurz, es sind dies zwei Glieder eines Doppelschlusses, welcher auf eine und dieselbe falsche Basis gegründet ist. Verwirft mau das eine, so gelangt man un-dermeidlich zu dein andern; allein auch dieses zeigt sich un-fchlbar als ebenso falsch als das Vorausgehende, und führt von neuem zu demselben hin. Dies trifft namentlich jetzt mit dem heftigen Streite zwischen dem Individualisinus uud Kommunismus zu. Beide Theile haben recht uud beide Theile haben auch unrecht; beide verwerfen sich gegenseitig, uud eine jede führt in ihver Cruscquenz zu gleicher Zeit zu ihrer andern, als zu ihrer eigenen Wahrheit. Beide Parteien haben vollkommen recht in ihren Angriffen aufeinander, uud beide sind völlig nnstichhaltig, eine jede in ihrem positiven Theile. Uud gerade hierin liegt eigentlich der Grnud jeuer Erbitterung, mit welcher die beiden socialen Lehren diesen Streit führen. Der Individualismus muß uothwendigerweise das ganze Truggebilde des Communismus cinsehm; der Communismus muß ebeuso uothwendig die ganze Barbarei des Individualisums zugestehen. Zu gleicher Zeit muß aber auch jcder die gauze Kraft der Hiebe fühleu, welche seiu Geguer gegen ihn führt. Und siehe, jeder der sich ihm fühlbar machm-dcn Hiebe treibt ihu, iu die äußerste Extremität sciucr Anschauung sich einzuhüllen. Die Couscqueuz rettend, glaubt ein jeder dadurch seiue ganze Theorie zu retteu; aber ein jeder zeigt eben dadurch nur in desto größerer Nacktheit seine Unstichhaltigkeit. Der Individualist beeilt sich angesichts der Angriffe des Communismus fein Princip der erclnsivcn Individualität bis zu den äußersteu Grenzen der directeu Deduction durchzuführen. Und dennoch? Wem konnte es z. V. einfallen, auch uur eine folche Ansicht, wie die sonderbare Ansicht über die Nichtverpsiichtung zu persönlicher Aufopferuug zum Nutzen der Gesellschaft, wie dieselbe von Herrn D. mit den Worten seiner europäischen Lehrer ansgesprochen wird, zu ver- 24 theidigeu? Oder, noch mehr, wem möchte cs einfallen, eine Anficht zu vertheidigen, welche nicht mehr einfach sonderbar, fondcrn sogar dnrch ihre Barbarei erschreckend ist, wie die Anficht von der Unzulässigkeit persönlicher Wohlthaten, welche durch eben denselben Herrn D. und zwar wiederum nach den Worten eben dieser nämlichen Lehrer ausgesprochen wird. Nicht geuug, daß man eiue hartherzige (Gefühllosigkeit gegen das Unglück des Nächsten gestattet, will man auch noch die Werke der Barmherzigkeit verbieten und das Gefühl Mitleids-voller Liebe als ungesetzlich uud unmoralisch verdammen! Wohin führt nicht das System? Aber alles dies würde nicht der Fall sein, wenn nicht, wie wir erwähnt, die Koryphäen der Nationalökonomie, deren Worte Herr D. nachschreibt, sich nicht Von dem ihnen so schrecklich scheinenden Gespenst des Communismus bedroht sähen, wenn sie nicht fühlen müßten, daß sie im entgegengesetzten Falle mit der schwer ins Gewicht fallenden Ueberführung in der eigenen Consequenz übereinstimmen und gerade durch dieselbe folgerichtig nnd freiwillig einerseits ihr eigenes Todcsurtheil, andererseits die Anerkennung eines an und für sich nicht weniger falschen Systems unterschreiben müßten. Wir sind ebenfalls der Ansicht, daß auch der Communismus seinerseits mit der ganzen ihm anhängenden Schule nie zu einer Absurdität von so gigantischen Dimensionen gekommen wäre, zu welchen sich beide jetzt entwickelt haben, wenn vor ihnen nicht das Leben Europas mit seinem persönlichen Princip stehen würde, das sich in einer so scharfen Einseitigkeit kennzeichnet! Der Streit zwingt beide Parteien zu Extremen, für welche sie sich ohne diesen Umstand nie entschieden hätten, und welche jeder, der über dieselben unbefangen nachdenkt, bei der ersten Betrachtnng verwirft. Es ist, um uns kurz auszudrücken, nach unserer Meinung genügend, diese beiden Lehren mit allen ihren Beweisen und Gegenbeweisen nur gegeneinander zu halten, und diese ein- 25 fache Gegeneinanderhaltung wäre an und für sich schon der entschiedene Todtschlag dcr einen wie dcr ander,i. Wo ist aber, wird man uns fragen, der Ansgang zu fuä)en, wenn sowol die eine als die andere Schule falsch ist? ^ Der Ausgang besteht darin, daß man das Princip selbst, auf welches beide bastrt sind, umstößt. Dieses Princip ist, wie wir bemerkt, bei beiden ein egoistisches. Folglich muß nwn eine andere Grundlage für die sociale Wissenschaft anf-sucheu. Wir werden dies in wenigen Worten erklären. Jeder wünscht zu genießen. Der Genuß wird aber nie-' Mand umsonst zu Theil. Trotz der Beschränkung alles persönlichen Strebens ans die einfachsten Bedürfnisse, ja sogar in einem Lande, welches ganz besonders von den einem icden zu Gebote stehenden Gütern dcr Natur erfüllt ist, ist trotzdem eine gewisse. Anspannung dcr persönlichen Kraft erforderlich, um sich diese Güter zn verschaffen, und diese seine einfachen Bedürfnisse zu befriedigen. Dcr Insulaner des Stillen Ocean, wenn auch nur zwei Schritte von dem Brot-bäume entfernt, der ihm Nahrung zu gewähren bereit ist, Muß sich dennoch demselben nähern oder wenigstens die Hand erheben, um die ihm nothwendige Frucht zu erreichen. — hieraus folgt die Nothwendigkeit dcr Arbeit zum eigenen Glücke eines jeden. Die gemeinschaftliche Arbeit ist unstreitig productivcr als bie gesonderte: viele Kräfte, welche tüchtig im Pereine miteinander arbeiten, produciren nicht nur eine größere- Quantität, als eine jede von ihnen einzeln genommen, was schon an und für sich klar und deutlich ist, sondern sie produciren auch bei weitem mehr als alle diese Kräfte zusammengenommen, aber als gesondert arbeitend gedacht. Daraus folgt die Nothwendigkeit der Allgemeinheit zum eigenen Wohle eines jeden ^trennt genommenen Individuums. Wie, kann man nun das unbezwcifeltc Wohl dcr Allge- 26 meinheit zur möglichst vollkommenen Befriedigung des Stre-bens eines jeden nach persönlichem Genusse benüyen. Dies ist die gemeinsame Frage, welche sich die beiden jetzt im gegenseitigen Streite begriffenen socialen Schnlen stellen, und welche beide in vollkommen gleicher Weise beantworten, indem sie sich mir dnrch die Art nnd Weise der Anwendung ihrer Grnndauschauung unterscheiden. „Kümmere dich nm dich selbst nnd gib nicht auf andere Acht, sobald du siehst, daß du aus denselben deinen eigenen Aortheil ziehen kannst" — spricht der Individualist — „nnd je mehr dn dich um dich selbst, und je weniger du dich um andere kümmern wirst, desto besser ist es. Jeder wird das Nämliche thun, und die allgemeine Zufriedenheit wird dadurch gesichert sein. Das exclusive Streben eines jeden nach eigenem Vortheil steigert die allgemeine Spannnng der Kräfte. Daraus folgt Steigerung des allgemeinen Neberflusses; uud dnrch den allgemeinen Ueberflusi wird der bei der gemeinsamen Arbeit einem jeden zu Theil werdende Genuß gesteigert. Unterdessen mäßigt gerade das Streben eines jeden, nämlich soviel als möglich zu erhalten, nnd so wenig als möglich zu geben, oder um einen edlern Ausdruck zu gebrauchen, die allgemeine Concurrenz, die gegenseitigen Ansprüche, und stellt das nothwendige Gleichgewicht her. In der Snmme der Pro-dncte, welche durch gemeinsame Arbeit gewonnen werden, erhält jeder seinen Theil an dem persönlichen Genusse nnd zwar ganz in demselben Masie, in welchem er denselben durch seiue persönliche Thätigkeit verdient." Kur;, der Neid mit der persönlichen Selbstregicrnng wird als das Princip des socialen Lebens, als die Wahrung der allgemeinen Gerechtigkeit und als die Quelle des allgemeinen Glücks anerkannt. „Allein ein allgemeines Gleichgewicht bei einer Ungleichheit der Kräfte ist eitler Wahn" — entgegnct dem Individua- 27 lismus der Communist — „der Starke wird immer den Schwachen erdrücken nnd denselben zwingen, für seinen eigenen Nutzen zu arbeiten. Das durch fremde Arbeit, nach Ab-Mg der Befriedigung der Bedürfnisse, Gewonnene bildet für den Starken wiederum eine neue Kraft; dasselbe bildet sein Vermögen, sein Kapital, wofür er neuerdings, nnd zwar billiger als nm den wirklichen Preis, sich die Dienste des Schwachen nud Armen erkauft. Das Resultat enerer Ordnung der Dinge, euerer unendlichen Ausdehnung der Individualität und der Abfchließung in den Kreis der eigenen Interessen wird eine universelle Sklaverei sein, unter der ausschließlichen Herrschaft ewiger wenigen glücklichen Auserwählteu, und eine universelle drückende Armuth neben dem Müßiggange einer Minorität. „Man muß so verfahreu", schließt der Communist, „damit alle für jeden sorgen und keiner mehr zu nehmen wage, als man ihm gibt. Sichert einem jeden einen vollkommen gleichen Antheil all den Geschenken der Natnr, nnd ihr werdet dadurch gerade, die Möglichkeit der Arbeit selbst sichern. Und durch die Sicherung der Arbeit wird die Freiheit der Persönlichen Thätigkeit selbst gesichert. Unterdessen vernichtet die Ueberzeugung eines jeden von der sichern Erhaltung einer dilligen Belohnung und die für alle unvermeidliche Nothwendigkeit, diese Belohmmg durch die Arbeit zu erwerbeu, den Müßiggang nnd steigert die Arbeit eines jeden im einzelnen; und gerade dadnrch steigert sich die allen zn Theil werdende Summe der Gegenstände des persönlichen Genusses." So wird nnn der Neid, in Perbindnng mit einer gewaltsamen Nivellirung aller dnrch die Gesellschaft, wiederum als das Gesetz des socialen Lebens, als das Princip der Gerechtigkeit, und als das Mittel znr Erreichung eines universellen Glückes anerkannt. Der Neid jedoch ist gerade seinem Wesen nach jener Solidarität entgegen, welche die nnnmgänglich nothwendige 28 Grundlage der Gesellschaft ausmacht. Mau geräth demnach, wenn man ihn als das Princip des socialen Lebens hinstellen will, in einen dirccten logischen Widerspruch. Und dann besteht der Grundfehler beider Systeme. In seiner praktischen Anwendung kann sich der Neid nur in eine persönliche (individuelle) Gewaltherrschaft auflöseu. Mag nun dies eine Gewaltherrschaft sein, in der Form persönlicher Selbstregierung, wie sie der Individualismus zuläßt, oder Gewaltherrschaft von feiten der ganzen Gesellschaft, wie sie der Eommuuismus verlangt; — mag dies als eine unvermeidliche Folge der socialen Organisation, wie wir dies in dem Individualismus wahrnehmen, oder mag es der erste Act sein, mit welchem die Umgestaltung der Gesellschaft be« ginnt, wie dies der Commumsmus will — da? ist vollkommen gleichgültig. In einem nnd dem andern Falle ist er mit dem anerkannten Grundprincip untrennbar verbunden. — Und darin liegt der zweite bereits sich ergebende Fehler des einen wie des andern Systems. Durch die Annahme der Möglichkeit, daß mau auf der Gruudlage persönlicher Gewaltherrschaft oder bei der Zulassung derselben, die allgemeine persönliche Zufriedenheit, und das Glück aller grüuden könne, geräth man iu cbou denselben logischen Widerspruch, als wenn man glanben wollte, daß in gegenseitig widerstreitenden, feindlichen Beziehuugeu die Grundlage socialer Solidarität gefunden werden könne. Annehmen zn wollen, daß iu dem einen wie in dem andern Falle, bei der einen oder den andern, anf dieselbe Feindschaft und auf dieselbe Gewallherrschaft gegrüudeteu Formen, auch nur der Schatten einer Gerechtigkeit gegenseitig menschlicher Beziehungen vorhanden sei — ist eine baarc lächerlich teit. Die eine wie die andere Schule sieht sehr gnt die sich ergebenden Fehler ihrer Gegner, uud weiß dieselben geschickt an 29 das Licht zu ziehen. Allein weder die eine noch die andere vermag sich klar zn machen, datz das Wesen des Fehlers in ihrer gemeinschaftlichen, ursprünglichen Grundlage enthalten ist, aber durchans nicht in der Art und Weise, wie dieselbe angewendet wird; daß der große Unterschied nicht darin liegt, ob die Gewaltherrschaft und die Ungerechtigkeit im Princip, als Ausgangspunkt liegt, oder auf das Ende als eine weitere Folge bezogen wird; daß in dem einen wie in dem andern Falle die Gewaltherrschaft und die Ungerechtigkeit und das System, welche dieselbe heiligt, immer gleich verwerflich bleibt. Wenn der Individualist darstellt, daß man durch individuelle Eutfesseluug der socialeu Wohlthaten theilhaftig werden könne, — so befindet sich derselbe in einem thatsächlichen Irrthum, und der Communist hat recht, wenn er ihm entgeg-net, daß bei der Ungleichheit der Kräfte, welche in der gegenwärtigen Gesellschaft existirt, die uneingeschränkte Ausdehnung der Individualität zu einer nngerechten Herrschaft weniger Individuen über viele führt. Allein der Fehler des Individualismus besteht nicht darin, datz in der Gesellschaft eine Ungleichheit der Kräfte vorhanden ist, sondern dariu, deß bei der Ungleichheit der strafte der Individualität gestattet wird, ihre ausschließlichen Interessen zu verfolgen. In ganz gleicher Weise irrt anch der Communismus, Wenn er glaubt, daß die Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse dnrch eine angenommene Gemeinschaft des Eigenthums erreicht werden könne, nnd der Individualist hat recht, wenn er ihm bemerkt, daß trotz der Bedinguug der von ihm vorgeschlagenen Gleichheit der Rechte aller und eines jeden, die Gemeinschaft des Eigenthums alle ausplündert, aber niemand befriedigt. Allein der Fehler des Commuuistcn liegt nicht darin, daß er die Gleichheit der Rechte aller und eines jeden auf die Theilnahme an den Gütern der Natur aner- 30 kennt, sondern darin, baß er diese Gleichheit in der Form eines allgemeinen Zwanges zn realisiren sncht, nnd durch denselben die allgemeine Befriedigung zn erreichen glaubt. „Die allgemeine Gleichheit ist ein eitler Wahn" — sagt der Individualist, und hierin hat er vollkommen recht. — Die Ungleichheit liegt in der Natur selbst; Eigenthümlichkeiten physischer nnd moralischer Organisation wird es immer unter den Menschen geben, und ihr werdet dieselben dnrch gar keine Nivellirung aufheben. „Folglich", sagt der Individualist in seiner Schlußfolgerung, — „ist auch die allgemeine, gleichartige Befriedigung aller durch eine fnr alle gleiche, sociale Sicherstelluug ein eitler Wahn, folglich ist der Communismus unstichhaltig." — Allein ans demselben Grunde ist auch der Individualismus unstichhaliig: denn bei einer Ungleichheit muß eine Gewaltherrschaft der einen uud eine Bedrückung der andern nothwendig vorhanden sein. „Die uneingeschränkte Ansdehmmg der Individualität ist ebenfalls ein Wahn", bemerkt der Communist, nnd zwar mit vollnn Rechte. — Ihrem Wesen nach ist dies die gegenseitige Beschränkuug einer Individualität dnrch eine andere, die sich vollkommen auf Zufälle und ,Glück gegründet. „Folglich", schließt der Communist, „ist auch die Erreichung der persönlichen Freiheit bei dem persönlichen Princip ein Wahn — folglich ist der Individualismus nnstichhaltig." — Allein aus demselben Grunde ist anch der Communismus unstichhaltig; denn bei einem allgemeinen für alle gleichartigen Drucke ist die persönliche Freiheit um so weniger möglich. „Durch die Sichcrstellung der Interessen eines jeden durch die ganze Gesellschaft steigert ihr nicht, sondern schwächt im Gegentheile die Arbeitsliebe" — bemerken die Individualisten den Communisten, und zwar wiederum mit Recht. Wer wird Lust haben, seine Kräfte besonders anzuspannen, wenn die Arbeit schon vorher abgewogen, abgemessen, bestimmt und die 31 Resultate derselben vorher bekannt sind? Die Ungewißheit und der Kampf sind die besten Triebfedern der Energie. „Wenn ihr einein jeden ein unumschränktes Streben zur Erreichung seiner eigenen Interessen gestattet, so wird dadnrch nicht einc Belohuung der Arbeit, sondern im Gegentheil eine Vcranbnng derselben hervorgerufen. — Ist es nicht eine natürliche Veranlassung — so wenig wie möglich zu arbeiten, und soviel wie möglich zu nehmen, wenn es ausschließlich uur mir überlassen ist, mir den Preis zu bestimmen?" Der Individualist überläßt dem Individuum die Initiative: vollkommen richtig. Ohne persönliche Initiative ist kein Fortschritt möglich. Im Stillstande und in der Lethargie geht alles rückwärts. Die Gesellschaft erscheint als eine einförmige ein für alle mal aufgezogene Maschine. Das menschliche Geschlecht hört auf ein lebendiger Organismus zu seiu, und tritt in die Neihe der nach ihrem Instincte handelnden Erscheinungen der Natur. — Allein uurecht hat der Individualismus, daß er das einzelne Individnnm in sich selbst anch das Ziel seiner Thätigkeit suchen läßt. Der (5ommuuist ordnet die Individualität allgemeinen (socialen) Zwecken nntcr: mit vollkommenem Rechte. Ohne diese Unterordnung sind keine menschlichen Rechte, selbst die heiligsten nicht sicher. Der Mensch gewöhnt sich, seine Nächsten als seine natürlichen feinde zu betrachten. Die Gesellschaft zerfällt, nud die Familie des Menschengeschlechts verwandelt sich in wilde Thiere, welche jeden Augenblick bereit sind, sich gegenseitig zu zerfleischen. — Aber unrecht hat der Communist, daß er die Initiative der allgemeinen (socialen) Thätigkeit der ganzen Gesellschaft überläßt. Das Ideal der commnnistischen Organisation ist ein mechanischer, regelmäßiger, aber lebensunfähiger Apparat; das ^deal des Individualisten — eine Hecrde lebendiger, aber wilder Thiere. 32 Der Individualismus ist der unmittelbare Egoismus, welcher ganz nach Zufälligkeit und Willkür handelt, und einigen wenigen viele znm Opfer bringt. — Der Communismns ist der zu einer Abstraction erhobene Egoismus, welcher kraft einer vorausbestimmten Nothwendigkeit handelt, und alle für — niemand aufopfert. Znm Glücke der Menschheit ist jedoch die volle Reali-sirnng weder des einen noch des andern Systems möglich. Die Menfchen sind weder Maschinen noch wilde Thiere, sondern geistig-moralische Wesen. Allen Systemen anf der Welt zum Trotze existirt in der menschlichen Natur eine unergründliche Inconseqnenz, welche von jeder gekünstelten, unnatürlichen Aufstellung der Gesetze des menschlichen Lebens abweicht nnd gerade dadnrch deren Unnatnrlichkeit an den Tag legt. Infolge dessen kommt es oft vor, daß Leute trotz aller Aufrichtigkeit, Standhaftigkeit und der äußersten Conse-qnenz der von ihnen bekannten Ueberzeugungen, daß Leute, welche der Theorie nach als Gottlose und als Verlengner aller anf moralische Verpflichtungen sich beziehender Begriffe erscheinen, sich in der Praxis als die besten Merschen, die zärtlichsten freunde nnd als hochherzige Bürger erweisen. Auf ganz ähnliche Weise zeigen sich die aufrichtigsten Bekenner des furchtbarsten, moralischen Rigorismus, welche der Theorie nach als die strengsten Bestrafcr der geringsten Schwachheiten erscheinen, welche dem Gefühl gar keine, anch nicht die allernnschnldigsten Freuden zngestehcn wollen, in der That nicht selten als die schändlichsten nnd niederträchtigsten Men^ schen. Gerade deshalb ist anch der Individualismus, welcher jetzt in der Wisscuschaft nnd in dem ganzen enropäischcn Leben vorherrscht, in der That durchaus uicht so unbarmherzig, als er sich im Widerspruch mit dem gesunden Sinne nnd dem geraden moralischen Gefühle gern ausgeben möchte. Dasselbe würde gewiß auch mit dem Commnnismns der Fall 33 sein, wenn es demselben je gelingen sollte, in der Praxis festen Fuß zu fassen. Er würde wol nicht allzu oft in den Fall kommen, die persönliche Initiative zu unterdrücken, oder das einem jeden von Natur aus innewohnende Streben nach Persönlichen Interessen zu hemmen! — Wie sehr unsere Worte w Bezug auf das eine wie auf das andere der erwähnten Systeme gerechtfertigt sind, hierfür möchte als der schlagendste Beweis eine der schreiendsten Ungereimtheiten dienen, welche m das eine wie in das andere System, ja sogar in deren Theorie einzudringen vermochte. Wer würde wol glauben, daß iu der consequents Anwendung des socialen Grundprincips auf Geschlechts- und Familienverhältnisse der Individualist als Vertheidiger der Familienbande und verwandtschaftlichen Verpflichtungen, und noch dazu im Gegensatze zum Communismus, erscheint! Und dennoch ist dies ebenso wahr, als cs wahr ist, daß Igewisse Schattiruugen des Communismus sich im Gegentheil der entgegengesetzten Seite zuneigen. Dieser Umstand zeigt ebenso sehr auf die Inconsequenz der einen wie der andern Theorie hin — das unvermeidliche Attribnt eines jeden einseitigen Systems, sobald dasselbe mit mehr ins ^eben eingreifenden und nahe liegenden Fragen in Berührung kommt — als er andererseits gerade dadurch wiederum auf ihre gegenseitige Unrichtigkeit und Einseitigkeit hinweist. Wo liegt aber die Wahrheit? Die Wahrheit liegt gerade m jener Lehre, auf welche sich in gleicher Weise sowol die eine als die andere Partei iu ihrer Behauptung stützt, ohne aber, nnd dies gilt sowol von der einen als von der andern, deren Geist zu verstehen. Die Wahrheit liegt in dem Christenthum. Seinen Autoritäten folgend, beruft sich endlich Herr D. zur Vertheidigung der von ihm aufgestellten Lehre ebenfalls auf das Christenthum. „Erst im 19. Jahrhundert, Welches das Joch des Communismus von der christlichen Menschheit abgeschüttelt hat", sagt er, indem er seineu Russische Fragmente. II, H 34 Individualismus in dem glänzendsten Lichte darstellt, „hat man m rechter Weise die Freiheit und die Bedeutung des Menschen begriffen." Unmittelbar darauf legt er sogleich seine bereits angeführte, und von uns analysirte Ansicht gegen die Zusammengehörigkeit (Solidarität) der menschlichen Gesellschaft, gegen die menschliche Verbrüderung dar. Der Autor ist wahrscheinlich der Meinung, daß sich in allen von ihm so genannten „Begriffen des 19. Jahrhunderts" thatsächlich das Christenthum ausspreche . . . Doch ist es nicht der Mühe werth, hierüber zu streiten. Man taun nichts Besseres thun, als dem Autor den Rath ertheilen, eine beliebige Seite des Evangeliums aufzuschlagen. Dort wird er zu sciuer Verwunderung sehen, wie sehr die von ihm gebrauchten Epitheta „christlich" und „classisch" eine entgegengesetzte Anwendung zu finden haben. In den Worten Herrn D.'s ist die gewöhnliche Anschauungsweise der westeuropäischen Gelehrten bemerkbar, in welcher beständig das Christenthum auf eigenthümliche Weise mit dem Katholicismus verwechselt wird. Diesem letztern können und müssen in der That vollkommen die gewöhnlichen Exclamlltionen zugeschrieben werden, als sei die menschliche Individualität (als Individualität im eigentlichen Sinne) durch das Christenthum emporgehoben, und als sei durch dasselbe die individuelle Selbstachtung geheiligt wordeu. Allein die römische Auffassung der christlichen Wahrheit und die christliche Wahrheit selbst — sind durchaus verschiedene Dinge. Gerade dasselbe, nur in ganz anderer Form, begegnet auch wiederum den Socialisten. Indem sich dieselben, um Anhaltspunkte aufzufinden, viel richtiger als ihre Gegner au die ursprüngliche Quelle der christlichen Lehre wenden, um zu beweisen, daß ihr System gleichsam nur die Wiederherstellung des Christenthums in seiner reinen Form sei, — verwechseln auch diese ihrerseits, und zwar in ebenso unverzeihlicher Weise, das Geistige mit dem Materiellen und ziehen die Grundsätze, 35 welche rein moralische Beziehungen berühren, vollkommen im Gegensatze zu ihrer eigentlichen Bedeutung in den Kreis einseitig- nnd grobsinnlicher Gegenstände und Bedürfnisse herab. Ohne uns weiter über diese Mißverständnisse auszusprechen, wollen wir zum Schlüsse unserer Bemerkungen jene Wahren Grundlagen der socialen Wissenschaft anführen, welche bereits au und für sich ans der vorhergehenden Vergleichung der beiden auf ein falsches Princip gegründeten Systeme hervorgehen, nnd welche nicht vermeintlich, sondern in der That mit dem Christenthum übereinstimmen. Dieselben sind folgende: das Leben ist ein Kampf, aber kein Genuß. Die Arbeit ist eine Pflicht, nicht aber ein Mittel der Selbstsucht. Das höchste Gesetz der gegenseitig menschlichen Beziehnngcn besteht in der sich völlig hingebenden Liebe, aber nicht im Neide. Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst: in diesen paar Worten ist das ganze Princip der schuldigen, socialen Beziehungen — der wahrhaft christlichen und in jeder weitern Bedeutung dieses Worts wahren Beziehungen enthalten. -— Individuum, erhalte dir deine Initiative, genieße die ganze Freiheit, mit der du begabt bist, wende alle Energie an, deren du fähig bist, aber richte deine Haudlungen auf das Wohl der Menschheit, auf deu Vortheil deiuer Brüder. Nimmt man an, daß dies von alleu beobachtet wird — so wird aller Widerspruch, alle Unbequemlichkeit verschwinden. Die Gesellschaft wird erhalten werden, die 'Arbeit wird sich mehren, das Glück aller und eines jeden wird erreicht werden. Vielleicht wird uus Herr D. auf das von uns Gesagte, wie er dies schon einmal auf eiue ähnliche Entgegnung gethan — mit den Worten seines Lehrers Bastiat antworten, für welchen er, wie wir bemerkt, eine besondere Achtung hegt. „Wenn aber die Socialisten", sagt Herr D., indem er die Worte Bastiat's gebraucht, — „trotz des Beweises allbclann- Z5- 36 ter Thatsachen jene Wahrheit verwerfen, daß die menschlichen Beziehungen in zwei Kategorien zerfallen: daß nämlich die einen von dem sympathischen Princip abhängen, — die wir übrigens den moralischen Lehren überlassen, — nnd daß die andern aus dem persönlichen Interesse entspringen, unter unbekannten Menschen stattfinden, welche sich gegenseitig anf keine andere Weise als durch die Gerechtigkeit verpflichtet sind, und daß sie durch freiwillige, frei angenommene Bedingungen bestimmt werden? Diese letzten Beziehungen bilden das Ge< biet der politischen Oekouomie. Allein diese Beziehungen kann man ebenso wenig auf das Princip der Sympathie gründen, als man die Verhältnisse der Familie nnd der Freundschaft auf das Princip des persönlichen Interesses basiren kann." — Wir unsererseits erwidern auf diese Einwendung Herrn D.'s Folgendes: Was uns persönlich betrifft, so sind wir weit entfernt, die Fülle der Achtung zu theilen, welche Herr D. den Autoritäten der politischen Oekonomie, nnd Bastiat, als dem in vielen Stücken Gehaltlosesten von ihnen, vorzugsweise zollt. Wir lassen allen dort volle Gerechtigkeit widerfahren, wo es sich um Erörterung ökonomischer Fragen im engsten Sinne des Wortes handelt. Was aber die socialen Fragen im weitern Sinne betrifft, so stößt man bei ihnen fo oft anf in so hohem Grade sonderbare, uuklare und widersprechende Begriffe, daß dies, offen gestanden, nns durchaus nicht zu einem Einverständnisse mit ihnen verpflichten kann. Dies unsere Entgegnung auf obige Stelle, wenngleich sie Bastiat entnommen ist. Wir bitten uns zu sagen, ob auch nur ein Quent-cheu Verstand darin enthalten sei. Die menschlichen Be-ziehnngen zerfallen in zwei Kategorien: die eiuen hängen von dem sympathischen Princip ab (wie tritt hier die Hohlheit des Franzosen zu Tage, der nach Anwenduug einer Phrase glaubt, etwas Vernünftiges gesagt zu haben: was versteht mau denn eigentlich unter einem sympathischen Princip?), 37 die andern Beziehungen entspringen ans dem persönlichen In-teresse. Demnach, entgegnen wir, existiren in dem Menschen nach der Darstellung Bastiat's zwei vollkommen getrennte Hälften, welche sich nicht miteinander vermischen: in der einen mnß man sein Interesse wahren (wir sagen man muß, denn es handelt sich um die Grundlage der socialen Beziehungen); in der andern mnß man sympathisch sein. Allein, wo sind denn diese Hälften? Wie kann man dieselben unterscheiden? Wo ist die Seite des persönlichen Interesses und wo die der Sympathie? Wann, an welchem Tage und zn welcher Stnnde muß man sympathisch sein, und wann muß man sich von dem Interesse leiten lassen? Gegen wen mnß man Freundschaft empfinden, und in wem muß man einen einträglichen Artikel sehen? Sind denn nicht alle Menschen, mit denen ich in Verhältnissen stehe, ganz dieselben Menschen? Soll denn morgen fiir mich ein ganz anderes Gesetz, warnm nicht dasselbe gelten, welches gestern und hcnte galt? Sind denn endlich die Beziehungen selbst, in welche ich nach dem sympathischen Princip trete, nnd in welchen ich mich nach dem Princip des Interesses befinde, — nicht ganz und gar die nämlichen Beziehungen, berühren sie nicht ganz die nämlichen Gegenstände, rufen sie nicht ganz dieselben Handlungen hervor? Können die Verhältnisse der Familie uud der Freundschaft, welche nach den Worten Bastiat's nicht dem Princip des persönlichen Interesses unterliegen — können diese Verhältnisse nicht auch auf Geld, auf Arbeit, auf gegenseitige Dienstleistungen uud auf alles übrige Bezug haben, das sich um Beziehungen dreht, welche auf das Princip des persönlichen Interesses gegründet sind? Und was ist das für eine Unterscheidung? Unbekannte Menschen sind sich gegenseitig durch nichts als durch die Gerechtigkeit verpflichtet, während bie Freunde uud die Familie ein Recht auf Sympathie haben. Also berühren die moralischen Lehren, auf welche sich nach 38 den Worten Bastiat's nur sympathische Verhältnisse beziehen, folgerichtig nur die Familien- und Freundschaftsbande!! Die Beziehungen zu allen übrigen Sterblichen haben keine moralische Bedeutung mehr. Der Mensch hört also hier auf, ein geistig-moralisches, dem moralischen Gesetz unterworfenes Wesen zu sein!! Und wie ist es zu verstehen, das; wir in Beziehung auf Personen, gegen welche wir nicht durch sympathische Beziehungen verpflichtet find, und in deren Umgang wir außerhalb der Herrfchaft (Jurisdiction) der moralifcheu Lehren (!) stehen, daß wir gegen dieselben „durch nichts als durch die Gerechtigkeit verpflichtet sind"? Hat denn die Gerechtigkeit keinen moralischen Charakter, und bezieht sich dieselbe denn nicht auf Gegenstände moralischer kehren? .. . Nein, soviel man auch dreht und wendet, von welcher Seite man auch die Sache angreift, so kann man doch keinen vernünftigen Sinn darin finden: man kaun darin nicht einmal den einfachen, logischen Zusammenhang zwischen zwei Begriffen finden, welchen wir doch von einem jeden auch nur ein wenig denkenden Schüler zu fordern berechtigt sind. Einer ernstlichen Erwiderung auf unsere Bemerkungen können wir allerdings begegnen; — doch suchen wir derselben zuvorzukommen. Man wird uns einwenden: „Aber ist denn irgendwo die allgemeine Realisirung der von euch vertheidigten socialen Principien möglich? Wir geben zu, daß diese Principien die vollkommen wahren, und einzig wahren sind. Aber die persönliche Eigenliebe ist nichtsdestoweniger dem Menschen angeboren, und sich derselben zu entäußern, ist beinahe übernatürlich. Wo findet ihr einen Staat von solchen heiligen Menschen, welche alle in ihren socialen Beziehungen das Gesetz der Liebe, in seiner vollen Reinheit realisiren würden? Läßt sich etwa die politische Oekonomic auf die Voraussetzung eiuer solchen Realisirung gründen?" Hierauf erwidern wir: Welcher Grund berechtigt denn 39 zu der Annahme, daß wir den Staat als eine solche Sphäre betrachten, in welcher die Realisirung der ausgesprochenen socialen Principien möglich ist, daß wir die politische Oekonomie für eine solche Wissenschaft halten, welche diese Principien zu berühren wagt? Darin liegt ja eben das Ganze. Der Staat ist gerade seiner Idee nach eine Sphäre rein negativer Wahrheit; er ist ein eigentliches conservatives Princip — ein Organismus, welcher namentlich unter der Bedingung der Im-moralität entsteht, der auf uichts anderes basirt ist, als gerade auf die Voraussetzung einer nothwendigen Zerstörung der wahren Gesetze des socialen Lebens. Die politische Oekouomic ist ihrerseits ebenfalls eine rein negative Wissenschaft; ihre Bedeutung ist ebenfalls nichts weiter als eine conservative; sie besteht ebenfalls nur unter der Bedingung einer nothwendigen Zerstörung der socialen Principien und Wahrheiten und noch dazu gerade iu der ökonomischen Sphäre. Ihre Aufgabe besteht darin, den allgemeinen Gang und die Verbindung der vorhandenen ökonomischen auf das an und für sich falsche Princip des persönlichen Interesses gegründeten Beziehungen darzustellen; ihre Bestimmung ist, allgemeine Mahregeln anzugeben, durch welche der Staat soviel wie möglich den beständigen nnd in dieser Sphäre unvermeidlichen Verletzuugen der menschlichen Rechte vorbeugen könne, indem er ohne Beeinträchtigung der Freiheit der einzelnen Individuen auf künstliche Weise den innern Streit gerade dieses Princips des persönlichen Interesses benutzt. Weiter nichts! Aber in einem solchen Falle ist es doch nicht ihre Aufgabe, nach positiven Priucipieu zu greifen, oder, was noch schlimmer ist, ihre eigenen ~- negativen und bedingten Principien für positive auszugeben. Um so weniger ist es also ihre Aufgabe, demjenigen die Bedeutung von Verbindlichkeit nnd Gesetzlichkeit beizulegen, welches seinem Wesen nach gerade die Negation aller Verpflichtungen und die Verletzung des wahren Gesetzes ist. 40 Darin besteht der eigentliche Unterschied zwischen den moralischen und ökonomischen Lehren (gerade wie zwischen den moralischen und politischen im allgemeinen); nicht aber in der sinnlosen Unterscheidung zwischen Sympathie und Eigennutz; gleich als ob dieselben in dem Menschen von gleicher Legalität (gleich gesetzlich) wären; und zwischen Freunden und Unbekannten, gleich als ob die einen wic die andern nicht in gleicher Weise unsere Brüder wären, und sich nicht in gleich moralischen Beziehungen zu uns befänden! Und gegen diesen Grundsatz im eigentlichen Sinne wird ebenso von der Majorität der politischen Oekonomen, welche der Autor als Individualisten bezeichnet — als von der neuen socialen Schule gesündigt, welche von ihm durch die allgemeine Benennung Communismus charakterisirt wird. Auf diese beständige Verwechselung gründen sich auch alle ihre Fehler. Ueber negative in der Sphäre der Immoralität wirkende Principien demon-strircnd, geben sie denselben die Bedeutung positiver Gesetze; oder gegen die Mißbrauche m der negativen Sphäre, im Namen positiver Gesetze ankämpfend, wollen sie diese letztern ebenfalls in die nämliche Sphäre der Immoralität herabziehen und ihre Wirkung denselben negativen Bedingungen unterordnen. Nein, erkennt nur an, daß die Selbstliebe den Menschen angeboren ist; daß in jedem Menschen thierische Instinctc vorhanden sind; daß selten jemand einem andern seine eigenen Interessen zum Opfer bringt; daß sich selten jemand als Glied der menschlichen Familie, als Bruder aller Menschen fühlt: aber behauptet nur nicht, daß dies alles auch so sein müsse, das dies die wirklich wahren Beziehungen seien; daß das ganze menschliche Wohl aus ihnen hervorgehe und auf sie gegründet sei; daß anders handeln nnd denken wollen so viel heiße, als zum Schaden der Menfchen handeln und den- 41 ken; daß Brüderschaft und Liebe predigen wollen so viel heiße, als den moralischen Communismus vertheidigen ... Erkennet anf gleiche Weise an, daß alle Menschen Brüder seien; daß zwischen allen Gleichheit, Liebe, gegenseitige Aufopferung, Gemeinschaft herrschen müsse; nur gebet euch nicht dem Wahue hin, daß diese heiligen, erhaben freien Beziehungen das Object eines äußerlich obligatorischen, von außen einwirkenden Gesetzes sein können, und daß die allgemeine Rea-lisirung desselben je auf Erden möglich sei... Gleichheit und Brüderlichkeit werden auf Erden immer ein Ideal nud nur cm Ideal bleiben; es ist dies das ersehnte Ziel, welches der Menschheit immer vorschwebeu muß, und derselben unzweifelhaft in ihrer progressiven Bewegung auch immer vorschweben wird, welches aber niemals erreicht werden kann. Es gründet sich darauf die Idee des Fortschritts. Es ist das weiteste Ziel, das allgemeine Maß, das höchste Gesetz, mit welchem alle socialen Lehren iu Einklang gebracht wcrdeu müssen; sie müssen dasselbe immer vor Augen haben, müssen alle seiner Nealisirung entgegen streben; trotz ihrer vollen Ueberzeugung, daß dasselbe sich nicht realisiren könne, und nie rca-lisirt werden könne; aber nur dieses Bild müssen sie vor klugen haben und ihm entgcgenstrebcn. Die politische Oeto-nomie würde der Menschheit einen großen Dienst erweisen, lveun sie ihre Aufgabe iu diesen: Sinne gut auffassen und dieselbe zu lösen suchen wollte. Es würde dies weit nutzbringender sein als alle ihre gegenwärtigen hohlen Streitigkeiten mit den wirklichen und vermeintlichen Socialisten. — N. Hilarow. Anmerkung Dr. Vluntschli's. Die vorstehende Abhandlung erörtert eine Grund« und Centralfrage, von deren richtiger Beantwortung in der That die ganze öffentliche und privatrechtliche Ordnung abhängt. Es würde eine zweite Abhandlung nöthig werden, wollten wir nnsere Meinung darüber ebenso begründen und ausführen. Bei der eminenten Wichtigkeit der Sache dürfen wir dieselbe aber doch nicht verschweigen, damit nicht der Irr^ thum entstehe, daß wir lediglich der Ansicht des russischen Autors beistimmen. Gewöhnlich wird die Frage so gestellt: „Entweder Individualismus oder Socialismus? Individnelle Freiheit oder Staatsmacht?" Da liegt aber unsers Erachteus der Irrthum schon in der Frage, welche immer nur eine Seite vorkehrt nnd die andere ausschließt. Die ganze logische und praktische Gefahr ist die Einseitigkeit der beiden Principien, anf deren Verbindung das wahre Recht beruht. Wir können nicht zugeben, daß der Individualismus, wenn man darunter nur das Princip versteht, daß zunächst jedes Individuum berechtigt sei, zu sein, wie es ist, und daß die Entfaltung individueller Eigenart ein menschliches Grundrecht sei, mit dem Princip des Egoismus zusammenfalle, insofern man mit dem Ausdruck Egoismus eine tadelns-werthe Selbstsucht bezeichnet. Weil der Einzel mensch als ein eigenartiges, von allen andern Menschen verschiedenes Wesen, als Ecn< zelner existirt, weil feine Individualität, so wie sie ist, von Gott er-zeugt ist, so hat er auch ein natürliches Recht, zu sein. Aber wenn das Individuum ausschließlich und. einseitig uur an sich deukt, nur sich will, und alle Pflichten gegen das Ganze, gegen die Gattung über sieht und vernachlässigt, dann verkehrt sich das an sich berechtigte Princip des Individualismus in das verwerfliche des Egoismus, 43 Da der Einzelmensch nicht blos ein Individuum, sondern zugleich als Mensch ein Glied einer großen Genossenschaft ist, seiner Familie, seines Volks, der Menschheit, deren sichtbares Bild sein Körper ist, so MG er seine Eigenart in einer Weise entwickeln und bethätigen, wie es die Rücksicht anf die Gemeinschaft erfordert, und macht sich nun auch das Recht des Ganzen geltend gegenüber dem Theile des Ganzen. Als Einzelner ist der Mensch ein Ganzes für sich: als Mensch ist,er ein Theil der Gattnng. Die Natur hat in jedem Einzel-Menschen beides zusammengefügt. Die einseitige Theorie der Philosophen hat zuweilen nur eine der beiden Seiten gesehen. Wenn die antike Staatstheorie meinte: Der Einzelne isi nur für den Staat da; so tonnte dabei das Ganze, der Staat bis auf einen gewissen Grad ausgebildet werden, aber die Individuen waren uuterdrilckt. Nicht minder verwerflich ist aber die moderne Lehre vieler Neuern: Der Staat ist nnr su> hie Individuen da. Im Alterthume hat man das Recht der Gemeinschaft, d. h. des Staates bis zur Zerstörung der individuellen Freiheit überspannt; der neuern Zeit liegt die entgegengesetzte Gefahr näher, über deu Einzelneu und ihrer Freiheit das Ganze zu vergessen und den Staat aufzulösen. Die Einheit und Gleichheit beruht auf der Gemeinschaft, die Mannichfaltigteit auf dem Unterschied der Individuen. Nur wo beides beachtet wird, merkt man auf den Wil-lcn (HlMH, ^ ^Wtx M^chewäwvftmK. Hätte er nicht Beides ae-U'ollt, so hätte er nicht diese Doppelnawr, b',c Ra'^e uu5 Dre In-dividualart in jedem Einzcimeuscheu verbunden. Mau kann nickt sagen, daß die Fortschritte der Civilisation ans-HlksM' d,m emeu oder dem andern der beiden Principien zu verdankn seien; wenngleich in den einen Perioden der Geschichte mehr dle "ne. in den andern die andere Seite der menschlichen Natur ms Licht trat nnd deu Impuls gab. Niem als aber wardie verdunkelte Seite ganz "loschen, niemals konnte sie ausgerottet werden. Wie viele gemem-Niitzige Anstalten nnd Zivilisatorische Werke haben der römische S^at, die katholische Kirche, der moderne Staat geschaffen, die von den E n-^wn gar nicht oder viel später oder nngenngender ergestellt worden waren. Aber wie viele andere Dinge vom höchsten Werthe mcht blos Nr Einzelne, sondern für jedermann, sind durch individnelle Arbeit -"hue alle Unterstützt der Gesammtheit - geschaffen worden. Dle großen Gesetze nnb Rechtsaustalten sind regelmäßig das Werk der We-"nnschaft, die Offenbarung neuer Wahrheiten nnd die Entdeckung de. technische Hülfsmittel sind fast immer das Werk der Indw:duen. ^ tätlich, Despotismns Roms hatte die Menschheit erdrückt, we,m ma die Germanen für die individnelle und die genossenschaftliche Frechett 44 einen siegreiche» Kampf unternommen hätten. Der germanische Absonderungstrieb hätte eine völlige Zerbröckelung des Ganze« in seine Theile herbeigeführt, wenn nicht die Germanen genöthigt worden wären, in die römische Schule zu gehen nnb in Kirche und Staat die Autorität des Ganzen zu verehren. Da ist der Fortschritt der Civilisation am sichersten nnd gesundesten, wo di? beiden Principien neben- und miteinander, wenn auch mit wechselnder Energie wirken, und da ist die Civilisation in ihren Grundlagen bedroht, wenn das eine Princip in einseitiger llcberhebung das andere unterbrückt. In der öffentlichen Meinung aber erkennen wir nicht die Aeußerung des Individualprincips. Im Gegentheil, die öffentliche Meinung ist der Ausdruck des Gcmeiugeistcs, wie derselbe vorzüglich in dm gebildeten und refiectirenden Mittelklassen durch Lecture und Gespräch sich verbreitet. Die öffentliche Meinung ist die Meinung der Gesellschaft: nud wenn sie gefährlich wirb für die Freiheit, fo liegt die Hauptgefahr sicher nicht darin, daß die Menge der schlichten Bürger von ihr gedrückt wirb, sondern darin, daß die originellen Indiv idualgeister, wenn sie anders denken, glauben und handeln, als die Meinung der Gesellschaft es versteht und wünscht, vou ihr verfolgt werden. Die öffentliche Meinung ist demokratisch, oder wenn mau will repräsentativ-demotra-nsch von Natur. Daher ist sie vorzüglich den Geistesanstolraten gefährlich , welche sie nicht zu leiten oder ihr wenigstens zu imponiren wissen. Jede Macht kann, wenn sie leidenschaftlich wird, zur Tyrannei ausarten. Auch die öffentliche Meinung kann es, und am ehesten dann, wenn sie von Vorurtheilen statt von Gründen bestimmt wird. Wenn die öffentliche Meinung, was doch ihrem Ideal entspricht, nichts anderes ist als das öffentliche Gewissen und die öffentliche Vernunft, dann gebührt ihr auch ein entscheidender Einfluß und dann ist ihre Herrschaft mit jeder Freiheit, auch mit der Inbividualfreiheit wohl verträglich, denn diese Freiheit wird naturgemäß von dem öffentlichen Gewissen gebilligt und von der öffentlichen Vernunft geschützt. Noch weniger können wir zugeben, daß die katholische Kirche ein Repräsentant des Iudividualprincips sei. Als Kirche muß sie im Gegentheil das Princip der Gemeinschaft vertreten, und als römische Kirche thut sie das in so energischer einheitlicher Weise, daß sie an den antik-römischen Staat erinnert. Das Christenthum aber ist wohl verträglich mit beiden Principien. Christus selbst hat als Individuum und im Gegensatz gegen ben antiken Staat seine neue Lehre unter die Menschen gebracht,- und seine Jünger haben jeder seiner Individualität gemäß nach den besondern 45 Gaben, die jeder empfangen hatte, für die Ausbreitmiss und Bewahrung ^ neuen Religion gewirkt. Damit ist das Individnalprincip gewahrt. Zugleich aber bat Christus für die Menschheit gelebt, und seine Jünger haben sich alZ Brüder geliebt, und die Menschen zur gemeinsamen "lndschaft Gottes erzogen. Darin ist das Princip der Gemeinschaft und der Einheit des Ganzen anerkannt. Sogar in dem Spruch, den uns« Autor zum Princip seiner ganzen Darstellung macht: „Liebe deinen "achsten wie dich selbst", sind jene beiden Principien nebeneinander "usgespwch,'„; und die Nächstenliebe auf das Vorbild der Selbst-nebe verwiesen. Aber dieses religiöse und sittliche Princip der Liebe ist nicht und "nn und will nicht ein Princip der Oekouomie noch des Rechts "n. Es läßt sich darauf kein wirthschaftliches und kein juristisches Ge< >? gründen und damit allein weder ein Haus bauen noch ein Staat einrichten. Ueber die Bauerngemcinde nnd den Grundbesitz. (As taun uns nur zur Freude gereichen, daß unsere Lite-Mur aufhört, sich ausschließlich mit den Begebenheiten des Auslandes zn beschäftigen, daß die französischen und englischen Anschauungen über Politik und Moral sowie die deutschen Philosophischen Spekulationen nicht mehr ausschließlich die alltägliche Nahrung uuserer Schriftsteller ausmachen, und daß wir allmählich anfangen, in die Bedeutung unsers eigenen öffentlichen und Privatlebens einzudringen. Lange genug war die Literatur bei lins eine sozusagen aus der Fremde eingeführte Treibhauspflanze, welche sich von fremden Kräften nährte, nnter dem Einflnsse einer fremden Atmosphäre aufwuchs uud dürre, gcfchmack- uud gehaltlose Früchte trieb. Zwar sprechen wir auch jetzt noch gern iu Fremdwörtern, wessen das Uuserige nicht mit eigener Elle, suchen bei uns dasjenige, was uus iu Europa oder iu seiner Geschichte affi-cirt,- und begreifen dic Erfchcmungeu des rufsischeu Lebens nur mit Hülfe gefchranbter Erklärungen, welche wir von Guizot, Thierry, Bastiat n. a. entlehnen; aber trotzdem wird das eigentliche Volkswescn Nußlands in seiner ganzen Mannichfal-tigkeit für nus immer mehr und mehr zum Gegenstande des Studiums; nnfere Künstler wählen dasselbe jetzt vorzugsweise zum Gegenstände ihrer Darstellungen; durch eine allmähliche 50 nähere Bekanntschaft mit demselben sowie durch die Kraft ihrer eigenen Talente erlangen dieselben die Fähigkeit, immer tiefer nnd tiefer die Anschauungen, die Sitten nnd Gebräuche gerade jener Schichten unserer großen Genossenschaft zu begreifen, welche vorzugsweise die Repräsentanten unserer Volksthümlich-keit genannt werden müssen. Unsere Kunst hat bereits die Bahn der Volksthümlichkeit betreten; hoffen wir, daß auch die Wissenschaft in Rnßland nicht lange mehr in einem luftigen oder besser gesagt, luftlosen Raume verweile, daß auch sie iu dem heimatliche« Boden Wurzel schlage und durch die Berühruug mit der Wirklichkeit, den: lebendigen Leben befruchtet werde. Andererseits erscheint es nicht minder erfreulich, daß der Kreis des lesenden und schreibenden Publikums sich allmählich erweitert, daß die Wißbegierde von Tag zu Tag zu einem allgemeinern Bedürfnisse wird, uud daß die Unwissenheit, welche sich nicht belehren will und jede Aufklärung verachict, immer seltener uud seltener ihre Stimme zum Lobe einer gewissen glückseligen Unschuld erhebt, welche man gern für die Frucht der goldenen Unwissenheit ausgebeu möchte, zum Schntzc eines längsterschlafften und jetzt fast gänzlich vertrockneten Patriarcheuthnms uud zum ^obc einer allgemeinen Zufriedenheit, welche aus einer gewissen Beschränktheit der nationalen Bedürfnisse hervorging. Lange waren die Leute, welche mehr als andere die Pflicht und die Möglichkeit hatten, sich zu bilden, nämlich diejenigen, welche dem Staatsdienste, der Hauswirthschaft, dein Handel oder eiufach gar keiner Beschäftigung oblagen, in eine schimpfliche, dcmoralisirende Apathie versuu-ken. Gewiß war die Nachahmung fremder Sitten und Gewohnheiten und die papagaieuartiac Wiederholung fremder Begriffe uud Gefühle gleich lächerlich und bcklageuswerth; es wurde und wird auch jetzt noch unfercr Bilduug hierdurch gar maucher Schadeu zugefügt; allein nnser Behagen an 51 ^nthätigkeit, Unwissenheit und materiellen Genüssen, unsere Gefühllosigkeit gegen gemeinsame Angelegenheiten und das Beharren anf abgenutzten nnd deshalb auch für das kommende Geschlecht zwecklosen Bahnen haben für nns vielleicht nicht Minder tödliche Folgen erzeugt. Allerdings mag diese Apathie selbst ans der verderblichen Verschiedenheit zwischen dem heimatlichen nnd dem eingeimpften Leben, zwischen dem, was unsere Natur verlangte und die fremde Civilisation ihr gewährte, hervorgegangen sein; allein dennoch mnß man anerkennen, daß in jedem von nns, gleichsam in Uebereinstiminnng mit unserm slawischen Naturell, eine gewisse Neigung znr dauernden Erhaltung des Bestehenden vorhanden ist. Allerdings ist diese Neigung in gewissein Grade lobenswerth nnd bürgt für die lange Existenz unserer Gemeinschaft in der Zukunft, alleiu ans den gehörigen Schranken heraustretend, kann uns gerade diese Neigung vom Fortschritte abhalten nnd nns der Möglichkeit berauben, das zu sein, was wir sein sollen — uämlich bedeutende Factoreu in der Entwickelung der Menschheit. Die vor kurzem erfolgte Belebung unserer Genossenschaft, die größere Theilnahme derselben an dem Werke der Aufklärung und ihr Streben, unsere Zustände anf vernünftigen Grundlagen zu befestigeu, sind deshalb anch wirklich tröstende Erscheinungen: sie müssen in jedem Freunde Rußlands und der Menschheit unaussprechliche Freude erwecken. Besonders wichtig aber ist, daß jetzt bei uns unsere eigenen Fragen, welche aus unserm eigenen Leben und Sein hervorgehen und sich auf die Einrichtung unserer allgemeinen und besondern Verhältnisse beziehen, aufzutauchen beginnen. Allerdings ließen sich auch früher schon Mahnuugen darüber vernehmen, daß man endlich anfangen müsse, nachzudenken, stch selbst und sein eigenes Land kennen zn lernen nnd mit seinem eigenen Kopfe zu arbeiten; allein leider war dies nur 4* 52 von wenig Nutzen; diefe Aufforderungen und Rathschläge verhallten wie die Stimme des Rufenden in der Wüste. Jetzt aber muß die Sache selbst einem jeden von uns ins Gewissen reden und ihn zur Vernunft bringen. Die Fragen werden nicht durch die Wißbegierde der Gelehrten, oder die Phantasie der Künstler, oder die Laune einzelner Leute, sondern durch die unabweisbaren Bedürfnisse unserer gesellschaftlichen Einrichtung aufgeworfen. Allerdings können und sollen wir uus mit uusern westeuropäischen Lehrern berathschlagen, da diese bereits vor uns viele Erfahrungen gemacht und sich viele Kenntnisse gesammelt haben; allein, da wir 'jetzt nicht nnser? Geschichte vor uns haben, welche sich leicht nach einer fremden oder willkürlichen Harmonie umarbeiten läßt, fondern die Wirtlichkeit, welche uns augenblicklich der Unwissenheit, falscher Begriffe und der Unfähigkeit, mit eigenem Kopfe zu denken, beschuldigen kann, so müssen wir mit- oder gegen nn-fcrn Willen in unsere eigenen Verhältnisse eindringen, deren Bedeutung ergründen und die directe Beantwortung der auftauchenden Fragen suchen. Es mag sein, daß wir das, was wir freiwillig nicht thnu wollten oder nicht zu thun vermochten, jetzt gezwuugeu thuu müssen: vielleicht wird bei der Feststellung uuserer Fragen uns auch die Antwort darauf nicht ausbleiben. In letzterer Zeit hat sich die allgemeine Aufmerksamkeit vorzugsweise der Beurtheilung und Lösung einiger landwirth-schaftlichen Frageu zugewendet, welche direct aus unserer Gemeindeeinrichtung hervorgingen, und welche nicht nur für die Agronomen, sondern für alle Denkenden von gleich hohem Interesse sind. Die Journalistik nahm begreiflicherweise an dieser Sache einen lebhaften Antheil, und unter vielen Aufsätzen, welche theils mittelbar, theils unmittelbar diesem Gegenstände gewidmet sind, werden namentlich folgende Betrachtungen angestellt: 53 Kann und soll man die Verpflichtung zur Arbeit gegen die freiwillige Arbeit vertauschen? Ist es angemessen, Pächter und Tagelöhner zu haben und das Gruudeigcuthum einer Privilegirleu Klasse zu belassen? Oder wäre es nicht besser für den Staat uud für alle Staatsangehörige!! insgesammt, das Eigenthumsrccht au Grund und Boden auf alle Ackerbautreibende zu übertrafen? Und ist es in letzterm Falle vortheilhaft, Grund und Boden als persönliches Eigenthum einem jeden einzelnen Besitzer oder als gemeinschaftliches Eigenthum der ganzen Gemeinde zuzuweisen. Diese Fragen sind äußerst wichtig und es fehlt uus zur Lösung derselben allerdings noch au vielen Daten; allein je schwieriger eine Aufgabe und je weniger bearbeitet dieselbe ist, desto mehr tritt für einen jeden die Nothwendigkeit hervor, feine Meinung darzulegen und dasjenige mitzutheilen, was er in seiner mehr oder weniger langen Praxis in Erfahrung gebracht. Die Aufsätze, iu welchen die obeu genaunten Fragen in Erwäguug gezogen werden, haben leider zwei wesentliche Mängel: entweder berühren sie nur die praktische Seite, Welche sie durch einige fiir den Gruudherru günstige Phrasen des gemeinen Volks unterstützen, dabei aber aller theoretischen und rationellen Einsicht in die Landwirthschaft entbehren, oder sie betrachten die Landwirthschaft nur von der theoretischen Seite mit einem auffallenden Mangel an den nothwendigsten Kenntnissen nnsers Bauernwcsens. Die einen erklären ihre Geguer fiir Phantasten, halten deren Theorien und Combiua-tiouen für Ansgebnrten der Stubeugelehrsamteit, behaupten, daß deren Rathschläge an der Sache nichts ändern und daß ihnen sogar die Kenntniß der Gruudbediugungen der Land-Wirthschaft abgehen, während die andern die Beweise, welche von Landwirthen, die fast beständig auf dem Lande lebe«,, aufführt werden, verwerfen und uur rein theoretische Beweisende uud logische Schlüsse sowie wohlgesinnte Rathschläge 54 und Ermahnungen, ja selbst nnr hohltönende Phrasen vorbringen. Im Grunde aber haben beide nnrccht. Die letztern, welche der Wahrheit näher stehen, haben es verschmäht, sich die unumgänglich nothwendige landwirtschaftliche Erfahrung anzueignen, während die erstern, in den kleinlichen Beschäftigungen des Landlebens versunken, mit ^iebe an demjenigen hängen, was sie nicht ohne große Mühe geschaffen und zn Stande gebracht nnd aus Fnrcht vor dem bloßen Gedanken, es möchte die ganze landwirtschaftliche Ordnung eine Veränderung erleiden, sich von ihren gewohnten Beschäftigungen nnd Vorstellungen nicht losreißen wollen oder können, indem sie, wenn auch unr mit einem Auge, ans dasjenige sehen, was in, aber nicht ans das, was auf der Erde ist. Die einen haben vorzugsweise die Menschen (was allerdings auch vollkommen recht ist) im Auge, stehen aber leider selbst nicht fest ans dem Hoden der Vandwirthschaft; die andern, sich nur mit der Erzengnng von Getreide, Rnnkelrnben und Schmal; beschäftigend, fcheinen nicht immer zn begreifen, daß dies alles nnr für den Menschen producirt wird, und an nnd für sich, allein genommen, durchaus keinen Werth hat. Wir sind dnrchaus nicht so unbescheiden, mn nns der Meinung hinzngebcn, genügende Antworten auf die oben angeführten Fragen geben, oder viel zn deren ^ösnng beitragen zn können; wir haben uns nnr vorgenommen, einige über diese Gegenstände bereits angeregte Fragen zn erörtern, nnd wollen unsere Ausichten nicht zur Aussöhnung der Streitenden (denn dieses Ziel ist für jetzt noch zn hoch und zu weit entfernt für nns), sondern nnr deshalb anführen, um über diese äußerst wichtigen Gegenstände eine Discussion zn führen und dieselbe ans Beweisgründe zu basiren, die ebenso für das vorzugsweise praktische Publikum als auch für jenes verständlich sind, welches sich mehr mit Theorien beschäftigt. In der Lage, etwas Vernünftiges über diesen Gegenstand sagen zu 55 können, werden wir andererseits hierzu auch noch dadurch ermuntert, daß wir mehr als zwanzig Jahre auf dem Lande und vorzugsweise auf den Feldern zubrachten, in beständigen Beziehungen zu den Bauern standen und uusere Wirthschaften persönlich führten, ohne uns dentscher, polnifcher oder aus Ackerbauschulen hervorgegangener, oder einfach ans dem Hofgesinde genommener Verwalter zu bedienen; andererseits haben wir durch wiederholte Reisen iu fremden Bändern den Landban nntcr andern als bei nns vorhandenen Bedingungen ken-ueu gelernt und haben nach Maßgabe unserer Kräfte nud Fähigkeiten die versckiedcncu Systeme der landwirthschaftlichen Einrichtung und des allgemeinen Volkslebens, wie sich dieselben aus dem vielhundertjährigeu Lebeu der Menschheit entwickelten, zu ergründen gesucht. Betrachten wir uun zuerst den Beweisgrund, welcher gegen ^ie freiwillige Arbeit erhoben wird, einen Beweisgrund, der cine gewisse Aufregung selbst bei jenen Leuten hervorgerufen hat, welche von der geringen Production der Pftichtarbeit und von der Nothwendigkeit überzeugt sind, dieselbe durch eine mehr rationelle und vortheilhaftere Arbeit zu ersetzcu. Dieser Beweisgrund wird gewöhnlich so dargestellt: Unsere Bauern haben wenig Bedürfnisse, liegeu gcru auf dem Ofeu, sie verdingen sich, folange noch eine Brotrinde im Hanse vorhanden ist, nur ungern-als Arbeiter nnd kümmern sich im allgemeinen wenig mn den Verdienst; es muß daher bei der Ulnwaudelung der Pflichtarbeit in eine freiwillige nothwendigerweise ein Stillstand in der Bebauung der gutsherrschaft-licheu Felder eintreten, welche vor allem das meiste Getreide zum Verkaufe liefern. Außerdem entrollen die Anhänger dieser Meinung verschiedene Bilder, wobei sie, um den gewünschten Effect hervorzubringen, weder Farben noch. Erdichtungen, weder Schlagworte noch Texte aus der Heiligen Schrift spa-^n. Zur Widerleguug dieses Arguments ist bereits vieles 56 Gegründete und Richtige gesprochen worden — daß die Menschen im allgemeinen nicht Feinde ihres Fleisches sind; daß die Lebensbcqncmlichteiten von jedem angestrebt werden, nnd daß unsere Bauern dieselben einzig nur deshalb nicht genießen, weil für sie keine Möglichkeit dazu vorhanden ist; daß der Mensch für sich und nach seinem eigenen Willen mit beson-derm Fleiße arbeitet; daß die freie Arbeit productivcr als die gezwungeue ist; daß mit der Einführung der Arbeit für den eigenen Nutzen, sowie des Pacht- nnd Tagelöhnervcrhältnisses in unsern Wirthschaften, sich dieselben bedeutend cutwickeln nnd viel mehr Getreide als bisher produciren müssen. Anf dieses erwidern die Vertheidiger der Pflichtarbcit, daß alle diese Beweise nur Früchte der Stuben- und Büchcrgelehr-samkeit seien, daß dieselben ansländischen Theorien entlehnt und bei nns von Leuten entwickelt wurdeu, welche sich dnrch eine falsche Philauthropic und dnrch fehlerhafte Systeme hinreißen ließen; daß hingegen unsere eigene, im eigenen Lande gemachte Erfahrung täglich das Gegentheil beweise; daß ein längerer Betrieb von Wirthschaften, ein beständiger Umgang mit den Bauern n. f. w. vollkommen die Nothwendigkeit dcr Psiichtarbeit sowie das Unzeitgemäße darthue, dieselbe durch die freiwillige Arbeit ersetzen zu wollen. Zur Begründung dieser Sätze werden gewöhnlich vorgekommene und anch nicht vorgekommene Anekdoten erzählt uud zum Schlüsse ein Lobgesang auf unsere gegenwärtige landwirtschaftliche Einrichtung angestimmt. Da ich unsere Landwirthschaft ebenfalls von Grund aus keime, sowol in Bezug anf Pflicht- als freiwillige Arbeit einige Erfahrung besitze nud mit dem Bauern-wescn bekannt bin, aber nicht infolge von Erzählungen und Schildernngen, auch nicht infolge von Acnßeruugcn der Verwalter und Gutsherren, fo will ich versuchen, den oben angeführten Beweisgrund zu widerlcgeu. Allerdings haben unsere Banern beschränkte Bedürfnisse; 5? allein der Grund hiervon liegt nicht in ihrer Unfähigkeit, die-sclben zu vermehren und zu erhöhen, nicht in ihrer Abneigung gegen die Bequemlichkeiten des Lebens, sondern vielmehr in der Unmöglichkeit, selbst die nothwendigsten Bedürfnisse zu befriedigen, jene Bedürfnisse, wclchc nicht durch dic Willkür dcS Menschen hervorgerufen werden, sondern welche unmittelbar und nothwcndigerweise aus feiner Natnr hervorgehen. Dicfc äußersten Bedürfnisse find aber nichts weniger als geringe oder gar so leicht zu befriedigen! Werfen wir einen Blick auf das Leben eines Fronbauern, der mit einer guten Wohnstelle, mit zwei Dessiatinen Land von jedem Felde und einer Dessiatinc Wiescngrund versehen ist, welcher drei Tage in der Woche für die Herrschaft arbeitet, und von dem herrschaftlichen Walde unentgeltlich Holz, Reisig und Pfähle für seinen Zann, fowie zu mäßigen Geldpreisen Pfosten, Balken und Brctcr zum Bauen erhält. Man sieht, daß ich als Beispiel einen Banern gcuommen habe, der sich in ciucr guten Lage befindet, obgleich es uugemein viele Bauern gibt, welche bei weitem nicht unter so angenehmen Verhältnissen leben.' Bon seinen zwei Dessiatincn erhält er bei einer mittlern Ernte einen Reinertrag von zehn Tschctwert Getreide; ich nehme an, daß der Roggen allein fünf Tschetwert ausmacht (wobei zu bemerken, daß ich bei dieser Berechnung eine für meinc Gegner sehr vorthcilhafte Voraussetzung aufstelle, denn man kann bei weitem nicht in allen Bobcnlagen auf eine ähnliche Mittlere Ernte rechnen); hat derselbe nun eine Familie von fünf oder sechs Köpfen, beiderlei Geschlechts (aber wie viele Familien gibt es, wo auf einen Arbeiter sieben, acht und selbst zehn Köpfe kommen!), so wird das Getreide bis auf den letzten Rest anfgezchrt, während von demfelbcn doch auch ein Theil für die Nahrung des Viehes verwendet werden muß, denn die Pferde immer mit Hafer zu fütteru, kommt theuer und das Heu von ciuem folchcu Stückchen Land ist gewöhn»- 53 lich nicht ausreichend. Von anderthalb Dessiatinen Hafer erhält man in einem mittlern Jahre ebenfalls einen Reinertrag von ungefähr zehn Tschetwert (d. h. wenn das vierte Korn geerntet wird); für seine eigenen Pferde während der Zeit des Frühjahrspflügens nnd für die Herrschaftsfuhren muß er wenigstens fünf Tschetwert aufwenden, fodasi folglich ungefähr fünf Tschetwert zum Verkaufe gebracht werden können; allein dcr vernünftige und wohlhabende Bauer verkauft seinen Hafer nicht, sondern füttert damit seine Pferde, mit welchen er dann Fuhren übernimmt und auf diese Weise für den verbrauchten Hafer anderthalbmal mehr gewinnt als der Marktpreis beträgt. Die noch übrige halbe Dessiatme Boden liefert dem Baner kaum so viel Buchweizen, nm daraus den nöthigen Vorrath an Grütze für das ganze Jahr zu gewinnen. Heu wird bei uns fast allenthalben anf den Oehorchsparcellen mir wenig geerntet, und die Bauern nehmen deshalb überall, wo sie nur können, Wiesengründe in Pacht: das Geld hierfür verdienen sie sich dadurch, daß sie bei den Fuhren, das für die Pferde nothwendige Heu unter sich verkaufen. Die Hauptgeldeinnahme unserer Accordbauern fließt vom Vieh und den Fuhren. Aber wie oft vernichtet nicht eine Seuche dem Bauern alle Hoffnung auf den Verkauf des Viehes im Herbste? Und die Fuhren? Nur selten gewähren dieselben einigen Vortheil: größtentheils ist der Bauer froh, wenn er seinen auf die Pferde verwendeten Hafer sowie das Heu zu einem guten Preise dabei herausschlägt. Im Herbst verkaufen die Bauern allerdings noch einige Metzen Hanfsamen, welcher von dem jährlichen Bedarfe übrig bleiben muß; im Winter briugen sie auch etwas Hanf zu Markte; wenn sich im Herbst oder zur Brachzeit irgendciue Arbeit ergibt, so sind sie auch dieser nicht abgeneigt uud sind froh, einige Kopeken zu verdienen. Allein wie viele Bedürfnisse hat der Bauer mit dem eingenommenen Gelde nicht zu befriedigen; 59 er muß Salz, Theer, Aast, bald ein Rad odcr einen Schlitten, bald cine Pflugschar, eine Sense, eine Sichel, bald einen Knschok^), bald eine Mütze u. s. w. kaufen; er muß sein Pferd unterwegs beschlagen lassen, ^Kopfsteuer bezahlen, Rekruten stellen u. s. w.; er mns; den Geistlichen für kirchliche Verrichtungen bezahlen n. f. w. Und wie viele andere nnvor-hergcsehcne Ausgaben stellen sich noch ein: geht ihm ein Pferd zn Grunde, so muß er ein anderes kaufen, denn ohne ein oder ein paar Pferde ist der Bauer eben kein Bauer; wenn, Was leider häufig geschieht, eine Feuersbrunst seine Hütte oder seine Scheune zerstört, so kann sich der Baner zehn Jahre lang nicht von diesem Unglück erholen; wenn während der Arbeitszeit er odcr sein Wcib erkrankt, so muß er für die Aushülfe so viel Geld oder Getreide bezahlen, daß er das ganze Jahr hindurch diesen Ausfall nicht mehr decken kann. Oft genug habe ich dicse bäuerlichen Hauswirthschaften näher kennen zu lerucn Gelegenheit gehabt, und immer hat sich mir hierbei ein Gefühl der Bewunderung für die seltene GeschiÄ-lichkeit unserer Bauern aufgedrungen, aus wenigem viel zu Stande zn bringen und fast ans nichts das für ihre Eristenz unumgänglich Nothwendige herauszuschlagen. Mehr als ein-wal habe ich, wenn ich mir ihre Bedürfnisse recht anschaulich machte, nicht zu begreifen vermocht, wie sie denn eigentlich znrecht kommen. Allein unsere Banern sind erfinderisch, arbeitsliebeud und lassen vor allem nicht leicht den Muth sinken; man darf ihnen nnr zusehen, der eine verdient hier, der andere dort etwas Geld, nnd ihre Bedürfnisse, so groß dieselben anch im Vergleich zn ihrer Fähigkeit, dieselben zu befriedigen, sind. so werden dieselben doch nach Möglichkeit gedeckt. Und kanm kommt ein Baner ein wenig in die Höhe, so sucht er sich sogleich eine neue Hütte zu bäum oder eine 1) Leibbinde der russischen Bauern. 60 Stube herzurichten. Sich einen überflüssigen Schafspelz, ein zweites Gewand oder ein zweites Paar Stiefel anzuschaffen, ist die erste Sorge eines in bessere Verhältnisse kommenden Bauern. Vergleiche man nur das Mittags- und Abendessen eines reichen und armen Banern, gehe man nur in die Hütte des einen und des andern hinein, betrachte man ihre Geschirre, ihre .Kleidung und ihre Schuhe, und man wird zugeben, daß der Unterschied zwischen beiden groß und daß unser Bauer durchaus nicht gefühllos gegeu die Bequemlichkeiten des Lebens ist. Man wirft ihm Gleichgültigkeit gegen dieselben vor, weil man sich entweder nicht die Mühe nahm, sich mit seiner Lebensweise genau bekannt zu macheu, oder weil mau seine Lebensbedürfnisse nach dem Maßstabe des eigenen Comfort mißt, oder weil man endlich, indem man ihn der Möglichkeit beranbt, selbst das Nothdürftige zu befriedigen, sein Gewissen dadurch beruhigt, daß man sich glauben machen will, „er sei gegen die Bequemlichkeiten des Lebens ganz unempfindlich". Nein! unsere Bauern verdienen gern Geld, sobald man ihnen nur die Gelegenheit dazu bietet; er baut sich mit Freude zwei und drei Hütten, er zieht vieles Vieh, versieht sich mit warmem und selbst schmuckem Gewände u. s. w., wenn nur die Möglichkeit hierzu vorhanden ist. Seid ihr, meine Gegner, wol schou durch reiche und arme Dörfer gekommen, und habt ihr euch in den Häusern der Zins- und Fronbauern näher umgesehen? Wenn euch dies begegnet und wenn ihr das Herrenthmn sowie einige weitere vorgefaßte Meinungen außerhalb der Schwelle gelassen, so werdet ihr gewiß bemerkt haben, daß die Zinsbauern reicher sind als die Fronbauern, nnd warum? wol nur deshalb, weil dieselben freier über ihre Zeit verfügen. Ihr tonntet auch bemerken, daß die Bauern um so wohlhabender sind, je weniger sich der Gutsherr um sie bekümmert, d. h. je weniger er sich in ihre Privatverhältnisse mischt, oder mit andern Worten, je weniger er sie in ihren 61 eigenen Anordnungen beschränkt. Ich weiß, daß man mit mir hierin nicht übereinstimmt, nnd daß man sogar das Gegentheil ä" beweisen snchen wird; allein ich habe mich oft genug in verschiedenen Gouvernements bewegt, ich habe mir seit mehr als zwanzig Jahren den Grundsatz zur Richtschnur genommen, "üch so wenig als möglich in die Bauernverhältnisse zu 'Nischen, und habe dadurch die Ueberzeugung gewonnen, daß die gutsherrliche Fürsorge nur dazu führt, die Bauern sorg-l°s und faul zu machcu, daß dieselben dadurch jede Lust, sich etwas zu erwerben, verlieren und nur in Armuth und Liederlichkeit gerathen. Ich könnte zur Bestätigung meiner Ansicht dittc Beispiele aus verschiedeneu Gegenden anführen, weun biese Beweise ans vielen Gründen nicht unbequem wären, ich erzähle deshalb auch keine Anekdoten, sondern nur die reine Thatsache meiner eigenen Wirthschaft, welche man in dem saposchokischen Kreise des rjäsanschen Gouvernements in Augcn-schrm nehmen nnd wobei man sich an Ort nnd Stelle von der wohlthätigen Wirkung überzeugen kann, welche die Art uno Weise der Verwaltung, die ich für die beste anerkenne, "uf die Banern ausgeübt hat. Ich werde mich bestreben, "^glichst tm-z zu sein. Die Güter, welche ich besitze und bewirthschafte, bestehen "us einigen tausend Seelen, und ich habe dieselben von verschiedenen (an der Zahl elf), theils sorgfältigen, theils nicht ^faltigen Gutsherren erworben. Als die Banern unter Meine Botmäßigkeit kamen, befanden sich diefelben in sehr verschiedenen Zuständen, und ich habe schon auf den ersten Blick die Bemerkung gemacht, daß der Grad ihres Wohlstandes ganz im umgekehrten Verhältnisse zu dem Grade der Fürsorge ihrer frühern Gutsherren stand. Mit der Zeit verbesserten die Bauern, um welche sich die Gutsherren wenig "nd mit geringer Sorgfalt bekümmert hatten, fehr fchnell ihre Verhältnisse, nachdem ihre privaten sowie Gemeindeangelegen- 62 heiten ihrer eigenen Leitung überlassen worden waren; jene Bauern dagegen, bei welchen die Gutsherren im Herbst den zum Säen nothwendigen Hafer in ihre Scheunen zur Aufbewahrung eingesammelt, welche sich bei allem an ihren Herrn gewendet, welche ohne seine Genehmigung nicht das Geringste zu verkaufen, noch sich aus ihrem Dorfe zu entfernen gewagt, und welche sich sogar zu Festsetzung der Heirathen in dem Hofe des Gutsherrn versammelt und dort auch am Ende ihre Hochzeit gehalten hatten — sich lange, lange nicht zurecht finden und nur mit Mühe an eine Selbstbewirthschaf-tung sich gewöhnen konnten; ich hatte mit lctztcrn cinc zehnmal größere Plage als mit jenen Bauern, welche ich von abwesenden oder wenig sorgsamen Gutsherren erworben hatte. Jetzt hat sich mit Gottes Hülfe und infolge des Grundsatzes, mich so wenig als möglich in ihre privaten und Gemeindc-angelegenhciten zu mischeu, die Vage meiner Bauern bedeutend verbessert. Baufällige Hütten finden sich gar keine oder nur wenige (das Holz lasse ich nnr gegen Bezahlung ab); die Bauern haben viele alte Getreidevorräthe ^); sie halten ihre Pferde und ihre Geschirre in Ordnung; es gibt nicht viele Säufer uuter ihnen — mit Einem Worte, meine Bauern sind wirkliche Banern;'und dies verdanke ich vorzüglich dcm Umstände, daß ich mich nm ihre eigenen Angelegenheiten gar nicht kümmere. Die Fürsorge, welche unter unsern Landwirthen leider immer mehr und mehr in Aufnahme kommt, entspringt nicht 1) Oefter schon begegnete es mir, daß ich bei hohen Getreidepreise« die Bauern zum Verkaufe ihres Korns zu bewegen suchte, welches dieselben aufgespeichert hatten. ,,Nein, Väterchen", erwiderten sie mir, „das Verkaufen ist leicht, aber das Einkaufen schwer, und das gekaufte Brot sättigt und gedeiht nicht." Uud doch gibt es Leute, welche unsere Bauern der Gleichgültigkeit uud des Mangels an Sorge für die Zukunft beschuldigeu. 63 ans der Nächstenliebe (Ausnahmen in dieser Beziehung gibt es allerdings, allein sie sind selten), auch nicht aus der Erkenntniß der gutsherrlichen Pflichten (von welchen man so viel und mit so großer Ostentation spricht), sondern nur ans der gebieterischen Nothwendigkeit: die herrschaftlichen Feldarbeiten vermehren sich beständig, der Grund und Boden wird all^ mählich erschöpft und erfordert eine bessere Bearbeitung; die Transporte znm Verkaufe des herrschaftlichen Getreides, im Fall dasselbe nicht schon durch das ungeheuere Hofgesinde und durch die Scharen von Jagdhunden anfgezehrt wird, vermeh-^u sich; die Vergrößerung des Viehstandes bedingt eine übermäßige Pflege für denselben, sowie die Aufführung verschiedener, früher nicht vorhanden gewesener Gebäude; die Ein-Achtung der Fabriken sowie anderer indnstriellen Etablissements, Welche nicht anf wirklich commerziellen Grundlagen bernhen, rufen eine größere Spannung der Arbeitskräfte hervor n. s. w. ^ies such hie Gründe, welche die Gutsherren veranlassen, das Pensum der Bauern zu erhöhen, was natürlich nur die "erarmnng der Baucru uud zugleich die Nothwendigkeit für die Gutsherren zur Folge hat, den Bauer immer mehr und ^chr am Gängelbande zn führen. Mir ist es noch nicht vorkommen, daß ich auf ein mit diefcr Sorgfalt bewirthschafte-lks Gnt gestoßen wäre, defsen Bauern in gntcn Verhältnissen Mebt hätten, weshalb ich denn anch zu dem Schlüsse gekom-'^n bin, daß die Bauern, welche selbst über ihre Zeit ver-"Mn und durch die Fürsorge des Gutsherrn nicht der Sorge für ihre Erhaltung enthoben werden, die besten Begründer Hrcs Wohlstandes sind. Viele und daruuter auch der Verfasser des vou uns in ^tracht gezogenen Aufsatzes klagen über die Schwierigkeit, Tagelöhner zn bekommen im allgemeinen uud insbesondere in ^segneten Jahren, und folgern hieraus die Uumöglichkeit, bei Ätzern Wirthschaften der Froubaueru entbehren zu köunen. 64 Da ich beständig Arbeiter dinge und viele Kaufleute kenne, welche ihre Wirthschaften nach commerziellen Principien leiten, fo nmß ich gestehen, daß ich weder an die Schwierigkeiten glaube, ans welche man bei dem Dingen von Arbeitern stößt, noch viel weniger aber an die Schlußfolgerung, welche hieraus gezogen wird. Bei mir, im Gouvernement Njäsan, nn faposchokischen Kreise, arbeiten beständig gegen hundert Zimmerlcute, Ziegelbreuuer und Steinhauer n. s. w. im Tagelohne nnd außerdem habe ich bei zwei Wirthschaften gegen fünfzig Arbeiter, die von mir während des Sommers zu Feldarbeiten verwendet werden, und niemals habe ich bei der Anffnchung von Arbeitern Schwierigkeiten gefunden; ja es finden sich im Gegentheil immer mehr Arbeitslustige als ich brauche. Ich dinge Arbeiter zu freiem Lohnes aus meinen eigenek Bauern fowol als ans Kronbauern uud Soldaten. In diesem Jahre hatte ich meist von den letztern. In dem samarischcn Gonvernemeut dinge ich zur Urbarmachung sowie zur Saat und Erntezeit ebenfalls eine nicht geringe Anzahl von beuten nnd ich besitze dort seit mehr als fünfzehn Jahren bedeutende Wirthschaften, bin aber nie in der Lage gewesen, von welcher der Verfasser des fraglichen Aufsatzes spricht, als könne man selbst für Geld nicht einmal Arbeiter finden. Im Gegentheil, es melden sich immer mehr Arbeiter als m0 und 60 anzuschaffen. Auch gehen sie bei Misernten von Hanse fort, um anderwärts etwas zu verdienen, um sich Salz kaufen und die Kopfsteuer bc-stteiten zu könne». 1) Nenn die Arbeiter sich verdunsten, d. h. einmal einen Contract abgeschlossen haben, so bleiben sie bei guter wie bei schlechter Ernte bei demselben Landwirthe. Allerdings sucht jeder Wirthschaft« möglichst wenige Arbeiter zu habeu, allem diese Sorge bleibt für ihn uuter al-len Umständen dieselbe. Zudem kostet der freiwillige Arbeiter bei guter wie bei schlechter Ernte im Auslande dem Wirthschafter eins und das. selbe; bei uns dagegen ist die Sache ganz anders-, ist Ueberfluß an Getreide vorhanden, so verrichten die GehorclMrbciter dem Gutsherrn ihre Dienste, ohne von demselben Getreide oder Geld zn empfangen; weshalb denn auch der Gutsherr häusig eine überflüssige Anzahl von Arbeitern hält; wenn aber dagegen bei schlechter Ernte der Gutsherr alle seine Bauern auf seinem Gute halten will, so muß er dieselben "Ut theuerm Getreide eruähren, weshalb denn auch bei uns in un-'ruchtbareu Jahren die Gehorchszahlnugeu (Fronen) entweder verändert ober ganz erlassen und alle nicht unumgänglich nothwendigen Arbeiten bis zum nächsten Jahre aufgeschoben worden. 70 Rubel für den Sommer gedungen nnd jetzt bezahle ich ihnen 70 und 80 Rubel vom Beginne des Pftügens bis zum Anfange der Fastenzeit (15. November)- folglich sind die Preise verhältnißmäßig dieselben geblieben. Ich weiß, daß auch an andern Orten die Preise früher nicht hoch waren, aber jetzt nur in gleichem Verhältnisse zu der Theuerung aller Gegenstände gestiegen sind. Der Arbeiter kostet für den ganzen Sommer, d. h. vom 1. April bis zum 15. November (oder einigen an Drten bis zum 1. October), wenn er die Kost vom Gutsherrn erhält, in einigen Gouvernements gegen 100 Rubel Assignation, während er in andern nur 50 Rubel Assignation erhalt. Folglich kaun man den mittlern Preis eines Arbeiters auf 75 Rubel Assignation anschlagen. Im Winter find ebenfalls während 4'/^ Monaten für einen Arbeiter gern 25—ZO Rubel Assignation zu veranschlagen. Der Arbeiter kostet demnach das Jahr hindurch in den verschiedenen Gouvernements zwischen 80 und 140 Rubel, wobei man eine Durchschnittsbezahlung von 100—110 Rubel Assignation annehmen muß. Der Unterhalt eines Arbeiters kostet 3 Rubel 50 Kopeken bis 4 Rubel 50 Kopeken Assignation im Monat, also durchschnittlich 4 Rubel — demnach 48 Rubel im Jahre. ^) Folglich kommt ein Arbeiter für das ganze Jahr auf ungefähr 150 Rubel zu stehen. Vergleicht mau mm diesen Arbeiter mit dem Fronarbeiter, so kann man denselben nicht theuer finden; wenn man ferner die Bezahlung iu Be-tracht zieht, welche die Arbeiter, ich will nicht sagen in England, aber in Frankreich, Belgien und Deutschland erhalten, 1) Unser Gouvernement Rjäsan kann als Beispiel für eine solche Berechnung gelten, denn bei uns wirb der Preis der Arbeiter und ihres Unterhalts zwischen den wohlfeilen nnd theuern Gegenden s" ziemlich die Mitte halten. Wir lassen hier den monatlichen Unterhalt eines in meinem Dienste stehcndcn Tagelöhners mit dem Kostenanschläge desselben in Assignationen folgen: 71 so kommen wir zu dem Schlüsse, daß trotz des Mangels an Arbeitskräften, der sich bei uns allgemein fühlbar macht, der Arbeitslohn dennoch nickt sehr hoch ist. Wenn man die Bedürfnisse unsers Bauern, seine Verpflichtungen gegen die Krone und bic Herrschaft, die Ausgaben für Kleider, Schuhe, für die Ernährung von Weib und Kindern u. s. w. in Betracht zieht, so muß dieser Preis sogar noch für sehr niedrig gehalten werden. Allerdings sind bei uns in Misjahren die Arbeiter für die bloße Kost zu haben, allein diese traurige Erscheinung darf nicht als Maßstab für gewöhnliche Zeiten genommen werden; wollte Gott, daß die Arbeitspreise hoch wären, denn daran ist die Quelle und das Zeichen allgemeinen Wohlstandes zu erkennen. Der Verfasser des mehrerwähnten Aufsatzes sucht die Unbequemlichkeit des Dingens dadurch zn beweisen, daß er zwei oder drei Fälle aufzählt, wo die Arbeiter, nachdem fie sich bei einem Herrn verdungen hatten, demselben vor der bestimmten Zeit davonliefen. Schade, daß er aus seiner eigenen (wahrscheinlich langjährigen) Erfahrung nicht wenigstens summarisch NvMnmehl 2 Pud ^ 1 Rubel.....2 Rubel — Kopelen Grütze 2 Maß II 85 Kopeken......— „ 70 „ Fleisch ^ Pfd. pei Tag, im ganzen auf 15 Tage und mit Cinrcchnung des Anfangs und Schlusses der Fasten uud der großen Feiertage 9 Pfd. H ? Kopelen.......— ,. l'^ „ Leinöl 1 '/2 Pfd. H 20 Kopeken .....-^ ., ^> Salz 2 Pfd. -> 5'/. Kopeken......-^ " ^ >, Die Köchin vou 5 Rubel im Monat auf 20 Arbeiter .............— " 25) „ 3^Rubel 99 Kopeken. (Dieselbe ißt mit den Arbeitern und wird für sie kein besonderer Ansatz verrechnet.) Früher kostete mich der Unterhalt weniger alö 1 Rubel Silber, wahrend er mich im gegenwärtigen Jahre auf 1 Rubel 20 Kopeken Silber zu stehen kommt. 72 bemerkt hat, wie viele Arbeiter auf seinem Gute ihre Zeit, wie es sich gebührt, aushielten, und sich von der Herrschaft in ehrenhafter und friedlicher Weise trennten. Gleichfalls schade, daß der Verfasser nicht ebenfalls erzählt hat, wie viele Arbeiter mehrere Jahre nacheinander bei einem und demselben Herrn geblieben sind. Meine Bauern haben viele Arbeiter, anch ich halte, wie bereits oben erwähnt, ziemlich viele Tagelöhner, und kann deshalb mit Bestimmtheit versichern, daß uusere Arbeiter im allgemeinen ihren Verpflichtungen sehr gewissenhaft nachkommen, wenn sie für ihre Arbeit das dnrch freiwilliges Uebereinkommen festgefetzte Geld erhalten, und daß Anekdoten wie diejenigen, welche der Verfasser erzählt, eine seltene Ausnahme von der allgemeinen Negcl bilden. Ich als Branntweinfabrikant kanfe das Getreide bei den Gutsherren, uud es ist mir öfter als einmal begegnet, daß ich denselben ein Draufgeld gab, bei eintretendem Steigen der Getveide-preise aber von denselben nicht ein Körnlein erhielt. Was würde der verehrte Vertheidiger der Fronarbeit sagen, wenn ich mir nach Anführung einiger ähnlicher Vorfälle erlauben würde, folgenden Schlnß zn ziehen: Bei den Gutsherren kann man kein Getreide kaufen, weil dieselben den Verkanf abschließen, Draufgeld annehmen, aber das Getreide dennoch nicht verabfolgen lassen? Ich habe während meines Lebens gewiß einige tausend Arbeiter zu verschiedenen Verrichtungen gedungen und muß auf mein Gewissen versichern, daß die Nichterfüllung der Bedingungen von feiten der Arbeiter nicht als Regel gilt, sondern vielmehr eine seltene Ausnahme macht. Ueberdies halte ich es für meine Pflicht, noch folgende sehr bedeutungsvolle Thatsache mitzutheilen: Bei mir eristiren bei dem Frondienste körperliche Züchtigungen. Zweimal habe ich es versucht, dieselben abznschaffen, mnßte sie aber immer auf inständiges Bitten der Vorgesetzten wieder einfuhren. Allerdings nimmt man hierzu nnr selten seine Znflncht, allein 73 ohne sie würden weder der Burmister noch die Starosten mit dem Bolle anskoiumcn. Was nun die Tagelöhner betrifft, welche ich, wie bereits oben bemerkt, auch aus meinen Vaueru nehme, so ist es mir innerhalb zehn Jahren nicht vorgekommen, auch nnr einen einzigen strafen zu müssen. Hieraus kann mau entnehmen, was die Arbeit um Geld nnd nach l^eiwilligem Uebereinkommen für eine Bedeutung hat! Beeilen wir uns nun znr Betrachtung eines Gegenstandes überzugehen, welcher jetzt die heftigsten Streitigkeiten hervorruft, und welcher von einigen als ein Rettungsanker für Nußland, vou andern aber als die Quelle verschiedener gegenwärtiger nnd zukünftiger Uebel betrachtet wird — eines Gc-äcnstaudcs, welcher vou erstern noch nicht hinlänglich beleucht tet und von letztern wegen deö sonderbaren Zusammentreffens ^r Umstände nicht vollständig begriffen wnrde. Es ist nicht ichwer zll errathen, daß wir darnnter das Oemeindeprincip und vorzngsweise den Gemciudegrundbesitz verstehen. Der Aufsatz: „Der Znstand der Banern im Gon-^eruemcnt Esthland" — ist äußerst interessant; die Mitteilungen, welche darin über die Organisation des Bauern-Itandeö in Esthland enthalten sind, sind sehr umständlich und Offenbar mit vollkommener Sachkenntniß geschrieben; die mittheilten Daten über die Lage der Päckter uud Arbeiter in ^n übrigeu Ostseeproviuzeu sind von gleich hohem Interesse, ^er Gegenstand verdient an nnd für sich schon die Aufmerk-^lnkcit eines jeden denkenden Mannes; für nns dagegen hat ^rsclbe noch eine besondere momentane Wichtigkeit nud wir Ilnd mit dem Verfasser des bezeichneten Aufsatzes vollkommen ktnverstaudcu, wenn er sagt: „In dem ganzen Bereiche der Nationalökonomie existirt keine Frage, welche ein gleich großes Interesse hätte. Andere Gegenstände beziehen sich anf die Vervollkommuuug, dieser Gegenstand aber ist das Fundament "ller gesellschaftlichen Ordnnng. Wie sehr derselbe jetzt die 74 Gemüther beschäftigt, ist daraus zu ersehen, daß er sehr häufig die Gespräche der Gutsherren auf sich lenkt uud sogar zum Gegenstände wissenschaftlicher Abhanoluua.cn geworden ist. Die Ansichten der darüber Debattirenben sind gewöhulich verschieden nnd selbst der Inhalt irgendeines geschriebenen oder gedruckten Projects ist nicht immer in sich widerspruchslos. Allerriugs sind wenige Menschen über diesen Gegenstand unter sich einig; dies aber kommt daher, weil der Gegenstand für unö ganz neu ist und weil wir über deuselben bisjctzt durchaus uicht geurtheilt und ihu für das allgemeine Verständniß bearbeitet haben. Der eine hat in seinem Winkel diese Meinung, der andere hält sich von etwas anderm überzeugt; viele habeu hiervon gar keine vernünftigen Begriffe und lassen sich nur von ihrem persönlichen Interesse leiten. Da der Austausch der Gedauken über diesen Gegenstand bei uus sehr beschränkt ist, so kauu sich hierüber nicht nur keine allgemeine Meinung bilden, die auf einer allfeitigen Betrachtung und reifen Beurtheilung der Frage beruht, soudern es finden auch die.Privatmeinungcu keine Gelegenheit sich aus-zuspreche» und durch Einweuduugeu und gegenseitige Beurtheilungen geprüft zn werden, weshalb wir denn auch diefen Aufsatz mit besonderer Freude begrüßen, weil er uns Gelegen' heit gibt, uus über diese wichtige Sache aus zusprechen. Es liegt nicht in unserer Absicht, ans dem Aufsatze über die esthlandischen Banern alles Interessante, was in demselben enthalten, wiederzugeben: .Dir rathen jedermann, diesen Aufsah selbst mit aller Aufmerksamkeit vollständig dnrchzulescn. Auch haben wir nicht im Sinne, uns über eiuige Irrthümer auszusprechen, welche sich in die Darstellung, die der Autor von unserm großrussischen Nirthschaftsbetrieb entwirft, eingeschlichen Habens; sondern wir müsseu nns nur gegen jene 1) Offenbar kennt der Verfasser den Wirthschaftsbctrieb der Ostsee-Provinzen besser als den nnscrigcn, denn sonst würde er gewiß nicht bc' 75 Ansicht des Verfassers verwahren, welche von ihm als die Grundlage aller feiner (5ombin.uioncn in Betreff der künftigen Häupten, daß das System des Gemeindegrundbesitzes mehr in der Theorie als in der Praxis bestehe. Wenn er unsere Dörfer besuchen, ble verschiedenen Erscheinungen und die Organisation unsers Landbaues betrachtn und mit den Bauern nähern Umgang Pflegen wollte, so nnirde er gewiß zu der Ueberzeugung gelangen, daß unser Gemeinde-gnuidbesitz nicht in der Theorie besteht, sondern eine jener Gewolnihei-^'n ist, welche stärker als das geschriebene Gesetz sind. Schon der Au» blick unserer ungeheuern Dörfer allein, sowie zwei oder drei Beispiele aus dem Thun und Treiben unserer Vaucrn würdeu ihm zeigen, daß ^ese Art der Bodenbenutzuug hier iu der That und keineswegs nach ^' ^aune einiger Gutsherren oder in der Einbildung einiger Schriftsteller eristirt. In gleicher Weise würde er bei näherer Bekanntschaft mit der russischen Bcwirthschaflung nicht zu behaupten gewagt l,aben, daß die Gemeindebenutzung von Grnnb und Boden dem rnssischeu Guts-l'errn die Verpflichtung anferlcgt, eine Aufsicht über die ländlichen ^'Mhschaften zu führen. Ich frage nun, worin denn eigentlich der Zu» ^Uimcuhang zwischen diesen beiden Dingen besteht? Die Vaucrn, bc-!^rn allenthalben bei uns den Grund nnd Boden gemeinschaftlich, und ble sorgsaine» Gutsherren, d. h. diejenigen, welche es für ihre Pflicht halten, die bäuerlichen Wirthschaften zu beanfsichtigeu, bilden zum Glücke nicht die Mehrzahl iu unserm Stande. Sonderbar erscheint "uch folgende Aeußerung über die russischen kandwirthe: ,,Wir haben ""ch leinen einzigen russische» Gutsherrn gesehen, welcher sich nicht s'U ciueu Hl ustciwirtl, schafter gehalten hätte." (S. 87.) Mus; man heraus nicht folgern, das; der Versasser mit sehr wenigen eigentlich Ausfischen Gutsherren bekannt ist? Unsere College,, irren sich allerdings u> vielen Stücken, aber gewiß nicht lunsichtlich ihrer eigenen landwirth» schaftlicheu Kenntnisse oder Einrichtungen. Iu den Ostsecprovinzen ist dle Sache anders: dort sind sie ^andwirthe nud betrachten sich auch als 1°lche. Unter den russischen Gutsherren gibt es leider sehr wenige, U'elche sich eifrig mit der Landwirthschaft beschäftigen, sie halten sich aber "uch deshalb durchaus nicht für Musterwirthfcbafter. Feruer sagt der Verfasser: ,,Dic Vaucru gehen dem Verdienste nach und verlassen ihre ^lckerparcclleu, vou welchen nur der beste Theil von den an Ort und Stelle Zurückbleibenden bearbeitet wird. Aus dieser Ver nachlas-slgnng stcheu die Bauernbefihe in Fronbcsitze über, welche ^em Gutsherrn unvergleichlich weniger Erträgnisse liefern." (S. 88.) 76 Einrichtung unsers landwirthschaftlichen Wesens aufgestellt wird. — Der Verfasser behauptet, daß das Pachtverhältniß die beste Art des Landbaues sei, dasi deshalb der Grund nnd Boden immer im Besitze eines höhern Standes im Reiche bleiben, daß man die Bewirtschaftung desselben den Pächtern überlassen und daß die Arbeiter sich als freie ^eute hierzu verdingen müssen. Auf den ersten Vlick erscheint diese Ansicht vernünftig nnd sogar praktisch; innerhalb gewisser Grenzen beschränkt ist dieselbe anch allerdings richtig; aber allgemein genommen wird dieselbe unrichtig nnd ist gan; nnb gar nicht auf den Staat anzuwenden, welchen der Verfasser hierbei vorzugsweise im Auge hat. Es ist überhaupt ein großer Fehler, irgendeine Art des Grundbesitzes nud der Ae-wirthschaftung desselben unbedingt für die beste halten, nnd Hierzu bedürfen wir eines Commcutars, denn wir tonnen dic Stelle absolut nicht verstehen. Man könnte noch viele Meinungen und Urtheile des Verfassers anführen, welche nnsern Zweifel über seine nähere Bekanntschaft mit unserer Vewirthschaftnng rechtfertigen würden, wir wollen uns jedoch nur noch auf einen Auszug beschränken: Seite 74 wird gesagt: „Der nachlässige Bauer schafft sein Pferd ab, damit man ihn nur znr Leistung von Handdiensten verwenden könne; der haushälterische Bauer und Familienvater aber hält nur eine so große Anzahl von Pferden, als ihm nöthig ist, um nicht eine doppelte Leistung auf sich zu nehmen." Diese Erscheinung ist jedoch bei uns äußerst selten. Im Gegentheil verkaufen die Bauern, obgleich durch Frondienste sehr gedrückt, eher ihre Kühe, ihre Schweiue, behalten aber ihre Pferde bei; denn mit Hülfe derselben köunen sie nebst ihren Fronarbeiten so ziemlich ihr eigenes Land bebauen. Denn ohne Pferde gilt unser Bauer für eiuen schlechten Hanswirth, was er am meisten fürchtet, denn er will weder nnter die Rekruten gesteckt, noch zum Hofdienstc (unter die Zahl des Hofgesindes) genommen, noch seines Bodens beraubt werden und in der Gemeinde herumziehen. Ich weiß, daß im kiewschcu und andern südlichen Gouvernements bei Inocutarisirnugen die Bauern in den Stand der Handdicnste Leistenden hinüberznkommcn suchen; aber bei uns ist diese Neiguug nicht bemerkbar. 77 die Einführung derselben für jedes beliebige Land ausschließlich und vorzugsweise in Anwendung bringen zu wollen. Wir haben ein Beispiel an dem westlichen Europa, welches unler der übermäßigen Entwickelung des Privateigeuthmus leidend, von dem Eomnmuisnms, dem Socialismus und audern ähnlichen Feinden bedroht ist, die zwar für den Moment niedergeworfen, aber durchaus nicht vernichtet sind nnd in der Folge dessen EMenz noch öfter als einmal bedrohen werden, — an Europa, welches gegenwärtig einen bedeutenden Theil seines Privatvermögeus dem Proletariat zum Opfer briugt, nicht aus christlicher Nächstenliebe, sondern einzig nnr ans dem Grunde, um auf diese Weife sein übriges Bcsitzthum zu retten. Wir scheu England, welches den Grundbesitz im Adel coucentrirt hat nnd seine Felder fast ansschließlich dnrch Pächter bebanen läßt; wir sehen Frankreich, welches seinen Gruud und Boden in dem Maße zerstückelt hat, daß diele Eigenthümer ihre Parcellen nur durch fremdeu Beistand Und mit der Hacke bearbeiten könueu und daß einigermaßen bedeutende Wirthschaften sehr selten sind. Es spriugt uns sogleich die Unbequemlichkeit in die Augen, welche aus der vorzugsweisen Eiuführnng eines oder des andern Wirthschaftssy-slems cutstcheu würdcu. Dort ist der Bauerustand dnrch seine Obdachlosigkeit, durch sein Nomadenleben — durch die wollige Uugesicherthcil seiner Existenz verkommen; hier ist er derart au seiuo Scholle gefesselt, daß er, ohnehin nicht mehr un Stande, seine Parccllc auf eiue nutzbringende Weife zu be-banen und jeder Art von Mangel preisgegeben, sein Stückten Land immer mehr und mehr verpfändet, uubewcglich auf hinein Platze bleibt, sich nicht zn Verbesseruugeu, welche gemeinsame Anstrcugnngen oder bcdeuteude Kapitalien erfordern, "ber auch ebenso wenig znr Verändcrnng seines Wohnsitzes °der zur Wahl eines andern Berufs entschließt nnd sich deshalb immer mehr nnd mehr von der allgemeinen Fortschritts- 78 dewegung zurückzieht und in seiner Isolirung sichtbar in eine Art von Stumpfsinn verfällt.') Sollten diese Beispiele nicht für uns belehrend sein? Sollten wir, indem wir Schiffe, welche auf eine Sandbank gerathen sind und mit aller Mühe wieder flott zu werden suchen, vor Augen haben, wissentlich und absichtlich einem offenbaren blende entgegengehen? Zum Glücke ist dies nicht möglich. Der Grund und Boden ist kein Reichthum nach Art eines Etablissements, einer Fabrik, eines Hauses oder eines anoern speciellen Eigenthums; er ist vorzugsweise der Reichthum; wer ihn besitzt, der ist auch der Herr im Lande. ^) Und zwar ans dem Grunde, weil, wenn anch der Mensch nicht weise verfährt, der Grund und Boden dennoch die Hauptquelle seiner Subsisteuz uud der Befriedigung seiuer übrigen Bedürfnisse bleibt. Sowol der Mensch als der Staat ist nur dann selbständig, wenn der Grund und Boden die Hanpt-grundlage ihres Reichthums ausmacht. Es ist deshalb von 1) Alles dies habe ich mit eigenen Augen zu sehen Gelegenheit gehabt. Wer den Zustand des Landbaues und des Bauernstandes in England und Frankreich umständlich kennen lernen will, findet getreue und umständliche Mittheilungen hierüber in dem vorzüglichen Werke Von 3. Lavergne, ,,I^8Ul «xr I^cxinnmie rnrale c1'^„Z>!M,'i-i- oo33« et cle I'Ii'liln^«" (zweite Auflage, Paris 185><>). 2) Ich weiß, daß man mir zur Widerlegung dieser Behauptung als Beispiele die Hansestädte, Venedig und selbst Holland anführen wird, wo die Kaufleute die Herren im Staate waren und c« noch sind ^-allein konnten wol diese Staaten und können einige derselben anch jetzt noch als unabhängig gelten? Das Beispiel Hollands spricht sogar mehr für als gegen meine Meinung. Allerdings entspringen dort die Hanpt-einkünfte und Reichthümer nicht dem Boden; allein sobald dort ein Mann zu Reichthum gelangt, so sucht er sogleich Grundbesitz zu erwerben. Die Holländer, obgleich kein ackerbautreibendes Volt, haben dennoch das richtige Gefühl; sie suchen sich, wenn auch nur mit eineM Strcifchen Landes, die Theilnahme an dem zu sichern, was überall vorzugsweise den ReiHthum ausmacht. 79 großer Wichtigkeit, wie dcr Grundbesitz in der Gesellschaft vertheilt ist. Diese Vertheilung sowie die juridische Organisation des Grundbesitzes werden allerdings nach den Erfordernissen des Geistes, der Sitten und Neigungen eines jeden Volks bestimmt, allein dieselben haben auch ihrerseits wieder einen sehr mächtigen Einfluß auf deren Entwickelung. Das Shstem des Grundbesitzes theilt dem Staate seinen hervorstechenden Charakter mit, gibt seinen Handlungen die Hanpt-richtnng und entscheidet vieles in seinem Schicksale. So ist England infolge seines concentrirten Grundbesitzes ein vorzugsweise aristokratischer Staat, dem übrigens jetzt große Stürme von feiten des sich immer mehr »nd mehr in Enrofta befestigenden und an Ausdehnung gewinnenden Demokratismus bevorstehen, wenngleich derselbe noch lange, sehr lange dessen Andränge widersteht nnd seinem Princip treu bleibt. So lst Frankreiä', welches seinen Gruud und Boden iu sehr kleiue ^arcl.llcn getheilt hat'), nicht nur ein demokratischer, sondern s^gar ein ochlokratischer Staat; selbst die kleinen Gutsbesitzer h^ben, durch den persönlichen Besitz ;ersplittert, einen Theil d"' Macht verloren, welche der Grund und Boden seinem Besitzer verleiht; Frankreich mag Kaiscrthnm, Königreich oder Republik heißen, es werden in Wirklichkeit doch immer nur die untern Volksklasfen herrschen: entweder ein Despot, welcher l'ch ans die ungeheuere Majorität der klonen Grundeigentümer stützt, oder die rothe Nepnblik, welche dnrch das Proletariat der Städte getragen wird. Aber Stabilität, Freiheit, ^lchc und allgemeiner Wohlstand können in Frankreich nur vorübergehend, in Zwischcuräumeu, nach laugen innen, 1) Ich bitte ans meinen Worten nicht den Schluß zn ziehen, als ol' ^? nicht wüßte, dasi es in Frankreich anch große, gerade so wie es u, England kleine Besitzstände glbt. Ich spreche bicr von der Regel, nickt ^°" der Ansnahme. 80 Kämpfen, während schnell vorübergehender Friedensunterhand-lnngen existiren. — Jede Exclusivität ruft ihren Gegenfatz und folglich einen Kampf hervor; ein allgemeiner zuversichtlicher und bedeutsamer Fortschritt kanu aber nur durch Frieden und gutes Einvernehmen stattfinden, was nur wiederum bei einem vollkommenen Gleichgewichte der Nechie nnd Vortheile der verschiedenen Stände in allen Beziehungen nnd insbesondere hinsichtlich dessen möglich ist, was in einem Staate vorzugsweise den Reichthum ausmacht. — Was nun das System des Landbaues betrifft, so wird dasselbe in jedem Lande nicht allein durch die Erfordernisse der landwirtschaftlichen Wissenschaft, sondern auch durch die Organisation des Besitzes selbst, durch die Lebensweise der Bewohner sowie dnrch deren Sitten und Gebräuche bestimmt werden. Gerade dieser letzte Umstand wird von einigen Wirthschaftern nnd Nationalökonomcn außer Acht gelassen, indem sie den Menschen über der Sorge fiir seine Reichthümer vergessen; allein derselbe ist nichtsdestoweniger allgewaltig in seinen Wirkungen. Der Verfasser des von nns in Betracht gezogenen Aufsatzes hält das französische System des Besitzes und Bcbaucns von Grund und Boden nicht für vortheilhaft; er ist zwar entzückt über das englische Pächterwesen, allein er hält anch dies sowol wegen des Mangels an Kapitalien als auch insbesondere an speciell für die Bewirthschaftung größerer Pacht-gütcr gebildeten Venten für Rußland nicht anwendbar. Er stellt uus als Muster die Einrichtung Esthlands vor, nach welcher ciu Siebentel der Bevölkerung Wirthe und die übrigen sechs Siebentel Knechte sind; erstere nehmen von den Gutsherren die Läudereien in Pacht und dingcu die lctztern zu deren Bearbeitung. Er behauptet, daß die Gutsherren dadurch, daß sie es mit dcu bestcu und zuverlässigsten Bauern zu thuu haben, in ihren Einkünften gesichert sind, daß der Pächter sich wohl-befindet und daß auch die Arbeiter in ihrer Existenz gesichert 81 sind. Nir siud gern bereit, die Nichtigkeit der beiden ersten Behauptungen zuzugeben, können aber nicht umhin, die letztere stark zu bezweifeln. Nicht nur nach der logischen Schlußfolgerung und auf Gruud der Anssage von Leuten, welche erst in letzter Zeit diese Gegenden besucht haben, nehmen wir an, daß der Zustand der cslhländischen Vaucru uicht benei-deuswerth ist; souderu m dieser Meinung werden wir auch durch die Keuutnisfe selbst, die wir aus dem vorliegenden Anf-satze erworben, bestärkt. Der Verfasser gibt selbst zu, daß ln Esthland der Froudieust noch das vorzügliche Mittel ist, um sich der Verpflichtungen gcgcu deu Gutsherrn zu eutledi» Ru (S. 78), welcher das Nccht hat die liederlichen Arbeiter mit Arrest und Rutheustreicheu zu bestrafen; uud dies uach einem vierzigjährigen (1817—1857) Streben nach Befreiuug der Bauer«! Der Verfasser gesteht selbst, daß die Eschen arm, faul sind und uur schwer aus dem Zustaude der Fronbauern in den der Pächter übergehen. (S. 69.) Der Verfasser gibt zu, daß der Bauer, welcher kein Pächter ist, nicht Nt eiuem Hause wohnt, das er sein nennen kauu, daß er uicht allein mit seiner Familie ißt, nnd daß er als Knecht des Pachters sich in einer vollkommenen und beständigen Abhängigkeit von demselben befindet (S. 72). Wir ersehen gleichfalls aus diesem Aufsatze, daß die Baueru (ob Pächter ob Arbeiter? — ist nicht erklärt) sich in nnabzahlbaren Schulden dem Gutshcrru gegenüber befiuden (S. 97), und nach allem diesem versichert der Verfasser noch, daß die Lage der Arbeiter ebenso selbstäudig sei als die dcr Pächter? Nenn dies der Fall, so ist auch die Lage dcr Pächter nicht bencidenswcrth. Uebrigeus ist die schlechtere oder bessere Lage der esthländischen Bauern in dem vorliegenden Falle Nebensache; viel wichtiger ist die andere Frage, ob diese Eiurichlnug für unser Wesen anwendbar ist? Da ich keine hinlänglichen Kenntnisse über den Zustand dcr Bauern der ^stseeprovinzen 82 vor dem Jahre 1817 besitze, so kann ich nicht darüber urtheilen, inwieweit die gegenwärtige Organisation den Erfordernissen der frühern entspricht; ich kann aber kühn behaupten, daß sie unsern gegenwärtigen Bedürfnissen vollkommen entgegen ist. Würbe man unserm Baueru die Möglichkeit nehmen, mit seiner Familie nnter seinem eigenen Dache zu wohnen, so würde man ihn dnrch nichts dafür entschädigen können l); man würde ihn nur mit Mühe und durch An-wenbnng von Gewalt dazu vermögen können, sein Dorf zn verlassen und sich auf einem besondern Anwesen niederzulassen. ^) Ebenso schwer ist es, unsern Banern zn überreden, aus der Gemeinde auszutrcten, in welcher er geboren und aufgewachsen und in welcher er immer gelebt hat, wo er seine Blutsverwandten, seine Gevattersleute und Schwiegerältern hat, mit welchen er dnrch die Bande dcr Gewohnheit nnd herzlichen Anhänglichkeit verbunden ist; aber anf noch ungleich größere Schwierigkeiten würde mau stoßen, dem Bauern, welcher seit uudentlichen Zeiten anf seiner Scholle gewohnt und seit Iahryundcrten sein Land bebant hat, zuzmnnlhen, dasselbe jetzt zu verlassen nnd Gott weiß wo ein Stückchen Land zn pachten oder mit seiner Familie im Tagelohne zu arbeiten. Nein, eine solche Lage würde er entschieden nicht 1) Die Bauern halten die Aufnahme mtter das Hofgesinde besonders deshalb für ein großes Unglück, weil sie dadurch des eigeneu Domicils beraubt werden. Der Bauer eilt, sobald er sich mir mit seiner Familie etwas Geld erübrigt hat, in sein eigenes Haus zurück, deuu nur dort fühlt er sich zu Haufe. Der Soldat, welcher in seine Heimat zurückgekehrt, sucht vor allem sich ein eigenes Haus zu gründen. 2) Allerdings gibt eö Bauern, welche sich Grund und Boden erwerben, nnd sich dann daranf niederlassen; doch ist dies eine Ausnahme von der Regel. Zudem entschließen sich kaum verheirathete Leute zu solchen Uebersiedelungen, und die Mehrzahl der Banern hält das Weg' ziehen von ihren frühern Wohnsitzen für das größte Unglück. 83 für eine Verbesserung, sondern für eine Verschlimmernng seines Lebens halten und freiwillig nie darein willigen. Man legt uns keine Beispiele zum Studimn (was für uns boch allerdings wichtig, nützlich nnd sogar nothwendig wäre), sondern nnr Muster znr Nachahmnng vor. Ist es wol be-qnem, möglich und wünfchcnswerth für uns, einen solchen Vorschlag anzunehmen? In England, Frankreich, Deutschland und selbst in Esthland hat man diese nnd nicht eine andere Ordnnng des Grundbesitzes und der Landwirthschaft und zwar wahrscheinlich infolge der dort vorhandenen örtlichen und historischen Grundlagen, der dort herrschenden Lebensart, der Sitten, Gebräuche, Neigungen und Fähigkeiten des betreffenden Volks eingeführt. Sollte denn nicht auch etwas Aeynliches bei nns der Fall sein können und sollten wir uur eine tadula, i--,^ für die Experimente der Wissenschaft oder für die Verpflanzung eines vielhundertjährigen, auf einem ganz andern Boden gewachsenen Baumes abgeben? Wir denken nicht daran, und wagen nicht einmal anzunehmen, daß ein ähnlicher Gedanke in den Ueberzeugungen von Leuten Platzgreifcu könne, welche nur für das bestehende Aeußere einer mehr entwickelten nnd im Vergleiche mit uufcrer gegenwärtige» Lage bessern Cinrichtnng eingenommen sind. Haben wir denn nicht im eigenen Hanse nnd in nächster Nähe die Niittel zur befriedigenden Lösung der Frage, welche uus durch unsere gegenwärtigen Verhältnisse gestellt wird? Wer uuser Baueruwesen kennt, wer die verschiedenen Crscheinuugcu desselben kennt und richtig aufgefaßt hat, der wird gewiß nicht Zögern, auf diese Frage eine entschiedene Antwort zu geben. Der Grundbesitz und die Äearbeituug des Bodens befinden fich gegenwärtig bei uns iu den Händen der Gutsherren, ber Bauern, der Geistlichkeit, des Kaufmanns- nnd Bürgerstandes — es nehmen folglich mehr oder weniger alle Stände an demselben theil. Dieses Verhältniß ist äußerst vortheil- 6* 84 haft und soll als solches auch erhalten worden. Co ist hierbei nur nöthig, das bereits dnrch die Gewohnheit Festgesetzte gesetzlich zu begründen, mit Hülfe der Vernunft und der Gerechtigkeit auf jeue Verirrungen hinznweisen, wo das persönliche Interesse oder offene Gewalt sich Eingriffe erlaubt ha-beu; dies alles aber soll auf dem Wege freiwilligen Einvernehmens nud zwar dadurch zu Staude gebracht werden, das; mau die einen entschädigt und den audern hilft. Vieler Grund und Boden (ich glaube mehr als ein Dritttheil sämmtlicher großrussischer Güter) befindet sich dei uns iu Privalbesitz; dieses Verhältniß soll sclbstverstäudlich auch bcibrhalteu werden. Auf diesem Grund und Boden entwickeln sich eigentlich die Eigenthums- und Pächterwirthsämf-ten mit allen mögliche« Vervollkommnungen, hier werden vorzugsweise Versuche ansgcführt und sogar problematische Verbesserungen vorgenommen; hier finden bedeutende ^apitalicu eine sichere und vortheilhafte Aulage; hier entwickeln sich besonders die Kräfte desjenigen Standes, welcher die Pflicht hat und auch die Mittel besitzt, die andern au Bildung uud folglich an dem Streben zu jeglichen Verbesscruugeu zu übertreffen. Vieler Grnud und Äodcu (ich nehme an, daß derselbe ebenso viel oder vielleicht noch mehr ausmacht als der persönliche Besitz) befindet sich in der Gcmeindenutzuichung; an ihm haben nicht weniger als zwei Drittheik uuscrcr gau° ;en Bcvöltcruug theil, welche sich vorzugsweise mit der Agri-cultur beschäftigt, welche demselben sowol ihr tägliches Brot abgewiuut als auch ihren Haupterwerb aus demselben zieht, und welche mit ihrem Grund uud Äodeu durch Gewohnheiten, Sitten nud Gebräuche eug verwachsen ist. Es ist daher uur nothwendig, diese Nutzuießuug, oder besser gesagt, diesen dnrch die Gewohnheiten geheiligten Besitz durch das Gesetz zu bc-festigcu. So sollte es nach den Nnfordernugeu des eiufacheu gesunden Verstandes sein; leider aber sind uicht alle dieser 85 Meinung. Die Nationalökonomen, gelehrte wic nngelchrtt, welche Adam Smith, Say, Bastiat u. s. w. auswendig gelernt haben, Lente, welche von denselben kaum gehört und sie nnr dem Namen nach kennen, verlangen im Namen des Fortschritts die Anfhebung des Gemeindcgrundbesitzcs, als eines Ueberrestcs der Barbarei, als einer Gewohnheit, welche die fortschritte der Agricnltur hemmt, welche die Produktivität des Bodens vermindert, die Eutwickclnng der persönlichen Thätigkeit hindert, nnd bei nns der Dreifelderwirtschaft mit "llen ihren Anhängseln eine ewige Daner verschafft. Da ich den Gemeindebesitz in der That kenne, denselben m seinen verschiedenartigen Gestalten gcnan studirt habe und in demselben nichts Schädliches finde, sondern mich im Gegentheil von seinem Nutzen und seiner Nothwendigkeit überzeugt habe, so war ich schon lange entschlossen, einen Aufsatz znm Schlitze dieser nnserer nationalen Einrichtung zu schreiben, konnte aber trotz aller Mühe kein würdiges Angriffsobjcct finden. Ich habe alles gelesen, was man überhaupt nur über diesen Gegenstand lesen kann, habe aber nur Phrasen, Redensarten, unwahre Mittheilnngen über unser Baucrnwefen nnd abgeschriebene Auszüge alls westeuropäischen Schriftstellern gefunden, welche keine Gelegenheit hat-teu, diese Art des Besitzes gründlich kennen zn lernen. Allerdings h«t ein Fremder (Baron Harthausen) demselben vorzugsweise seine Aufmerksamkeit gewidmet, denselben gründlich stndirt nnd geschildert, abcr ich habe in seinem Werke mehr Gründe für den Gcmeindegrnndbesitz als Einwürfe gegen denselben gefunden, indem derselbe nicht gegen das Princip selbst, sondern nnr gegen einige Anwendungen desselben sich ausspricht. Wir wollen mm die Einwürfe betrachten, welche gegen den russischen Gemeindebesitz von der Nationalökonomie im 86 Namen der Wissenschaft gemacht werden, und als deren Repräsentant der bekannte Professor Bernadski erscheint. Was fand ich jedoch in denselben? Vom Katheder herab, im Namen der Wissenschaft^) verkündigte Axiome, westeuropäischen Schriftstellern entlehnt, welche den gemeinsamen Grundbesitz nicht gründlich stndirt nnd anch keine Gelegenheit hatten, denselben zn stndiren, — phantastische Beispiele, die 1) Ach diese unfehlbare und allwissende Wissenschaft! Wenn nur irgendeiner ihrer Hohenpriester ihr Glaubcnssymbol darstellen und irgendeine Synode von Gelehrten in kürzester Zeit ihre Heiligsprechung decretiren würde! Außer der Mathematik, als einer einfach formellen Wissenschaft, t'euuen wir bisjctzt keiue einzige Wissenschaft, deren Thesen in irgendeiner Zeit von ihren Anhängern einstimmig angenommen worden wären, und dennoch spricht fortwährend bald dieser bald jener in ihrem Namen. Ergeben sich neue Daten, so wird die Wissenschaft, als Analyse der bisher gewonnenen Facta, einer neue» Untersuchung unterworfen. Treten nene Fattoren anf, so muß die Wissenschaft als Syn-tesis der bicher gemachten Schlüsse von neuem ihre Urtheile einer Revision unterwerfen. Wann und wo gibt oder hat es wol eineu Verstand gegebeu, welcher irgendeinen Gegenstand unbedingt und vollkommen begriffen hätte? Die Menschheit besteht aus verschiedenen Völkern und Menschen; da nnu niemand mit einem unbedingten Verstande begabt ist, so betrachtet ein jeder die Natur (iu der weiteste» Bedeutung des Worts) von seiner Seite nnd nach seiucr Art, und trägt sein Scherflcin zu der allgemeinen Schatzkammer der Menschheit und dem allgemeinen Wissen bei; die allgemeine Wissenschaft aber schreitet fort und erweitert sich. Wer taun also im Namen der Wissenschaft oder gar der zeitweiligen Wissenschaft sprechen? Jeder Augenblick verändert ja ihr Wesen, ihre Grenzen, ihre Urtheile. — Dies ist gewiß eiufach uud deutlich und die Hiuweisung auf das Element der Volkstümlichkeit in der Wissenschaft hat und erregt auch jetzt noch so mauche Verwunderung und manchen Spott u. s. w.! Weudeu wir uns uun insbesondere zur Wissenschaft der Nationalökonomie uud fragen wir: ist wol der Gemcindcgrundbesitz in der Form, wie er bei uus cristirt, vou den westeuropäischen Oekono-misten betrachtet worden? Hat wol irgendeiner unserer nationalökono« mischen Erperimentenmacher, welche über dieses System des Besitzes ab" geurtheilt habcu, dasselbe iu der That gewissenhaft und in allen seinen Details studirt? 87 Uoch obendrein sehr unglücklich gewählt waren, und — Weiler mchts. So sagt z. B. der Herr Professor: „Angenommen, em Bauer, welcher ein Stück Land auf dem Gemeindercchte ^sitzt, hätte sich überzeugt, daß aus diesem Vodenantheil ein viel größerer Portheil erzielt werden könnte, wenn er den Lehm desselben zn Ziegeln oder Töpfen verwenden würde, statt aus demselben nur Futter für das Vieh zu pflanzen; Uehmen wir hierbei noch an, daß er dazu auch die nöthigen Kenntnisse und das nöthige Kapital besitzt. Kann er dies wol bei dem immerwährenden Vertheilen der Parcelien und öei dem Gemeindegruudbesitz in Ausführung bringen?" Selten, änßcrst selten befinden sich sowol in als außerhalb Nußlaud Zicgclhütten und Töpferwerkstätten anf dem Felde; wir wenigstens ist es noch nie vorgekommen, dies zu scheu. Wenn übrigens irgendjemaud der Gedauke käme, auf dem Uelde ein solches Werk anznlegcn, so würde ihm der Gemeindegrundbesitz hierin gewiß nicht hindernd in den Weg treten, ^s werden bei uns auf den Feldern Bieucugärten, Wind-wühlen u. s. w. angelegt, ohne daß irgendeine Gemeinde bei Vertheilung des Bodens den Eigenthümer nöthigt, dieselben zu entfernen. Im Gegentheil sichert sich der Bauer durch ^gliche Art von Bauten, ja sogar durch das erst vor knrzem vorgenommene Düngen deu Besitz seiucr Parccllc. Bei der ^erthei,lung des Bodens uutcrwerfen die Bauern das Grundstück, auf welchem irgendetwas gebaut oder welches erst vor kurzem gedüngt worden, in Berücksichtigung feines Werths einer zwei- und sogar dreifachen Verlosung, uud überlassen Wien solchen Strich Landes immer dem frühern Besitzer. Es ist dies keine bloße Annahme, sondern diese Thatsache wiederholt sich alltäglich, was erfahrene Landwirthe gewiß auch be-Ilatigen werden. Unfere Gemeinde ist eine lebendige Institution und hält sich in ihren Anordnuugeu nicht au den todten Buchstaben des streng formulirten Gefetzes, fondern an das 88 Gewissen, den gesunden Verstand nnd an die ihr vollkommen innewohnende Sachkenntniß. Ein weiteres Beispiel: „Der Nachbar desselben (d. h. deS vorausgehenden Ziegelbrenncrs oder Töpfers) ist ein sehr guter 3)ekonom, hat den Feit- nnd Kraftvcriust erkannt, der ihm dnrch das Hin- und Herfahren von einem entfernten Grundstücke zum andern verursacht wird, und die Unmöglichkeit eingesehen, cine regelmäßige Aufsicht über dieselben zu führen; er besitzt hinreichendes Kapital, um dieselben zu ar-roudiren oder die dazwischenliegenden Grundstücke znsammem zukaufen, wobei seine Wirthschaft pünktlicher und vortheilhafter betrieben werden könnte. Kann er dies in der Gemeinde thun?" Kommen aber bei dem Privatbesitze ähnliche Fälle nicht auch vor? Es ereignet sich sehr häufig, daß ein Nachbar das neben ihm liegende Grundstück zu kaufen wüuscht, dasselbe aber nicht feil ist. Doch genug, fast alle Beispiele sind vou dieser Art. Es ist keineswegs genügend, die Nationalökonomie nach fremden Werken studirt zn haben, um über die russische landwirthschaftliche suud vielleicht anch nationalökonomische) Frage aburtheilen zu können. Uebrigens wollen wir hier alle Beispiele anführen, in welchen Anklagen gegen den Gemeindebesitz gerichtet sind: Es sind darin die Einwürfe aller europäischen Gelehrteu vereinigt, von dcueu der Herr Professor uur das Echo ist. „Das Princip der Gemeiudebcuutzung von Grund und Boden enthält viele Seiten, welche in praktischer Beziehung als unbequem und unausführbar auerkaunt werden." Wir erlauben uns hier nnr die Frage.- von fremden oder russischen Nationalökonomcn, von fremden oder russischen Landwirthen? Wir wissen, daß sowol HaxHauseu als Tcngo-borski über diesen Gegenstand geschrieben haben; der erste hat den Gegenstand genau stndirt, während der zweite sich mehr 89 "uf,die Nachrichten und Schlußfolgerungen cmes preußischen weisenden stützt; aber bcide haben keineswegs so strenge über den Gemeindegrundbesitz geurthcilt. Unsere landwirtschaftlichen Schriftsteller, mit Ausnahme der Stubenagrononien, haben ebenfalls nicht uüt Steinen nach dieser allenthalben Angeführten, dnrch Jahrhunderte uns anerzogenen und mit unserm Volksleben enge verwachsenen Einrichtung geworfen. Wlc lami man in so hochmüthiger Weise mit voller Zuversicht und ohne alle Angaben der Autoren sich solch unbedingt ver-urtheilender Ausdrücke bedienen! „Nir beschränken uns", fährt der Herr Professor fort, „auf die hauptsächlichsten Seiten des Systems hinzuweifen, und überlassen es dem Leser, sich die Folgen in den verschiedenen einzelnen Fälleu uud Gelegenheiten zu eutwickelu. Bei dieser Darstellung lasseu wir die alljährliche Vcrtheilnng vou Grund uud Bodeu ganz beiseite. Wir werden suchen, das Ocmeindcprincip in Beziehung auf den Grundbesitz in seiner Einfachheit zu betrachten, weil nur dann uufere Folgerungen für alle Formen eines ähnlichen Besitzes Geltung erhalten; 1) entzieht das Gcmeindcpriucip des Bodengcnusses das ^echt der wirtschaftlichen Initiative dem einzelnen Individuum und trägt dasselbe auf die Gemeinde desselben über." Der Gemeindebesitz von Grund und Boden soll den Glic-dern der Gemeinde das Nccht entziehen, über ihre Wirthschaft zu verfügen, nnd soll es an letztere übertragen! Die Gemeinde soll sich zur Anordneriu der Arbeit machen! — Es wäre doch wünschenswerth zu wisscu, was für eine Gcmciudc der Herr Professor hier vor Augen hat? sicher uicht die rufsischc, denn Misere Gemeiuden verfügen nicht über die Arbeiten nnd behuben ihre Glieder durchaus nicht jener Initiative, wovon w diesem Punkte dic Rede ist. Doch Geduld! wir werden Noch andere Diuge zu hören bekommen! „Hauptordner der Arbeit wird nicht derjenige, welcher sich Z0 hierzu vor allem eignet und in der Sache der speciellen Production am meisten interessirt ist, sondern die Gemeinde, die Gemeindeversammlung, welche selten die für jeden Gegenstand nothwendigen speciellen Kenntnisse und einen umfassenden Blick besitzt." — Die Dorf-, d. h. die Banerngemeinde, soll nur selten landwirtschaftliche Kenntnisse besitzen. „Eine Aenderung in dem Wirthschaftssystem läßt sich deshalb bei dieser Einrichtung der Dinge nur daun erwarten, wenn sich in der Majorität, folglich bei sehr vielen Gemeindegliedern, richtige und rationelle Begriffe von der Wirthschaft entwickeln, was vielleicht erst nach Jahrhunderten der Fall sein dürfte. Es bedarf einer langen Zeit, bis die Bauern eines ganzen Bezirks oder Dorfes da;u kommen, die Nothwendigkeit einer Verbesserung ihres Viehstandes oder der Einführung des Fruchtwechselsystems zu erkennen, da auch nicht ein einziger aus ihnen die Resultate des einen oder des andern wirklich gesehen hat." Ich erlaube mir dem Herrn Nationalökonomen zu versichern, daß die Bauern jetzt schon diese Nothwendigkeit sehr gut einsehen und sehr gern ihre Stuten und Kühe zu den Hengsten und Ochsen veredelter Nassen führen. In Betreff des Fruchtwcchselsystems möchte aber die Schuld ganz wo anders zn suchen sein. Außer dem Gemeindebesitz gibt es bei uns auch emeu persöulichen Besitz, der mit einem guten Beispiel vorangehen sollte. Dies wäre seine vorzugsweise Bestimmnng, während der Gemeindebesitz mehr die übrigen Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen hätte! — „Sie werden sich noch bis zum Ende des Jahrhunderts an das gewohnte System der Dreifelderwirthschaft halten." Wahrscheinlich so lange, als die Dreifelderwirthschaft für sie das vortheilhaftefte Agricnltursystem ist. „Die vereinzelten Versuche der einzelnen werden deshalb nie von einem Erfolge gekrönt, weil das einzelne Individuum 91 entweder gar keine abgesonderte Parcelle zu Versuchen, Pro-ben u. s. w. besitzt oder dieselbe nur zeitweise und dabei nur unter den Bedingungen besitzt, welche ihm die Gemeinde auferlegt, die keiueu Begriff von den Forderuugeu eines andern als des allgemein angewendeten Systems hat." Wenn dieselbe diese Begriffe nicht hat — wen trifft dann die Schuld? Gewiß nur die persönlichen Besitzer. Wer ^ll, wenu nicht gerade diese, die Kenntnisse im Volke ver-breiteu? — „2) Selbst nützliche Veränderungen können wegen Mangel an Mustern nicht leicht verbreitet werden — letztere aber können sich ans dem einfachen Grunde nicht bilden, weil mög-l'cherweise eine Ausgleichung nnter den Gcmemdegliederu in der Nuhuicßung des ihnen nicht eigenthümlich gehörenden Grundes und Bodens stattfinden kauu." — Hierauf mnß ich noch einmal die bereits oben gestellte ^"rage wiederholen — gibt es denn bei uns nnr Gemeinde-besitzer? „Es ist noch ein Glück für eine solche Gemeinde, wenn sich neben ihr ciu Privatgruudbesitz befiudet; allein dies ist nicht allenthalben der Fall und ist kein Beweis für die Portrefflichkeit des Gemeindebesitzes." Es ist in der That schade, daß der Gemcindegrundbesitz nicht alieu möglichen Anfordernngen nnd selbst denjenigen nicht entspricht, welche vernünftigerweise an denselben gar nicht gestellt werden können. „Alle landwirthschaftlichen Verbesserungen werden im Pri-datbcsw uuteruommeu, uud dies ist deshalb anch vollkommen natürlich, weil 3) die Gemeinde das Interesse au ihreu eigenen Angelegenheiten und Unternehmungen bei ihren Mitgliedern vermindert." Wir begannen uuserer Absicht gemäß über den Gemeinde- 92 grundbesitz zu sprechen und sind mm auf die Gemeinde im allgemeinen und auf die Leistungen der Gemeinde insbesondere übergegangen! Aber welche Gemeinde vermindert das Interesse ihrer Mitglieder an ihren Angelegenheiten? Nahrscheiü' lich diejenige, welche den dnrch die Arbeit gewonnenen Verdienst unter die Betheiligten auf gleiche Weise vertheilt. Aber verfährt etwa nnsere Landgemeinde auf diese Weise? Keineswegs. „Ganz gleich", entgegncte Michel Chevalier dem Louis Btanc, „woher sollten wir denn sonst unsere eigenen Einwendungen hernehmen." „Nur dort kanu ein Unternehmen mit hinlänglicher Energie und mit Erfolg ausgeführt werben, wo das Individuum auf seine eigene Gefahr hin und fnr seinen eigenen Nutzen handelt; erstere veranlaßt ihn, sich möglichst vor Verlusten und Ausgaben zu sicheru, und der zweite treibt ihn an, den möglichst größten Vortheil daraus zu ziehen. Beide Antriebe können in der Gemeinde nicht cristircn, nnd daraus erklärt es sich, warum die Gemeinde die Energie iu dem Individuum erstickt. In landwirthschaftlicher Beziehung ist dies eine Wahrheit, gegen welche gar keine Einwendnng erhoben werden kann." Dies bleibt in landwirthschastlicher wie in andern Beziehungen eine Wahrheit, nnr schade, daß sie mit dem Gemeinde-grundbesitz gar nickls zu schaffeu hat; denn allen i mit Ausnahme derjenigen, welche die Gemeinde um jeden Preis zn tadeln snchen) ist es bekannt, daß sich unsere Vauerngemeiude in die Privatunternehmungen ihrer Glieder nicht einmischt. — „4) Eiue gemeinsame Anordnung wird gewöhnlich dnrch verschiedene nnd häufig entgegengesetzte Ansichten der Gc-mcindeglieder, beengt und verlaugt nothwcndigerweisc voraus-gehende Berathungen, Versammlungen u. s. w., was in Sachen der Vandwirthschaft hänfig unmöglich ist, da dieselbe Schnelligkeit in der Ausführung verlangt, um deu zufällig fallenden 93 ^kgen oder die sich unterdessen vermindert habcnvc Nachlege zu benutzen n. s. w. Ueberdies kann der Mangel persönliche Verantwortlichkeit leicht zn vielen der Landwirthschaft schädlichen Schritten verleiten. Die Fahrlässigkeit ist die nächste 3'olge einer fiir persönliche Interessen unverantwortlichen Stellung; aber außerdem können hierbei sehr leicht Misbräuche, Leidenschaftlichkeit in der Vertheilung der Arbeiten nnd sonstige Unredlichkeiten znm Vorschein kommen. Und die Fanlheit, dic->^ ^ieblingskind einer solchen Einrichtung, wie viel kann dieselbe dem Gelingen der Anordnungen nickt schaden!"— Wie aber kann man einen Gegenstand besprechen, wenn man völ-l'g auf einen andern übergeht? Es fällt Negen und die Ge-lneinde soll sich versammeln, um darüber zu berathen, ob wan pflügen solle oder nicht. Offenbar hat Herr Beruadsti nie unsere Gemeinde gesehen, sonst würde er doch etwas Vernünftigeres zu sagen gehabt haben. „5) Die Äenutznng des Gemeindebodens vereinigt wol bie arbeitenden Individuen, aber nicht die Arbeitskräfte, und Macht dadurch mic richtige Vertheilung der Beschäftigung und bn Arbeit unmöglich, indem sie die Thätigkeit aller durch külc einzige Art von Beschäftigung bindet; ein jedes Gemeinde-3^eb muß den Boden bcbaueu, obgleich ihm, falls er einen Möglichen Ersatz hierfür in einer andern Erwerbsart findet, hierdurch ein directcr und häufig unersetzlicher Verlust zugefügt wird." Schon wieder eine neue Anforderung, welcher der Ge-'Neindegrundbesitz nicht entspricht! — Wir hätten geglanbt, ^"ß man aus der Bauerngemeinde wie ans jeder andern ans-lreten könne, sobald man die hiermit verknüpften Bedingungen knüllt hat; allein Herr Bcruadski versichert, daß der Gemeindebesitz diesem ein unübcrsteigliches Hinderniß entgegcn-setzt. Nach seinen Worten muß der Bauer das Feld bebauen, ^enn er sich auch anderweit das Doppelte verdienen könnte. 94 Es wäre nicht schlecht, dies den Krön- nnd gutsherrlichcn Bauern zu erklären, welche ohne Kenntniß dieser Ncgel dieselbe beständig verletzen. Wenn man etwas tadeln will, so muß man doch vorher die Sache nnd wenn auch nur oberflächlich kennen. „6) Der Gcmcindegrundbesitz hindert die Ansammlung des Kapitals, weil er dasselbe in der Form von Geräthschaften, von Vieh n. s< w. von einem Platz und einem Grundstück zum andern überträgt und demselben dadurch Schaden nnd Nachtheile znfügt: der Pflug, welcher für ein Land tangt, taugt vielleicht uicht für ein anderes, die Pumpe, welche bei einem frühern Grundstücke nothwendig war, ist bei dem andern überflüssig n. s. w. Es kann eine gan; andere Art des Düngers und folglich anch des Viehstandes nothwendig werden. Und dies alles, die Beurtheilung und Entscheidung allcr dieser complicirteu und verwickelten Fragen, ist der Sorgfalt, der Controle nnd der Direction der Gemelndegewalt unterstellt, welche gewöhnlich von Dingen dieser Art wegen ihrer rein speciellen Natur nnr wenig versteht. Uebrigens kann das Kapital bei dieser Ordnung der Dinge schon deshalb nicht bedeutend anwachsen, weil bei dem Gemeindesystem alle Betriebsarten, welche dasselbe vergrößern, namentlich die manchmal wohlthätig einwirkende Güterspeculation an nnd für sich wegfällt." Kaum begreiflich. Auf eiuem nnd demselben Gute sollte der Pflug anweudbar und nicht anwendbar sein, die Pumpe (ein sehr thenerer nnd auf den Feldern äußerst nothwendiger Gegenstand) sollte.einem andern überflüssig erscheinen? Man hatte bisher Hornvieh, und für eine andere Dessiatine oder halbe Dessiatine sollte kleines Vieh nöthig sein u. s. w.? O der mit Weisheit erfüllten Wissenschaft! Aber ganz besonders weise ist doch derjenige, welcher über Landwirthschaft spricht, ohne auch nur die nothwendigsten Elemcntarkenntnisfe derselben zu besitzen! 95 Warum sollte man auch uicht darin übereinstimmen, daß ber Gemeindegrundbesitz eine armselige Sache sei? Die Ge-lneinbe versteht nichts von der Agricultur, nrtheilt nnd verordnet aber dennoch darüber, mit welchem Pfluge man pflü-3en, was für einen Dünger man anwenden müsse n. s. w. ^s wäre doch interessant zu wissen, in welches Herren Vand Herr Bernadski denn eigentlich diese Gemeinde gefunden hat, Welche so complicirte nnd verwickelte Fragen verhandelt und entscheidet. Wir haben viele Gemeinden gesehen, welche ihren Verrichtungen nachgingen, aber etwas Achnlichcs haben wir lüe entdeckt. Wir hoffen, Herr Bernadsti wird uns nut bieser sorgsamen (obgleich in keinem Falle russischen) Gemeinde näher bekannt machen. „7) Die Gemeinde schwächt die Arbeit, indem sie eine Und dieselbe Vergütnng für ungleichartige Dienste gibt und "lcht das Maß der Anstrengung nnd des Kraftverlustcs, son-^rn das Maß der Bedürfnisse der einzelnen Individuen, svwol der arbeitsfähigen als der arbeitsunfähigen vor Augen hnt. Es ist natürlich, daß jedes Gemeindeglied deshalb so Wenig als möglich thun, aber soviel als möglich zu erhalten 'Ucht und die Arbeit einem andern zuschiebt. Wie eiu Äall Wird dieselbe von einem zum audcru geworfen, nnd der letzte, kni es nicht gelang, sie zurückzustoßen, sucht sie so schlecht ^ möglich zu vollenden, um nicht einc nene Arbeit übernehmen zu müssen. Ein jeder gewissenhafte Arbeiter ist ein '"cärtyrer in der Gemeinde, ist der Sünbenbock für die Menge kr Faulenzer und Tagediebe, welche sich die Mängel der Sammelorganisation zu Nntzc machen. Einc Gemeindcarbeit ""d im allgemeinen oberflächlich nnd nachlässig verrichtet nnd 'Hasst nie rin vollständiges Rcsnltat. Oft wird mehr Zeit ^geudet, als eine Arbeit gerade in Anspruch nimmt, nnd ^ ganze Thätigkeit einer solchen Gemeinde trägt einen gc-^lkn Charakter der Schläfrigkeit nnd eine Art Fänlnisi an 96 sich, welche der menschlichen Natur und der Würde eines ordentlichen Volks entgegen ist. Und dies beschränkt sich obendrein nicht nnr ans die materielle Produktivität, es dringt auch iu die geistige und moralische Sphäre ein." Welche Vergütung gewährt aber die Gemeinde ihren Gliedern? Welche Dienste werden ihr von denselben erwiesen? Was heißt dies? Bezicht sich vielleicht auch dies auf den Gemeindegrnndbesitz? Dieser ganze Paragraph ist gleichsam ans Versehen ans den Cinwendnngen gegen die Saint-Simo-nisten, Louis Blanc u. a. genommen. Schade, daß Herr Aernadski es nicht bemerkt hat, daß der Abschreiber oder Uebersetzer mehr Stellen aus den Oekonomisten herausnahm, als eigentlich unterstrichen wareu, sonst würde er dieseu Ein-wurf gewiß weggelassen haben, denn als Professor der Nationalökonomie mnß er doch wissen, daß die Gemeinde bei uns Grund nnd Boden nicht in der Form einer Vergütung gibt, sondern blos deshalb, weil alle Banern Mitbesitzer sind, daß bei nns ein Gemcind^glied keine Gelegenheit hat, möglichst wenig zu lhuu uud möglichst viel zn erhalten. — Wenn dieser Paragraph anch gar nicht zur Sache paßt, so ist er doch wenigstens änßerst hübsch, denn es ist darin von „einem Ball, welcher von dem einen zum andern geworfen wird", und von einem „Snndenbockc sowie von Fanlenzern und Tagedieben" u. s. w. die Rede. Ich begreife, wie sehr es schade gewesen wäre, diese blumenreiche Stelle zn uutcrdrücken, obgleich er besser gethan hätte, den Lenten hierdurch nicht Veranlassung zum Lachen zu geben. „8) Die Gemeinde hindert sogar die Entwickelung der Kennwisse, weil dieselben bei der materiellen Sicherstellung der Glieder der Gemeinde nicht nothwendig sind." Wir waren bisher der Mcinnng, daß die Gemeinde gerade im- Gegentheil den Menschen entwickelt, nnd schrieben den Stumpfsinn nnd dic geringe Bildnngsstnfe der französisch^ 97 Bauern dem Mangel an Gemeinwesen unter ihnen zn; Herr Veruadsti sucht uns vom Gegentheil zu überzeugen. Uebri-3cno scheint sich dies nicht auf die russische Gemeinde zu bethen, denn sie gibt blos den Grund und Boden, ohne ihre Glieder durch Austheilung beständiger Unterstützungen mate-^lell sicher zu stellen, wovon in dem vorhergehenden Pnnkte die ^ede geweseu. Allerdings hilft auch die russische Gemeinde dem kranken nud Hülfloseu, aber welche Gcmciude in England uud Frankreich thut dies uicht ebenso? Es ist augenscheinlich, daß auch dieser Puutt sich nicht auf den Gemeinde-Grundbesitz bezieht. „9) Die Folge von allem diesem ist, daß bei soust vollkommen gleichen Verhältnisen die Produttion iu der Gemeinde-Wirthschaft der Masse der Production in dcr Einzelwirthschaft nachsteyt." Endlich haben wir doch einmal auch etwas Vernünftiges zu widerlegen. Wir werden dasselbe später am Schlüsse des Aufsatzes weiter in Betracht ziehen. „ 10) Auch geschieht überdies selbst die Verthcilung dessen' was producirt werden soll, uicht auf normale Weise; sie steht mit der Arbeit der einzelnen Iudividueu oder deren eigenem Willen nicht im Einklang. Von dcr geringen Production sucht man allen wenigstens das Minimum des Unterhalts zu schern, worauö dann Gleichgültigkeit uud Sorglosigkeit eut-steht, uud gerade dies sind die hervorstechenden Eharakterzüge bn größten Anzahl der Gcmcindeglicdcr." Wiederum sind wir ans die oi-^ni^ntion än t^vnil, auf dle Doctrin Saiut-Simon's gestoßen. Erzengt denn die russische Gemeinde beständig alles gemeinschaftlich? Was ist das sü'r eine nicht normale Weise, welche mit dcr Arbeit des In-dlviduums die Vertheilung dessen, was producirt werden soll, uicht in Einklang bringt? Wollen Sie doch nicht vergessen, baß wir die mögliche, wirklich cxistircndc rnssische Gemeinde 38 im Auge habe» und nur über den Gemeinbegrundbcsitz zl> sprechen beabsichtigten. „11) In der vollen Ueberzeugung, doch nicht Hungers z" sterben, lassen viele jede Sorge um den folgenden Tag beiseite und kümmern sich nicht um den kommenden Morgen. Dadnrch wurzelt die Fanlheit ein, welche, die Macht der Gewohnheit annehmend, sich von Geschlecht zn Geschlecht fortpflanzt und zu vielen Mängeln Veranlassung gibt." Die Bauern erhalten bei dem Gcmeindegrnndbesitz Grundstücke, welche sie mit eigenen Händen bebauen müssen. Wie reimt sich dies mm mit der Einwendung des Herrn Ber-nadski? Augenscheinlich schreibt der Herr Professor wiederum vollkommen von Michel Chevalier und andcru Oekonomisten ab, welche Louis Blanc und Compagnie widerlegen. ,,12) Die Mängel dieses Systems äußern sich insbesondere in vor Consumtiou, welche bei der Gemeiudeorganisatiou uicht befriedigen kanu. Diese Eonsnmlwn, welche gewöhnlich durch einen gewissen Antheil an der Gemeinde gesichert ist, wird geradezu verschwenderisch. Gewohnt zu ernten, wo man nicht gesäct, und ohne Kenntniß des Zusammenhangs der Gemeinde-mittcl mit der Arbeit des einzelnen, gewinnt ein jeder für sich die Ueberzeugung, daß die «Kasse» reich ist, und sieht nicht ihr Eigenthum als das Eigenthum der Gemeinde au, welches erhalten und geschont werden muß. Hierans entsteht ein Beraubungssystcm, welcheo nur iu dem oou uns geschilderten Bewirthschaftungssystem vorkommen kann. Außerdem wird das Gemeiudeglied, welches gesnndeu Verstand besitzt, selbst in der Menge dessen, was es zu consniniren hat, nnd in der Wahl der Gegenstände unökonomisch. In dem Bewußtsein, daß ihm immer das Gemeindemagazin uud die Tasche seiuer Gemeinde offen steht, uud daß, wenn nicht er, so doch ein anderer von dem Rechte Gebrauch macht, beeilt sich das Gemeindeglied, alle seine Vorräthe aufzuzehren, nm wenigstens 99 ben Antheil an seiner Einlage heransznbekommen. Die Con-sumtion wird anf künstliche Weise gesteigert, während die Production zurückgeht, nnd nebenbei wendet sich bei einer solchen Ordnung der Dinge diese Eonsnmtion gewöhnlich vorübergehenden, leicht verschwindenden Gegenständen, wie dem Trinken und der Kleidnng n. s. w., zu, weil der Gcmeinde-grundbesitz den einzelnen Individuen auf ihrem Grund nnd Boden nichts Dauerndes nnd Bleibendes — anßer einem Grabstein gestattet." Wiedernm eine Stelle ans Michel Chevalier u. a. In dieser ganzen langen Entgegnung erwähnt Herr Bernadski bie russische Gemeinde nicht, nnd noch viel weniger den rns-fischen Gemeindegrundbesitz, von loelchem doch nur allein die Nebe sein sollte. „Uy muß die Gemcindceinrichtnng nothwendig die Freiheit der Bewegung nnd der Uebersiedeluug von einem Orte an einen andern beeinträchtigen; ein jedes Glied derselben Muß ein gezwungener Bauer sein nnd die Verpflichtungen seiner Mitgeuossen mittragen helfen/' Diese Einwendung ist beinahe identisch mit der Einwendung unter Nr. 8, und unsere Antwort unter Nr. 15 steht hiermit in dircctcr Beziehung. Wie ist also die russische Gemeinde? Sie ist ein wahres Galercnleben, und dennoch lieben sie die unvernünftigen Banern! Sonderbarer Geschmack! „14) Gerade so macht auch diese Organisation des Besitzes den freien Nebergang der Grundstücke von einer Hand Zur andern unmöglich, was doch in' vielen Fällen für die Wirthschaft selbst als nothwendig erscheint." Die englischen Agronomen halten es für eiuen Hauptgrund des Fortschritts ihrer Agricultur, daß das Grundeigenthum bei ihnen fast beständig in denselben Händen verbleibt, ^ir russischen Landwirthe halten das zweimalige oder dreimalige Uebergeheu des Besitzthums von eincm Besitzer zum 100 andern für einen wahren Ruin; Herr Bcrnadski aber ist vollkommen der entgegengesetzten Meinung. Wie ist dies möglich? Sollte er sich etwa nicht geirrt haben? Sollte er etwa an das Geld gedacht haben, als er den Anfang dieses Ein-wurfs schrieb? Denn je mehr das Geld in Berkehr kommt, desto größern Nutzen bringt es dem Staate ein; der Grund nnd Boden aber gibt bei dem Hin- und Herverkaufe ganz entgegengesetzte Resultate. — „Fast eine jede Production verlangt Grundstücke von verschiedener Ausdehnung, ebenso wie jeder Versuch einer Production. Das Grundstück, welches für eineu Hopfengarten oder für einen Hanfacker genügt, ist für eine Runkelrüben-pflanznng zu klein; die Maschinenwirthfchaft, die Anwendung des Dampfpflugs, der Dreschmaschine u. s. w. erfordert, mn sich zu rentiren, ebenfalls große Grundstücke." Wie sollte man sich über die agronomische Gelehrsamkeit des Herrn Bernadski nicht wundernI Nur schade, daß sie nicht zu gelegener Zeit gekommen ist: die Nmikelrübenpflan-zung — entschuldigen Sie, man säet die Runkelrübe gewöhnlich, aber man pflanzt sie nicht; über den Dampfpflug stellt man wol Versuche an und schreibt auch in den Zeitungen darüber, allein in der Wirthschaft wird derselbe bisjeht noch nirgends angewendet, und ich bin erst in diesem ^ahre mit englischen und belgischen Landwirthcn zusammengetroffen, welche mir diese Thatsache bestätigten. „Ferner hält sich der Gemeindeboden entweder au Grundstücke von gleicher Ausdehnung oder er vermindert dieselben beständig infolge der Zunahme der Bevölkerung; allein dieselben Grundstücke, welche in früherer Zeit normal waren, werden später zu einer vollkommenen Absurdität, und die sich vermmderuden Parcellen führen gerade fo zum Pauperismus wie der Kleinbesitz." Nun dies hat doch endlich einmal auf die eigentliche 101 ^ache, d. h. auf den Gcmeindegrundbesitz Bezug. Wenn ^urch ein besetz bestimmt wäre, daß die Zahl der Parcellcn unverändert bleibe — oder daß der Grund und Boden bis ln das Unendliche, d. h. nach Maßgabe der vorhandenen See-^n oder Fronbauern vertheilt werden sollte, so wäre die Ein-Wcndnng des Herrn Bcrnadski von Gewicht. Zmn Glück ut aber in der russischen Gemeinde weder die eine noch die andere Unbequemlichkeit ;u finden. Dieselbe ist durchaus uicht durck eine formelle Perordnung gebunden; wenn es sich als vortheilhaft erweist, eine gewisse Zahl von Parccllcu beizufügen, so fügt sie dieselben bei; wcnu es uicht als vortheil-^aft oder thuulicb erscheint, dieselben ;u vcrmindcru, so behalt sio immer ein uud dieselbe Anzahl bei, und die nber-^üssigcn Veute gehen cnNvedcr einem andern Verdienste nach oder siedeln in eine andere Gemeinde über (versteht sich, wenn bie Landcsgcsetze dieses nicht verbieten). „Wenn man aber alles Ucbcrfiüssigc einer gleichen Theilung unterwirft, heißt dies uicht die Lasten in ein ungleiches Verhältniß zur Arbeitstraft bringen? Wir sprechen hier nicht bou den Mitteln, welche man an einigen Orten in Anwendung gebracht hat, um dieses Miöverhältniß zn vermeideu. Diese Mittel wurden nicht ans dem Gemcindcprincip, souderu aus dem Bereiche privatwirthsck'aftlicker Berechnungen gc-twnunen nnd gehören deshalb nicht in unsere Betrachtung." „15) Es versteht sich von selbst, daß der Absatz der Pro-bucte dadurch vermindert und beschränkt wird." Wir verstehen uicht, wie der Gemeindebesitz (denn dies ist ^och eine der Einwendungen gegen denselben), den Absatz der Zeugnisse beschränkt? „Denn wenn das Gemeindeglied auch uur bisweilen sei-ueu Lebensunterhalt von der Gemeinde erhalten muß, so muß ble Gemeinde nothwendig mit ihren Vorrcithen sparsam nm- 102 gehen und kann dann in Zeiten der Theuerung ihrer Nachbargemeinde keine Hülfe leisten." Den Sinn dieses Theiles der Einwendung verstehen wir noch weniger. „Denn nur bei dem Privateigenthum und bei einer per' sönlichen Verantwortlichkeit gegen sich allein kann man sich ;u einem hohen Preise beim Einkaufe entschließen oder sein ganzes Getreide losschlagen, ohne für Vorräthe zu sorgen n. s. w. Die Gemeinde aber kann und darf dies nicht thun und der Handel und mit demselben alle seine guten Folgen müßten zu Grunde gehen, wenn dieser Grundsatz allenthalben in An' Wendung gebracht würde." Jetzt endlich beginnen wir den Gedanken des Herrn Aer-nadski zu errathen; er bildet sich ein, daß sich die Gemeinde in alle Privatangelegenheiten ihrer Glieder mische, daß keines derselben etwas ohne ihre Erlaubniß verkaufen dürfe, nnd daß sie die Verkäufe entweder gestatte oder verbiete. Woher haben Sie aber diese Kenntnisse entnommen? Weder bei den Krön- noch, bei den gutsherrlichen Gemeinden hat je eine solche Ordnung stattgefunden. Es mag wol vorkommen, daß der Gutsherr eines Bezirks oder sonst ein sorgsamer Guts^ Herr zur Ermittelung der Rückstände eine mit ihrer Annahme übereinstimmende Anordnnng trifft; allein die Gemeinde nimmt an solchen Operationen gar keinen Antheil. Warum also deshalb die Gemeinde und sogar den Gemeindegrunbbesitz anklagen? Eine ähnliche Anordnnng könnte ebenso gut auch von einer städtischen Gemeinde getroffen werden. „Der Absatz einer jeden Gemeinde wird entweder gleich Nnll sein oder nimmt eine abnorme Richtung. Das erstere wird dann der Fall sein, wenn die Gemeinde ihren Gliedern das Recht des Verkaufs entzieht: sie muß alles für sich, fin' harte Zeiten aufbewahren. Das zweite, wenn dieses Recht den einzelnen Individuen überlassen bleibt, — denn warum 103 sollte Iwan sein Getreide aufbewahren, wenn er für dasselbe sich ein Schnäpslein verschaffen kann? Denn die Gemeinde "Wh ihn ja ernähren nnd Hungers stirbt er nicht. Deshalb füllen sich nach der Ernte so schnell die l^etreidemärkte, die Preise fallen, aber dann tritt hierfür nicht selten Mangel nnd Hungersnoth ein und das Land befindet sich in einer ewigen Krisis." Wo ist dies anögesvrochen? Woher ist eine solche Voraussetzung genommen? In Krondörfern hilft im Falle einer Mis-Mite oder eines andern Unglücks die Negierung; in den guts-hcrrlichen Dörfern müssen die Gutsherren aus den Porraths-"der ihren eigenen Magazinen helfen; auch die Gemeinde hilft ihren Gliedern, aber uach ihrem eigenen freiwilligen Ermessen; es kann deshalb niemand ans eine ^cmeindehülfe unbedingt rechnen; wenn die vieläugige Gemeiude sicht, daß eiu Meusch wirklich im Elende sich befindet, daß derselbe uicht aus eigenem Verschnldcn, uicht aus Faulheit oder Trunkenheit in dasselbe gerathen ist, so sagt sich dieselbe gewiß nicht von der Hülfe los; im entgegengesetzten Fallc würde das Gemcinde-glied weder etwas zu verlangen, uoch in der Gemeindever-sannnlnng hiervon auch nnr ein Wort zu sprechen wagen. „Außerdem aber gibt es noch andere Folgen des Gemeindesystems, welche mit dem Wohlstande der Masse der Bevölkerung als nicht im Einklänge stehend betrachtet werden können, benn es hält 16) bei der wahrscheinlichen Sicherheit des Unterhalts für ein jedes Glied der Gemeinde dieses Glied es nicht für seine Pflicht, die (^rößc seiner Familie mit den Nahrungsmitteln in em gleiches Verhältniß zn bringen." Die nämliche Einwendung, nur mil andern Worten, auf selche wir in den vorausgehenden Widerlcgnngeu bereits geantwortet haben. >>icr ist nur eiu wirtlich besteheudes Factum angefügt: in einigen Bergwerken vergrößern sich nämlich bei der Vermehrung der Familie auch die Rationen. Allein 104 was hat die Gemeinde, die russische Gemeinde, der Gememde-grnndbesitz mit dieser Anordnung des Bergwesens zu thun? Selbstverständlich gar nichts, denn sie ist immer noch viel besser daran. Dieser Einwurf ist vollständig ans westeuropäischen Schriftstellern entnommen, welche Louis Blanc und andere ;u widerlegen suchten; durch Hiuzufiigung dieser russischen Thatsache wird diese Einwendung gleichsam zu seiner eigenen, zn einer rnssischen, die noch obendrein ans eine Thatsache sich gründet. „Die Zulagen in der Form einer Ration Mehl (wie z. B. in cinigm unserer Bergwerke) geben den Arbeitern sogar noch Veranlassung, sich sobald als möglich zu verheiratheu uud Kiuder zn erzeugen, während doch die Mittel der Gemeinde beständig die nämlichen bleiben, wenn die einzelnen Individuen nicht zn einer andern Beschäftigung außerhalb des Ackerbaues ihre Zuflucht nehmen. Auf diese Weise bringt einerseits der sich immer gleich bleibende Znstand iu der Production der Nahrungsmittel und andererseits -^ die künstliche Aufmunterung zur Vermehrung der Bevölkerung, die bei der frühern Masse der Nahrungsmittel nicht möglich ist — eine ansierordcntliche Sterblichkeit vorzugsweise im jugendlichen Alter hervor und bürdet hier und da den Leuten Pflichten ans, welche sie vielleicht nicht zu tragen gewüuscht hatten." Und an allem diesem soll der Gemeindegrundbesitz die Schuld tragen? „Alle diese Unbequemlichkeiten geheu selbstverständlich nicht allein ans dcr alljährlichen Verthciluug von Grund nnd Boden hervor, sondern sie entspringen ans dem Princip der Gemeindewirthschaft oder des Gemeindegrundbesitzes selbst. Man kann dieselben auf keine andere Weise entfernen, als dnrch die Entfernung des Princips, soweit dies eben in einer gegebeneu Gemeinde möglich ist, weil einige Antheile derselben iu der Form von Gemeinde^ oder Familiennutznicßuugcn. in der Form 105 von Gemeindeweideu, Oemeiudegärtcn, Parken, Wäldern n.s. w., m einer wohlgeordneten Gesollschaft verbleiben müssen. Die Wirkung der Gememdewirthschaft muß darin nothwendig vorwalten, und zwar als ein natürlicher Gegensatz, als eine organische Vervollständigung des Privatvermögeus. Nach meiner Mcinnng ist deshalb der Gemeindegrnndbesitz oder die Gemeiudenutznießung von Grnnd nnd Boden aller Nrt der gemeinschaftlichen Nutznießung die wenigst rationelle, was schon dadurch bewiesen wird, daß dieselbe mit der Entwickelung der Bedürfnisse und der Bildnng allenthalben erlosch. Als das Werkzeug der Production — wir haben dirs bereits Weiter oben ausgedrückt — ist der Gruud und Boden für eine gemeinschaftliche Nntzuießuug weniger geeignet als irgendein anderes ökonomisches Element. Viel bequemer kaun man gemeinschaftlich arbeiten, gemeinschaftlich Handels- und Iudustrie-Meige betreiben, als gemeinsam Grnnd nnd Boden besitzen." Dies ist der Anklageact, welcher von Herrn Vernadski gegen den gemeiuschaftlicheu Grundbesitz gerichtet ist. Es ist nicht möglich, alle Gegenbeweise des Herrn Ber-uadski zn widerlegen, denn der,größte Theil derselben bezieht slch, wie wir gesehen, nicht ans den Gegenstand, dcu wir unserer Beurtheilung unterzogen haben; vou den übrigen sind einige nnr Wiederholungen des in vorausgehenden Pnukten bernts Gesagten, andere dagegen so wenig begründet, daß nach unsern kurzen gegen dieselben gerichteten Bemerkungen uicbts wehr von denselben übrig blieb. Bei der Betrachtung aller sechzehn Auklagepnnkte überzeugt mau sich leicht, daß im gan-M nur drei wesentliche Einwendungen gegen den Gemeinde-grundbesitz übrig bleiben: 1) der Gcmeindcgruudbesitz hindert sowol die Einführung von.Verbesserungen in der ^andwirthschafi als auch die Anstellung vou Versuchen, welche die Vervollkommnung derselben zum Zwecke haben; 106 2) übt derselbe eine nachtheilige Wirkung anf die Pro-dnetivität des Bodens ans, nnd zwar sowol weil die nothwendigen Verbesserungen nicht in der Wirthschaft eingeführt werden, als anch weil man in kleinerm Maßstabe den Voden nicht fo vortheilhaft bearbeiten kann, nnd endlich 3) kettet er die Menschen an den Ort des Besitzes nnd hindert dieselben, sich einer Beschäftigung znznwcndcn, bei welcher sie mehr Geld verdienen könnten. Betrachten wir nun diese Einwendungen der Reihe nach: Man muß zugestehen, daß der persönliche Grundbesitz der Einführung verschiedener Vcrbessernngen in der ^andwirthsckaft, sowie der Anstellung von Persnchcn günstiger ist. Der einzelne Besitzer, welcher hänsig ziemlich ausgedehnte Grund-stücke besitzt und frei über jede Art von Kapital verfügt, führt hier und da Verbesserungen bei sich ein, welche sich durch die Erfahrung noch nicht vollkommen erprobt haben: allein wärmn dies? Nicht allein deshalb, weil er persönlicher Besitzer ist, sondern anck', weil er wohlhabender als die übrigen ist und Zeit nnd Gelegenheit hat, sich dnrck Lecture, durch Unterhaltung, Reisen u. s. w. zu bilden; die kleinen Grnndbesitzcr dagegen haben in dieser Besiehuug nichts vor den Gemeindegliedern voraus. Wenn wir den Vorschlag macken würden, allen Grnnd nnd Boden dem ausschließlichen Besitze der Gemeinden zu überlassen, so würde die von nus soeben betrachtete Einwendung ihre volle Geltung erhalten, allein wir haben nns von vornherein gegen jede ausschließliche Art des Grundbesitzes erklärt. Uebrigeus wollen wir einmal betrachten, welche Verbesserungen und Neuerungen bei dem Gemeinde-gruudbesw wirklich uumöglick sind? Die Düngung des Bodens erscheint unsern Bauern nicht nur bequem, sondern sie wird von denselben in einem Maßstabe angewendet, der größten-theils die Düngung der gntsherrlichcn Felder weit über- 107 tnfft. l) Die Anwendung vervollkommneter Geräthe ist fast allenthalben für den Gemcindebauer ebenso möglich als für ben persönlichen Besitzer. Als» Beweis hierfür mag die Au-wendnng der Pflüge, der eisernen Eggen, der Walzen nnd anderer Oeräthschaften in vielen bänerlichen Wirthschaften dienen. Der Anfbrnch des Bodens, das Reinigen desselben von Gesträuchen n. s. w. wird anf Gcmeiudegründcu in bc-deutendem Maßstabe betrieben. Welche Verbesserungen sind icdoch bei dem Gemcindegrnndbcsitz nicht möglich? Der An-kanf der theuern Dresch-, Worfcl- und Erntemaschinen (wenngleich diese letztern Apparate, unsere gelehrten Nationalökonomen werden es wol nicht nngütig nehmen, bisjetzt fast auf keinen Pächtcrlvirthfchaftcn, selbst nicht in England, an-Lcweuoet wurdeu) fowie der Säemaschiucn nnd anderer. Aber smd denn bei den kleinen persönlichen Besitzern diese Maschi-um schon eingeführt? Unsere Bauern thuu sich oft zu fünf ^r zehn nnd noch mehr Höfen znsammen, erbauen ein gemeinschaftliches Vad, eine Getreidedarre, graben eiucn gemein- ^l) Hieran möchten Vielleicht einige Leser nnd insbesondere unsere Nationalokononien zweifeln. Ohne incine eigenen Beobachtungen in verschiedenen Gouvernements anzuführen, da dieselben für ungenügend oder ^'lbst für parteiisch gehalten werden könnten, beziehe ich mich auf fol-Nmde Dateu, welche, wie ich hoffe, den Lefer von der Richtigkeit des "beu Gesagten überzeugen werden: Ein jeder Bauer hat wenigstens ein ^der ^yei Pferd^ eine oder zwei Kühe und ungefähr zehu Stücke kleines Vieh (Schafe, Schweine); mau lanu also im Durchschnitt auf jedes AlNvescn vier Stück großes Bich rechueu. Die durchschnittliche Quan-^'^at an Grnnd und Boden kaun uian für jeden Zinsbaner zu zwei ^sslatiueu von jedem Felde auuehmen. Man kann also im Dnrch->u)nitt annehmen, daß in einer bänerlichen Wirthschaft je zwei Stücke "Uf eine Dcfsiatine gehalten werden. Es fragt sich, ob bei vielen Guts-^'sltzeru zwei Stücke auf jede Dessiatmc gutsherrlichcn Landes kommen? ^ch weiß ganz gewiß, daß mau auch nicht ein Dritlheil Gutsbesitzer "ufführen kann, bei welchen die Viehzucht in solchem Maßstabe betrieben wird. — 108 schaftlickien Brunnen, halten einen gemeinschaftlichen Stier n. s. w. Warum sollten sie nicht auch eine gemeinschaftliche Drcsch- oder andere Maschine einführen können, sobald sie sich von deren Nutzen nnd Nothwendigkeit überzeugt haben? Daß aber unsere Bauern keine Feinde der Neuerungen in der Landwirthschaft, keine Stationäre sind (ich gebrauche hier den Lieblingsansdrnck des Herrn Bernadsfi), davon kann sich jeder leicht überzeugen, welcker sich die Mühe nimmt, einen Blick in die Wirthschaft unserer Bauern zn werfen. Vor fünfzig Jahren düngte man in Nußland die Felder beinahe gar nicht; jetzt wissen nnr einige der gesegnetsten Gouvernements nichts von der Arbeit des Hinausschaffens des Düngers, während die Banern der übrigen Gegenden in dem Düngen ihrer Felder unter sich wetteifern. Die Kartoffel ist bei den Banern in allgemeine Nnwendung gekommen; bei jedem wird dieselbe in den Hansgärten gepflanzt uud bildet ein bedeutendes Snrrogat für andere Vebensmittel; in andern Dörfern legt man dieselbe bereits auf den Sommergetreide-feldcrn. „Aber die russischeu Bauern werden nie die Frucht-wechsclwirthschaft einführen", entgegnen mir unsere Agronomen und Nationalökonomen, „denn hierzu ist die Einwilligung der ganzen Gemeinde nöthig, nud wann wird die gan;e (Ac-meinde eine solche Einstimmigkeit an den Tag legen?" Man erlaube mir hier nnr die Frage, ob denn bei uns das Frucht-wcchselsystem in vielen Privatwirtschaften eingeführt ist und ob dasselbe, wo es eingeführt, viele Vortheile bringt? Es gab eine Zeit, als ich zu wirthschaften begann, daß anch ich von der Fruchtwechfelwirthschaft träumte, dieselbe ebenfalls einführte, mich aber bald überzeugte, daß dieselbe für uns noch nicht passe. Man lasse nns nur Zeit, man lasse den Bedarf an Fleisch, Butter, Käse u. s. w. sich nur steigern und wir werden unzweifelhaft unsern Viehstand vermehren (ohne welchen eine Fruchtwechselwirthschaft ohnehin nicht mög/ 109 lich ist); man lasse nur die freiwillige Arbeit in allgemeine Aufnahme kommen, und wir werden schon der Nothwendigkeit halber vervollkommnete Geräthe uud alle Arten von Maschinen einführen; dann, aber erst dann wird die Zeit ocr Frucht-wechselwirthschaft sich einstellen. Jetzt beschließen die Bauern bei ihren Versammlungen, irgendeine Wiese in die Höhe zu bringen, oder irgendein Feld brach liegen zu lassen; auf einem andern Felde, wo sich wenig Wasser findet, mit gemeinsamen Kräften oder auf gemeinsame dosten einen Damm aufzuwerfen; an einem andern Orte cinen Sumpf auszutrocknen und zu diesem Zwecke einen Kanal von so und so viel Ellen von dem Grundstück abgraben zn lassen n. s. w.; mit der Zeit wird nach dem Erforderuiß der Umstände und nach dem Beispiel der Privatwirtschaften anch anf den Gemeindewirthschaften die Fruchttvechsclwirthschaft iu Aufnahme kommen. — Uud die Drainage? und die Bewässerung der Felder und Wiesen? Es genügt jedem Tage seine eigene Sorge — man soll nnr uicht allzu sehr eilen und nicht verzweifeln; alle Verbesserungen könuen und werden anch in den Gemcindcwirthschaften ^«geführt werden, sobald diese Verbesserungen als nothwendig ^scheinen. Uebrigens sollen nur die Privalwirthschafteu hierin Nnt gutem Bcifpiel vorangehen, denn barin besteht die Handtbestimmung derselben. Mau kaun mit vollem Rechte behaupten, daß nnsere Gemeindefelrer eher das Fruchtwcchsel-Wem annehmen werden als die kleinen Privatbesitze in Frankreich, und zwar deshalb, weil der Gemeindebesitz eine fertige Grundlage für jede Arbeit von gemeinschaftlichen Unternehmungen darbietet, während bei dem persönlichen ^lcinbesitz ül-Frankreich jede Vereiniguug aus Mangel an Zusammenhang zwischen den kleinen Grundbesitzern änßerst schwierig ist. Was nuu die Vornahme von Versuchen betrifft, so ist dies bei dem Gemcindcgruudbesitze sehr leicht möglich, weuu "ur die ^ust dazu sowie die pecuniären Mittel und ein 110 gewisser Grad von Aufklärung vorhanden ist; diese sämmtlichen drei Bedingungen finden sich bei den kleinen Besitzern viel seltener als bei großen und mittlern; doch trägt der Gemeindegrundbesitz hieran ebenso sehr Schuld wie der kleine Privatbesitz. Uebrigens hat sich dem landwirtschaftlichen Vereine und den Ausstellungs-Comites öfter als eiumal die Gelegenheit geboten, die verschiedenen Gerathe und Maschinen in Augenschein ;u nehmen, welche von einzelnen Bauern, folglich von Gemeiudeangehörigm angefertigt worden sind. Ich habe selbst Gelegenheit gehabt, verschiedene landwirthschaft-liche Erfindungen und unter diesen eine Hauderntcmaschine zu sehen, welche von einem Baueru erfunden worden war; allerdings schien letzteres Geräch die Arbeit des Schnitters wenig zu erleichtern und zu bcschlcuuigeu, allein es haudelt sich hier uicht um das Resultat, sondern um das Streben. Der Cultivator^) eines Bauers aus Tula gilt als eiu für deu Ruukel-rübenbau ausgezeichnet bequemes Geräthe und kommt allgemein in Aufnahme. Selbst die Versuche verfchiedeuer Säe- und Düngermcthodeu werdeu von deu Bauern ausgeführt; allerdings lassen sie uichts darüber drucken; während unsere Agronomen über Versuche drucken lasscu, welche sie iu der Wirklichkeit uicht ausgeführt haben. Aus allein oben Gesagten geht offenbar hervor, daß der Gemeindegrundbesitz der Einführung nützlicher Verbesserungen in der Landwirthschaft und der Ausführung von Versuchen, welche die Vervollkommuuug derselben zum Zwecke haben, nichts weniger als uuübersteig-bare Hindernisse in den Weg legt. Mau wirft dem Gemeindebesitz vor, daß er gleichsam die Productivity des Bodeus vermiuderc, weil er 1) die Möglichkeit em;iehe, nothwendige Verbesserungen in der Wirth- 1) Zum Aufreißen und Lockern des Bodens. Ill schaft einzuführen, und 2) w'cil er die Wirthschaft durch kleine Complete einschränke, wobei man den Boden nicht auf vortheilhafte Weise bearbeiten könne. Die erste Beschuldigung, als ob der Boden, der sich im Gemeindebesitz befinde, weui-ger productiv sei als der Bodcu des persönlichen Besitzes, wurde von uns bereits in Betracht gezogen und wie wir glauben auch widerlegt; der zweite Cinwurf bezicht sich aber so gut auf den persönlichen Kleinbesitz als auf den der Gemeinde, wir halten es demnach für uothweudig, denselben hier näher zu betrachten. Unstreitig stellen sich die vorthcilhaf-testen Bedingungen für die Agricultnr bei den Wirthschaften mittlerer Ausdehnung dar. Diese Beobachtung erweist sich sowol bei uns als im Auslande als richtig. L. Laverue behauptet, daß iu England die großcu Besitzungen sich durchaus nicht durch ihre Cultur auszeichnen, und daß die Güter mittleru uud kleiueu Umfangs in dieser Beziehung weit voraus seien; auch in Frankreich gibt er, was die Bearbeitung betrifft, den mittlern Besitzuugeu den Vorzug. Obgleich bei uns in rationeller, wirthschaftlicher Beziehung gut georduete Güter in sehr geringer Zahl vorhain-eu siud, so behält dennoch die Bemerkung ihre volle Geltuug. Allzu kleine Wirthschaften bieten sowol bei dem Privat- als dem Gemeindebesitz weniger Bequemlichkeit zur Einführung verschiedener vortheilhafter Betriebsarten dar, obgleich die Gemeindegüter in dieser Beziehung noch einige Vorzüge haben: dcuu der erstere erfährt bei gleicher Pertheilnng unter die Erben eine außerordentliche Zerstückelung; die Uutheilbarkeit der Güter im allgemeinen hat ihre großcu Nachtheile, vou deneu zu sprechen hier nicht am Orte ist. Die Gemeiudcgrundstücke siud allerdings Veränderungen unterworfen, allein dieselben können durch den Tpruch der Gemeindeversammluug oocr durch Gewohnheit bei einer gewissen Größe erhalten wcrden, was vou 112 einigen unserer Gemeinden schon jetzt als Grundsatz angenommen ist.') Es kann folglich der Gemeindeboden nicht einer allzu großen Zerstückelung entgegengehen. Unsere Banern-grundstücke,. welche in den mittlern Gouvernements größten-theils aus acht Dessiatinen Ackerland, Niesen, Wewe- und Gartenland per Tiaglo bestehen, bieten eme hinlänglich befriedigende Norm dar: Die Vanerfamilie kann sich von den Erzeugnissen des Bodcns ernähren und ihre noth-wendigsten Bedürfnisse befriedigen; das Feld kann durch Pferde bearbeitet werden und bietet die Möglichkeit, eine hinlängliche Anzahl von Vieh halten zu könnend) Ich glaube, 1) In einigen Gemeinden bleibt die Anzahl der zu bearbeitenden Tiaglos, also der einzelnen Antheile an Grund und Boden, immer eine nnd dieselbe, und die zinspflichtigen Leute suchen sich außerhalb der Familie ihren Dienst. Ich will mich deutlicher ausdrücken; auf ein Hauö können drei Tiaglos treffen, allein die Gemeindeversammlung überläßt demselben wegen Maugcl an Grundparcellen nur zwei Tiaglos, während das überflüssige Iudividuum sich anderwärts seinen Verdienst zu suchen hat. 2) Man spricht viel über die kleiuen Ackcrstreifeu bei dem Gemeindebesitz, als ob dieselben aus dem System dieses Grundbesitzes selbst entspringen müßten, als ob es gar keine Gemeindegründe ohne allzn zersplitterte Parcelleu gäbe. Ich kenne viele Gemeinden, wo der zwei Dessiatmen auf jedem Felde betragende Antheil des Bauern demselben auf vier Plätzen, also in eine halbe Dessiatine betragenden Streifen zugewiesen wird. Eine solche Parcelle ist zum Pflügen und Besäen, zur Ernte und zum Mähen bequem, uud die Bauern verlieren keine nnuütze Zeit, nm von eiucm Arbeitsplatze zum andern zn gelangen. Das Traurige liegt nur darin, daß man bei uns gern dem Princip selbst znr Last legt, was hier und dort uur durch momentane oder lokale Nothwendigkeit hervorgerufen wird. Solange das Düngen noch nicht zur Gewohnheit gewordeu, hielt man die jährliche Bertheilung für bequem, und wo der Boden sehr nuglcich ist, dort siud die kleinen Ackerstreifeu auch jetzt noch nothwendig. Schade, daß die Herren Nationalökonomen und Agronomen nicht das eine gründlich erkannt haben: daß unsere Gemeinden bei ihren Handlungen nnd Gewohnheiten sich uicht an allgemeine uud häufig ungerechte uud unbequeme Regeln, 113 baß solche Wirthschaften nicht weniger prodnctiv sind als wirthschaften von mittlenn Umfang. Wenn bei letztern mehr materielle Mittel vorhanden sind, so muß bci den erstern der persönliche Fleiß und der persönliche Eifer des Landwirths v'el Nutzen bringen. Znr Zeit der Ernte arbeiten die Bauern auf ihrem eigenen Besitzthum gerade doppelt soviel und führen sogar bei der Nacht das Getreide heim uud schneiden den Hafer; selbst die Feiertage sind für sie in einer solchen Zeit nicht vorhanden; folglich verdoppeln sie in Zeiten der Noth nnd Theuerung ihre Thätigkeit, was bei gar keiner andern Wirthschaft, selbst bei keiner freien großen oder mittlern der 3'all sein kann. Hierin stimmt wahrscheinlich anch Herr Ber-nadsti mit uns überein, der sich doch sonst so heftig gegen die Gememdearbeit ausfpricht (von der wir jedoch im allgemeinen nicht abstehen) nnd welcher, nnd zwar mit vollem Rechte, die persönliche Thäligkeit so hoch anschlägt. Doch sind hierbei noch andere und zwar sehr wichtige Umstände obwaltend; bei jeder großen nnd mittlern Wirthschaft werden viele Capitalien vergeudet und gehen außerdem nothwendigerweise, neben ziemlich vieler Zeit noch verschiedene kleine Nebeneinkünfte verloren, welche bei einer persönlichen Wirthschaft errungen werden. So wird im Winter, im Frühjahr znr Zeit bes Thanwetters, im Herbst bei schlechter Witternng von ^n Arbeitern bei einer jeden, selbst bei einer Pächterwirthschaft wenig producirt, ja es wird von denselben häufig gar nichts gearbeitet; zu Hause, bei sich pflegen die Bauern nie ohne Beschäftigung zu sein; in freien Stunden bessern sie bald ihre Geräthschaften nnd dergleichen aus, bringen ihren Saun oder ihren Hof in Ordnung, richten sich etwas zum sondern an den lebendigen Begriff der Sache, an momeutanc unb lo-lale Umstände und an den Wunsch halten, bei aller Wahrung des <3e° wemdeinteresses einem jeden die möglichste Gerechtigkeit widerfahren zn lasse». 114 Verkaufe her, kurz jede Minute, welche nicht durch die Feldarbeit in Anspruch genommen ist, wird mit Nutzen verwendet. — Das Vieh und das Geflügel, welches bei den Bauern gezogen wird, und welches seinen eigenen Stall und seiueu Hof hat, wirft eine um so bedeutendere Einnahme ab, als diese Zucht fast mit gar keinen Ausgaben verknüpft ist. Das Füllen, das Kalb, die Schafe u. s. w. wachsen heran und briugen Geld ein, was bei Bauern ohne eigenes Haus nicht möglich wäre und natürlich wegfiele. Von seiner persönlichen Wirthschaft erübrigt der Bauer häufig noch einen oder zwei Tage und verdient sich einen Poltinik oder einen Silberrubel und manchmal noch mehr. Die Fuhren, welche den Bauern gor manches Stück Gelb eintragen, sind bei uns nur deshalb möglich und billig, weil sie größtenteils von den Bauern in ihrer freien Zeit besorgt werden. Zudem verwenden die Bauern sehr wenig Geld für die Anschaffung und Ausbesserung aller jener Gegenstände, welche sie persönlich in der ihnen von den Feldarbeiten übrig bleibenden Zeit verfertigen und wieber in Stand setzen. Ueberdies dieuen viele Gegenstände, welche zum häuslichen Leben des Bauern nothwendig sind, zugleich auch dem Landbau. Wenn man deshalb die Ausgaben uud Einuahmen der größern nnd mittlern Herrschaftsökonomien und der kleinen Bauernwirthschaften in Vergleich zieht, so bleibt bei uns in Rußland, besonders jetzt und noch lange für die Znkuuft, der Vortheil auf feiten der letztern. Die mit einem großen Geldaufwand eingerichteten Oekonomiegüter können etwa bei Petersburg und in andern, aber sehr wenigen Gegenden noch einigen Gewinn abwerfen, allein au allen übrigen Orten bringen sie eher Nachtheil als Vortheil. Ich glaube, daß erfahrene Landwirthe bicfe meine Meinung bestätigen werden. Ich würde es für meiue Pflicht halten, über diesen Gegenstand einige Zahlen anzugeben, allein da die Anschuldigung selbst ohne alle bestimmte Oeweise auf- 115 gestellt worden und ich im allgemeinen kein Freund von nicht vollkommen genauen Zahlen bin, so enthalte ich mich sehr gern jeder selbst approximativen Berechnung. — Nun noch ein Wort über diese Einwendung und zugleich die Frage, woher dieselbe genommen, d. h. wessen Ursprungs dieselbe ist? Gewiß nicht rus-sischcu, soudern offeubar französischen oder deutschen Urspruugs. Dort erzengte und erzeugt jetzt noch der persönliche zerstückelte Besitz große uud alleu in die Allgen springende Unbequemlichkeiten; es gibt keine Weideplätze für das Vieh (und dasselbe in den Ställen zu halten, wie einige Agronomen verlangen, erfordert doch allenthalben große Ausgaben); die Bauern müssen einsam auf ihren Grundstücken leben, was so-Wol in rationeller als socialer Beziehung nachtheilig ist; nicht viele Besitzer haben Viehtränken, Wiesen u. s. w. Die nnter sich getrennten persönlichen Besitzer brauchen eine ungeheuere Zahl von Kanälen und Zäunen; aber wichtiger als alles ist ber Umstand, daß es nicht möglich ist, die Felder mit Pferden zu bearbeiten und deren wegen der unausgesetzt uud im-Wcr mehr und mehr sich zerstückelnden Parcellen des persönlichen Besitzes zu halte». Alle diese, beinahe durch nichts zu beseitigenden Unbequemlichkeiten kommen bei dem Gemeiude-grundbesitz nicht vor, sondern diejenigen, welche wirklich vorhanden, können leicht beseitigt werden, nnd treffen überdies nicht bie Feld-, soudern die Bücherlandwirthe; und dies einzig nnd allein deshalb, weil die lctztern, nachdem sie die herrlichen Agronomischen Werke des Auslandes gelesen, aber zum Unglücke die genommene Speise nicht verdaut haben, beständig fremde Ansichten wiederholen, ohne irgendetwas zu Hause bei sich versucht zu haben. Viele von uuseru gegenwärtigen Land-Wirthen haben bald diese bald jene Gewohnheit uud Anordnung des Gemeindebesitzes getadelt nnd verschiedene Verbesserungen und Veränderungen je nach dem Erforderniß der örtlichen und zeitlichen Verhältnisse in Vorschlag gebracht; aber 8" lift soviel mir bekannt, ist auch uicht ein einziger praktischer Landwirth dem Princip dieser Nutznießung oder des Grundbesitzes entgegengetreten. Auch ist dies gar uicht möglich: man kann leicht irren und mit Hülfe theoretischer und phantastischer Einbildungen ein Unding darstellen; allein die Sache selbst, die Production und die .Kenntniß derselben an Ort nnd Stelle öffnet jedem die Augen, und erlanbt ihm nicht, da ein Nebel zu sehen, wo keins ist, und dasjenige zu wünschen, was dem ganzen Wesen nusers Volks widerstrebt. Aus allem Dbeugesagtcn läßt sich schließen, dciß die Eiuwen-dnngen gegen den Gemeindegrundbesitz, insoweit sich dieselben auf die geringere Pvoductivität desselben stützen, in Beziehung auf Rußland vollkommen ungerechtfertigt erscheinen. Die dritte und letzte Eiuweudung besteht darin: daß der Gemeindebesitz die Leute an den Wohnort fessele und dieselben hindere, sich dort Arbeit zu suchen, wo sie mehr Geld zu verdienen im Stande sind. Auch diese Einwendung trägt die Etikette einer uicht rnssischeu Fabrik an sich! Die eineu billige», die auderu mißbilligen, aber alle kennen die Neigung unsers Volks zu einer gewissen Art von Nomadenleben, welches sich dadurch kund gibt, daß Scharen uon Arbeitern nach Norden, Süden und Westeu strömen, um in deu Hauptstädten, den Häfen und in den Steppen Verdienst zu suchen. Wie kann man hierbei den Gemeindebesitz beschuldigen, daß er die Banern an die Scholle fessele? Sehr einfach: Laverne, Ga-fparin und andere Agrouomen werfen dem kleinen (persönlichen) Gruudbcsitz in Frankreich vor, daß er die Bauern an ihre Scholle fessele, ihre Fähigkeiten abstumpfe uud sie zwiuge, auch dauu noch auf ihrer Scholle zu verbleiben, wenn sie von derselben nicht einmal mehr hinläugliche Nahruug erhalten. Was ist natürlicher für unsere Priester der westeuropäischen Wissenschaft, als französische Beobachtungen und Schlußfol-geruugeu in russischer Sprache wiederzugeben! 'Der person- 117 liche Besitz fesselt (und dies ist vollkommen richtig) die Fran-al'sen an ihre Scholle und erlaubt ihnen nicht, anderlvärts Geld zu verdienen; bei uns findet sich eine vollkommen entgegengesetzte Erscheinung. Die Leute gehen ans tansend und »och inehr Werste dem Verdienste nach, während zn Hause uur die unumgänglich nöthigen Arbeiter nnd die Weiber zurückbleiben. Allein Hierali stoßen sich unsere (belehrten nicht und der zerstückelte Gemeindebesitz wird der nämlichen Ve-Ichuldiguug unterworfen, welcher der kleine Prwatbesitz unterlegt. Wir haben ja in dem Anklagcact, den wir abgedrnckt, eschen, daß alles, ivas im Westen gegen die Commnuisteu Und Socialisten gesagt wird, gegen den Gemeindegruudbesitz gerichtet ist, obgleich derselbe nicht mir nicht mit deren Systemen übereinstimmt, sondern denselben in allen Beziehungen vollkommen entgegengesetzt isd- Wenn nnr die Worte sich gleichen, dann braucht man die Thatsachen nicht zn unterscheiden! Nein, mein Herr, ehe man irgeudetwas Russisches spricht, muß man vorerst dieses Russische gründlich studirt ha-ben. Nnser Oemeiudegrundbesitz bindet wol, aber fesselt nicht, die Leute au ihre Heimat; dies sind keine leeren Worte, sondern nnnmstößlichc Thatsachen; unser Bauer verbleibt sehr Hern iu der Heimat, solange dies möglich nnd nützlich ist; Ulutz er jedoch als Fuhrmann hinaus, oder sonst einem Verfemt nachgehen, so brancht er nicht m!t Schlägen da;u gezwungen zu werden, sondern er geht nach eigenem Wunsche Und eigenem Gntdüukeu. Allerdings kehrt er wieder gern nach ^ause zurück, allein es ist hiervon keineswegs ein Nachtheil, ein Verlust im uationalökonomischcn Sinne zn befürchten, son-bern es ist sowol in politischer als in moralischer Beziehung ^n ungeheuerer Portheil damit verbunden. Doch werden Wir hiervon erst später reden. Folglich zerfällt anch diese Einwendung schon bei einer gan; oberflächlichen Betrachtung an Staub. 118 Wir habcn nun hoffentlich nnsere negative Aufgabe, d. h. die Widerlegung der gegen den Oemeindegruudbesitz gerichteten Anschnldigungen beendet. Diese Aufgabe war übrigens nicht schwer; wir glauben, daß wir absichtlich über keine einzige, wenngleich nur scheinbar vernünftige Einwendung geschwiegen haben. Jedem, der uns auf Seiten der Frage aufmerksam macht, die uns entgangen sind, werdeu wir sehr dankbar sein, und es wird ein solcher Aufruf von unserer Seite gewiß nicht ohne Erwiderung bleiben. Jetzt müssen wir noch, wenn auch nur kurz, erkläreu, warum wir so eifrig für die Beibehaltung des Gemeindegruudbesitzes einstehen. 1) weil diese Art der Besitzer bei uns vorhanden ist. Allerdings ist nicht alles Vorhandene gnt sGott behüte uns vor einer ähnlichen Blindheit), allein alles Vorhandene ist auch nicht schlecht. Das Vorhandene soll erhalten werde», solange das Unbequeme desselben nicht deutlich und mit Bestimmtheit erkannt ist. Man muß von dem Gemeindegrund-besitze nicht behaupten, daß er auf Nußland im allgemeinen, oder auf den Bauernstand insbesondere eine schädliche Wirkung geäußert habe; folglich soll er auch beibehalten werden. Uebcrdics liebt das Volk diese Art von Besitz; ans denselben ist jenes Princip gegründet, von welchem das ganze russische Leben durchdrungen ist; die Sitten, die Gebräuche und selbst die Gewohnheiten unserer Banern sind mit dieser Emrichtnng enge verwebt. Warum soll man dieselbe abschaffen? Etwa der Wissenschaft zu Liebe? ^) Neiu, die ernste Wissenschaft 1) Wir halten es nochmals fiir nothwendig, uns zu rechtfertigen. Wir sind selbstverständlich durchaus nicht gegen jene Wissenschaft, welche alle sich ihr darbietenden Erscheinungen zu ergründen trachtet und welche selbständig, aber mit der größten Borsicht dk Gegenstände in Betracht zieht und über sie urtheilt. Es handelt sich hier mir um jene Wissenschaft, welche mit ihrer vermeintlichen Unfehlbarkeit prahlt und von ihren Axiomen spricht, als ob dieselben zn allen Zeiten und an 119 wird und kann keine ähnlichen Opfer fordern: sie ist Vorzugsweife couservativ; sie hält das Bestehende werth und sticht Nut Sorgfalt alles Paterländische zu ergrüuden, in den Geist desselben einzudringen, sie verurtheilt es mit Widerstreben und entschließt sich nur uothgedrungen zu seiner Beseitigung. Die Wissenschaft im wahren Sinne des Worts hat iu Bezug auf den Gemeiudegrundbefitz iu Rußland noch nicht ihr endgültiges Urtheil gesprochen. Sie hat den Thatbestand anerkannt und ist jetzt zur gründlichen Erforschung dieser Einrichtung geschritten, iudem sie es ihren Erperimentatorcn überläßt, die verschiedenen Erschciunngen derselben sowol in Beziehung auf den Staat und die Gesellschaft als auf die einzelueu Individuen zu untersuchen. Warum also die Axt an den viclhun-dertjährigen Baum des Gememdegrundbesitzes legen? Blos weil derselbe im Westeu nickt mehr eristirt? Müsscu wir aber das Wesen des Westens nachahmen? Hatten und haben denn nicht auch jetzt noch alle Böller des Westens ihre Eigenthümlichkeiten? Warum sollen deuu wir mit der Vernichtung gerade jener unserer Eigenthümlichkeit beginnen, au welcher die Seele eiues jeden Russen festhängt, und welche nach dem Bewußtsein allerdings nur weniger, aber nach dem muern Gefühle vieler die Kuppel unsers socialen und pri-vatwirthschaftlicheu Gebäudes bleiben muß? Auf alle diese allen Orten für jedermann bindend waren, nnd welche die Zeit, den Raum und die Individualität des Menschen für unter sich vollkommen gleiche Dinge betrachtet, die gar keine weitere Beachtung verdienen. Aber wo ist denn diese Wissenschaft, möchten vielleicht einige fragen, selche in nnserer Literatnr nicht ganz genau bewandert sind? Allerdings N'istirt eine solche Wissenschaft in Enropa, ja sie herrscht sogar jetzt leider auch bei uns, und viele Journale dienen derselben als eifrige Verbreiter. Die vorzüglichsten Glaubensboten derselben kann man unter andenu leicht in dem „Oel'onomischen Anzeiger" finden. Doch muß Man anerkennen, daß der von uns abgedruckte Anklagcact gegen den Geineindcgrundbesitz, wie der Leser sich persönlich überzeugen konnte, als ein Muster dieser Art von Erzeugnissen angesehen werden tann. 120 Fragen erfolgt immer die nämliche Antwort: Dßlonä^ l>8t (Üartka^o! Haxthausen hat das statistische Factum von dcm Vorhandensein der Gemeinde in Nußland zur Anerkennung gebracht; wir hoffen, daß min irgendein anderer Deutscher, oder Engländer, oder Franzose uns besuche, um endlich unsere Oekonomen auch von der Bequemlichkeit nnd der Nothwendigkeit des Gemeindebesitzes in Nnßland zn überzeugen; wir aber wollen einstweilen von den Leuten, welche die Abschaffung des Gemeindcgrnndbesitzes fordern, mit betrübtem Herzen sagen: sie wissen uicht was sie thun. 2) bestehen wir deshalb anf der Beibehaltung des Ge-meindegrundbesitzes, weil beinahe alles, was wir in nnscrn Dörfern sehen, hörcu und erfahren, anf dieses Princip gegründet ist, uud weil man mit der Aufhebung desselben beinahe einen völligen Umban des ganzen russischen Staatsge-bäudcs vornehmen mußte. Unsere Dörfer sind so und deshalb nickt anders gebaut, weil die Banern den Boden gemeinschaftlich besitzen; bei der Einführung des persönlichen Grundbesitzes, statt der gegenwärtigen Einrichtung, müßten alle Bauern eutweder anf ihre Gruudstnckc ziehen oder in einer großen Entfernung von denselben verbleiben. In erstcrm Falle stellen sich folgende Misstände dar: viele Grundstücke werden ohne Wasser, ohne Wicsengrünbe u. s. w. sein, während unter der letzteru Voraussetzung einige Bauern nahe, andere wieder sehr weit entfernte Grundstücke erhalten würden. Unser Feldban mnß augenblicklich geändert werden, denn die Brache ist für ein kleineres Grundstück nicht anwendbar; oder ist bei nns jetzt die Einführung des Fruchtwechselshstems möglich? — Und was ist mit der Viehzucht anzufangen? Vci der Abschaffung der Brache muß mau den vollen Viehstanb das ganze Jahr hindurch auf dem Hofe haben und woher das Futter nehmen? Allein ist dieselbe auf alle unsere Felder anwendbar? Soll man die Grassäung einführen? Hat man :9i von feiten unserer landwirtschaftlichen Wissenschaft alls solche Gräser hingewiesen, welche sich für jede Vodenlage eignen? Jetzt hilft ein Nachbar dem andern bei der Ausdreschnng der Riege u. s. w.; dann aber muß sich ein jeder allein helfen so gut er kann oder mnß Arbeiter zur Ans hülfe dingen. Der Baner, welcher keine Säge, keine Egge und noch vieles andere dergleichen nicht besitzt, nimmt, was er brancht, jetzt von dem Nachbar auf einige Zeit zu leihen; dann aber mnß er sich bei nnscrn Ausdehnnngen nnd der hänfigen schlechten Witterung selbst mit allem Nöthigen versehen. Dies sind die hauptsächlichsten, materiellen Missta'nde bei der Aufhebung des Ge-weindeeigenthnms; und wie viele andere nicht so fühlbare, aber nichtsdestoweniger wesentliche gibt es noch? Jetzt wird das ganze Dorf von einem einzigen Starost und zwei oder drei Dichtern ohne Mühe und Anstrengung verwaltet; dann aber lunsi die ganze Einrichtung der Rechtspflege nnd der Verwaltung anders geordnet werden. Jetzt versammeln sich die Bauern an den Winter- nnd Sommerabenden, nm miteinander zu plandern, zn singen, Tänze anfzuführen u. s. w., wählend dann der ganze gesellschaftliche Theil ihres Bebens vollkommen verändert werden mnß. Jetzt kcuucn die Bauern einander, denn sie sind früh uud spät beisannneu, während dann, wenn jeder Baner auf seinen Besitztheil angewiesen ist, jode genauere Bekanntschaft nntcr ihnen aufhören wird. Jetzt sind die Verwandtschaftsbande infolge des Znsammenlebens in einem und demselben Dorfe besonders stark, wahrend dieselbeu dann ^urch das seltene Begegnen sich bcdcntend abschwächen. Jetzt nniß einem Unbemittelten geholfen werden, denn er lebt ja ül demselben Dorfe nnd ist den andern beständig vor den ^ugen; dann aber müssen die Banern nothwendigerwcisc sich gegenseitig entfremdet werden. — Wenn lins nnsere Ballern durch ihre treffenden Antworten, ihre vernünftigen Aeußernngen und ihre bedeutungsvollen Sprichwörter in Erstaunen n. s. w. 122 setzen, so ist hieran hauptsächlich die Erziehung schuld, welche ihnen durch das Gemeindeleben zu Theil wird. Wodurch soll dies ersetzt werden? Dnrch die Errichtung von Schulen? Aber auch diese find in den Dörfern diel zweckmäßiger als bei der Zerstreuung der Wohnsitze?) Kurz, je mehr wir über die Verhältnisse nachdenken, desto mehr überzeugen wir uns von der völligen Unmöglichkeit einer solchen Umwaudelnng und desto fester halten wir an der in dieser Beziehung bestehenden Ordnung der Dinge. Z) wünschen wir deshalb die Beibehaltung des Gemeindegrundbesitzes, weil derselbe eine feste und regelmäßige Einrichtung des Banernstaudes in Nußland verspricht. Wenn dieser Stand allenthalben von Wichtigkeit ist, so ist derselbe ganz besonders in einem Staate wichtig, welcher bei allen als ein vorzugsweise ackerbautreibender gilt. Können aber die Bauern ohue Grundbesitz eine dauerhafte nnd vernünftige Einrichtung erhalten? Der Bauer ohne Grund und Boden ist ein Fisch ohne Wasser. Wir sehen, daß in verschiedenen Ländern Europas und insbesondere in England dieser Stand vollkommen zu Grnnde gegangen, weil er der Theilnahme am Grundbesitz beraubt ist. Es gibt dort gar keine Bauern im wahren Sinn des Worts: es gibt nur Grundbesitzer, Pächter und Tagelöhner; allein diese letztern haben gar kein Domicil, sie find den Flecken und Dörfern einverleibt nnd werden nur zufällig, nur im Miethverhältuisse zu Bauern. In allen westeuropäischen Staaten vermehrt sich die Zahl der Bauern beständig, während in England die Abnahme derselben ganz erstaunlich ist. Noch im Anfange dieses Jahrhunderts belief sich ihre 1) Bei einem meiner («üter liegt die Kirche mehr als eine Werst von dem Kirchdorfe nnd zwei Werst von dem hierzu gehörigen Filialdorfe. Die Schule befindet sich auf dem Kirchengrunde. Oft können die Jungen im Winter bei großer Kälte nnd heftigem Schneegestöber uicht zur Schnle kommen. 123 Zahl auf sechs Millionen, während jetzt trotz der allgemeinen Zunahme der Bevölkerung die Zahl derselben nur wenig über vier Millionen beträgt. Ist diese Erscheinung etwa erfreulich? Die einen antworten mit Ja, die andern mit Nein! Wir können uns nicht entschließen, diese Frage unbedingt zu entscheiden (diesem ist nur die Wissenschaft des Herrn Ber-nadski gewachsen, welche nicht einmal einen Zweifel an dem wohlthätigen Einfluß dieser Erscheinung gestattet), sondern wir sind der Meinung, daß Rußland trachten muß, seinem Bauernstand eine dauerhafte und selbständige Einrichtung zu geben; für Rußland paßt es allerdings nicht (und es hat dies auch niemals gethau), dem Wunsch nnd den Neigungen des einzelnen eutgegeuzuwirteu und ihm den Austritt ans diesem Stande zu verschließeu, allein es ziem« sich anch nicht, die Leute mit Gewalt hinauszustoßen. Der Ackerbau ist kein Gewerbe, für welches man die Leute nur so nehmen, von welchem man sich lossagen und zu welchem man so leicht wieder zurückkehren kann. Der Ackerban ist eine sehr harte, äußerst unangenehme und nichts weniger als hinlänglich lohnende Arbeit. Der Landmann müht sich im Ncgen und Schmuz, w der Kälte nnd in der Hitze ab. Wenn er im Tagelohn arbeitet, wird er beständig trachten, zn einer andern, weniger harten Beschäftigung überzugehen; wer aber einmal die Äauernarbeit aufgegeben, wird nur selten wieder zu ihr zu-rückkrhreu; nur die Theilnahme an dem Besitz bindet den Laudmann an den Grnnd nud Boden, gibt ihm die Kraft, Beschwerden, Misjahre nnd andere mit der Landwirthschaft unzertrennliche Unfälle zu ertragen. Wenn es wünschenswerth lst, eiuen dauerhaft geordneten Bauernstand zn haben, so ist bie Erfüllung dieser Bedingungen unbedingt nothwendig. Deutschland, welchcS später als die übrigeu westlichen Länder ;ur Organisation des Bauernstandes schritt, ist von dieser Ansicht tief durchdrungen nnd ist jetzt in diesem Sinne auch 124 in der Beendigung seiner Umgestaltnng begriffen- Vci unc> ist bereits durch die Gewohnheit jener Znstand eingeführt, welchem jetzt viele Staaten Europas entgcgenstrcben. Warnm sollen wir also nnsere Banern spornstreichs in Lohnarbeiter und Tagelöhner umwandeln? Ich glaube nicht, daß diese Umgestaltung für die gegenwärtigen bevorzugten Gntsbesitzer Von Vortheil sein würde, sondern sie müßte sich unvermeidlich ebenso verderblich für die Bauern als schädlich für das ganze Reich erweisen. Die Bauern bilden bei uns den mächtigsten Stand und dies nicht allein durch ihre Zahl, sondern auch durch ihre unverdorbenen, moralischen und physischen Kräfte. In andern Bändern machen die Bauern ein Bierthcil, ein Drittheil, zwei Fünftheile der Bevölkerung aus, während bei uns mehr als zwei Drittheile aller Einwohner Bauern sind; es wäre wirklich eine unvernünftige Maßregel, dnrch welche diese ungeheuere Mehrheit zn nomadisirenden, Heimat-nnd besitzlosen Leuten nmgeschaffen würde. In Bezug auf die Ueberlegenhcit dieses Standes in moralischer Äeziehnng können die Meinungen noch verschieden sein; allein man kann gewiß nicht umhin, die Selbständigkeit des Bauernstands, seine Macht und seine Zähigkeit anzuerkeuueu. Und diesen Stand, die Hauptgrnndlage unserer massiven Größe, will man des Grnndes und Bodens bcranbcn und ihn zu einem Stande von Tagelöhnern herabdrücken! Nein, dies ist eine reine Unmöglichkeit? Eher geht das Wasser gegen seinen gewöhnlichen Lanf, als daß der russische Bauer dem Grund lind Boden entrissen werden kann, den er mit seinem Schweiße getränkt hat. Das einzige Mittel, ihn für immer zu beruhigen, ihn an die allgemeine Ordnung nnd an den ^andbau zu fesseln ist — ihm Theilnahme am Grundeigenthnm zu gestatten. Und bei uns wird dies keine Neuerung sein, sondern nur eine gesetzliche Heiligung dessen, was seit lange schon ezistirt. Allein in Frankreich gehen viele Misstäude aus dem bäuerlichen 125 Grundbesitz hervor; wie können wir denselben entgehen? Der Gcmeindegrundbesitz schützt uns gegen alles Mißgeschick jenes Grundbesitzes, welcher sich in Frankreich als so unbequem erweist. Wir haben bereits oben dargethan, daß es sehr leicht ist, eine allzu große Zersplitterung der Grundstücke zu vermeiden, daß der Gemcindegrundbesitz deu Verbcsserungen uud Reformen durchaus nicht entgegen ist, daß eine allzu große Gebundenheit des Gauern an seine Scholle u. s. w. bei uus durchaus nicht vorhanden ist. Uebcrdicö bietet der Gemeinde-ssNindbcsitz auch darin einen großen Vortheil, daß derselbe auf lange Zl'it, vielleicht selbst für immer die Möglichkeit des Proletariats, dieses großeu Uebels der europäische» Staaten, fern hält.!) V^. werdeu uns über dieses hier nicht weiter anssprechen; allein die nützliche Wirkung des Gemeindebesitzes w dieser Beziehung wird gewiß nicht einmal vou dessen Gegnern bcstritten, obgleich sie allerdings zu verstehen geben, daß bei dieser Art von Besitz fast alle Gemeindcangehörigen so ziemlich Proletarier seien. Nach allem von uus Gesagten halten wir es für überflüssig, uns bei dieser Anspielung auf-aufzuhalten, und erwarten, um dieselbe vollkommen widerlegen zu können, daß die Beschuldigung klarer und bestimmter ausgesprochen werde. 4) vertheidigen wir den Oemeindegruudbesitz auch noch deshalb, weil derselbe vorzugsweise zu der Zähigkeit nnsers Deichs beiträgt. Allerdings besteht die Stärke nnfers Reichs nicht in diesem oder jenem Stande, sondern in der Vereinigung 1) Herr Vernadski behauptet zwar, daß es selbst in England in bem Bauernstande keine Proletarier gebe; dies ist keineswegs zu verwundern, weil es dort gar keinen Bauernstand gibt. Aller Grund und Voden gehört Privatleuten; und wer möchte wol Lust haben, Arme auf seinen Gütern zuhalten; deshalb concentriren sich dieselben auch in Flecken nnb Städten, wo Millionen Pfund Sterling auf deren Unter, halt verwendet werden. 126 aller Stände, in dem ganzen Volke; aber man muß doch zugeben, daß der Bauerustaud sehr viel hierzu beiträgt. Wir verstehen darunter nicht allem den Umstand, daß die Bauern die meisten Krieger stellen, die meisten Abgaben bezahlen, die meisten Pflichten auf sich haben u. s. w., sondern insbesondere den, daß dieselben vorzugsweise die Repräsentanten unserer Volksthümlicht'eit sind. Alle Stände sind mehr oder weniger von fremden Ansichten, Sitten und Gewohnheiten eingenommen; der Bauernstand war weniger als die übrigen fremden Einflüssen ausgesetzt und bewahrte uns jene Principien vcs russischen Lebens, welche wir jetzt studiren, welche wir zu erforschen suchen, zu welchen wir in jeder gemeinsamen Drangsal unsere Zuflucht nehmen, und welche allein unserm Lande Macht und Ruhe versprechen. Ich weiß, daß ciuigc dies als Chmesenthum, als ein ewiges Stehenbleiben n. s. w. bezeichnen; allein wir können diesen sogenannten Fortschritt um jeden Preis nicht als solchen anerkeuneu; so manches Streben nach vorwärts ist schlechter als das Stehenbleiben an Ort und Stelle; gar manche Bewegung nach vorwärts führt nicht zum Ziel, sondern vom Ziel ab. Ncbrigeus sind wir weder in individueller, noch in allgemeiner, uoch in staatlicher Bezichuug für die Unbeweglichkeit und ist dieselbe auch gar nicht in dem rnssischen Geiste vorhanden. Wenn sich dieselbe unsern Blicken auch darzubieten scheint, so kommt dies blos daher, weil uusere Augen sowol in physischer als geistiger Beziehung an fremde Bilduug uud fremdcö Wesen gewöhnt sind und weil der Bauernstand vorgezogen hat, lieber eine Zeit lang still zn stehen, als auf (sowol ihm als uus allen) nicht eigenthümlichen Wegen umherzuirren. In Bezug auf die Laudwirthschaft — jenen Theil der menschlichen Thätig' keit, welcher vorzugsweise zum Stillstaudc geneigt ist, haben wir diesen Maugel nicht bei den Russen gchmden, was wir auf den vorausgehenden Seiten wenn auch nicht gerade be- 127 wiesen, aber worauf wir doch wenigstens verwiesen haben. Wir glauben, daß der nnparteiische Leser in den verschiedenen Aufsätzen unserer vorjährigen und diesjährigen Nnsgabe bereits viele Vewcise dafür gefunden hat, daß das russische Volk auch iu deu übrigen Beziehungen einem vernünftigen Fortschritte geneigt ist. Wenn dem so ist, sind wir dann nicht dem Gemeindewesen, folglich dem Gemcindegrundbesitz insbesondere, welcher ganz vorzugsweise die Grundlage unsers ^anernwesens bildet, für die Zähigkeit unsers Landes zum Dank verpflichtet? Was würde aus uuseru Bauern, was würde aus uns allen werden, wenn erstere in uuserin ungeheuer ausgedehuteu Lande herumirreud, heute da, morgeu dort sich als Tagelöhner verdiugen müßten, oder jedes Eigenthums bar, in voller Abhängigkeit ihrer Herren sich befänden? Znm Glücke ist das, was nicht durch das Gesetz bestimmt fcstgesetzt wurde, durch die Gewohnheit entstanden; die Befestigung desselben aber mnß der aufrichtigste und innigste Wunsch eines jeden Russen seiu. Dies sind die Hauptursachen, welche nns bewogen haben, nüt aller Kraft für die Erhaltung des Gcmeindegrundbcsitzes Anzustehen; wir könnten jedoch noch viele untergeordnete, aber dennoch sehr bedeutungsvolle Beweisgründe zn Gnusten unserer Meinung anführen. Diese Art des Besitzes verbindet die Glieder der Gemeinde sowol unter sich als auch alle zu kiner untheilbaren Einheit. Ist dies nicht von großer Wich-ttgkeit? oder schließt dieß irgendeinen Miostand, eine Gefahr Ü! sich? Wir sehen unsererseits hierin nur eiucu Vortheil für hen Staat und das Volk. Wenn man nns beweist, daß der Zweck jeder Gesellschaft das Gegentheil von Vereinigung ^ und daß hierin allein deren Rettung liegt, dann, aber nicht »rüher, werben wir von unserer Meinung abstehen. Der Gemeindegrundbesitz, welcher die danernde Grundlage für die einheitliche Thätigkeit der Gemeinde bildet, bietet eben 128 dadurch dem Staate die Möglichkeit, die Verantwortlichkeit fiir die Bezahlung der Steuern, für die Stellung vou Re-kruteu und audere Diuge der gauzeu Gemeinde aufzulegen, was sowol für den Staat als für die einzelnen Iudividucu viel bequemer ist, als wenn ersterer mit den eiuzeluen Personen und letztere wieder im einzelnen mit dem Staate zu thun hätten. Diese Art des Besitzes macht auch die gegenseitige moralische Aufsicht der Baneru untereinander möglich; außerdem grünbet dieselbe auch die Wohlthätigkeit auf vernünftige, billige uud zweckentsprechende Principien. Uebrigeus ist das vou uns Gesagte gewiß gcuügcud, um jeden unparteiischen ^eser vou der Nothwendigkeit und den Vortheilen der Beibehaltung des bei uus vorhandenen Gcmeindegrundbesitzcs zu überzeugen; doch behalteu wir uns vor, iu der Folge uoch einmal diese mit unserm Wesen enge verwachsene Sache zu besprechen uud alle ihre wohlthätigen Wirkungen für uus in Rußlaud mit größerer Genauigkeit zu entwickeln. Wir lassen hier nur uoch eine Bemerkung folgen und zwar auf Veranlassung jener uuserer Nationalökonomeu, welche die russische Gemeinde vou dem Standpunkte der französischen Socialisten vertheidigen und lieben. Wir finden die französische Association wesentlich verschieden von unserer Gemeinde uud selbst vou unsern Haudwcrkergememden und finden diesen Unlerschied in dem Umstände, daß die westeuropäischen Völker uuter dem Einflüsse des Princips herangebildet sind, sich zu einer gemeinschaftlichen Arbeit oder einem gemeinschaftlichen Ziele nnr durch ciuen Vertrag vereinigen zu können, dessen sämmtliche Punkte von denselben freiwillig festgesetzt und genau^ bestimmt werden, uud zwar nur in dem Maße, als dies für die Erreichung des Associationszwecks nnnmgäüg/ lich nothwendig ist. Unsere Gemeinde ist durch das Gesetz der Nothwendigkeit vereint: wer in einem gewissen Dorfe geboren ist, ist schon dadurch ein Glied der Bauerngemeindc. 129 Allerdings treten die ^eutc freiwillig in diese Gemeinde ein und treten ebenso wieder aus derselben cm?, allein der Charakter der Gemeinde wiro dadurch nicht verändert. Unsere Handwcrtcrgemeiudeu haben diese Eigenthümlichkeiten beibehalten: zwanzig, dreißig Menschen kommen nach Petersburg oder an irgendeinen andern Ort — sie verabreden mit den altern Mitgliedern keine umständlichen Bedingungen in Form ^ues gemeinsamen Vertrags, sondern sie treten einfach der 'lrbcitcrgcmeindc bei, nehmen deren Gebräuche an und werben gerade so vollständige Mitglieder wie die altern. Und dles kommt uur daher, weil alle Leute schon itt ihrer Hei-" Mat durch das Gemeiudepriucip erzogen sind. Die Westeuropäer vereiuigeu sich uur iusoweit, als dies uothweudig ist; die Nüssen aber werden als Angehörige einer Gemeinde ge-boren und gehören nur iusoweit nicht der Gemeinde au, als ^les ^,r Wahruug ihrer eigenen Individualität uud ihres Familienlebens notlnvendig ist. Es ist für erstere deshalb ^as Gcmcindeprinciv eine Ausnahme, welcher dieselben nur 3ezwungeu folgeu. Dort ist die Association ein künstliches Zeugniß, welches uach der Zeit und uach seiner eigeuen Bestimmung beschräutt ist; hier ist die Gemeinde etwas ^c-^ndiges, eine beständige Erscheimmg, sie ist ein Mittel zur ^'N'ichliug aller menschlichen Zwecke. Wir glanben, daß das Princip der Association im Westen immer mehr uud mcbr ^u 5iraft uud Ausdehnung gewinnt, allein wir wagen uns lncht der Hoffuuug hiuzugebeu, daß das Gemeindepriucip dort Zugeführt werden ki^nue, ivo dasselbe nicht bereits vorhanden uud wo das persönliche Eigenthum allen oder doch fast allen ^"rund und Boden iuuehat. Hierzu würde ein solcher Um-l^Wuug, eiue solche Erschütterung erforderlich sein, wie sie ^ Welt noch nie gesehen uud worüber selbst die Vermuthung '"b nicht einmal auszuspreebeu vermag. Diese ungeschickten ^Nbcidiger der russischen Gemeinde sind offenbar nur durcl, 130 ihre leidenschaftliche Zuneigung zu dcn westlichen Associationen, für die Liebe znr russischen Gemeinde gewonnen worden; sie sind voll Bewunderung über die dortige Vereinigung der Menschen zu gemeinschaftlicher Arbeit und haben mit Entzücken eine ähnliche Erscheinung in ihrer Heimat gesehen; allein sie wollen unsere Bauerngemeinde bilden; ihr bestimmte Gesetze geben, ihre Mängel verbessern und ihr das Ziel zeigen, wonach sie streben soll. Mit großer Sorgfalt snchen sie die Fehler unserer Gemeinde zu rechtfertigen, allein indem sie ihr schmeicheln, bewahren sie gegen dieselbe immer ihre Würde als civilisirte Europäer. So bitten sie, derselben die alljährliche Pcrtheüung des Gruudes und Bodcus uicht als Schuld auzurcchneu, iu der Ueberzeugung, daß sie bereit ist, derselben zu eutsagen, indem sie zugleich den Vorschlag machen, dieselbe unbedingt zu verbieten. Wir dagegen betrachten unsere Gemeinde mit ganz andern Augcu: obgleich wir sehr viele ihrer Unoollkommcnheitcn anerkennen, so sind wir dennoch überzeugt, daß sie nur allein dieselben verbessern könne, und zwar ohne Benachteiligung ihrer Einheit und Selbst-ständigkeit. Rathschläge verständiger und aufgeklärter Leute ist sie bereit mit Dank uud Ancrkennuug auzuhören, allein diese Rathschläge zu befolgen oder von sich zu weisen, muß ihre eigene Sache bleiben. Sie selbst ist durchaus uicht so unbeweglich und den nothwendigen Verbesserungen so abhold, als selbst einige ihrer Freunde glauben. Die Verthcilungen des Ackerlandes sind bei uus in dem größten Theile des Gouvernements abgeschafft uud zwar nicht sowol infolge einer Verfügung von außen als nach dem eigenen Dafürhalten dcr Gemeinden. In den gesegneten Gegenden des östlichen und südlichen Strichs des europäischen Rußlaud siud dieselben noch im Gebrauche; denn sie sind dort nicht nur nicht unzweckmäßig, sondern sogar sehr gerecht und nützlich. Dort braucht der Boden keinen Dünger und ist derselbe außerdem sehr ""- 131 gleichartig; folglich kann sich derjenige, welchem in diesem ^ahre ^n schlechtes Los zugefallen, wieder erholen, wenn er bald ein anderes, besseres Grundstück erhält. Was jedoch die Wiesengründe betrifft, so werden dieselben fast überall alljähr-luh vertheilt, weil die Nothwendigkeit, dieselben zn verbessern, bei uns noch so wenig erkannt ist, nnd weil bisjetzt nnr sehr wenige Privateigenthümer dazu geschritten sind. Dasselbe lst auch über die Verkleinerung der Parcellen, und über deren Erhaltung bei einer und der nämlichen Zahl zu bemerken, ^le Gemeinde ist in dieser Sache die beste Richtcrin. Reicht ^r Grund und Boden ans, so vermehrt sie die Zahl der Grundstücke, im entgegengesetzten Falle überläßt sie es den überflüssigen Leuten, ihren Verdieust anderswo zn suchen. Durch ciu Gesetz das Minimum des Antheils zu bestimmen, ^t rein umnöglich; au einem Orte ist eine einzige Dessiatine bou jedem Felde ein gutes Grundstück, au einem andern sind anderthalb und selbst zwei Dessiatinen zur Ernährung einer "auernfamilic nicht hinreichend. In diesen wie in andern ähnlichen Fällen muß man es lediglich der Gemeinde überessen, nach ihrem Gutdünken zu verfügen, und dies ist um '" bequemer, als dieselbe hierin weiser als die Weisen zu ^erke geht. Ich will hier nur znm Beispiel eine Thatsache "nfuhren. Die jährliche Vertheilnng dort, wo der Boden ^ Düngens bedarf, für unzweckmäßig erkennend, haben un->ere Gelehrten vorgeschlagen, einen bestimmten Termin, unge-^)r zehn bis fünfzehn Jahre, zu bestimmen. Die Gemeinen aber entschieden in allen Fällen, wo sie sich allein über-assen waren, die Sache ganz anders: sie theilten den Boden ^uf unbestimmte Zeit zu. Hierdurch erreichte« sie, daß die "auern ihre Felder bis zum Momente einer neuen Vcrthci-"ng fortdüugeu, während alle festgesetzten Termine, bei ihrcm Ablaufe, iu turzdauerudc, fast alljährliche Vertheilung verwandt wurden, wobei jcde Düngung nnmöglich ist. Die Ge- 9" 132 meinden haben zur Entschädigung jeuer Leute, welche ihre Felder erst vor kurzem gedüngt, die Gewohnheit angenommen, bei nenen Vertheiluugen den frühern Wirthen jene Grundstücke zu belassen, von welchen dieselben wegen der Düngung noch keine doppelte Ernte erhalten haben. Man sieht, wie weise unsere Gemeinde zu Werke geht! Wir dürfeu uns deshalb nur mit der äußersten Vorsicht in ihre Einrichtungen misckcn. A. Koschclew. Anmerkung. Uuter einigen stehe,, gebliebenen Fehlern des Ncbersctzers muß ich einen sinnentstellenden nachträglich hervorheben: S. K4, in der letzten Zeile, ist zn lesen, statt: ,,es ist nur öfter als einmal begegnet": — es ist mir niemals begegnet. Im Texte selbst befinden sich einige kleine Widersprüche und Unrichtigkeiten. So widerspricht,;. B. in der Anmerlmig S. 0« der zweite Absatz dem ersten, und nnrichtig ist S. 125 die Bemerkung, daß in den Landgemeinden Englands die Armeustcuer geringer sei alö in den Städten. Schließlich verweise ich diejenigen Leser, welche sich über die Geschichte der Leibeigenschaft in Nnßland näher unterrichten wollen, auf den von dem moskauer Professor Tschitscherin geschriebenen, ganz vortrefflichen Artikel „Leibeigenschaft in R." im „Staatswörtcrbnch" von Blnntschli nnd Brater. F. V. Historische Fragmente von A. S. Chomjatow. (Iwau Aksakow, der Herausgeber der „ li^'x^a L6s8«lill", leitet die hil,'r mitgetheilte Arbeit' aus dem Nachlasse seines erst vor kurzem gestorbenen Freundes durch folgende Feilen ein.) o^ndem wir das erste Fragment aus einem unter den papieren des verstorbenen Alcxei Stepanowitsch Chomjakow aufgefundenen Manuscript in unsere Zeitschrift aufnehmen, Nüssen wir einige erläuternde Worte über die Entstehung und den Charakter der Arbeit vorausschicken, aus welcher dasselbe entlehnt ist. Wir halten dies fnr um so nothwendiger, als diese Arbeit sich nicht nur durch die innere Eigenthümlichkeit der in ihr durchgeführten Anschauung, sondern anch durch die Originalität ihrer äußern Form auszeichnet, sodaß es, ohne sich von derselben einen vorläufigen Begriff gemacht zu haben, dem Leser schwer fiele, sich auf den gehörigen Standpunkt zu stcllen, um ihren Werth zn beurtheilen und sich darüber klar zu werden, was man von ihr erwarten könne und was man bon ihr fordern müsse. Vor zwanzig Jahren, als die historische Zuknnft der slawisch-orthodoxen Welt aus dem Bereiche dnnkler Ahnungen nnd poetischer Vorgefühle in ein bestimmtes Bewußtsein überzugehen begann, entstand natürlicherweise der Gedanke, in der Vergangenheit die Geschichte ihrer Bildung zu erforschen uud 136 sozusagen deren halbvergessene Genealogie wiederherzustellen. Vor allem mußte man die Slawen und die lebendigen Spuren der orthodoxen Glaubenslehre anfsnchen, welche durch die spätern Lagerungen mehr oder weniger verwischt wurden, man mußte aus deu verschiedenen Zusätzen die nationalen und religiösen Elemente absondern und dieselben mit ihrem Namen bezeichnen. Allein die Aufgabe konnte sich nicht auf eine äußere, die Seiten historischer Thatsachen nur berührende Definition beschränken. Es erhoben sich neue Fragen: Wozu ist dieser so lange nicht anerkannte Stamm bestimmt, welcher scheinbar zu irgeudeiuer passiven Rolle in der Geschichte verurtheilt ist? Wodurch erklärt sich seine Isolirung und die unbegreifliche Gliederung seines Lebens, welches auch nicht zu einer der dnrch die Wissenschaft anerkannten Formeln dcr socialen uud politischen Entwickelung paßt: etwa durch deu Umstand, daß er vou Natur aus keiner selbständigen Entwickelung fähig und nur bestimmt ist, als Reservematerial für die Restanration der herabgefounncuen Kräfte der au der Spitze stehenden Nationen zu dienen, oder den Umstand, daß in ihn: die Keime einer neuen Civilisation enthalten sind, deren Zeit erst nach der gänzlichen Erschöpfung der jetzt von der Menschheit verbrauchte« Principien anbricht? Was bedeutet jene rä'thsclhaftc Kirche, welche scheinbar in ihrer Entwickelung aufgehalten, sich gleichsam von der Geschichte fern hielt, seit das Christenthum im Westen in zwei sich widerstreitende Pole zerfiel? Endlich, welches geheimnißvollc Vand verbindet diese Kirche mit diesem Stamme, welcher nur iu ihr allem frei athmen und sich frei bewegen kann, uud außer ihr uuvel-meidlich einer sklavischen Nachahmung anheimfällt und in den innersten Grundlagen seines Wesens veruustaltet wird? Offenbar sind auf diese Fragen keine fertigen Antworten in den Werken der westeuropäischen Gelehrten zu finden. Wollten wir die Resultate der Wissenschaft, welche in Deutschland, Frankreich 137 und England zu Tage gefördert worden sind, auf Treue und Glauben und ohne Vorbehalt annehmen, fo würden wir dadurch unbewußt unser eigenes Urtheil unterschreiben und uus, wcnu auch gerade nicht zum Tode, fo doch zu eiuer historischen ^iullität, zu eiuem ewigen Folgeu fremder Fußtapfeu verdammen. Jedes Volk beschränkt fich bei der Auffassung eiues fremden Lebens unwillkürlich auf die Grenzen seiner eigenen Anschauung; es eignet fich die innere Idee jener Erscheinungen an, in welchen sich seine eigeue Individualität ausspricht, in welchen es sich selbst oder wenigstens die Individualitäten anderer Völker wiedererkennt, welche mit ihm durch die Einheit der geistigen Bestrebuugeu verbunden sind; alles, was außerhalb dieses Kreises liegt, erscheint ihm natürlicherweise als feine negative Seite und wird von ihm nach dem sich ihm fühlbar machenden Mangel jener Principien bestimmt, in welchen sein Ziel und Ideal der meuschlicheu Eutwickelung enthalten ist. Auf diefe Weise bildet es, indem es die vergangenen Schicksale der Menschheit rcproducirt, ans dem ganzen von ihm gesammelten historischen Material unwillkürlich gleichsam ein Piedestal für sich selbst. In seinen Uuterhaltnngen mit jungen Männern, mit Zög-Ungcn der moskauer Universität, dic sich um ihn gesammelt, wies Alerc'i Stepanowitsch (ihomjakow häufig auf diese unvermeidliche Einseitigkeit fertiger Resnltate hin, welche von ^ns ohne die nothwendige Kritik aus der fremden Literatur entlehnt werden; allein er wußte, daß mau die Resultate der Wissenschaft nur im Namen der Wisscuschaft selbst umstoßen ^nn, indem man die vollständigere Kenntniß der unvollständigen oder oberflächlichen Kenntniß gegenüberhält, und deshalb bestand er auf der Nothwendigkeit, sich an die Quellen 5" wenden und uach ihnen alle historischen Ansichten nnd Urtheile, welche wir den fremden Stimmen nachgesprochen, 5u prüfen. Unter seiner Leitung wurde damals der Gedanke 138 zur Herausgabe eines ausgedehnten Werkes gefaßt, welches den Forschungen über die vergangenen Geschicke und die gegenwärtige Lage der slawisch-orthodoxen Welt gewidmet sein-sollte. Der erste Band desselben erschien unter dem Namen „Der slawische Sammler" ^), und vieles Material war bereits für die Herausgabe der folgenden Bände vorbereitet; allein der frühe Tod des Hauptleiters der Arbeiten, des verstorbenen Walujew, an dem die russische Wissenschaft einen nicht unbedeutenden Factor verlor, machte diesem Unternehmen ein Ende. Der enge Kreis, welcher sich zu dem gemeinsamen Werke gebildet hatte, zerstreute sich allmählich nach verschiedenen Gegenden, und Chomjakow übernahm allein aus den Händen Walujew's die Erbschaft des von ihm ebenfalls angeregten Werks. Ueber den Gang seiner Arbeiten selbst konnten wir nock' keine genauen und ins einzelne gehenden Nachrichten erhalten. Wie es scheint, begann er mit dem Studium der religiösen Sekten, welche den orthodoxen Osten in den ersten Jahrhunderten des Christenthums beunruhigten, in Verbindung mit der Bewegung der Völker, welche von verschiedenen Seiten über die Grenzen des römischen Reichs hereinbrachen; ferner vertiefte er sich, nachdem er anch auf die lebendige Spur der orientalischen Religionen gerathen, in das Alterthum, ging von Griechenland nach Indien und Aegypten über, aus dem Bereiche der Theologie und Geschichte, in des Wortes engerer Bedeutung, auf das Reich der Ethnographie und Philologie. Der Kreis seiner Forschungen erweiterte sich allmählich und umfaßte endlich die ganze alte Welt bis zu den frühesten Erinnerungen des Menschengeschlechts. Ohne den Gegenstand seiner Beschäftigungen vorher abgegrenzt und ohne sich die Abfassung eines Buches zum Ziele gesetzt zu haben, vertiefte 1) <ÜH«u6nc«ift <ü6op«ll«^. 139 er sich immer mehr und mehr in die Arbeit, welche, ohne daß er es selbst bemerkte, nach und nach zu ungeheuer!! Dimensionen heranwuchs. Wenn er auf das Land zog, nahm er gewöhnlich eine ganze Bibliothek von Chroniken, Wörterbüchern und neuern Forschungen und Reisebeschreibuugen mit sich; in einem Jahre ließ er sich um zehntaufend Rubel Bücher aus dem Auslaude verschreiben. Bei seiner ungewöhnlichen Geisteskraft überwältigte er dieses ganz rohe Material im Laufe des Sommers und Herbstes und im Anfange des Winters, und trug dann, obgleich nie zu Excerpten seine Zuflucht nehmend, sondern sich auf sein gewaltiges Gedächtniß verlassend, die Resultate, die er aus allem, was er gelesen, geschöpft, in besoudere Hefte und zwar in sehr gedrängter Form zusammen. Auf diese Weise sammelten sich bei ihm im Verlaufe von ungefähr zehn Jahren zwei starke, aus 21 sehr klein geschriebenen Heften bestehende Bände an, welche die Weltgeschichte von den ältesten Zeiten bis zu jener Epoche behandeln, wo der skandinavische Norden nach dem halbmythischen Könige Harald Hildetand, der in der Bravallaschlacht fiel, in verschiedene Völkergruppen zerfiel. Der Autor selbst hat seiner Arbeit keinen Titel gegeben, weshalb wir uns entschlossen haben, dieselben „Skizzen über die allgemeine Geschichte" zu nennen. Dieselben sind uns in ihrem EntWurfe, in ihrer ursprünglichen Form zugekommen, w welcher dieselben allmählick unter seiner Idee heranwuchsen. Um ihren änßern Charakter zu verstehen, muß man nothwendig vor Augen haben, daß Alere'i Stepanowitsch Chomjakow diese Skizzen nicht für das Publikum, soudern für sich selbst schrieb, deshalb nahm er in dieselben auch bei weitem nicht alles auf, was dem Leser zu genauem Verständnisse seiner Ideen zu wissen nothwendig gewesen wäre, sondern nur dasjenige, was in seiner eigenen Vorstellung schließlich in ein 140 volles Gan;e zusammenfloß, oder das, worin er von der Meinung des Schriftstellers, den rr las, abwich, oder endlich neue abgeriffene Gedanken, die ihm gerade in den Sinn kamen, hier nnd da einfache Andeutungen, Vergleichungen, ja sogar Fragen und Voranssetzuugen, welche einer weitern Prüfung bedurften. Kaum dürfte eine zweite Arbeit gefnnden werden, welche in einem so hohen Grade zwei sich scheinbar entgegenstehende Eigenschaften in sich vereint: eine tiefe innere Einheit des Grundgedankens, neben dem Mangel an jeder ersichtlichen Einheit, an jeder systematischen Ordnung in der Aufstellung der einzelnen Theile, und neben einer Änntschcckigteit des Inhalts, welche den Leser anfänglich zurückstößt. Der Kampf der Religion der sittlichen Freiheit, der schließlich in ihrer Totalität ins Leben getretenen göttlichen Offenbarung, welche in der orthodoxen Kirche niedergelegt ist, mit der Religion der materiellen oder logischen Nothwendigkeit oder der ftantheistischen Lehre, welche ihren letzten und vollständigen Ausdruck in den neuesten philosophischen Schulen Deutschlands gefunden hat, diefer Kampf, welcher sich in den Glaubenslehren und in dem historischen Geschicke der an der Spitze sich befindenden Völker der Menschheit per-fonificirt — ist das Grundthema, welches die unter sich ge-trenutcu Forschungen in ein organisches Ganze vereinigt. Dabei finden wir in dem einen und dem andern Hefte die vollständige Uebersicht irgendeines Ereignisses oder einer Lehre, welche beinahe ohne alle Weitcrc Umarbeitung in einer vollendeten Arbeit ihre Stelle finden könnte; gleich daneben ganze Seiten philologischer Wurzeln und sehr eingehender Forschungen über die Vermischung der Dialekte, über die Verdrehung der Wörter und Begriffe bei ihrem Uebergange von einem Volte zu dem andern; endlich abgerissene Bemerkungen, Anschauungen, welche nebenbei hingeworfen werden, und welche 141 infolge irgendeiner unerwartet anftanchenden Vergleichung manchmal weit in cinen andern historischen Mittelpunkt vorauslaufen. Alles dieses folgt nacheinander in einer unnuter-brochcnen Reihe, ohne Eintheiluug in Abschnitte oder Perio-ben, ohne alle Üitate und Hiuweisuugeu auf oie Quellen, ohne kurze Wiederholungen des Vorhergcsagten, ohne vorbereitende Einleitungen, und im allgemeinen ohne jenes allgemein angenommene Verfahren nnd ohne jene Bedingnng, wodurch das Studium einer für das Publikum bestimmten Arbeit erleichtert wird. Der Grund hiervon liegt darin, daß der Autor nie daran dachte, seine Skizzen zu veröffentlichen; er betrachtete dieselben als einen unerschöpflichen Vorrath von znm Theil schon überarbeiteten Materialien, welcher für einige Bände oder eine ganze Serie von Aufsätzen hingereicht hätte, und aus welchem er in freier Zeit einzelne Theile für den Druck herauszuziehen beabsichtigte, nachdem er dieselben einer vorlänfigcn Durchsicht uud vollstäudigcu Bearbeituug uuter-lvorfen. So dienteu ihm die Forschungen über die Häresien in der orthodoxen Kirche zu polemisch-thcologischeu Broschüren, welche er im Auslande in französischer Sprache herausgab, die aber bisjetzt unter unserm Publikum noch wenig bekannt geworden; ein anderes Fragment über die Dynastie der Merovinger wollte er in Form eines besondern Aufsatzes für die „Russischen Unterhaltungen" bearbeiten; doch war seine Aufmerksamkeit in den letzten Jahren auf audere Gegeustäude gerichtet; es war ihm nicht vergönnt, das große von ihm entworfene Werk zu Ende zu führeu, ja uicht einmal dasjenige konnte er benutzeu, was bereits von ihm vollendet worden; was aber ihm nicht zu vollenden gelang, das wird wol kein anderer auf sich uehmen. Wir können der Nachwelt nur die Zeiche Hinterlassenschaft seines Geistes in der Form bewahren, Ut welcher dieselbe auf uns gekommen ist. Es unterliegt keinem Zweifel, daß iu einer so 142 ausgedehnten, vielgegliederten und keiner endgültigen Prüfung unterworfenen Arbeit, wie die Skizzen Chomjakow's sind, sich viele Versehen, Fehler, Widersprüche und unwillkürliche, aber noch häufiger ungerechtfertigte Hypothesen finden; Specialisten, welche genau mit den Quellen bekannt sind, werden auf dieselben hinweisen und sie verbessern; zu gleicher Feit aber werden sie — daran zweifeln wir nicht — dennoch die große, gelehrte Arbeit des verstorbenen Autors nach ihrem vollen Werthe schätzen; die Altmeister in dcr Wissenschaft werden sich, wenn sie an seiner Arbeit nicht den Zunftstempcl wahrnehmen, mit Geringschätzung vou derselben abwenden; schon dcr Mangel einer Eintheilung in Kapitel und Rubriken wird der selbstgefälligen Kritik vielen Stoff bieten: wir überlassen ihr diesen leichten Triumph über eine Arbeit, welche ihr in dieser Beziehung wehrlos gegenübersteht. Die Mehrzahl der Leser wird in ihr eine Lecture finden, die allerdings nicht leicht ist, die aber jede Anstrengung des Gedankens mit reichlichen Zinsen belohnen wird. Letzteres können wir verbürgen. In nicht allzu langer Zeit hoffen die Freunde des seligen Chomjakow zur Herausgabe aller seiner Werke zu schreiton. Die zwei geschriebenen Bände Skizzen über die Universalgeschichte bilden vier bis fünf gedruckte Bände. Das in diesem Werke abgedruckte Fragment ist dcm li>. und 17. Hefte entnommen und nimmt im Original den Naum von nicht ganz 20 Seiten ein. So weit der russische Herausgeber. Meine eigene Ansicht über drn Werth dieser historischen Skizzen, welche von derjenigen meines Freundes Aksalow wesentlich abweicht, findet der Leser am Schlüsse des folgenden Aufsatzes. Ter Verfall dcs römischen Reichs. — Die Vewcgung dcr germanischen und slawischen Völker. — Religiöse Streitigkeiten im Orient. Als Theodosius das Reich theilte, kamen beide Theile, der östliche wie der westliche, in Hände, welche dcr Gewalt auf gleiche Weise unwürdig waren; allein die Nichtigkeit des Honorins wurde dnrch die kräftigen Persönlichkeiten eines Stilicho und Actins unterstützt. An dem Hofe dcs Nrcadins Zeigte sich auch nicht ein Mann, welcher sich ein historisches Andenken erworben hätte. Schon die Lage des östlichen Reichs selbst war gefährlicher. Auf dieses stürzte sich das ganze Gewicht der gothifchcn Völker und Stämme, welche von dem slawischen Boden vertrieben worden waren. Alle, die Alanen, Gcpidcn, Vandalen, Suevcn, Burgunder, Taiphalcn und Heruler, versuchten der Reihe nach ihre Kraft an seinen fast schutzlosen Grenzen. Auf dieses sollte das erste Gewitter der Hunnen hereinbrechen, doch hielt sich dasselbe noch fern, weil es die Freundschaft und den Tribut einem zweifelhaften Kampfe vorzog. Bekannt ist die Antwort dcs byzantinischen Kaisers an den stolzen Attila: „Geld habe ich für Frcuude, für Feinde aber Eisen." Unterdessen war die lange beinahe schutzlose Grenze am Envhrat dem gewaltigen Andränge Persiens, die südliche den 144 Einfällen der Araber, die nordöstliche den Verheerungen dcr kaukasischen Stämme ausgesetzt. Gleich nach den Hunnen brausten die Wellen des ganzen slawischen Meeres daher, welche von den Avaren aufgerüttelt nnd anf Byzanz geworfen wurden, nnd dieser Andrang war den Kräften ganz Germaniens gleich. Nach dem Falle Persieus, gerade als das Reich sich kaum des avaroslawischcn Bündnisses, welches Byzanz von Westen belagerte, sowie der Scharen des Eroberers Chosroes erwehren konnte, welcher dasselbe zu gleicher Zeit von Osten her bedrängte, als es ihm noch nicht gelungen, seine Kräfte zu dem ueuen Kampfe zu sammeln — erhob sich ein neues Ungewitter, viel gewaltiger als alle vorhergehenden, erhob sich cm Stnrm, welcher mit seiner letzten entfernten und abgeschwächten Welle Spanien, das südliche Italien nnd einen bedeutenden Theil von Gallien überflutete und nnr mit Mühe durch die vereinigten Scharen der Franken und die kräftige Hand Karl Martell's zurückgeschlagen werden konnte. Es war dies der Islam in seiner ersten Periode; allein das Reich erholte sich wieder und begann allmählich seine Grenzen gegen die ermattenden Sarazenen zu erweitern. Jetzt ergoß sich aus dem innern Asien der Strom der kriegerischen unwiderstehlichen Hordeu der Türken, deren Kraft in verschiede-nen Zeiträumeu alle Reiche Asiens und den ganzen Osten Europas über den Haufeu warf; da cilteu vom Westen die Scharen der au den Kampf gewöhnten und vom Kopf bis zur Zehe mit Stahl gepanzerten Germauen herbei. Die Hauptstadt fiel in die Gewalt des Feindes; das Reich verschwand gleichsam, aber von neuem erhob es sich wieder zu einem harten nnd letzten Kampfe, in welchem es — geschwächt, zerrissen und von allen verlassen — endlich unter den Streichen der mittelasiatischen Eroberer zu Grunde ging. Dies war sein viclhnndcrtjähriger Kampf, dies waren feine tausendjährigen Anstrengungen nach Theodosius, trotz dcr Schutzlosigkcit 145 smu'r lcmgm Grenzen von Illyrieu bis Arabien, trotz der Verderbniß des Volks, trotz der todesähnlichen Erstarrung dcr von der Alten Welt ererbten Staatsformen, trotz dcr geringen Bevölkerung, welche einigemal beinahe durch die Pestscuche oder durch das Schwert des Feindes vernichtet worden, und endlich trotz des armseligen Zustandes, in welchem es bereits Thcodosius nach den Unglücksfällm hinterlassen hatte, welche dasselbe zu den Feiten des Decius und Valens betroffen. Allein von dieser Anstrengung hat die Geschichte keine Notiz genommen. Anders war das Schicksal des abendländischen Reichs. Dasselbe war beinahe ans allen Seiten von weiten Meeren oder dem freien Ocean umgeben, welcher sich der römischen Herrschaft zwar nie unterworfen hatte, aber das römische Reich schützte. Die Binnengrenze war von der steilen Mauer der Alpen umgeben nnd nur das nicht sehr breite Bett des Nhein eröffnete dem Feinde einen leichten Zugang zu den Grenzen, Galliens. Mit Ausnahme des nördlichen Italien, welches mehrmals litt, und der Ufcrgcgenden des Rhein, welche die Germanen verwüsteten, waren die Provinzen von dcn barbarischen Völkern verschont geblieben. Die wenig bedeutenden Einfalle der Pictm und Scoten boten für Britannien keine bedeutende Gefahr dar. Ein großer Theil Galliens sah keinen Feiud. Spanien blühte weit entfernt von den nordischen Feinden. Die Seeräubercien der Sachfeu und Franken oder der afrikanischen Mauren konnten die an der Küste gelegenen Dörfer einäschern; allein sie vermochten das Neich nicht zu erschüttern, viel weniger es zu bedrohen. Dies War die Lage des abendländischen Reichs nach Theodosius. Seine Feinde waren dieselben germanischen oder sarmatischen Stämme, welche erfolglos über den Osten hergefallen, und diese Stämme hatten einen großen Theil ihrer Kräfte in dem Kampfe mit Byzanz oder in dem Andränge der siegreichen Ausfische Fragmente. II. ^) 146 Hunnen verloren. Allzu viele Feinde hatte Rom nicht — mit Ausnahme der Franken und Alemannen, deren Stärke kaum derjenigen Persicns allein gleichkam, und welche im Vergleiche zu dem Andränge der Slavo-Avaren unbedeutend, vollends unbedeutend aber im Vergleiche zu dem Islam in seiner ersten Epoche waren. Und trotz alledem trieb das innere Gefühl die Barbaren nach Westen. Die näher liegenden, schutzlosen und reichen Provinzen des Ostens im Stiche lassend, warfen sie sich auf das durch unzugängliche Gebirge geschützte Italien, auf das durch seine Entfernung, seine Wälder, seine Sümpfe und durch germanische Stämme vertheidigte Gallien, nach dem von dem Meere und den Pyrenäen umschlossenen Spanien, auf Afrika, ein Laud, welches gleichsam ?iner andern Welt augehört und dem Bewohner des Nordens kaum zugänglich ist. Das imiere Gefühl des Eroberers wurde durch die Schnelligkeit der Eroberung gerechtfertigt. Noch war kein Jahrhundert nach dem großen Theodofins verflossen und das römische Reich war nicht mehr. So war dessen Schicksal, so sein Untergang beschaffen, der ihm offenbar nicht durch äußere Feinde, sondern durch seine innere Kraftlosigkeit bereitet wurde. Seine Schwäche sprach sich besonders scharf in dem Gefchicke Spaniens aus, eines von außen beinahe unzugänglichen Landes; im Innern nach allen Richtungen von hemmenden Gebirgen durchzogen, wurde dasselbe im Verlaufe einiger Jahre durch wenige Tausende von Barbaren erobert, die nach langen erfolglosen Hin- und Herzügm im übrigen Europa mit heiler Haut davongekommen waren. Die Ursachen dieser Schwäche liegen in der frühern Geschichte des römischen Abendlandes, nicht aber in der politischen, sondern in der geistigen Geschichte. Die Kritik, welche bisjetzt die große Frage über die Verschiedenheit des Schicksals des westlichen und östlichen Reichs entweder ihrer Aufmerksamkeit nicht würdigte oder dieselbe 147 8ar nicht bemerkte, würde in äußern Ursachen, in geographischen Verschiedenheiten u. s. w., umsonst nach Aufklärungen suchen. Die geographische Lage des römischen Reichs war vortheilhafter als die des byzantinischen; die physischen Eigenschaften der Bewohner vorzüglicher, die Mittel zur Vertheidigung zahlreicher und sicherer. Allerdings war der Osten handeltreibender und reicher; allein war das üppige Afrika oder das gesegnete jenseit der Pyrenäen gelegene Land, oder bas getreidereiche Britannien, oder Gallien vom Mittelländischen Meere bis zur Nordsee von der Natur vernachlässigt, vder gänzlich ohne Handel, oder vom Feinde verwüstet? Allerdings war die Lage Roms nicht so vortheilhaft als die Lage von Vyzanz; aber es verstand, die Welt zu erobern und sie lange zu beherrschen. Allein Rom war bereits von den Kaisern verlassen, welche größtentheils in Ravenna (und manchmal in Mailand) residirtcn; Byzanz hingegen war keine zufällige Erscheinung, sondern das Resultat des Lebens, und gerade ein solches Leben hätte eine neue Hauptstadt in dem Mittelpunkte des abendländischen Reichs, an den Ufern der '^hone, oder im südlichen Gallien, nahe am Rhein, zur Abkehr gegen den Feind, und am Mittelländischen Meere — Zur Vereinigung der Legionen gegründet. Als das Reich in zwei Hälften getheilt wurde, erschienen beide Hälften offenbar nls gleich mächtig in den Augen Diocletian's uud später in benen des Theodosius; in den innern Kämpfen verblieb der Sieg gewöhnlich dem Westen; allein diese westliche Hälfte >var unfähig zu einem felbständigen Leben. Der Unterschied, Welcher dnrch die spätere Geschichte dargethan wurde, konnte Nlcht von den Zeitgenossen nach seinem Werthe erkannt wer-bkn, weil er rein geistig und das Resultat des frühern, Listigen Lebens war; denn der Mensch erkennt das Geheimniß ber geistigen Kraft oder der geistigen Kraftlosigkeit erst dann, ^'enn sich dieselbe in historischen Erscheinungen ausgesprochen hat. 10* 148 Der Osten war von alters her reich an geistiger, selbständiger Thätigkeit. Jahrhunderte vererbten auf Jahrhunderte den Schatz der Idee, der Wissenschaft oder der Knnst. Der Anstrengung vieler Iahrhnnderte war von Hellas die Krone aufgesetzt worden, welches die Idee von Aegyvten und Phöni-zien und von dem jenseit des Euvhrat gelegenen Lande erhalten nnd dieselbe in ein hohes Ideal menschlicher Vollkommenheit, in einen Siegeshymuus der menschlichen Individualität verschmolzen hatte. Die Lehrer von Hellas wnrden zu Schülern derselben nnd nahmen das nene Princip des Lebens, das Streben nach Entwickelung aller Fähigkeiten der menschlichen Seele, seines ganzen innern Wesens in sich auf. In dem hellenischen Osten waren die Reiche schwach und nichtig) die Menschen dagegen kräftig nnd innerlich reich. Der Westen war von dem rohen nnd einseitigen Staatsthume Roms gegründet. Deshalb war Rom, als Staat betrachtet, groß; die Menschen dagegen, in seiner ertödtcnden Nmarmnng liegend, waren innerlich arm nnd nichtig. Die menschliche Seele wurde nnter der römischen Herrschaft nicht veredelt; der Geist wurde nicht dnrch das Streben nach einem höhcrn Ziele bereichert nnd nährte, indem er die Vervollkommnung des materiellen Lebens annahm, in sich nicht die stolze Liebe zur Bildung. Der Gallier, der britannische Kymre und der Celto-Iberier blieben wie ehedem Barbaren, welche theils von der römischen Polizei eingeschlossen, theils unfreiwillig innerhalb der Grenzen der römischen Staatsordnung festgehalten wnrden. Der Osten bereicherte sich, nachdem er unter römische Herrschaft gekommen, dnrch eine neue Kenntniß, die Frncht der alten Bildung, durch die Kenntniß des Rechts, nnd nahm dieselbe in seine geistige Schatzkammer nicht als einen todten Buchstaben, sondern als eine lebendige und eiue weiterer Entwickelung entgegenharrende Idee anf: leblos im Westen, 149 lebte die Rechtswissenschaft im Osten fort und belebte denselben. Die Laufbahn der alten Welt endigte mit dem Selbst-Morde ihrer ermatteten Principien (der Wissenschaft in Hellas, der äußern Wahrheit in Rom). Eine neue Welt strahlte der Menschheit entgegen; ein neues belebendes Princip ergoß sich m die Seele des Menschen; allein die große Erscheinung hatte für den Osten und Westen nicht die gleichen Folgen. Die hellenische Hälfte des Reichs füllte sich schnell mit eifrigen Christen, bereit ihren Glauben vor der ganzen Welt zu be-kennen und für die Wahrheit zu leiden, bereit zu einem tiefen Studium der Wahrheit, welche das Wissen mit dem Leben aussöhnte. Das Christenthum war für Hellas die letzte göttliche That seiner persönlichen Entwickelung, eine von außen angenommene, aber in das Tiefinncrstc seines Geistes auf-" genommene Lehre. Die römische Hälfte des Reichs nahm das ^hristcuthum später uud langsamer an. Dasselbe hatte auch im Westeu seine, wenn auch nicht sehr zahlreichen Märtyrer, seine Jünger (wovon jedoch die vorzüglichsten entweder Ankömmlinge ans dem Osten oder deren erste Schüler waren); allein seine Wirkung war beschränkt, seine Forderungen nicht allumfassend. Das Christenthum im Abendlande hatte, gerade ^ die armselige, Bildung des Abendlandes den Charakter der Aeußcrlichkeit, indem es wol das Leben beruhigte und veredelte, allein die schlummernden Kräfte des menschlichen Geistes nicht weckte. Selbst der Kreis seiner Thätigkeit war enger als im Osten; er umfaßte blos die Städte, welche bereits von dem römischen Princip durchdrungen waren, und welche von den Eroberern nicht nur Gesetze, sondern auch einen Theil ihrer Bewohner und die Sprache empfangen hatten. Die Dörfer blieben den: christlichen Bekenntnisse lange fremd und behielten ihre Sprache, ihre Sitten und ihren Götzendienst bei. 150 Dies beweist schon der Name p^ani, welchen man den Götzendienern gab, sowie der Mangel an christlichen Denkmälern in den Volksdialekten. Auf diese Weise verblieb die Individualität des Menschen in ihrer frühern Erniedrigung und der Glaube nahm den Charakter einer allgemeinen Religion an, indem er den Charakter der Idee und des lebendigen Wissens verlor. Als endlich das Christcnthnm sich über die ganze Ausdehnung des Reichs erstreckte, begann es allmählich auch in die entfernten Dörfer, in die Einöden und in das allgemeine Leben einzudringen. Allein es konnte, wie es war, nicht völlig zn den Dorfbewohnern hinabsteigen. Der Lebensvroceß, welcher in dem ganzen westlichen Reiche vor sich ging, bestand in der allmählichen Romanisirnng der einzelnen Provinzen, in dein allmählichen Ersterben der lokalen Sprachen und des lokalen Wesens und in der allmählichen Ausbreitung der Principien, welche Italien entsprungen waren. Bei einem solchen Schwanken und einem solchen Uebergangszustande verblieb die Geistlichkeit bei jeuer Sprache, bei jenen Principien, welche mehr Kraft und Dauerhaftigkeit in sich bargen, d. h. bei den römischen. Es schloß sich deshalb in eine administrative Sphäre ein und blieb, indem es den bereits begonnenen Proceß der Romanisiruug der Provinzen beschleunigte, dem Volte und deu das Volk bildenden Personen fremd. Das Christenthum verwandelte sich in ein Institut. Das ganze Verdienst der abendländischen Geistlichkeit beschränkte sich (mit wenigen den Gebieten der alten Bildung angehörenden Ansnahmen) nicht auf die Entwickeluug der bürgerlichen Verhältnisse (denn anf diesen lastete die Form des Römischen Rechts), sondern der geistlichen Rechtspflege (z. B. der Verordnnng über die Appellationen und dergleichen) nnd des Verwaltuugswefens in kirchlichen Dingen. Dies war die Lebensaufgabe aller bessern Bischöfe im Abendlande; dies das Streben des abendländische« 151 Christenthums, welches sich in dem Edicte Gratian's über deu Pontifez- Marimns, in den Verordnungen vieler Synoden und m der Bestimmung des Theodosius (eines Nbendländers) über den Katholicismus und das Christenthum im Sinne einer Staatsreligiou aussftrach. Allem all dieses Streben blieb erfolglos. Das höchste Gebiet des bürgerlichen und staatlichen Nechts blieb unberührt. Dasselbe gehörte immer nock der alten Welt und dem Bunde der römischen Bildung an. Der Osten fuhr mit der persönlichen Entwickelung des Menschen fort und kämpfte in der Sphäre der Idee siegreich mit dem geistigen Einflüsse des frühern Hellenismus. Das Abendland entzog sich, nachdem es das Erbe des Römischen Rechts angenommen nud gesegnet, jener Wirkungssphäre, welche allein ihm zugänglich war. In ihm ward das Christenthum, wie der Staat selbst, eine todte Form. So ist das Zeugniß aller Zeitgenossen. Die innere Leitung des Staats nnd dessen ganzes bürgerliches Leben hatte schon lange den höchsten Grad von Unordnung und Entwürdigung erreicht. Das ganze Reich von den Wasserfälleu des Nil bis zu den Grenzen des gebirgigen Cale-donieu, bot eine endlose Reihe gesetzlicher Bedrückungen, ad-winistrativer Täuschungen nnd legaler Verletzungen jedes Menschlichen Rechts, ja häufig sogar roher Beraubungen dar. ^m Osten dagegen war das provinzielle Leben nicht vernichtet worden. Die Spöttereien der Antiochicr über Inüan, die häufigen Empörungen und andere mehr oder weniger unordentliche Erscheinungen der städtischen oder provinziellen Macht beweisen, daß selbst die Herrscher (wir sprechen nicht von den lokalen Autoritäten) zn einem vorsichtigen Verhalten gegen die Völker gezwungen waren, welche durchaus nicht ihren historischen Ruhm vergessen hatten. Die Individualität hatte nicht alle ihre Rechte verloren. 152 Es war eine alte Bildung und ein stolzes Bewußtsein der Bildung vorhanden; es gab Gewohnheiten und Traditionen; es eristirte eine geistige Thätigkeit, welche den Regenten Achtung einflößte und der Unumschränktheit des Absolutismus Schranken setzte. Die Leiden des Volks stiegen manchmal auf das Aeußerste; aber die Misbräuche der Gewalt erfuhren oft einen gefährlichen Widerstand oder eine strenge Ahnduug. Das lebeudige Blut war in den Adern des Staatskörpers noch nicht erkaltet. Anders war es in dem finstern Abendlande. Dort gab es weder Gewohnheiten, noch Stolz, noch Traditionen, noch individuelle Bildung. Die Misbräuche lokaler Gewalt stießen auf keinen Widerstand; die Thorheit des administrativen Eigennutzes, welcher den Schweiß und das Blut der Unterthanen zur vorübergehenden Bereicherung des kaiserlichen Schatzes aussog, kannte keine Schonuug. Die Kraftlosigkeit des Volks wagte sich uicht zu widersetzen; der Stumpfsinn des Volks verstand nicht die Schäden zn heilen, welche ihm von einer blinden Regierung beigebracht wnrden. Die Reichthümer der Natur blieben unverarbeitet im Schose der Erde liegen; die Reichthümer, welche von der industriellen Thätigkeit vergangeuer Iahrhuudcrte als Erbe hinterlassen wurden, mußten unrettbar verloren gehen. Man mußte die Bürger durch Androhung von Strafen vom Entweichen in die Dörfer und Einöden zurückhalten. Mau mußte die Landbewohner durch Strafen hindern, zu den Barbaren zu entfliehen. Es war weder der Geist noch das Verständniß zum eigenen Schutze vorhanden; es gab keine Schätze, um auswärtige Vertheidiger zn miethen. Das entseelte Reich war eine reife Beute für deu nächsten besten bewaffneten Fremdling. Dies waren die Ursachen des Unterschieds in den Schicksalen der beiden Hälften der römischen Welt. Sie waren rein geistiger Natur und entsprangen der geistigen Geschichte 153 der Völker. Im Abendlande wollten und konnten sich die halbbarbarischen Unterthanen des Reichs nicht gegen Barbaren vertheidigen, denen sie dnrch ihre eigene Uncnltnr nahe stanzn; M Osten kämpfte jede Provinz bis zum letzten Bluts-tropfen, jeder Zoll Landes wurde von dem Eroberer theuer erkauft, jeder Bürger, ein Nachkomme des Bildung verbreitenden Hellenen, oder des weltbeherrschenden Römers, ja selbst des Syrers, war stolz auf seine alte Tradition, zog den Tod dem Joche des Barbaren vor. Der Staat war schwach nnd konnte nicht erstarken, weil er bereits mit dem Namen des Glaubens den Segen über die todten Formen gesprochen, die er von dem Alterthum ererbt hatte, und weil es vielleicht Worischen Nationen unmöglich ist, auf ihre gauze Geschichte und ihren ganzen Ruhm zu verzichten und sich in einem rein Menschlichen Leben wieder zu verjüngen. Allün die Menschen waren kräftig; sie konnten, wollten und verstanden für ihre Bildung nnd für ihren Nationalstolz zu kämpfen. Deshalb vermochte das Häuflein Griechen noch lange über die Scharen ber Feinde zu siegen, nnd das schmale Ufer Palästinas oder kleine gebirgige Bezirke bewahrten noch ganze Jahrhunderte hmdnrch ihre Unabhängigkeit mitten uuter der Ueberschwem-"Mng der mnselmanischen Eroberer, während Spanien (mit "Nsnahme der südlichen Küste) beinahe ohne Kampf von einem ^äufleiu Barbaren unterjocht wurde, die über ihreu eigenen Sieg erstaunen mnßten. Die lokale Freiheit oder der römische ^ame erhielt sich blos in den Ländern der alten Bildung, ^e z. B. in dem südlichen Italien und Sicilien, oder in jenen Gebieten, welche ihre Nationalität und ihre Tradition nicht völlig aufgegeben hatten, wie z. B. in Armorika oder in den Schluchten des kymrischen Wallis, oder vielleicht in den Georgen des iberischen Cantabrien. Die Schlnßbedcutung der Völkerwanderung in Europa zur Zeit des Sturzes des römischen Reichs ist die Verpflanzung 154 der germanischen Aristokratie aus den westslawischen Gebieten in das romanisirte Gebiet der Celten und Iberier. Während die slawischen Gebiete, von ihrem östlichen Kosackenthum (den Hunnen) befreit, Leben oder doch wenigstens die Anfänge eines selbständigen, seit alters her bald von den Celten, bald von den Sarmato-Alanen, bald von den Germanen bedrängten Lebens erhielten, verlor das abendländische Europa auf immer seine alte Selbständigkeit^ und ward zn einem langen Kampfe verurthcilt, welcher nicht mit der Befreiung der frühern Elemente, sondern mit der organischen Verschmelzung des Einheimischen und Fremden zn neuen organischen, socialen - oder staatlichen Körpern endete. Die ganze Bewegung der Germanen war von alters her eine Bewegung des Heerbannes. Seit undenklichen Zeiten kehrten die einzelnen Theile dieses Heerbannes, welche sich in Einöden niedergelassen, hänfig zu einem Gemeindewesen oder zu einem gemischten Wesen znrnck/ in welchem viele Principien der wirklichen Gemeinde mit den bedingten Principien des Heerbannes zusammenstoßen, welches sich von dem reinen Gemeindewesen durch die starke Entwickelung der Individualität und deren egoistischer Rechte unterschied. Allein die hundertjährige Erziehung unrechtmäßiger Gewalt hatte den Germanen ihr unauslöschliches Siegel aufgedrückt. Sie waren eine regierende und gewaltthätige Aristokratie (wie jede Aristokratie nach ihrem Princip) in den slawischen Ländern. Sie konnten und wollten nicht in den Verlust ihrer hohen Bedeutung und in das Eintreten in das nationale und rein menschliche Leben einwilligen. Die Slawen erschienen in ihrer Bewegung nach ihrer Befreiung häusig als Eroberer (es war dies die nothwendige Folge der durch Gewalt zurückgeschlagenen Gewalt); allein sie suchten größtentheils verödete, ja sozusagen erstorbene Länder anf, um sie dem Leben und der Menschheit wieder zurückzugeben. 155 Hierdurch erklärt sich der beständige Drang der Slawen zu den Ländern des östlichen Reichs, und zwar auf Einladung der byzantinischen Kaiser. Ueberhaupt ist das tiefe Gefühl des Slawen für die Natur merkwürdig. Er versteht dieselbe, er spricht mit ihr, er erkennt sie als leben-dig, aber dort, wo das höhere Leben des Menschen fehlt, als nicht vollständig an. Die Germanen waren nicht für verödete Gebiete eingenom-Wen, deren es im Westen Europas in Menge gab, nachdem dasselbe einen bedeutenden Theil seiner Bevölkerung verloren hatte. Sie suchten Völker auf, über welche sie möglicherweise herrschen, Menschen, welche sie möglicherweise zu ihren Werkzeugen und Sklaven machen konnten. Die Geschichte der frühern Jahrhunderte bestimmte sie, Aristokraten zn sein. Am Ende des 5. Jahrhunderts fiel das abendländische Neich; die Eroberer Italiens, die wilden Auswanderer aus ^n titanischen Wäldern, die Hernler wurden bald von den ^stgothcn besiegt, den Gründern eines momentan starken, aber nicht lange währenden Reichs. Der Unterschied zwischen den Westgothm nnd den übrigen Stämmen, welche über das ^mische Rom hereinbrachen, tritt sehr stark hervor; noch Wagender ist die Uebcrlegenheit der Ostgothen. Ihr Heerführer, Theodorich, in seiner Jugend abwechselnd der Diener Und der Feind des byzantinischen Reichs, später der Besieger ber Heruler nnd Nugicr, der Erretter des westgothischen Deichs in Gallien vor dem Andränge der Franken, der Beschützer und beinahe der Beherrscher des südlichen - Deutsch-land, bietet eine erquickende Erscheinung in dem entsittlichten und verwilderten Jahrhundert dar. Sein milder Eharakter, seine Liebe für Bildung nnd Wahrheit, seine Herablassung 3egen die Besiegten nnd seine Achtung vor den Verdiensten auf der Bahn des Geistes und des Wissens stellen ihn in einen scharfen Gegensatz zu dem gottlosen Franken Ehlodwig 156 und dem wilden Longobarden Alboin. Der Sieg krönte allenthalben seine kriegerischen Unternehmungen; die damaligen Völker erblickten in ihm einen Friedensstifter nnd einen gerechten Lenker ihrer Schicksale; die Annalen nannten ihn den Großen, und die Volkstradition, deren Urtheil oft wahrer ist als das Urtheil der Zeitgenossen nnd Chronisten, hat fein Andenken mit unauslöschlichen Strahlen der Dichtkunst umgeben. Dennoch muß man bemerken, daß sich in den Traditionen des östlichen halbslawischcn Deutschland ein Theodorich (Dietrich von Bern) feindseliges Gefühl ausspricht. In vielen Gegenden nennt man ihn mit dem Namen eines ge-spensterischen Schreckbildes, eines wilden Jägers, eines Geistes des Sturmes und der Zerstörung. Der nowgorodsche Chronist, gewiß frei von byzantinischem Einfluß und ein Vermittler zwischen Rußland nnd dem Westen, ist ihm ebenfalls nicht gewogen. Dieses feindselige Gefühl ist, wie es scheint, den Nugiern nnd andern halbslawischen Stämmen zuzuschreiben, welche von den Ostgothen entweder besiegt oder aus deu südlichen Provinzen vertrieben wnrden. Dies war der erste König der Ostgothen in Italien, und seine Gefährten waren in vieler Beziehung ihres Führers würdig. Es zeigte sich in ihnen eine Bereitwilligkeit, die Sitten eines gebildeten Lebens anzunehmen, ihre persönliche Willkür dem Gesetze zn unterwerfen, den Eingeborenen ihre Theilnahme zu bezeugen, der Barbarei des Kriegslebens zu entsagen und den Frieden nicht nur in ihrem eigenen Lande, sondern auch in den Nachbarländern zn befestigen. Eble Kühnheit, Aufrichtigkeit und Nuhmesliebe zeigcu sich in dew Charakter vieler Fürsten der nur allzu kurzen Dynastie Theo-dorich's. Die moralische Ueberlegenheit der Gothen zeigt sich zur Genüge in der frühen Annahme des Christenthums und in dem langen Verweilen in den Ländern des civilisirten Ostens; die Ueberlegenheit ihres östlichen Zweiges läßt sich 157 durch nichts anderes erklären als durch dm langen Aufenthalt in dem Lande eines ansässigen, sanften und handelsbeflissenen Volks, bei den am Dniepr wohnenden Poljanen. Die Wcstgothen besaßen den Wilden Heldemnnth der Drewljancn. Von der hunnischen Ueberfintung ergrissen, von deren unwiderstehlichen Gewalt fortgerissen nnd dem innern nur für eine knrze Zeit erwachten Leben der slawischen Welt unterworfen, verwilderten die Ostgothen nicht: sie veredelten sich, erhoben sich an Geist nnd Verstand nnd verloren die rauhe Schärfe eines rein germanischen Stammes. Selbst in der Vcrrätherei der Ostgothen, welche sich zuerst von allen den Hunnen unterwarfen, länger als alle andern nnter deren Botmäßigkeit verblieben und an dem ganzen Kampfe der slawischen Befreiung von den Ufern des Dniepr bis zu den Ufern der Loire thcilnahmm, erblicken wir den Charakter des hunnischen Bündnisses. An« derer Art wäre der Einftnß der mittelasiatischen Barbären gewesen. Wir haben ein Zeugniß des Iornandes über die Annahme hunnischer Namen von feiten der Ostgothen, und die vernünf-üge Kritik kann nicht annehmen, daß die Entlehnung sich blos auf Namen beschränkte und nicht anch in den Sitten nnd der Sprache ihren Widerhall fand. In der That spricht sich der slawische Charakter in der Uebersetznng des Ulphilas fast ebenso stark aus als der germanische und zeigt in der gothischen Sprache einen Uebergangsdialekt zwischen dem ost- nnd ^estiranischen Zweige. Allein die Aehnlichkeit der gothischen Sprache mit der slawischen kann nicht für eine vollkommen ursprüngliche gehalten werden: sie entsprang ans dem Einflüsse der Slawen auf die Gothen, ihre Besieger und später ihre Vasallen. Dies geht deutlich aus allen spätern Thatsachen hervor und stimmt mit den aphoristischen Beweisen 158 überein. Ein solcher Einfluß würde sich aller Wahrscheinlich" keit nach auch in den Dialekten anderer Stämme bemerkbar machen, welche einst über die slawischen Länder herrschten, wenn sich Denkmäler der damaligen Sprache bei uns erhalten hätten; auch erklärt sich dadurch die schnelle Verbreitung des Arianismus durch die Gothen über das ganze System der östlichen, d. h. der gemischten Germanen; unterdessen erreichte er, soviel er auch gehemmt wurde, ebenso schnell die Gebiete rein germanischer oder nicht slawisirter, folglich eine andere Sprache redender Stämme. Ganz derselbe Einfluß ist in vielen Einzelheiten der Gesetzgebung bemerkbar, vielleicht auch in dem Zeugnisse des Iornanves selbst, daß die alten gothischen Gesetze Gesetze der Geten waren und im Alterthume „Bcllagines"'(vielleicht ^g slawische Wort noHmußiiio) genannt wurden. sS. d. Anm. am Schlüsse des Anfsatzes.) Man darf den ewigen Pedautismus des halbgclehrten Iornandes nicht vergessen, welcher sich nicht erlaubte, die Worte und Namen aus barbarischen Dialekten in ihrer Reinheit und Richtigkeit wiederzugeben. Endlich ist auch derselbe Einfluß des poctischeu und die Literatur hoch schätzenden Volks in der Erhebung der ost-gothifchen Helden zur Bedeutung epischer Heroen ersichtlich. Dieser Ruhm gehört nur zwei germanischen Stämmen (den Ostgothon und den Burguuderu) au, welche unter den vorzüglichsten Repräsentanten des Slawenthums, im Laude der an der baltischen Küste wohnenden Städtebewohner und der Ackerbauern der cuxinischcu Küste gelebt hatten. Die Heerführer der Burgunder nnd die Gothen Ermanarich und Die^ rich haben sich allein in einem herrlichen Liede im Gedächtnisse des Volks erhalten, nachdem diesem schon lange der ganze Ruhm und sämmtliche Namen der westgermanischen Eroberer entschwunden sind. 159 Offenbar hat sich in dieser Erscheinung bei der Berührung zweier Welten, der slawischen und germanischen, die Thatsache wiederholt, welche sich schon in der geistigen Geschichte Griechenlands bemerkbar machte, dessen Dichter und poetische Traditionen mit Troja oder den thrazischen Gebieten verknüpft waren. Im allgemeinen muH man bemerken, daß die Wissenschaft, welche die gothische Sprache für die ursprüngliche Form der germanischen hält, von einer ganz willkürlichen und falschen Voraussetzung ausgeht. Je weiter wir in das Alterthum, in die historischen Jahrhunderte zurückgehen, desto verschiedenartiger erscheinen die Dialekte und desto schärfer tritt deren Abhängigkeit von der Individualität der einzelnen Stämme hervor. Die gemeinschaftlich germanische Form gehört einer ungleich spätern Epoche an. Die slawischen Dialekte bieten einen umgekehrten Lauf dar. Je älter, desto näher stehen sie sich sowie den in der großrussischen Sprache vorherrschenden Formen, welche am wenigsten fremde Zusätze angenoin-Nlm hat. Glänzend begann die historische Laufbahn der Ostgothen, selche zuerst nntcr allen germanischen Stämmen die Princi-^en menschlicher Bildung annahmen; allein ihre Bahn war b"u knrzer Dauer. Italien bewahrte noch zu viele Erinnerungen an das Alterthnm, um sich den Halbbarbaren ohue Zurren zu unterwerfen. Der Arianismus (ein Ehristen-^um, welches in seinen Grundlagen verfälscht war) trennte den Hemden Sieger zu scharf vou dem besiegten Eingeborenen uud schielt in sich zu wenig Kräfte nnd Keime logischer Entwickelung; endlich war Byzanz zn nahe, welches seine Kraft "och nicht völlig verloren und seine Ansprüche auf das römische Erbe bewahrt hatte. Es vergingen nicht hundert Jahre und die Ostgothen wurden gerade so wie die Vandalen in 160 Afrika durch byzantinische Heere vernichtet. Die Germanen schlugen sich mit einer ihres kriegerischen Stammes würdigen Tapferkeit, die Herrscher verdunkelten den Ruhm nicht, welchen sie von dem Gründer des Reichs, Thcodorich dem Großen, ererbt hatten; allein die Abneigung des Volks gegen dic nordischen Eroberer, die Kriegskunst der Byzantiner nnd dic militärischen Talente eines Bclisar und Narses trugen den Sieg davon. Die ruhmreichen Ostgotheu und die schrecklichen Vandalen verschwanden spurlos. Aber noch kurzer war der Triumph der alteu Bildung über die Kraft der von Norden herbeiströmenden barbarischen Bölker. Kaum waren die Gothen zu Grunde gegangen, als das nördliche Italien durch die wilden Longobarden der G^ walt der Byzantiner von neuem entrissen wurde. Die neuen Eroberer waren in allen Beziehungen schlimmer als ihre Vorgänger; allein sie waren glücklicher. Ihre Geschichte beginnt mit einem widerlichen Gemisch von Mordthaten und Ausschweifungen, welches den merovmgischen Chroniken wenig nachgibt und auch nicht eine einzige Lichtseite enthält; allein ihre Sitten unterwarfen sich bald dem wohlthätigen Einflüsse des einst gebildeten Landes, während Bhzanz, dnrch die schrecklichen Kämpfe mit den Avaro-Slawen, mit Persien und dew Islam geschwächt, gegen die ncneu westlichen Eroberer keinen Schlag mehr führen konnte. Trotz alledem bereitete die innere Schwäche des Arianismus, der geistige Hader zw>" scheu den Herrschern nnd den Unterthanen, die Kraft des päpstlichen Stnhls, welcher die Lehre der Synode repräsen-tirte, und die nngcfügige Zähigkeit Italiens den LongobardeN ihren Sturz. Es waren kaum zwei Jahrhunderte vergangen, als ihr Reich unter den Streichen der Franken zu Grunde ging, welche dnrch das Haus Pipin's und das Schwert Karl's des Großen sich zu einer hohen Stufe von Macht erhoben. Der gothische Zweig der Germanen, welcher anf seiner Fluch 161 vor dcn Hunnen das westliche Reich zertrümmert nnd den ganzen germanischen Stamm mit fortgerissen hatte, verschwand allenthalben, ausgenommen auf der entfernten Phrenäischen Halbinsel. Es war einem andern Volke vorbehalten, die Geschicke Europas zu lenken. Die Bewohner des westlichen Germanien befanden sich lange unter einem abwechselnden Joche, unter einer beständigen Abhängigkeit von Rom. Die römischen Heere waren zu wiederholten malen östlich vom Rhein oder südlich von der obern Donau bis an die Elbe vorgedrungen; römische Festungen lagen an den Ufern der Weser. Die Heldenthat des Arminius, welcher vielleicht die vollkommene Eroberung des westlichen Deutschland verhindert, hatte dasselbe nicht ans dem Zustande der Vasallenschaft zu retten vermocht. Die Stämme, welche zunächst dem Rhein wohnten, waren nach nnd nach in ein völliges Unterthanenvcrhält-tuß gerathen und hatten an dem allgemeinen Leben des Reichs theilgenommen. Sie hatten sich an Arbeit gewöhnt, welche ihren trägen Borfahren Widerwillen eingeflößt hatte, an das Zusammenleben in größern Dörfern nnd endlich an ein Städtcwescn, unter .Gesetzen, die den römischen Municipien entnommen waren, sie hatten aber weder ihre Sprache noch ihre germanische Physiognomie verloren. Von den Städten, in welche sie zuerst gegen ihren Willen durch die römische Gewalt eingeschlossen waren, und an welche sie sich allmäh' lich gewöhnt hatten, hatten sie den Namen Burgunder erhalten, ganz in derselben Weise, wie andere Germanen einen ahnlichen Namen im Osten Deutschlands von den slawischen Städten erhielten. Der Einfluß gesetzlicher Gewohnheiten und der Bildnng war für die rheinischen Burgunder nicht erfolglos geblieben; sie hatten sich viele gute, die Seele des Menschen veredelnde Principien eingeprägt und von den gallischen Glanbcnsboten früh das Christenthum angenommen. Nussisch^ Fragmcntü. II. 11 162 Verderblicher war der Einfluß Roms für die übrigen kriegerischen Stämme des westlichen Deutschland. Zn weit von dem Rhein entfernt und zn kräftig, um völlig unter das römische Joch zu gerathen, sich gegenseitig zn nahe nnd zu uneinig, um sich von demselben völlig zn befreien, hatten dieselben in dem ewigen Kampfe nnd dem ewigen Kriegsdienste die ganze Wildheit ihres kriegerischen Charakters, alle ungezügelten Laster träger Barbaren entwickelt und denselben die ganze Sittenverderbniß der alten Civilisation, die ganze grobe Selbstliebe und die Begierde nach Gewinn beigefügt, wodnrch sich das cäsarischc Rom nnd die Kaiserepoche kennzeichneten. Die Nothwendigkeit der Vertheidigung gegen den gemeinsamen Feind, das Bewußtsein gemeinsamer Vortheile, zum Theil anch die Stammesverwandtschaft hatte sie zu einem mächtigen Bündnisse vereinigt. Als Rom erschlaffte und, nicht mehr an Eroberungen denkend, kanm Kraft genug in sich fand zur eigenen Vertheidigung, befreite sich der Bnnd der an der Weser wohnenden Deutschen, die einst halbe Sklaven gewesen: die Freude über die wiedererlangte Freiheit sprach er dadurch aus, daß er seinen Angehörigen den Namen „freie Leute — Franken" gab. Nenere Kritiker haben im Schweiße ihres Angesichts viele verschiedene Erklärungen für das Wort „Franke" gesucht. Es ist dies eine ganz vergebliche Mühe. Die frühere Definition (freie Leute) ist unstreitig die richtige, und erscheint nicht nur durch die historische Wahrscheinlichkeit, sondern auch durch die Philologie gerechtfertigt: frei, frech, frank sind unstreitig Sprößlinge Einer Wnrzel und der Bedeutung nach verwandt. — Ihr Unterschied ist entweder eine Folge verschmolzener Dialekte oder verschiedener Schattirungcn Eines Grundgedankens. Dies wird sogar durch das Sprichwort: „frei nnd frank" bestätigt. Die Kritiker setzen immer eine Wurzelvcrschiedenheit zwi- 163 schen diesen beiden Wörtern voraus, indem sie einen Pleonasmus fürchten. Wenn dieselben mit dem gemeinsamen Charakter des Volkssprichworts vertraut wären, so würden sie ohne Zweifel den Halbvleonasmns begreifen, durch welchen der Ausdruck des Grundgedankens verstärkt wird. Die Wurzel selbst der Worte frei, frech und frank ist, wie es fchcint, aus den deutschen Dialekten verschwunden, hat sich jedoch in dem slawischen iM (uM>i«, Krieg., englisch tra)7) erhalten. Die Idee des Kriegs mnßte für einen kriegerischen Barbaren, der von einer friedlichen, menschlichen Freiheit keinen Begriff hatte, in die Idee der Freiheit übergehen. (S. d. Amn. am Schlnsse des Aufsatzes.) Die Mündung des Rhein und das nordwestliche Gallien 3mgen allmählich in die Hände der Franken über, deren aggressive Bewegung sich immer weiter gegen Westen fortsetzte. Das südwestliche Deutschland, die Ufer des obern Rhein und die obere Donall, welche lange einen Theil des Reichs gebildet, wnrdcn die Bente eines östlichen germanischen Stam-wes, der Sueven. Das alte Slawenland (der großen Wenden, Vindilizien), welches von Rom nntcr Augustus nnterwor-fen worden, war in eine militärische Colonie verwandelt und bon Auswanderern verschiedener Gebiete (vorzüglich aus Gal-^en) angefüllt worden, welche dnrch einen immerwährenden Kriegsdienst die von dem Staate erhaltenen Ländereien be-ä"hlen mnßten. Der nene vermischte Stamm, mit vorwiegen-^n ccltischen Elementen, verdrängte die Slawen, deren geringe ^eberrcste, welche entweder von dem Sieger verschont geblieben waren oder sich in waldigen und gebirgigen Districten er-hielten, noch lange von dem Stamme der frühern Eingeborenen Zeugniß gaben. Die deutsche Gelehrsamkeit hat sich nicht wenig hierüber gewundert und wird nicht anfhören, sich hierüber zu 11" 164 wundern, solange sic nicht die gemeinsame Eolonisirnng von ganz Mitteleuropa dnrch den ostiranischen, in der Folge von den Westiranern verdrängten Zweig begreift. Dic Militärcolonien wichen wicdcrnm ihrerseits dein Andränge der Germanen, der erobernden Sueven, welche, nachdem sie den (bisjctzt noch nicht erklärten) Namen Alemannen angenommen, einen nnanfhörlichcn Kampf nicht nnr mit dcM Reiche, sondern anch mit dessen Eroberern begannen. Dies war die Gruppe der germanischen Völker, welche sich an den Usern des Nhein znsammengcdrängt hatten nnd sich um den künftigen Besitz Galliens stritten. Sie unterschieden sich in vielen Bezichnngcn von den Auswanderern des gothischen Zweigs durch Sprache, Sitten nnd Charakter. Sie unterwarfen sich weder dem milden Einflnsse der slawischen Völker, noch dein veredelnden Einflnsse der hellenischen Bildung, noch dem höhcrn Einflüsse des Christenthums (mit Ausnahme der Burgunder). Den Gothcn in geistiger Beziehung nachstehend, übertrafen sie jedoch dieselben bei weitem in den Bedingungen natürlicher Kraft uud natürlichen Erfolges. Die Franken nnd Alemannen hatten noch das unveränderliche Krie-gerthmn bewahrt, welches den Krieg zum einzigen Zwecke des Lebens machte; sie hatten die Frische ihrer Wildheit nnd die siegende Spannung eines einseitigen Bestrebens bewahrt. Endlich standen sie alle, selbst dic Bnrgnndcr nicht ausgenommen, ans eigenem Boden, ihren Brüdern nahe; sie zogen unablässig neue Kräfte aus dem Innern des übcrrheinischen Deutschland heran nnd erschienen nach zeitweiligen Niederlagen nnt verstärkten Kräften. Die Gothen waren Flüchtlinge, welche sich von den blutsverwandten Völkern losgerissen hatten; s^ waren ein Hcerhanfen, der, rastlos auf ewiger Wanderschaft begriffen, dnrch seine eigenen Siege sich schwächte und bei Niederlagen zn Grunde ging. Aber nicht für alle Nheinbewohncr war eine gleiche Wahrscheinlichkeit des Erfolgs 165 vorhanden. Die Burgunder, welche mehr als die andern von den Hunucu gelitten hatten, standen ihren Nebenbuhlern m numerischer Stärke nach, trotz ihrer unzweifelhaften Vereinigung mit deu Ostburgundern, deren Name aus dem Reiche Und der Erzählung der Chronisten über die Völkerwanderung verschwindet. Ganz dasselbe wird auch durch die Svnrcn des Aria-nismus uud die Spuren slawischer Namen dargethan. Sogar der Zusammeufluß erklärt sich durch die natürliche Aehnlichkeit der Sitten nuter Stämmen, welche sich au städtische Wohnsitze gewöhnt hatten, sick durch das Hin-und Herwandern beengt fühlten uud vielleicht auch, durch die Zufälligkeit der Gleichnamigkeit getäuscht, an eine gegenseitige Verwandtschaft nud Stammesidentität glaubten. Die Burguuder waren ihrer Lage nach von der Quelle der Hcerbannskraft, von Dentschlaud, entfernt; noch mehr aber fehlte ihnen die Sympathie der Barbaren wegen ihrer halbcioilisirten Sitten, sowie das Bündniß mit den (Götzendienern wegen ihres hnndertjährigen Christenthums. Sie mußten wegen ihrer zweifachen Richtung und der Schwäche der Principieu iu dem Kampfe unterliegen. Gleicher waren die Kräfte der Alemannen uud Franken: gleiche Vortheile der örtlichen ^age, gleiche ^ricgstüchtigteit, gleiche Beziehungen zu dem iuuern Deutschland; allein es war dies nur eine Gleichheit im Siuue des Widerstandes, nicht der Eroberung. Die Alemanucn befanden sich noch vollständig iu der Epoche der Volksthümlichkeit. Das Heer war ein Volksheer, folglich nicht stabil. Die Franken dagegen 3ingen in die Epoche des Staatsthmns nber< Das Volks-heer diente dem fürstlichen Heere nnr znr Stütze. Dies ist deutlich aus der Verglcichung der salifchcu uud alemannischen Gesetze ersichtlich. Eine andere bisjetzt noch wenig bekannte Ursache verschaffte den Franken cm noch größeres Ueber- 166 gewicht. Schon lange hatten ihre Kämpfe die Grenzen ihres Vaterlandes überschritten. Das Land der frühern Bataver, ein Theil von Belgien, von Cclto-Kvmren (Bcolgern) bewohnt, nnd die Küsten des Oceans, das Land der slawischen Pomor-janen (der Moriner, das heutige Seeland) waren bereits dnrch Auswanderer aus dem fränkischen Gebiete in Besitz genommen. Allein diese Eroberung war kein Werk des Volks, ^ühne Führer mit ihren Scharen, welche aus ihren Stammesgenossen gewählt, in erstern eine noch nicht durch die Gesetze der Gemeinde beengte Gewalt anerkannten, machten sich zu Beherrschern des einst reichen und noch nicht ganz verwilderten Landes. Die zahlreichen Unterthanen oder Vasallen bildeten für die neuen Eroberer eine von dem überrheinischen Bündnisse getrennte Kraft. Die Bedeutsamkeit des celtischcn Princips zeigt sich in den Spuren des celtischen Dialekts in den Anmerkungen zu dem Salischen Gesetze. Obgleich ersichtlich ist, dasi in diesen Anmerkungen viele Wörter (wie z. B. Barag, 6»zigl"b, Chereg, xLnoi-7. u. s. w.) den slawischen Wnrzeln (üusioni', xpnlli. u. s. w.) sehr nahe stehen, so kann doch die vernünftige Kritik nicht an der rein celtischen Grnndlagc des rheinischen Dialekts zweifeln. Auf der andern Seite kann die vernünftige Kritik ebenso wenig an der rein slawischen (ostiranischen) Bevölkerung des Küstenlandes und der Mündungen des Rhein zweifeln. Die Ucberreste der Körper, welche nach slawischer Sitte auf den alten Begräbnißplätzen verbrannt wurden, bestätigen die Wahrheit, dnrch welche ohnehin schon die beständige Verbindung der Menapicr und Moriner mit den Venetern dargethan wird, wie durch die Gemeinschaftlichkeit des Seewesens, durch die Ueberreste der slawischeu Sprache in dem ntrechter Dialekte, dnrch die Namen vieler Flüsse, am meisten aber durch das unzweifelhafte Zeugniß aller lokalen Traditionen über die Witzen 16? (LnLbiull ^ cin allgemeiner Beiname der Wenden), über den Namen der Slawen, ihre Kämpfe mit dm Römern und Sachsen, und den Gott Bcla, dessen silbernes Götzenbild dnrch seine blendend weiße Farbe glänzte (offenbar Ki^i..6ui"i'). Allein anch die Slawen, welche einst weit hinauf an: Rhein nnd an der Schelde gewohnt, waren schon lange bis an die Mündungen der Flüsse zurückgedrängt worden nnd hatten schwerlich einen Einfluß auf die Entwickelung der Franken. Ihr Einfluß sprach sich später, in der schnellen Entwickelung des Handels aus. Von den Fürsten, welche das am Rhcm gelegene Gebiet beherrschten, erhielt eine Familie eine besondere Bcdcntuug. Bekanntlich gab die Gelegenheit Veranlassnng zu den ersten Seethatcn der Franken; ihre Ausbreitung an der Meeresküste und in dem Lande eines seefahrenden Volks wendete ihr Streben vorübergehend der Seeränberei zu. Die Ufer Galliens, Britanniens nnd des entfernten Spanien wurden zu wiederholten malen von ihren ranbgierigen Scharen verwüstet; die römischen Flotten, welche in den Häfen des Oceans ausgerüstet wurden, vermochten das römische Gebiet nicht hinlänglich zu schützen nnd machten erfolglos anf die leichten Kähne dcr germanischen Räuber Jagd. Allein die Seefahrt, eine vom Zufalle abhängige Beschäf-l'gung, cntfprach nicht der Leidenschaft der Franken: fie wichen bald der seemännischen Ueberlegenheit der Sachsen und rich-letm ihre Kraft anf festländische Eroberungen nnd anf das schutzlose Gallien. Zndcm gaben die Reichthümer, welche in frühern Raubzügeu an den Küsten des Oceans gesammelt worden, uud wahrscheinlich der Handel, welcher in dem pomorischen (am Meere gelegenen) Lande nie ganz erloschen War, den dasselbe beherrschenden Fürsten ein ungeheueres Übergewicht über alle andern. Dies war zweifelsohne die Ursache des schnellen Emporkommens des Frankengeschlechts, 168 welches das Land Pomorie, oder Mcrnve beherrschte, und von diesem den Geschlechtsbeinamen Merovingcr (die au: Meere Wohnenden) erhielt. Zum ersten mal erscheint mit ihnen die ganze Geschichte einer Fürstcndynastie bei den am Nhein wohnenden Germanen, und spricht sich jene Verschiedenheit in dem Entwickelungsgänge der Franken nnd Alemannen aus, welche in den Denkmälern ihrer Gesetzgebung bemerkbar ist nnd die Verschiedenheit ihrer Schicksale erklärt. Die Merovinger begriffen bald ihr Verhältniß zn den übrigen, schwächern Fürsten, zu dem überrheinischcn Bunde und zu den das Schicksal der Welt beherrschenden Nationen. Die Fürsten machtcu sie zu ihren Vasallen, dein Bunde stellten sie sich als dessen Beschützer und als dessen Vorhut dar; die Anerkennung ihrer Rechte erlangten sie durch eine vorübergehende Unterwürfigkeit, sowol von Nom als von den an der Wolga wohnenden Slawen, den Hunnen, dem damaligen Schrecken ganz Europas. Die Bitten der Merovinger au die hunnischen Heer« führer nm Bestätigung ihrer fürstlichen Gewalt sind ein Beweis der Treue, mit welcher die Beziehnngen sämmtlicher Germanen zu Etzel (Attila) in dem Nibelungenliede dargestellt werden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die weite Entfernung der Franken und die natürliche Stärke ihres Gebiets sie in eine gcringcrc Abhängigkeit brachten als ihre südlichern Stammesgenossen. Deswegen standen sie auch, nachdem sie die durch die Hunnen erfolgte Vernichtung der burguiidischen Macht benutzt, auf den Catalan-nischen Feldern in den Reihen des Heeres des Aetius. Iu dem schließlichen Kampfe mit Attila erscheint bereits nicht mehr ein Heerbann der Franken, sondern ein eigentlich merovingischcs Heer. Bald nach dem Tode Attila's und dem gänzlichen Verfalle des abendländischen Reichs entwickelte sich die Macht des Fürstenhauses der pomorischen (am Meere ic>9 lohnenden) Franken noch mehr und erreichte zuletzt unter Chlodwig, dem Eroberer des ganzen nördlichen Gallien, eine Welthistorische Bedeutung. — Kriegerisch nnd kaltblütig grausam, unendlich sittenlos und bon einer unersättlichen Habgier erfüllt, schlau und in so hohem Grade falsch, daß sie nach den Worten eines Zeitge> Nossen die Lüge für eine einfache Redeform hielten, und nach ben Worten eines andern den Eid liebten, um sich an dem Meineid 51t ergötzen, so waren die Franken am Ende des sanften und am Anfange des sechsten Jahrhunderts. Dies War die Erziehung, welche Nom feinen gemietheten Barbaren Legeben. Als einzige Tugend war ihnen nnr die Gastfreundschaft geblieben, welche sich von alten Zeiten her erhalten hatte. So waren die Franken, so ihr Heerführer Chlodwig, ein wür-blger Repräsentant seines Volks, eine gewaltige Seele, von A'oßen Planen erfüllt, bewnndcrnswerth wegen ihrer ungewöhnlichen Kraft, aber verabschennngswürdig wegen des ganz» lichen Mangels aller menschlichen Gefühle. Seine Erfolge waren durch die Umstände vorbereitet worden; aber auch er verstand alle Umstäude zu seinen Erfolgen zu benutzen. Die Bewegung der Völker hatte die Vurguuder gegen Süden gedrängt. Das römische Reich war selbst in Italien vernichtet worden: die Westgothen beschränkten ihre Eroberungen auf die gesegneten nm die Pyrenäen nud am Mittelmeere üclcgmcu Länder; die gefährlichen Nebenbuhler der Franken, bu Sachsen, wendeten ihre Waffen gc^en Britannien; das halb römische, halb celtische Land im nördlichen Gallien, schwach und nicht gewohnt, an seine eigene Kraft zn glauben, wartete "och eines Eroberers. Gegen dieses richtete sich der erste Streich Ehlodwig's, und die letzte römische Provinz, welche sich noch erhalten, wurde nach knrzem Widerstände unterworfen, ^ald begann der Kampf mit den Alemannen, welcher dnrch ^"e einzige glückliche Schlacht entschieden ward. Der Sieger 170 betrachtete sich als den unbestrittenen Gebieter Galliens: er begriff die Nothwendigkeit eines Bündnisses mit der einzigen noch lebenden Volksgewalt, der Geistlichkeit, und ließ sich taufen. Aeußerc Gründe und Berechnungen, aber nicht die innere Ueberzeugung beugten das Knie des Herrschers vor dem christlichen Heiligthume, und die Religion blieb für ihn eine äußere Ceremonie ohne jedes geistige Resultat. Und Chlodwig und seine gottlosen Söhne und ihre fernen Nachkommen, der ganze Stamm der Franken blieben noch lange, lange dieselben Barbaren, als welche sie über den Rhein gekommen, um Rom durch Mord und Plünderung die von ihm erhaltene Sittenlosigkcit zu vergelten. Allein die abendländische Geistlichkeit und ihr Oberhaupt, der römische Bischof, reichten dem neuen Verbündeten die rettende Hand: Friede predigend zoa/n sie vor den fränkischen Heerhaufen einher, indem sie das Volk zum Gehorsam aufforderten, zu neuen Erobcruugeu den Weg bahnten und zngleich mit den blutdürstigen Scharen des Merovingers ungesetzliche Triumphe feierten. Die von Chlodwig besiegten Burgunder konnten nur mit Mühe iu dem südwestlichen Gallien ihre Unabhängigkeit bewahren, und sich gegen das Meer nnd die Pyrenäen zurnckzieheu; die Nestgo-then baten, trotz ihrer Vereinigung mit neuen ihnen verwandten, von Osten kommenden Scharen (den Gcpiden u. s. w.) um Frieden und wurden nur durch die Vermitteluug des großen Ostgothen-Heerführers vom Untergange errettet. Das fränkifche Reich nahm die erste Stelle unter allen westlichen Reichen Europas ein. Allein dic dräuende Heerschar, welche aus den Wäldern Deutschlands gekommen, war bereits stärker als ihr Vaterland und wendete nnn gegen dieses ihre sieggewohnten Waffen. Das Land der Alemannen uud ihre zerstreute Gemeinde konnten der vereinigten Kraft der mero-vingischeu Scharen nicht widerstehen: der nördliche Theil unterwarf sich nnd nahm den Namen des fränkischen Maudes 171 au; der südliche bewahrte nur kurze Zeit einen Schatten von Unabhängigkeit unter der kräftigen Hand Theodorich's, des Königs des ostgothischen Italien. Durch eine ganze Reihe von Ueberlistungen nnd Schandthaten wnrden die fürstlichen Häuser in dem Gebiete der am Rhein wohnenden Franken Vernichtet. Die Gemeinden, erschreckt oder geblendet durch die kriegerische Größe Chlodwig's, begaben sich unter seine Obergewalt: Deutschland, welches Nom widerstanden, wurde von seinen eigenen Söhnen unterjocht nnd verlor auf immer die Möglichkeit einer freien Entwickelung. Der Triumph Chlod-lvig's war ein Triumph des persönlichen Heeres über die Hrere des Volks. Sein Leben erfüllt uns mit Abscheu; seine Thaten aber sind von ungeheuerer Größc. Das Christenthum nahm in dem ganzen Abendlande, selbst w dem geliebten Rom, den Charakter der Acußerlichkcit an: dieser Charakter trat noch deutlicher in seiner Berührung mit den germanischen Stämmen hervor. Die Geistlichkeit, roh. Ungebildet, nicht einmal die Religion kennend, welcher sie bleute, begleitete die umherziehenden Kriegsscharen in demselben Sinne, mit derselben Bedentung, wie die alten geistcrbannen-den Priester. Dies ist das Zeugniß der Zeitgenossen. — Höher als sie, und zwar in allen Beziehungen, stand die einheimische halbrömische Geistlichkeit, besonders die Bischöfe, bereu viele in den nicht ganz verwilderten Provinzen des Südens geboren und erzogen waren. Iu dieser Geistlichkeit erhielten sich fast die eiuzigen Ueberreste der Volksgewalt und des Volkslebens. An sie lehnten sich die Führer der erobernden Scharen an und überhäuften sie mit Gnadenbezeigungen und Geschenken. Dieselbe war anch nicht undankbar. Sie schloß sich enge an die Führer an, nm gegen die Kriegsscharen einen sichern Schutz für sich uud für ihre Heerde — die besagten Romano-Gallier zn finden. Sie duldete die blutigen Verräthereien Chlodwig's, die Mordthaten Chlotar's, die wilde 172 Sittenlosigkeit Childerich's, alle Schändlichkeiten, alle Missethaten der Mcrovinger, und verlangte nur äußere Andacht, nnr Perehrung für die Hciligthümer, und Schutz für die Diener der Kirche, indem sie die Herrscher, von welchen die Geschichte nur mit Abscheu sprechen kann, beschützte, lobte nnd beinahe anf die Stufe der Heiligen erhob. — Das Bündniß der Geistlichkeit mit den fränkischen Königen beschränkte sich nicht auf das fränkische Gebiet. Der erste Bischof des Abendlandes, der Besitzer des Thrones, zu welchem als dem Mittelpunkte des Glaubens sich alle geistlichen Gewalten der von Germano-Arianern oder von Heiden eroberten Provinzen unwillkürlich hiugezogeu fühlten, der römische Papst, sah in den Nachfolgern Chlodwig's seine zuverlässigsten Beschützer, uud er pries, sich auf die künftige, noch nicht zur Entwickelung gelangte Größe vorbereitend, die kriegcrifche Gewalt, die ihm ihr Schwert nnd ihren Schild gegen den Gothen, den Longo-barden und Sachfeu aubot. In der Folge trennte sich die Geistlichkeit vollständig von dem Volke und schuf, iudem sie dem fränkischen Könige zugleich mit dem Heere den Eid der Treue (den Diensteseid, leoäeoamiuin) leistete, diesem eine von dem Heere selbst unabhängige Gewalt. Auf diese Weise erklärt sich die ungeheuere Bedeutung des Führers uud der vollständige Gehorsam des unbotmäßigen Germaucu in der ersten Epoche der Merovingcr. Die Trennung des Königs von dem Heere drückt sich auch darin aus, daß das Recht auf das eroberte Gallien, das durch das germanische Schwert eroberte Recht seine Bestätigung von dem legitimen Beherrscher der ganzen römischen Welt, von dem byzantinischen Kaiser verlangt: und Chlodwig erhält mit dem Range eines Patriciers eine von dem Willen seiner Krieger nnd Waffengc-fährten unabhängige Bedentung. Der König trennte sich von seinem Heere; allein er schuf sich feine Gewalt außerhalb desselben, nnd es kam nach Verlauf einiger Jahrhunderte die 173 Zeit, wo sich das Heer von dem Könige trennte und der entthronte Meroviuger seinen Thron einem nnerkorenen Heerführer, dem siegreichen Gründer der karolingischen Dynastie abtrat. Die Eroberer Galliens waren kein Volksheer: sie waren das Hccr eines Fürstcngeschlechts, sie waren Diener, welche ein Recht auf Belohnung, aber auch die Pflicht des Gehorsams hatten. Die Provinzen, welche bereits durch andere Germanen oder selbst von einzelnen Abtheilungen der Franken erobert worden, wurden dnrch Chlodwig mit den: Schwerte genommen und dem allgemeinen Gesetze einer nenen Eiutheilung unterworfen. Aber das Heer selbst bestand ans zwei Elementen: aus einheimischen oder besoldeten Dienern des Fürsten und aus Verbündeten, aus Deutschen, welche seinen Fahnen zuströmten nnd ihr Schicksal seinem Kriegsglück anvertrauten. Die uuterjochten Länder wurden nach einem gewissen Gesetze unter die Sieger vertheilt. Der Fürst erhielt seinen Antheil, über den er nach Gutdünken verfügte, und dieser Antheil war der bedeutendste. Er belohnte damit seine Diener, bcstriit damit die Ausgaben für seine Privatnnternchnmngen gegen seine persönlichen Feinde. Der andere Theil fiel dem Heerbann mit erblichen Rechten zu, unter der Bedingung einer gewissen Dienstesleistung bei einem allgemeinen Kriege. Die Antheile der eiuzelnen Krieger waren verschieden, die Rechte dagegen gleich, und der Besitzer erkannte über sich kein anderes Urtheil an als das Urtheil des Heerbannes, keine andere Gewalt als die Gewalt des Fürsten innerhalb bestimmter Grenzen. Dies war der Anfang dcs Allodialsystems. Es kMirte in demselben nur der Staat, das Heer nnd der König, der Heerführer. Eine Gemeinde gab es nicht. Die Freiheit gerade so wie die Abhängigkeit war persönlich. Anders war es mit der Organisation des germanischen Lebens jenseit des Nhein. Es gab dort eine Gcschlechtsgemeinde, obgleich absolut aristokratisch, denn uuter der Gewalt des herrschenden 174 Germanen lebten und litten noch allenthalben besiegte Stämme, Slawen oder Celten oder sogar andere unterjochte Germanen. Alle Rechte gehörten dem Geschlechte oder der Gemeinde — den Personen dagegen nur als Gliedern der Geschlechter und der Gemeinden. So konnte sich z. B. an vielen Orten, ohne Einwilligung nicht nur der Gemeinde, sondern auch aller Glieder derselben ohne Ausnahme, ein Fremder weder ansiedeln noch ein unbewegliches Eigerthum erwerben. So gab es eine gegenseitige Haftbarkeit der Nachbarn füreinander, welche durch spätere Gesetze in den von Volksheeren eroberte-n Provinzen abgeschafft wurden, wie wir dies bei den Westgothen und andern seheu. In dieser Abhängigkeit bestand die höchste Freiheit: in der Freiheit des Franken, welcher seinen Antheil aus der fürstlichen Eroberung erhalten hatte, war schon eine Abhängigkeit vorhanden, welche sich in der Folge in ein vollständiges Unterthanenverhältniß verwandelte. Die Gewalt Chlodwig's, seine Kriege jenseit des Rhein, die zunehmende Schwäche der oberrheinischen Gemeinden, welche den größten Theil ihrer Wagehälse in den Dienst des Merovingers entsendet hatten, die Verbreitung des Christenthums im Verein mit den ncnen in Gallien bereits anfgcstclltcn Begriffen und endlich die einem jeden vorherrschenden Princip innewohnende Kraft, vernichteten allmählich das ganze frühere Volkswesen; durch die Gärungen der folgenden Jahrhunderte wurden sogar die Spuren desselben verwischt. Es konnte dies auch nicht anders sein, weder bei den von Chlodwig besiegten Alemannen noch bei den an der Weser wohnenden und von seinen Nachkommen unterworfenen Thüringern. Das verhältnißmäßig unbedeutende Gebiet, das Paterland der Franken, nach und nach theils von den Thüringern, theils von den Sachsen unterjocht, und von neuem durch die merovingifchen Könige befreit, unterlag dem 175 gemeinsamen Schicksale. Die Sache war von Chlodwig begonnen: er zwang alle am Rhein wohnenden Franken, seine Oberherrschaft anzuerkennen; er nnterwarf sich alle Zweige des großen Bündnisses, anfänglich die ihm näher stehenden und stammverwandten Salier, deren Name unzweifelhaft von Sal a (Wohnort freier Männer) herkommt, einem mit dem slawischen c^m soon 05,^0, die Wnr;el cn^^, sitzen) gleichbedeutenden Worte, später die dem Stammesnrsprnng nach entfcrntern und schwächern Ripuarier (d. h. Ufcrbewohner). Das von Chlodwig Begonnene wnrdc von seinen Nachfolgern ^mählich beendet. So verschwand die alte Organisation der germanischen Familie. Geringe Ueberreste derselben erhielten sich noch lange und der große Hohenstaufc stieß noch in einer spätern Epoche auf eine stolze Descendenz der alten freien Männer, auf den Sonnenlchn, welcher sich für seine Freiheit nnd sein vermögen gegen niemand für verpflichtet erachtete als gegen Gott allein. In dem Ausdruck Sonneulchn lebte wahrscheinlich noch eine Erinnerung an den hcidnifchcn Götterdienst. Die Epoche der vollen Freiheit (Sonnenlehnthum) war dle Epoche der germanischen Gemeinde, der Hecrbanngemcinde. Tie endete mit der Eroberung Deutschlands durch die Fransn und machte der Allodialepoche Platz, in welcher die Landgemeinde spurlos verschwand, und es blieb nur das Heer und dessen Obcrhanpt, der König. Eine weitere Veränderung des Allodialsystems brachte die Fendalepoche hervor, in welker die Idee des Heeres, der Idee der persönlichen Herr-Schaft, des persönlichen Unterthanenthnms, Platz machte, jener Epoche, in welcher die Menschen aufhörtcu Menschen zu sein und nur zu Repräsentanten des beherrschten Landes wurden, Ehrend die Idee des Staats und des Königs in die Idee ^ues allgemeinen Besitzers überging. 176 Uebrigens darf man die germanische Gemeinde nicht mit der slawischen Gemeinde verwechseln; es besteht zwischen beiden ein unendlicher Unterschied. Die eine ist die M" meinde einer natürlichen Verbrüderung, die andere einer bedingten, in dem Heerbann bestehenden Verbrüderung. Deshalb sind auch bei den Germanen die Rechte der Weiber völlig werthlos, während die Rechte des Mauncs von seiner kriegerischen Bedeutung (als eines Waffcntragcndcn, Wehrhaften) abhängen. Deswegen zeigt auch das Wort, welches den Begriff von Volk ausdrückt, bei den Slawen auf eine natürliche Abstammung (iin^^li'), während bei den Germanen das Wort Volk eine Wurzel hat, welches ans eine bedingte Waffengemeinschaft hinweist. Es entspricht dem slawischen nc^iii. und steht mit der Wurzel fällen, soll in Verbindung, gerade so wie noMi, mit der Wurzel no^lini,. Dieser Wnrzelunterschicd spiegelt sich in allen Einzelheiten der Entwickelung ab. In dem cineu ist ein reiu menschliches Princip vorhanden, in dem andern ein aristokratisches, eroberndes. Man darf deshalb auch keine scharfe Scheidung der Zeit zwischen der Epoche des Sonnen-lehnthumö und des Allodialvcrhältuisscs suchen. Die Fcn-dalepoche fließt ebenfalls mit der Allodialepochc zusammen, sie spricht sich jedoch etwas deutlicher aus, weshalb die Normannen in England uud Italien, sowie die Krenzfayrer in Palästina den Versuch eines reinen Feudalismus in der ganzen Strenge feiner logischen Bedeutung darstellten. Während die Franken die vorherrschende Macht im 57bcr-lande wurden, erstarkte ein anderer Stamm im Norden und Nordostcu Deutfchlands und legte den Grund zu eincm Staate, der gegenwärtig in allen Welttheilen seine Herrschaft aufgeschlagen. Die letzten Auswanderer Skandinaviens, die Sachsen, eine schwache Waffengemcinfchaft in ihren Anfängt wie alle Waffengcmeinschaften, welche aus der nördliche" 177 Halbinsel auswanderte, wurden die Grundlage eines großen Bündnisses, in welchem die germanischen und slawischen Ele-niente zusammenflössen. Die nnmerische Stärke war unstreitig auf feiten der Germanen; allein das slawische Princip hatte unstreitig, wenn nicht einen größern, doch einen gleich großen Antheil an der geistigen Entwickelung des Volks. So leiteten sich z. B. die itönigsdyuasiien in England bald von Wodan (Odin) ab, bald hielten sie denselben nur für einen Sprößling ihres Geschlechts; allein das ganze Volk verehrte die slawischen Götter, Tschorno-bog und Siba, ja nach spätern Zeugnissen verehrte man in Deutschland auch den Biäl-bog. Das religiöse Uebergewicht mußte mit dem ungeheuern Einflüsse auf das ganze Wesen des Lebens, ans die Bildung und Richtung des Verstandes nothwendigerweise eng verknüpft fein. Der Einfluß der Slawen selbst auf die Sprache der alten Angelfachen wird nicht vollständig nach seinem Werthe anerkannt; doch tritt derselbe sogar bei dem oberflächlichsten Studium in eiuer Menge von Wörtern zn Tage. So z. A. unuii, in den: Anfange des Worts "Wassail, (Wohnung) in ssti, ceii in «e, oi^winm.lli in i'uinne; »mill, in ett,, MM (Frau) in laä^; Hla6l)llt> (Vicbe) in lut'u; cnm.it! in 8Kmo; vf,lii>, Li>Ml>ijj in eco, ^:ni; ^ 11., c)iu,m in 8ont.1i, sotiian; x^iÄöi, in Illat'; L.,iuiMa (dessen Wurzel sich in ni. und ^ilib, ^»/lillSHl., d. h. Friedensstifter findet, nicht aber in «o.lik und /Huri,) in dem sächsischen vloä)k u. s. w. Doch liefern die Namen der Götter allein schon einen Beweis, der kemcs wcitcrn Zusatzes bedarf. Das sächsische Bündniß begann in dem Maße zu erstarken, als viele frühern Zweige (;. B. die Gothen, Vandalen, Burgunder ?c.) nach dem Sndosten auszuwandern oder wie ble Franken gegen Westen zu wandern anfingen. Bald wurde das allmählich erschlaffende römische Reich mit Schrecken der Nussischc Flllgmcntc. N. 12 178 Sachsen gewahr. Hier und da gelangten ihre Scharen, zu Lande durch die starken, am Rhein wohnenden Stämme sich einen Weg bahnend, bis an die Grenze Galliens; allein noch viel häufiger eilten ihre Schiffe an seine schutzlosen Küsten. Gegen die Sachsen waren die römischen Flotten machtlos; bald erwies sich auch die neueingerichtete Küstenwache als ohnmächtig. Ein neues Ungewitter stieg für das abendländische Reich aus den Tiefen des Oceans empor, der bisher seine Grenzen geschützt hatte; die Franken, um ihre einträgliche Sceräuberei gebracht, sahen mit Schrecken die im Abendlande anwachsende Macht der Sachsen. Die nördliche und westliche Küste Galliens trug bereits den Namen einer sächsischen Küste, lind die Eroberer drangen immer tiefer in das römische Gebiet ein, sich offenbar zur Gründling eines mächtigen Reichs anschickend. Die gemeinsame Gefahr und die gemeinsame Feindschaft vereinigte Römer und Franken. Ihre vereinten Anstrengungen setzten den Erfolgen der Sachsen ein Ziel; allein das Ungewitter verzog sich nicht; das Schicksal führte es nach Norden nnd eröffnete dem Rnhme nnd der Eroberung der Seehelden eine neue Bahn. Britannien (d. h. England und Schottland) war mit Ausnahme seiner äußersten nördlichen Gegenden lange den römischen Gesetzen unterworfen. Die wenig zahlreichen Eingeborenen, größtentheils Celten und Celto-Kymrer oder Beol-ger, mit einer Beimischung von Iberern im Südwesten und Slawen (Mcnapicr, Morincr nnd hier und da westliche Be-neter), wurden nach ruhmloser Gegenwehr unterworfen. Die Provinz ward wie Gallien romanisirt und -erhielt ein neues Leben der Bildung, der Städteerbauung und gesetzlicher Ordnung. Aber anch in Britannien wie überall blieb diefes Leben der polizeilichen Ordnung, der Ruhe und selbst des Luxus erfolglos; es schuf Städte, Thürme uud Schlösser; allein es schuf keinen Geist uud keine Kraft. Als die Macht 179 des weltbcherrscheudeu Roms erschlaffte, begannen die Söldner-scharcn der germanischen Barbaren die über dem Meere ge^ legene Provinz sich zu sichern, schlugen andere nordische Barbaren zurück, unterdrückten die Einwohner und erhoben zuweilen auf den momentan erledigten Thron zeitweilige Imperatoren, deren Ansprüche sich auf das nahe gelegene Gallien erstreckten. Britannien wiederholte auf seiner geringen Ausdehnung jene betrübcudcu Erscheinuugcn, welche das gauze damalige Abendland darbot; es kam die Zeit des Sturzes Roms, seine Provinzen wnrden von germanischen Stämmen überflutet; der Kampf mit den Hunnen versetzte ihm den Todesstoß. Damals erhoben die Uebcrrcste der ^cgiouen und der Strcitkräftc in Britannien einen tapfern und nntcrnch^ inenden Mann zur Kaiserwürde. Er hätte aller Wahrscheinlichkeit uach deu Uutergang der Provinz noch lange aufhalten können. Der thörichte Wunsch nach einem ausgedehnten Reiche, vielleicht auch die thörichte Hoffuuug, das abendländische Reich zu retten, zogen ihn nach Süden. Alle Ttreitkräftc Britanniens folgten ihm und kamen nicht wieder zurück. Die weit-entferntc Insel wurde ihrer eigenen Kraftlosigkeit überlassen. Nicht groß waren die Gcfahreu, welche ihr drohten. Die Franken und Sachsen waren mit Gallien beschäftigt; die nördlichen Bergbewohner (die Picteu uud Scotcn oder Calcdonier) waren so unbedeutend, daß eine einzige Legion zu ihrer Bewältigung gcuügt hätte. Die einzige, aber unabwendbare Gefahr war die innere ^ebcusnnfähigkeit. Das Christenthum war seit langem vou Gallien aus in Britannien eingedrungen, aber wahrscheinlich nur aus Gallien allein; denn seine Entwickelung war iu vielcu Beziehungen reicher uud fruchtbringender bei den britaunifchen als bei den südlichen (5clten. Es drang auch über die Grenzen des Reichs hinaus, auf die Grüne Iusel, welche durch den Ocean vor dem römischen Schwerte geschützt war. Dort beschränkte sich 12" 180 - die Verkündigung des Evangeliums nicht auf die Siädte allein; das Volk war noch nnvcrmischt, es sprach eine und dieselbe Sprache, es lebte ein und dasselbe Leben; die Geistlichkeit war mit dem Volke und aus dem Volke; sie verbreitete nicht das Idiom der Römer, sondcru die Lehre der Juden. Dort war das Christenthum nicht mit der Gewalt und der bürgerlichen Ordnung des streugen Römischen Rechts rer< bunden; es war und konnte nicht ein Institut fein; es ging vom Menschen zum Menschen, von der Idee zu der Idee und bewahrte seiuen Charakter des Glaubens und der Idee. Endlich wurde es von den Lehrern der abendländischen Welt nicht allein verkündet. Rom kannte keinen Handel; aber eine starke handclsbeweguug giug in deu römischen Provinzen ohne Zuthun der Behördeu uud Autoritäten vor sich. Die Häfen Irlands (wir habeu hierfür ein Zeugniß aus damaliger Zeit) waren häufiger uud mehr von Seefahrern besucht als die Häfen Britanniens uud des nördlichen Gallien; uud es unterliegt keinem Zweifel, daß viele vou diesen Schiffen aus jenem entferuten Gebiete der kühnen Semiten kamen, welche einst die Wogen aller Meere durchfurcht uud me ihrcu frühern Ruhm und ihr früheres Erbe vergessen konnten, bis ihnen von dem mittelasiatischen Stnrme ihr eudlicher Fall bereitet wurde. Dies siud die Traditionen der Grüuen Insel und des westlichen Britannien, welches mit ersterer in beständigen Beziehungen verblieb. Deshalb erhielt auch das Christenthum auf derselben einen dem ganzen Abeudlande vollkommen fremden und dem Orient völlig ähnlichen Charakter; deshalb erschien dort das geistige Leben in seiner persönlichen Erhabenheit und nicht in einem äußern Zwange; deshalb erleuchtete Irland die westliche Hälfte von Mitteleuropa mit dem Lichte seines warmen nnd lebendigen Glaubens nud erwarb sich vou der uuwillkürlicheu Bewunderung der Zeitgcuossen den erhabenen Beinamen: Insel der Heiligen. 181 Die unparteiische Würdigung des geistigen Zustandes von Irland (wenn auch nicht vollkommen zu dem neuen Glauben bekehrt, so doch tief von demselben durchdrungen) vermag allein die Geschichte Britanniens nach der Entfernung der römischen nnd theilweise provinziellen Heeresmacht zu erklären. Das östliche und westliche Britannien hatte alle Selbständigkeit des Volkslebens verloren nnd sich die ganze Aeußerlichkeit und die ganze innere Verwesung der römischen Welt angeeignet. Die Sitten waren römisch, die Sprache nnd ein großer Theil der Bevölkerung der von den Römern gegründeten Städte war römisch. Als sich der Schutz der Legionen nnd das nach dem allgemeinen Muster des Reichs gebildete Heer entfernt hatte, zeigte sich Britannien kraftlos gegen seine unbedeutenden Feinde, gegen die barbarischen Einwohner Caledoniens. Städte nnd Dörfer gingen in Flammen auf; das Blut floß in Strömen von einem Ende der unglücklichen Provinz zmn andern. Die anf das höchste gesteigerte Verzweiflung rief eine momentane Energie hervor. Die Barbaren wurden besiegt und verjagt; allem einem langen Kampfe waren die Kräfte des Volts nicht gewachsen, welches sich gewöhnt hatte, unter fremdem Schntze und nach fremdem Sinn zu leben. Es rief Vertheidiger von außen herbei, die seine künftigen Herrscher wurden. Es machte sich jetzt die Gegenwirkuug geltend. Das Christenthum umfaßte nicht blos das östliche nnd südliche, den Römern vollkommen uuterworfcue Britannien; cs hatte auch auf dem halb unabhängigen Westen nnd dem vollkommen unabhängigen Bezirke des gebirgigen Nordwesteus Fuß gefaßt. Allein der Charakter desselben war infolge der Verschiedenheit der Beziehungen der Eingeborenen zn Rom verschieden. Das romamsirte Gebiet glich in allem Gallien, nur mit dem Unterschiede, daß die Nähe Erins nnd dcr unabhängigen Bezirke, welche das Christenthum angenommen halten, der kirchlichen Lehre ein mehr geistiges nnd inneres 182 Streben, cm von dem politischen Einflüsse der Universalmacht freieres Leben mittheilte, In Irland entwickelte sich das von römischen Veimischnngeu vollkommen freie Christenthum im Einklänge mit dem Charakter des Volks, und vermischte sich häufig mit den gehcimnißvollen Lehren der alten lokalen Religion, die erhaben und abstract, aber dnnkel nnd mystisch war, wie alle Religionen, welche den Stempel der valästini-schen oder phönizischen Kuschiten an sich trngcn. Die Iahrhnndertc nnd die Entwickelung der Lehre läuterten in vielen Beziehungen das Christenthum Irlands, ehe dessen wiederholte Corruption eintrat; allein alle Zeugnisse über die Kuldier, sowol in Irland als in Schottland, über viele Heiligen und über Patrick selbst, weisen hin auf den Uebcrgaug von dem Druidenthum zum Christenthum und auf das Vorherrschen des mystischen Princips, welches sich bisweilen, wenn auch in geringerm Grade swegcn der Nachbarschaft des iranischen Hellas), in den Erzählnngen von dein Leben der Einsiedler oder den Lehren des knschitischen Gebiets, d. h. Aegyptens nnd des südlichen Syrien bemerkbar macht. Der Einsinß Irlands anf Britannien war in vielen Beziehungen von Nutzen: von hier ging die höhere Erkenntniß, die geistige Rede in der Volkssprache und der Wunsch aus, in den Sinn des Glaubens einzudringen, indem man sich nicht mit einer Ceremonie und eiucm Institut begnügte. Britannien und das Land dcr irischen Schotten richteten viele Jahrhunderte hindnrch ihre Blicke nach Osten, als anf die Urquelle der Bildnng, und vernachlässigten das finstere Abendland. Der individuelle Gedanke, lange durch das exclusive Staatsthnm Roms unterdrückt, erwachte und strebte nach neucn Pfaden des Wissens; allein der erwachte Gedanke gab m dein äußersten Abendlande, gerade so wie im Orient, Veranlassung zu Uneinigkeiten in der christlichen Welt. Pela- 183 gins und seme Jünger gründeten dic Lehre von der Freiheit des Willens, welche die Kirche lange in Aufregung versetzte. Sie ward verworfen: fic stand im Widerspruch mit der Fnn-damentalbedingung des Christenthums, über die Nothwendigkeit, die menschliche Individualität zu opfern, um eiuc höhere im Schose der Gottheit zu gewinnen; allein sie ist wichtig als ein Zeugniß des außerordentlichen geistigen Lebens in dem celtischen Norden, gegenüber dem romanisirten Abendlande; noch Wichtiger aber ist sie als ein Beweis der juridischen Richtung des Dogmas selbst in der Welt, welche mehr oder weniger die ersten Keime der Bildnng von dem rein juridischen Rom erhalten hatte. Die römischen Patriarchen verfolgten den Pelagianismus: sie sendeten ihre Jünger znm geistigen Kampfe ans in die jenseit des Oceans gelegenen Gebiete (z. B. Pal-ladins, der in der Folge nnd zwar nicht ohne Absicht mit dem ältern Patrick verwechselt wnrde); sie siegten, indem sie den Pelagianismns scheinbar vertilgten, — allein es kam ein Jahrhundert, in welchem der römische Katholicismns Satzungen verkündete, in welchen sich der Charakter der pelagischen Lehre wiederfindet. Zu nntersuchen, inwieweit der Osten recht har, wenn er das Abendland eines halben Pclagianismus beschuldigt, ist Sache der Theologen, nicht der Historiker; allein der Historiker ist verpflichtet zn bemerken, daß der Pelagianismns das Streben rcpräscntirt, die gegenseitigen juridischen Beziehungen Gottes und des Menschen festzustellen, nnd daß die spätere Lehre Roms ans dieselbe Satzung gerichtet ist, streng nnd unveränderlich an der Individualität des Menschen festhaltend, indem sie dieselbe als selbständig handelnd und die Rechte als außerhalb der Gnade oder wenigstens neben der göttlichen Barmherzigkeit empfangend betrachtet (aota moritnria, n»orit^ ßniiotornm N. s. W.). Der Historiker ist verpflichtet dieses zu bemerken, um die 184 Geschichte zu verstehen: denn die Entwickelung der Schicksale der Menschheit bleibt für denjenigen dunkel, der die geistige Entwickelung derselben nicht begreift. Ein anderer Einfluß Erius, als des Mittelpunkts des unabhängigen celtischen Lebens, machte sich in den gebirgigen Districten des westlichen Britannien geltend. Das Christenthum der Walliser und Scolcn, welche bereits einen Theil der Irland gegenüberliegenden Insten besetzt hatten, nahm eine seineu Principien vollkommen fremde Richtung. Es gelangte in den Besitz der Druiden, der Oeisterbeschwörer und Sänger, uud ging in eine mystische Lehre über, welche in vielen Beziehungen der finstern und leidenschaftlichen Welt der alten Mythologie angehörte. Dort ward die Energie des Willens und der That in hohem Grade rege, dort ertönte der gc> waltige Gesang, dessen sich die Celten als des ältesten Dcnk-mals der nordischen Literatur rühmeu können; dort erscholl die Stimme eines Aueurin, Llyw arch-Hen und T alic siu und schuf eine gauze Märchenwelt der Phantasie, aus welcher das gesammte Europa schöpfte, eine üppige Welt, wunderbare Lieder, die ersten Blätter jenes poetifcheu Kranzes, welcher den britischen Inseln bestimmt war. Diese geheimniß-volle Poesie mit ihrem blutdürstigen Entzücken, diese wilde Kraft des Willens und dieses Strebeu uach eincm kriegerischen Leben waren dem Christenthum ebenso fremd wie dem romamsirten Osten Britanniens; sie erschienen als eine Nc-action, in jener Epoche, als die Bewohner der Provinz, au süße Nuhe uud Frieden gewöhnt, sich in dein Kampfe mit den Barbaren erschöpften uud andere viel gefährlichere Barbaren zu ihrem Schutze herbeiriefen. Der Charakter der kymrischen Bewegung zur Zeit des Einfalls der Sachsen spricht sich dentlich in den damaligen Gesängen aus, welche voll symbolischer Andeutungen und Beschwörungsformeln find, sowie in den mystischen Person- 185 lichkeiten des Zauberers Merlin (oder Merddhin) und besonders Arthur's, welcheu die Geschichte bisjetzt trotz der Chronisten weder annehmen, noch trotz der Poeten und Traditionen verwerfen kann. Die unparteiische Kritik erkennt in der Sprache der Dichtungen ebenso wie in Merlin, in Arthur und seiner Tafelrunde (dem Sinnbilde der Sonne oder der Welt), in den Erzählungen von der heiligen Lanze, von der Schale des heiligen Graal, von dem Kampfe mit den Dracheu u. f. w. jeue Sprache der alten Mysterien, in welcher nichts genannt, sondern alles in symbolische Darstellungen gekleidet wird (wie z. O. Arthur — das Symbol der Kymrer, Merddhin — das Symbol der Druiden selbst), jene blinde Weisheit der Pricsterkasteu, welche iu die tägliche, historische Welt ihren willkürlichen Sinn hineinlegt, der nur den Eingeweihten verständlich ist, und jene mißgestaltete Verbindung des Christenthums mit dem Druidenthumc, welche sich iu jenem entfernten Gebiete entwickeln mußte, das fein nationales Druidenleben nicht völlig verloren hatte nnd der wohlthätigen Bevormunduug der übrigen christlichen Gemeinschaft entrückt war. Das aufmerksame Studium der Denkmäler zeigt, und zwar mit vieler Wahrscheinlichkeit, in der Mythologie des Arthur'-schen öiedercyklus einen großen Zusatz aus andern Mythologien, welche sich in den ersten Jahrhunderten des Christenthums über das ganze Reich verbreitet hatten (z.B. Spu-reu der Mysterieu des Mithrasdienstcs); aber noch jetzt kann man den Einftntz der römischen Gewalt auf die Begriffe über den Heerführer als Imperator sowie in vielen andern Einzelheiten wahrnehmen. Ebenso deutlich kann man die Verbreitung dieser geheimnisvollen Lehren des kymrischen Wallis nach Armorika wahrnehmen (wie aus den Traditionen der Stadt Tours ersichtlich ist), sowie die Sympathie für dieselben von feiten des am Ocean liegen- 186 den Venetien, welches durch die Anwesenheit des Fürsten Peredur auö dem Stamme der Veuetcr (der westlichen Slawen) in dem Ritterkreisc des mythischen Helden von Wallis bezeugt wird. Die Sachsen, welche von den verweichlichten Einwohnern des östlichen Britannien zum Schutze herbeigerufen worden, bedingten sich den Besitz einiger an der Küste gelegenen Bezirke nnd kleiner Inseln auö; sie dienten mit Erfolg den cclto-romanischcn Fürsten gegen die Picten und Seoteu und befreiten die Provinz von den Einfällen von Norden; allein sie dienten denselben auch (wie ans den Chroniken ersichtlich) in ihren innern Streitigkeiten mit den unabhängigen Fürsten des gebirgigen Westens: von den Halbrömern anfänglich als Werkzeug gegen äußere Feinde und gegen cm rein nationales Princip gebraucht, lernten sie bald die ganze Kraft nnd Schwäche der Eingeborenen kennen nnd machten sich zn deren Eroberern. Ein Schiff nach dem andern landete an den Küsten Britanniens, eine bewaffnete Schar nach der andern betrat die unglückliche Provinz, alles mit Feuer und Schwert verwüstend. Fu spät kamen die halbro'mischcn Eingeborenen zur Besinnung; sie lieferten den germanifcheu Fremdlingen eine Schlacht und wurden besiegt. Nun erhoben sich die freiheitsliebenden Bergbewohner von Wallis nnd Eornwallis und des nordwestlichen Kymricn in der ganzen Kraft ihrer Nationalität. Voll Enthusiasmus, furchtlos, stolz auf ihre nationalen Erinnerungen und auf ihre nie völlig verlorene Freiheit, begannen sie einen Jahrhunderte dauernden, unglücklichen, aber ruhmvollen Kampf mit dem Eroberer. Oft ergriffen die festen Reihen der Sachfen vor dem ungestümen Anlanfe der lymnschen Scharen die Flucht, oft besangen die wallisischen Dichter die nahe Befreiung des Vaterlandes und die Hoffuuug eines baldigen Triumphes. Allein ein Schiff nach dem andern landete an den Küsten Britanniens, Scha- 187 Ml anf Scharen kamen ans Gallien, aus dem sächsischen Knstmlande und dem unerschöpflichen Dentschland heran-gefahren; bei den Kymren aber herrschten Streitigkeiten zwischen den kleinern Gebietern, in ihrem halb christlichen, halb brnidischen Glanben herrschte innere EntMeinng, während die sächsischeil Scharen immer bereit waren, sich nnter dem Oberbefehle eines gemeinsamen Führers gegen den gemeinsamen Feind zn vereinigen; allein die Walliser waren ans religiösen Gründen der halbrömischrn Bevölkerung Britanniens ebenso verhaßt wie die sächsischen Eroberer. Der Untergang war unausbleiblich. Die feindseligen Beziehungen zwischen dem Dichter, dem Erben der Drniden und der Geistlichkeit, zwischen dein Celto-Kymrer, welcher größtenthcils seine Nationalität bewahrt hatte, uud jenem Celten, welcher romanisirt worden, tritt bei der Vcrglcichnng gleichzeitiger in lateinischer Sprache geschriebenen Chroniken, z. B. des Gildas und Nenn ins nnd der Legenden der Heiligen mit den Gedichten des Aywarch-Hen oder Taliesin sehr scharf hervor. Diese Feindschaft darf man nicht mit einer andern Feindschaft verwechseln, welche einer spätern Epoche angehört. Das Christenthum überwand allmählich das heidnische Princip (obgleich cs dasselbe nicht ganz vertilgte), während der Streit des celtischen nnd römischen Clements erst mit dem Untergange des ganzen romanisirtcn (südöstlichen) Gebiets endigte. Es begann damals eine neue Feindschaft dcS Celten und seiner einheimischen Geistlichkeit gegen dic ncn-angekommene Geistlichkeit, welche eine neue, im Verlaufe bes s>. und ?. Jahrhunderts in Italien gegründete ^ehre mitbrachte. Aber in der Chronik des Gildas, in vielen legenden "nd in den ältesten Dichtnngen ist der Widerhall des ersten Kampfes zweier in Beziehung auf Nationalität nnd geistige Entwickclnng entgegengesetzter Principien vernehmbar. Das 188 Ende des 5. und der Anfang des 6. Jahrhunderts, die Heldenepoche von Wallis und seines Systems des Stämme-bnndnisses, stellen die Erhebung alles Nationalen gegen alles Fremde dar; und aus der innern Zwietracht erklärt sich die Oleichgültigkeit des östlichen, halbrönnschen, städtischen, rein christlichen (im abendländischen Sinne genommenen) Theils von Britannien gegen die cdeln Anstrengungen des westlichen Theils, welcher sich in dem System der Clans eng zusammengeschlossen hatte, uud ebenso die Befreiung des Vaterlandes von den Sachsen, als die Vernichtung aller römischen Elemente sowol in der Sprache als im Leben anstrebte. Einige neuere Kritiker erblicken in den kymrischen Traditionen Spuren von einer Sympathie mit den Hunnen und eine unklare Erwartung der Freiheit von den Siegen Attila's. Ihr Beweis ist zu schwach; allein ihre Annahme scheint demjenigen wahrscheinlich, welcher die antirömische Bedeutuug der kymrischen Bewegung im 5. uud 6. Jahrhundert sowie die offene Feindschaft der Hunnen gegen die Germanen, und folglich die Gemeinschaftlichkeit der Ziele zwischen den großen Eroberern des Ostens und den kleinen Stämmen versteht, welche ihre Freiheit in den Gebirgen des äußersten Nordwestens vertheidigten. Das offene Bündniß mit den westlichen Venctern, welches durch traditionelle Erzählungen dargethan wird, und aus der Anwesenheit wendischer, mo-rinischer und meuavischer Handelscolonien nicht nur auf der Westküste Britanniens, sondern auch auf der Ostküste Irlands leicht begreiflich wird, dient ebenfalls als Erklärung der geheimen Sympathie des Volks mit den Hunnen. Fruchtlos waren alle Anstrengungen der tapfern Celto-Kymrer gegen den unaufhörlich sich vergrößernden Andrang der Sachsen und gegen die Gleichgültigkeit oder die Feind- 189 schaft ihrer östlichen Brüder. Die germanischen Ankömmlinge hatten festen Fuß in Britannien gefaßt und drängten die Eingeborenen in die westlichen Gebirge zurück, wo sie ihre Freiheit bis anf die Zeiten der Normannen, ihre Nationalität bagcgen theilweise bis anf den heutigen Tag zu bewahren wußten. Die Sachsen, welche in der ganzen Ausdehnung der östlichen und südöstlichen Küste in Britannien eingedrungen waren, gingen mit festem Schritte vorwärts und begnügten sich nie Mit räuberischen Einfällen, sondern gründeten immer kleine Staaten, welche unter sich nur durch die gemeinsame Verpflichtung des Schntzes gegen den gemeinsamen Feind verbunden waren. Jeder Staat, welcher von einer bewaffneten Schar gegründet wnrde, erkannte die Erbrechte der Nachkommen seines obersten Führers an. Ein jeder war unabhängig von dem andern, aber alle erkannten zugleich das Recht irgendeines der kleinen Fürsten anf die Führerschaft des ge-sannntcn Volksheerbannes in einem Kriege gegen die Kymrer an. Folglich trng das ganze System den Charakter der Föderation oder der bedingten Gemeinde an sich. Die innere Organisation der Fürstenthümer und die ganze Harmonie des von den Sachsen eingeführten Lebens unterschied sich ebenfalls f^hr stark von der Organisation nnd dem Wesen der übrigen Staaten, welche von andern germanischen Stämmen in den: abendländischen Europa gegründet wnrden. Die einheimische Bevölkerung war wenig zahlreich; allein dennoch unterwarf sie sich nicht so bald. Ueberall schlug sie sich lange und mit Tapferkeit gegen ihre Eroberer. Besiegt, starb sie, oder floh ln die freien Gebirge, oder fiel nnter das Joch vollkommener Knechtschaft. Anf diese Weise verblieb in Britannien kein ^m Heere unterworfenes Volk; eS verblieben nicht jene bei-ben Schichten, deren Kämpfe in der ganzen Geschichte des Abendlandes widerhallten. Die Siädte, selbst mit Sturm gc- 190 nommeu, verwüstet und geplündert, verloren größtentheils ihre Einwohner und füllten sich mit nencn Bewohnern aus dem Stamme der Eroberer. Zudem gingen nicht alle Bewohner der Städte zu Grnnde. In den Mauern der alten römischen Colonien erhielten sich die Ueberrestc der alten-gemischten Bevölkerung mit einer halbrömischen Sprache und mit der Erinnerung au das frühere, halbcivilisirtc Leben. Sie nahmen wahrscheinlich an der spätern Entwickeluug des Handels theil, bethciligten sich aber wenig an dem allgemeinen nationalen Leben; durch ihre Gleichgültigkeit erklärt sich theilweise der schwache Widerstand zur Zeit des normannischen Einbruchs sowie jenes starke römische Element in der englischen Sprache, welches wol schwerlich den zu wenig zahl-" reichen Normannen allein zugeschrieben werden kann. Britannien veränderte seinen Nameu: es wurde nach einem seiner erobernden Stämme England genannt. Es ist schwer zu sagen, welche Stämme in dem säch^ sischeu Bündnisse der germanischen, welche der slawischen Welt angehörten: aller Wahrscheinlichkeit nach bestand der größte Theil aus gemischten Stämmen. Die Sachsen selbst, unstreitig wenig zahlreiche Ankömmlinge ans dem Norden, trugen einen von ihrer Waffe hergenommenen germanischen Namen. Die Juten führteu den Schrcckeusuameu eines kymrischen Stammes, welcher in dem laugen Kampfe nüt den Afen, den Sarmateu berühmt geworden. Die Namen der Angeln und Warilcn sind zweifelhaft; allein ihre häufige Verbindung in Deutschland mit den Thüringern (Thli-ring oder häufig During) läßt in den Angeln und Thüringern ein slawisches Priucip vermuthen, welches durch die Veränderung des Lautes w in einen Hanchlaut, und die Zerlegung der Buchstabeu n iu deu Naseulaut "N verdeckt wird; namentlich sind es die Namen Uglitsch uud Tweritsch, welche nicht selten unter den slawischen Fauü' 191 lien vorkommen. Uebrigcns zeigen die Namen noch nicht auf die Stammesznsammensetznng der Nationen; die Eroberer nahmen hänfig einen nenen Namen von den eroberten Gebieten an. (S. d. Ann:, am Schlnsse des Aufsatzes.) Die Religion der Sachsen verräth offenbar Merkmale slawischer Beimischnng; dieselben Merkmale sind in der Sprache, aber noch mehr in der Geschichte nnd in dem Wesen derselben erkennbar. Von den Slawen, den einzigen alten Seefahrern des Nordens, kam die schnelle Entwickelung der Schiffahrt, von den Slawen die Gemeindeorganisation (obgleich nicht in ihrer vollständigen Entwicklung), von ihnen die anf die Volksversammlung gegründete Regierung nnd das Geschworenengericht, welches Einstimmigkeit verlangt, wie alles Organische unbedingte Einheit erfordert. Man snchte das Geschworenengericht bei den Germanen, nnd fand es nicht; bei den Celten nnd Kymren — aber ebenfalls erfolglos. Neuere Gelehrte begannen endlich auf den Gedaukeu zn kommen, daß dasselbe den Slawen entlehnt sein könne. Es wäre dies längst an der Zeit gewesen; allein die Richtigkeit neuerer Resultate, welche häufig durch das Unerwartete ihrer Erscheinung die Schriftsteller selbst in Erstannen setzen, bleibt immer noch zweifelhaft für die gebildete Welt. Es ist dies die Folge hochmnthi-ger Geringschätzung gegen einen Stamm, welcher gegenwärtig den Osten Europas innehat und einst ganz Mitteleuropa bewohnte. Ohne Kenntniß des slawischen Wesens und der slawischen Sprache mnß vieles in der Geschichte der Sachsen, von ihrer Religion angefangen, unverständlich bleiben. Die Sachsen kamen nach Britannien in einzelnen bcwaff-ueten Scharen und erkannten die Rechte jener .Geschlechter "", um welche fich die ersten Scharen gesammelt hatten. D'cser Charakter ist ihnen fnr immer geblieben. Aber zu 192 gleicher Zeit bildeten alle zusammen ein Volksheer, nicht aber ein Heer eines einzelnen Fürsten, und forderten deshalb Volksfreihcit. Sie kamen ans einem Lande, in welchem sich die Einfachheit des Oemcindewesens erhalten hatte: sie hatten noch kein aristokratisches Gepräge angenommen; sie forderten Ländereicn, um leben zn können, nicht aber ein Volk, nM dasselbe zn Sklaven zn machen. Als Ackerbauer nnd Arbeiter ließen sie sich auf den Gebieten nieder, die sie sich dnrch Kampf erobert hatten. Das Land war ein gemeinschaftliches; der Bezirk stellte sich als ein lebendiges und organisches Individuum dar. Dies war ihre ursprüngliche Organisation. In der spätern Feit begann sich offenbar der Reichthum in den Händen vornehmer Geschlechter zu concentriren, und die Gemeinden begannen zn verarmen; vieles auf das reine Princip des Heerbannes Bezügliche wnrde von den Dänen eingeführt, welche, anfänglich Eroberer, sich später mit den Sachsen verbrüderten; allein der Sieg des normannischen Wilhelm ließ weder eine vollständige Verunstaltung noch eine Rückkehr zu längstvcrschwundenen Zeiten zu. Eins ist jedoch gewiß: alles Herrliche, dessen sich das hentige England rühmt, ist auf dasselbe durch die Ankömmlinge aus deM slawisch-germanischen ^ande vererbt worden. Stürmisch und blutig, aber nicht ruhmlos war die beinahe fechshundertjährige Herrschaft der Anglosachsen in England. Durch Zähigkeit und ausdauernde Tapferkeit überwanden sie den ungestümen Angriff der Eelto-Kymrcr nnd schlössen sich innerhalb der Grenzen der gebirgigen Districts ein; dnrch einen langen und erbitterten Kampf erwarben s>e sich ein neues Vaterland uud breiteten ihre Macht über die Grenzen Englauds bis an den Fuß der Bcrgwälle Schottlands aus; neben diesen glänzenden Heldenthaten vertheidigte" sie ihre Freiheit gegen die Dänen und Normannen, dw Schrecken des damaligen Europa, und zeigten, als sie einen 193 vollen Tag gegen das ungleich zahlreichere Herr Wilhelm's des Eroberers auf den vcrhängnißvollen Feldern von Hastings kämpften, selbst noch in ihrem Falle ihr Uebergewicht über den Sieger und verbürgten dadurch die zukünftigen Triumphe, Welche England nicht durch das Schwert seiner normannischen Nitter, sondern durch die eiserne Kraft seiner sächsischen Bogenschützen, der Deomanry, erlangte. Die auglosächsischen Herrscher, würdige Repräsentanten eines edeln Volks, nnb unerschrocken im Kampfe, erwarben sich noch einen andern und höhern Ruhm durch Gerechtigkeitsliebe und Begünstigung der Wissenschaft. Selbst der wilde, alte Penda, der blutdürstige Verfolger des Christenthums spricht: „Ich züchtige sie nicht deshalb, weil sie Christen sind, sondern weil sie das Christenthum verkündigen, aber dessen Gesetze nicht erfüllen." Und in ihm war dies nicht die Sprache der Heuchelei, sondern der Ausdruck innerer strenger Wahrheit. Die Namen Alfred's des Großen und des siegreichen Adelstan, des (sagenhaften) Erziehers dreier Herrscher (Ala-nu's, Ludwig's ä'ontro niLi-, und Hakon's) glänzen in dem milden Glänze einer menschlichen Größe, welche in den Annalen anderer gleichzeitiger Völker völlig unbekannt lst. Die anglosächsische Sprache diente als gefügiges Werk-zeug des Gedankens, als Ausdruck geistiger Betrachtung und als Stimme begeisterter Dichtkunst. Das Leben entwickelte sich in seiner vollen Reinheit und Kraft, trotz der üniern Unruhen und der beständigen Drangsale, welche die Einfälle fremder Völker im Gefolge hatten. Langsam entwickelte sich das Christenthum unter den ^uglosachscu. Sie kamen als eifrige Götzendiener nach Britannien, bekriegten die christlichen Eingeborenen und nährten lange eine Feindschaft gegen das Volk und seinen Glauben. Allein der hohe Verstand des germanischen Stammes ver- 'N'lssische Fragmente, ü, 1Z 194 mochte sich der erhabenen Lehre nicht zu widersetzen, welche in ihrer ganzen Einfachheit verkündet wurde. Die Apostel Irlands und sogar der wallisischen Lande bekehrten einen bedeutenden Theil der Sieger und brachten eine brüderliche Annäherung zwischen ihnen und den Besiegten zu Stande. Dieser langsamen, aber fruchtbaren Glaubcnsverkündigung gesellte sich bald noch eine andere bei, welche durch ihren schnellen Erfolg berühmt, und durch ihre schädlicheu Folgen unvergeßlich geworden. Rom, welches sich noch nicht von dem Osten losgetrennt und die abendländische Kirche noch nicht in die Form einer Alleinherrschaft gepreßt hatte, dem noch nicht vollständig zum Bewußtsein gelangten Ziele jedoch rasch entgegenstrebte, schickte Apostel nach der entfernten und beinahe vergessenen Insel. Glanz und Pracht begleiteten die neuen Lehrer. Das stolze Bewußtsein der Kraft und das stolze Streben nach Macht bezeichneten ihre ersten Schritte. Die Worte des Friedens und der Liebe, welche sie aus der Ferne mitbrachten, wurden von den Anglosachscn mit Frende aufgenommen; allein die römischen Glaubensboten betrachtete« die frühern Christen, welche die Gewalt des römischen Oi-schofs nicht anerkannten, als Feinde und bestrebten sich mit demselben Eifer, die frühere (nach ihrer Meinung ketzerische) Kirche ausznrotten, als die Götzendiener zu bekehren. Der Boden Britanniens wurde mit dem Blute der Christen und Kleriker begossen, welche auf Befehl der machtliebenden Sendboten Roms hingeschlachtet wurden. Allmählich nahmen die Anglosachsen die neue Lehre an; sie nahmen sie nicht als eine äußere Einrichtung, fondern als einen innern Schatz des Geistes an. Könige beugten ihren Stolz und traten in den Mönchsorden, Wallfahrteten nach weitentlegenen Heiligthü-mern und erwarben fich durch die Reinheit ihres Lebens den Ruf der Tugend und Heiligkeit. Aus der audern Seite wurde die Feindschaft zwifchen den Sachsen und Celten, welche 195 wahrscheinlich unter dem Einflüsse eines gemeinsamen religiösen Geistes erloschen wäre, dnrch die Feindschaft der römischen und celtischen Geistlichkeit erhöht, und die sächsische Kirche, welche sich unter der Leitung der Glaubensbotcn, welche aus Italien den Charakter einer administrativen Aenßerlichkeit mitgebracht, bildete, nahm allmählich denselben äußern Charakter an, welcher in dem ganzen Abendlande allgemein geworden; allein sie nahm ihn nicht vollständig an. Das Christenthum war nicht dnrch politische Berechnungen der Herrscher, sondern durch das Beispiel anderer stammverwandten Völker oder durch das Znsammenleben mit den unterworfenen Christen anf die Sachsen übergegangen; aber als eine lebendige Idee, welche sich dnrch den menschlichen Verstand äußerte nnd dnrch denselben zum Bewußtsein gelangte. Es war in demselben bereits eine vollständige Civilisation vorhanden. Der materiellen Aeußcrlichkcit des römischen Bekenntnisses wirkte die halbdruidische, aber von Poesie und Kraft erfüllte Lehre der Scoten nnd nördlichen Kymrer entgegen; noch mehr, es wirkte ihr beinahe die ursprüngliche Lehre der irländischen Kirche und der von den Irlandern in dem Lande der Sachsen gegründeten Kirchen entgegen. Der Kampf der Principien hielt die Erhabenheit des Glaubens aufrecht und ließ denselben nicht in Ceremonien erstarren. Ans Irland ertönten Stimmen, welche alle Christen zur Ein-lracht, die Kirche zur Reinheit und zur Festhaltung an der Tradition, die Menschen znm Nachdenken und zur Betrachtung aufforderten. Die irischen Glaubcnöbotcn erhoben sich gegen die Anmaßungen des römischen Bischofs und erweckten, das ganze abendländische Europa bis zn den slawischen und byzan-llnischen Grenzen durchziehend, den menschlichen Geist ans der Betäubung der Unwissenheit und der religiösen Aeußerlichkeit. D'e ncubetehrten Anglosachsen, voll Eifer und unerschrockenen Muths, eroberten dem Christenthum das Land der iiberrhei- 13* 196 Nischen Germanen und theilten dem neuen Boden das den Celten entlehnte Maubensfeuer und das den Römern entlehnte Streben nach einer monarchischen Gestaltung der Kirche mit. Ein überaus reges und geistiges Leben herrschte in dem nordwestlichen Ende Europas; allein der Kampf entbrannte von Tag zu Tag mit größerer Heftigkeit. Unaufhörlich wuchsen die Ansprüche Roms, unaufhörlich kameu seine Boten mit neuen Forderungen zu den Anglosachsen. Die Mönche des Benedictinerordens traten gegen die einheimische Geistlichkeit in die Schranken; das Reich wurde durch innere Parteikämpfe zerrissen, welche den verschiedenen Bekenntnissen entsprangen. Das Blut floß in dem religiösen Streite, das Volk uud die Regierung standen einander feindlich gegenüber. Die leidenschaftliche und grausame Energie des Bischofs Odon und die tiefe Heuchelei Dunstan's, eines gottlosen Werkzeugs des gottlosen Johann XII., und die Verwilderung des von den Normannen überschwemmten Irland verschafften dem römischen Princip den Sieg über das einheimische. Das Reich erschlaffte, das Volksleben erlosch. Die Dänen eroberten vorübergehend das Erbe Alfred's des Gro-hen und endlich verschwand die ganze Freiheit, der ganze Ruhm der erschlafften Anglosachfen unter dem Andränge der französischen Normannen; allein das geistige Leben ging nicht spurlos unter und die heutige Beherrscherin des Meeres erhielt von den slawo-germanischen Colonisten den Ideenreichthum zugleich mit dem Schatze des besten socialen Lebens als Erbe. Fruchtlos für die Menschheit war die Eroberung Italiens dnrch die Lougobarden, obgleich vieles in ihren Gesehen eine ziemlich nahe Verwandtschaft mit den Sachsen verräth. Anfänglich grausam und sittenlos wie die Franken, aber ruhmliebend und tapfer, später (infolge des Einflusses der römischen und byzantinischen Sitten) verweichlicht und tückisch, haben 197 dieselben nicht ein einziges gutes oder großartiges Andenken an sich hinterlassen. Ein festes Regiment war unmöglich bei der Anarchie des Heeres, welches sich nur mit Widerwillen der königlichen Gewalt znr Bekämpfung äußerer Feinde unter-warf. Allein das Heer selbst war bei ihnen kein rein persönliches (wie bei den Merovingern), sondern ein vollkommen freies: denn schon von Anfang an erscheinen die Herzoge als unabhängige Regenten. Der innere, an und für sich schwache Zusammenhang erschlaffte noch mehr dnrch die Verschiedenheit des Glaubensbekenntnisses, denn ein Theil der Longobarden, welche das Christenthum vor der Eroberung Italiens von gothischen Lehrern angenommen hattcu, gehörte dem Arianis-mus an, während der andere Theil, welcher das Christenthum m Italien angenommen, dem Nizäischen Bekenntnisse angehörte. Die Kraftlosigkeit der Longobarden vermochte nicht das ganze jenseit der Alpen gelegene Gebiet zu unterjochen. Der Süden gehörte Byzanz und später theilweise den Sarazenen; Rom und Ravenna erkannten ebenfalls die Herrschaft des orientalischen Kaisers entweder factifch oder in den Regierungsacten an. Das germanische Heer fand an den bis auf das äußerste gedrückten Unterthanen Feinde (denn die Leibeigenen besaßeu nicht einmal eine rechtsgültige Ehe), Feinde an der schlauen und hcrrschsüchtigen Geistlichkeit, an dem ränkevollen Äyzauz, welches immer Zwistigkcitm in Italien zu nähren snchte und die Hoffnnng anf dessen einstige Eroberung nicht anfgab; in der feinbcrechnenden Politik der römischen Äischöfe, welche, ihrer Kraft bewußt, darauf ausgingen, jedwede Regierungsgewalt in ihrer nächsten Nachbarschaft zu schwächen und eine besondere kirchlich-politische Macht zu gründeu; iu dem die ganze Erde bedrohenden Un-gewilter der Sarazenen, und vor allem in dein eigenen Streben, sich in verschiedene Fürstenthümer aufzulösen (Toscana, Spoleto, Bencvent). Ohne Ruhm, ohne Poesie, ohne Schrift- 198 spräche, ohne Wissenschaft vergingen die Longobarden, von der Gewalt der Franken erdrückt, nnd für Italien in dem Aria-nismus und dem abgesonderten Leben nnr den Samen künftiger Zwistigkeiten zurücklassend. Eine andere wichtigere Folge der beinahe dreihnndertjährigen longobardifchen Herrschaft war die Abtrennung Noms von dem östlichen Reiche und die Gründung eines päpstlichen Fürstenthnms, aus welchem das gewaltige abendländisch-kirchliche Reich entstand, voll äußerer Kraft und Größe, aber ohne innere Harmonie und ohne belebenden geistigen Organismus. Aehnlich den Longobarden gingen auch die Westgotheu in Spanien zu Grunde. Ihr Reich hatte jedoch Epochen kriegerischen Ruhms. Mit Waffengewalt besiegten sie ihre Nebenbuhler, die Sarmato-Alanen und Sucven, vertrieben die Byzantiner nach blutigem Kampfe aus den am Meere gelegenen Gebieten, eroberten einen Theil von Mauritanien, und überwanden znr See einigemal die arabischen Heere; allein einen bessern menschlichen Ruhm haben sie nicht erworben. Ihr langer Aufenthalt unter gesitteten oder gebildeten Völkern, und das Christenthum, welches sie schon im Orient angenommen, hatten theilweise ihre kriegerische Wildheit gemildert und sie in moralischer Beziehung weit über den grausamen Longobarden nnd den gewissenlosen Franken gestellt; allein das ewige Umherziehen in fremden Ländern, der Kriegsdienst unter einer fremden (byzantinischen) Macht, und die Vermischung mit fremden Elementen hatte ihnen einen Theil ihres frühern Charakters und ihrer frühern Energie, sowie einen Theil ihrer jungen Generation genommen. Von geringer Zahl waren die Scharen der Eroberer Spaniens; das Land aber war von großer Ausdehnung, es war reich und noch voll von Ueberresten der alten Ueppigkeit und der materiellen Bildung, welche Rom der besiegten Welt mitgetheilt halte. Die schwache Nationalität der Gothen konnte keinen 199 Widerstand tristen. Vergessen wurden die alten germanischen Lieder; es verschwand die Sprache durch die grob-mechanische Vermischung ihrer Elemente mit dem einheimischen, halbrömischen Idiom, es erlosch das Streben nach Poesie, deren das seiner Sprache beraubte Volk nicht fähig war, es verschwand die Möglichkeit einer Entwickelung für die Wissenschaft, es ging jeder edlere und bessere Aufschwung der menschlichen Seele zu Grunde. In derselben Weise ging auch das ganze Volksleben unter. Die erobernden Scharen, auf der Fläche eines ausgedehnten und üppigen Gebiets zerstreut, unter sich getrennt, verwandelten sich, nachdem sie die blutsverwandtschaftlichen und sogar die herkömmlichen Bande der germanischen Waffengenossenschafteu verloren, in eine kraftlose Aristokratie, die zwar stolz und reich, aber ebenso gleichgültig gegen ihres Herrfcherthums, wie gegen den Ruhm des Bolt's war. Allein die Corruption des staatlichen und nationalen ßebens, die Verderbtheit der zu gleicher Zeit grausamen und verweichlichten Sitten, die Gleichgültigkeit gegen das Vaterland und die Fänlniß der Seele, alle jene tiefen und unheilbaren Schäden, welche den Sturz des Gothenreichs herbeiführten, waren unbedeutend im Vergleiche zu der Verunstaltung des kirchlichen Wefens und der christlichen Lehre. An den erstern ging das Reich zu Grunde, nicht die erste und nicht die letzte der untergegangenen Schöpfungen menschlicher Willkür; letztere dagegen richteten die Einheit der christlichen Gemeinde zu Grunde, indem sie das geistige Lebcn Europas und der Welt auf lange Jahrhunderte bis auf Herz und Mark vergifteten. Die ersten gothischen Eroberer waren Arianer; das besiegte Volk hing dcm Bekenntnisse des Nicäifchen Conciliums an. Die innere Schwäche des Arianismus, die Unwissenheit seiner geistlichen Vorsteher, die große Zahl der Anhänger der altkirchlichen Traditionen, die geistige Verbindung derselben mit der übrigen Welt und die innere logische Kraft der 200 Idee, verschafften in Spanien der Lehre der Synoden den Sieg über das Glaubensbekenntniß der Eroberer. Nach und nach entsagte die ganze gothische Waffengenossenschaft dem Arianismus; allein der Sieg war nicht leicht und nicht unblutig. Der Arianismus vertheidigte sich nicht mit dem Worte, sondern mit dem Schwerte und forderte nicht den Gedanken, sondern die politisch bewaffnete Macht zum Kampfe heraus. Die zu dem synodalen Symbol neubekehrten Go-then verbanden sich enger mit dem Volke und iusbesoudere mit den einzigen Repräsentanten desselben, mit der Geistlichkeit. Die Kirchen uud Klöster erwarben Reichthümer, die Macht der Bischöfe wuchs von Tag zu Tage, und zugleich wuchs auch die Bedeutung des ersten der abendländischen Bischöfe, des Bischofs von Rom heran, auf welchen die Augen und die Hoffnungen aller unter dem Joche des Arianismus seufzenden Völker gerichtet wareu. Eiue Synode nach der andern versammelte sich zur Entscheidung kirchlicher und bald auch staatlicher Angelegenheiten. Der engverbundene und unvermischte Stand des Klerus riß mit jedem Tage mehr und mehr die Rechte aller übrigen Stände an sich. Er entartete in der Erbitterung des Kampfes; er erschien fürchterlich am Tage des Triumphs. Die sitten- und kraftlose Aristokratie der germanischen Eroberer sah gleichgültig den größten Theil ihres Einflusses auf die Bischöfe übergehen. Sie erhoben und stürzteu die Könige von ihren Thronen und zwangen sie durch die Furcht des Schwertes und des Aufruhrs zur Unterwerfung; sie erließen politische Gesetze, indem sie dieselben mit den kirchlichen verwechselten; sie entschieden über das Schicksal des Staats, — allein dieses ganze Leben, welches aus dem altrömischen, aus rohen Formen besteheuden staatlichen Leben hervorgegangen, war ein äußerliches Leben, ohne jeden iuueru lebendigen Gehalt. Nirgends hatte die abendländische Geistlichkeit eine solch uu- 201 umschränlte Gewalt. Allein welches waren deren Früchte? An den blutigen Kampf gewöhnt, erließ sie nach errungenem Siege blutige Gesetze gegen Andersgläubige, fürchterliche und unmoralische Verfügungen, welche den spätern Satzungen der grausamen Inquisition in keiner Weise nachstanden. Unwissend und stolz auf ihre Bedeutung und auf die Kraft ihrer unaufhörlichen Synoden, vergaß sie die Liebe und Eintracht, sowie die Unabänderlichkeit der Traditionen und die Uncmtast-barkeit der allgemeinen (ökumenischen) Concilien, und veränderte eigenmächtig und ohne Zustimmung der übrigen Kirchen das Symbol des Glaubensbekenntnisses. Nicht auf einmal gab der Papst seine Einwilligung zu dieser Veränderung; allein er ward gezwungen, den Drohungen der stolzeu Geistlichkeit nachzugeben und das veränderte Symbol zuzulassen. Die Nachfolger des schwachen Papstes gingen weiter; sie bestätigten das Symbol der Synode von Toledo, und die christliche Welt ward in zwei bisjetzt noch nicht versöhnte Hälften auseinander gerissen und die ganze Geschichte der Menschheit verändert, nachdem sie den neuen Samen der Uneinigkeit und Feindschaft aufgenommen. Dies war die That der spanischen Geistlichkeit, dies die That des gothischen Spanien. Dem verbrecherischen Trinmphe folgte der Tag der Züchtigung. An den Ufern des Guadalele, bei den Hügeln von Xeres de la Frontera traf das kleine Heer der triumphirendeu Araber, welches von gothischen Flüchtlingen herbeigerufen worden, mit den zahlreichen Scharen des siechen Reichs zusammen. Acht Tage lang währte die Schlacht; am neunteu erhoben der Erzbischof und die Söhne des Königs Vestida mit ihren Scharen die Fahne des Verraths und fielen über die Christen und ihre stammverwandten Brüder her. Das Reich ging unter; in dem Schmuze eines Sumpfes ging sein letzter, üppiger und sittenloser König zu Grunde,- der in Prachtvollem Harnische, in goldener Mstung und iu pnrpur- 202 nem Königsmantel auf dem Schlachtfelde erschienen war. Beinahe ohne Widerstand unterwarf sich das gothische Spanien den Gesetzen des Islam, gerade so wie sich dritthalb Jahrhunderte vorher das römische Spanien dem Schwerte der Gothen und Vandalen unterworfen hatte. Die Städte öffneten dem Sieger ihre Thore; die Einwohner beugten schweigend das Knie, und vor dem erobernden Heere zog der ver-rätherische Erzbischof einher, einst der Verfolger Andersgläubiger, jetzt der Glaubensbote des unbesiegbaren Islam. So traten die Westgothm von dem Schauplatz der Geschichte ab. Einige hundert tapferer Krieger entkamen in die Gebirge Aragoniens und in die Ausläufe der Pyrenäen, wo die steilen Schluchten und die innern Unruhen des mauro-arabischen Reichs sie vor dem Untergange und vor völliger Knechtschaft retteten. Und wiederum verflossen einige Jahrhunderte. Der Islam erschlaffte, das christliche Europa erstarkte zu neuer Kraft, und das neue Reich, jetzt nicht mehr gothisch, sondern romanisch, mit einer kleinen Beimischung gothischer und fränkischer Elemente, organisirte sich auf der Pyrenäischen Halbinsel und alles Frühere verschwand spurlos in diesem neuen staatlichen Leben. Allein der Same des Bösen wie der Same des Guten geht nicht verloren. Die Spaltung der Kirche, welche auf der Synode von Toledo begonnen, ward vollständig zu Stande gebracht, und der Geist unmoralischer Verfolgung, welchen das Volk von der Geistlichkeit der gothischen Epoche ererbt hatte, entwickelte sich in feiner ganzen Grausamkeit und zündete von einem Ende des abendländischen Europa bis zum andern die schmachbeladenen Scheiterhaufen der Inquisition an. Allein die Laufbahn Spaniens war noch nicht vollendet; der große Oenuese entdeckte für dasselbe die Neue Welt, und es begoß diese Neue Welt mit dem Blute der Eingeborenen und erleuchtete sie durch die Flammen seiner Scheiterhaufen. Und wiederum vergingen 203 einige Jahrhunderte, und Spanien, welches den Glauben nur als eine äußerliche Religion und das Christenthum nur als eine Art neuen Brahmanenthums mit kuschitischen Beschwörungsformeln aufgefaßt, windet sich in den Krämpfen der Ohnmacht — ein halberstorbener Leichnam, den lebensfrischen Nationen Europas zur Schande hingeworfen. Die Einheit des merovingischen Frankreich, gegründet durch eine friedliche Waffengemeinschaft und das beständige Bündniß mit der geistigeu Gewalt und mit seinem obersten Repräsentanten im Abcndlande, dem römischen Bischöfe, gaben den Merovingern ein entschiedenes Uebergewicht über alle ihre Nebenbuhler. Die Eroberung des südwestlichen und westlichen Deutschland verschaffte den Nachfolgern Chlodwig's ein ungeheueres Gebiet und eine unerschöpfliche Quelle von Wehrkräften. Ihre Beziehungen zu den übrigen und östlichen germanischen Stämmen verschafften denselben zu gleicher Zeit ein leichtes Mittel zur größern Ausdehnung der Grenzen des Reichs unter der Form eines Protectorats. Die freigewordenen Slawen hatten noch nicht die ihnen von den Hunnen übermachte erobernde Richtung verloren. Sie eilten von Osten gegen die Grenzlande der germanischen Welt herbei und drohten immerwährend mit einem Einfalle. Einen neuen Stoß erhielten sie von den fremden Stämmen der Avaren, der Unterdrücker und zugleich der äußern Vereiniger der slawischen Welt. Slawische Scharen überschwemmten Hellas und vernichtete« ihre westlichen Nachbarn; allein dieser Andrang, hinreichend zur Vernichtung oder Unterjochung kleiner germanischer Stämme, hatte nicht jene gewaltige Einheit, welche einst unter den Hunnen das ganze römische und germanische Europa erschütterte. Die Avarcn wareu Fremdlinge, andern Stammes und andern Blutes, welche die slawische Macht vorübergehend zu ihrem eigeneu Vortheile vereinigten; die Hunnen waren selbst Slawen; sie waren stammverwandte 204 und gleichgesinnt Brüder. Die Franken, welche als Beschützer der schwachen östlichen Germanen erschienen, besiegten und verdrängten oder unterwarfen ihre slawischen Gegner und dehnten ihr Reich bis Pannonien, bis zu den Karpaten und Norischen Alpen aus. Aber zu gleicher Zeit unterjochten sie auch ihre Brüder, die befreiten Germanen, z. B. die Thüringer, und vertauschten das frühere Leben des Volksheeres mit dem französischen System des königlichen Heeres, indem sie dessen Organismus und natürliche Entwickelung durch die Uebermacht einer bedingten und staatlichen Orgauisation verunstalteten. Hartnäckiger war die Vertheidigung des nördlichen und nordwestlichen Deutschlaud. Die Sachscu setzten die Ausdehnung ihres Gebiets fort und erstarkten an kriegerischer Macht. Die am Meere wohnenden Friesen errangen die Freiheit ihres sumpfigen und undurchdringlichen Landes sogar bis zu den Mündungen des Rhein. Das Gemeindelebeu des Volks erhielt sich noch in den Wäldern und zwischen den Seen Hollands, bei den slawischen Witzen (offenbar Wenden — Wilzen oder die Großen — v^ii«io) und Warncrn, aller Wahrscheinlichkeit nach deren stammverwandte Brüder. Selbst die Friesen gehören trotz ihres unstreitig germanischen Ursprungs, wie es scheint, nicht zu den rein deutschen Völkern und enthalten sehr viele slawische Beimischung. Diese Folgerung geht aus ihrem ganzen Wesen, theilweife aus ihrer Sprache, aus ihren Bündnissen mit den Wilzen uub Warnern, aus ihrer Neigung zum Handel und zur Anlegung von Handelsstädten (wie z. B. Stavora, dessen Name vollständig slawisch und von Sagen und Mythen umgeben ist, welche ebenfalls einen slawischen Charakter an sich tragen, wie z. B. die Sage von der Volksstrafe für den Stolz des Reichthums und die Verachtung des Brotes). Das friefifche Land war unstreitig ein slawisches Küstenland, welches durch den fortwährenden Zudrang der 205 benachbarten Deutschen allmählich germanisirt wurde, welch letztere, obgleich vielleicht Eroberer, dennoch das Wesen und den Charakter des frühern einheimischen Stammes annahmen. Dadurch erklärt sich auch der lange Widerstand der Friesen gegen die franco-germamsche Herrschaft, der tiefe gegenseitige Haß zwischen ihnen und den Franco-Germanen, und das tragische Schicksal derselben im Mittelalter. Ueberhaupt kann mau nicht umhin, die hartnäckige Kurzsichtigkeit in der Kritik zu bemerken, welche eine Identität der Voltselemente in den Witzen oder Weletabcrn (L<^ii'ium.!it) und den Warnern entweder nicht wahrnehmen will oder nicht wahrnehmen kann. Ihre Wohnungen waren ganz dieselben, das politische Leben das nämliche. Selbst der Name Warner kommt von n'kpa her, gleichbedeutend mit nnpa in dem Worte Gunnivar oder Wira (unp») d. h. Gemeinde, Eintracht oder Friede. Die Identität der Warner und Witzen zeigt wiederum auf gemeinsame slawische Wurzeln bei den Friesen und Sachsen hin. Bei beiden herrscht wie bei den Slawen die Idee der Häuslichkeit, der Wirthschaft vor, welche sehr weit von der kriegerischen Grundlage der rein germanischen Gesellschaft entfernt ist. Die Benennung des Brotes angelsächsisch liini', nordisch kieit'er (,^aib, loat) kommt offenbar von dem slawischen xzi,6i, her (Wurzel x^oüaik, das ihm im Neutrum entsprechende x^»6aib) und von diesem Worte leiten sich eine Menge anderer Wörter ab, welche die verschiedenen bürgerlichen Beziehungen m der fricsisch-sächsischeu Gesellschaft bezeichnen. Uebrigens scheint der Name des Hauswirths — Hlaford in dem Sinne von Brotgeber genommen, etwas zweifelhaft: es möchte etwa von dein Worte Glavar (Wurzel i-Mna — Haupt) abgeleitet werden. In beiden Fällen grüudet sich derselbe auf einen slawischen Begriff und auf ein slawisches Wurzclwort. Allein trotz des hartnäckigen Widerstands der Friesen 206 trotz der wachsenden Macht der Sachsen, sowie der Nebenbuhlerschaft der Slawen im östlichen Deutschland mck der häufigen Unglücksfälle (wie z. B. die durch die Slawen erlittene Niederlage des verbündeten Heeres der Franken, Baiern und Sachsen im Jahre <>'iO) nahm das fränkische Reich dennoch immermehr an Ausdehnung nud Kraft zu. Es umfaßte allmählich sämmtliche Kräfte des germanischen Stammes von den Karpaten bis zum Atlantischen Meere nnd schloß dieselben in die Einheit des königlichen Heeres und des Allodial-systems ein, welches fast ebenso für den Erobernngs- als für den Vertheidigungskrieg geeignet als der staatlichen Gesammtheit günstig war. Die weitere Entwickelung des fränkischen Reichs wurde durch innere Zwistigkciten gehemmt, der natürlichen Folge des Begriffs von der Gleichheit der Rechte aller Nachkommen des Königs (des obersten Kriegsherrn) auf daS Erbe desselben, sowol iu Bezug auf desseu eigenen ungeheuern Antheil an den eroberten Gebieten als in Beziehung auf die Führerschaft des Heers. Frankreich, getheilt und in einzelne Theile zersplittert, entbehrte zeitweise der Kräfte zu äußerer Thätigkeit; allem allmählich triumphirte die Idee der staatlichen, nnd militärischen Einheit, nach blutigen Zwistigkei-ten, nach Greuelthaten, die in der Geschichte Enropas wenig ihresgleichen finden nnd welche von dem tiefen Sittenver-derbniß zeugen, welches Rom auf seine hundertjährigen Miethlinge uud Sklaven vererbt hatte. Das Königshans der Me-rovinger nahm neue Throngesetze an, welche die Ursache der frühern Zwistigkeitcn entfernten. Es trat jetzt ein neues Princip hervor, welches bis dahin noch keinen bedeutenden Einfluß auf die Geschichte hatte und welches bis heute von der historischen Kritik nicht wahrgenommen wurde, welches aber in feiner Entwickelung die merovingische Dynastie ins Verderben stürzte und theilweise den Gang der französischen Geschichte auf die Dauer vieler Jahrhunderte bestimmte. 207 Chlodwig war der Anführer des Heers und trug dieses Recht auf feine Nachkommenschaft über; aber zugleich nahm er auch die Würde eines Patriciers (die eigentliche Krönung mit allen Ceremonien) sowie den Segen der Kirche an. So-wol das eine wie das andere bezog sich nicht auf das Heer, welches gegen den römischen Titel sehr gleichgültig und mehr als zur Hälfte dem Christenthum fremd war, sondern auf die Eingeborenen des eroberten Gallien. Und diese Bedeutung eines Königspatriciers und einer halbgeistlichen Person ging auf die regierenden Nachkömmlinge Chlodwig's über, nnd die römische Kirche fuhr fort sie ihre geliebten Söhne, Beschützer der Kirche zu ucnnen trotz der abschenerregenden Sittenlosig-keit ihres blutbefleckten Lebens. Es kam die Zeit der Beruhigung und der königlichen Einheit für Frankreich; allein jetzt sprach sich der Dualismus der königlichen Würde, welche den Heerführer und den König in einer Perfon vereinigte, greller und lebhafter ans. Die hohe menschliche Wahrheit der moralischen Idee erhielt das Uebergewicht. Der Heerführer wich dem Könige. Der veredelte Nachkomme des grausamen und treulosen Merovingers erschien als ein König des Friedens und der geistigen Wahrheit; er vertauschte das Schlachtroß gegen das friedliche Gespann weißer Ochsen, nnd das Schwert des Kriegs gegen den Stab des Patriarchen. Seine Diener, die Verwaltung seines Hauswesens (^Iajoi-68 (lomus, wahrscheinlich dasselbe was ^Iiunsinus, der Richter mit den Schlüsseln) führten seine Kriegsscharen in den Kampf nnd begannen das von dem Könige halbvergessene Heerwesen unter ihre Leitung zu nehmen. Die stolze Kraft des Heers ertrug diese Erniedrignng nicht; es erinnerte sich seines alten Rechts, sich den Führer selbst zn wählen, ein Recht, welches eigentlich den Volkshecren gehörte, das sich aber die persönlichen Heere infolge der Schwäche der Könige angeeignet hatten. Das Volk der Eroberer kehrte zn der Gewohnheit zurück, welche durch 208 den großen Historiker des seinem Verfall entgegengehenden Rom bezeugt wird, zu der Gewohnheit, den König nach der Geburt, den Heerführer nach seinen kriegerischen Tugenden zu wählen (N6F68 ex nadiiitkw, änoss sx virwts). Die Hausmeier, die Erwählten des Heers, standen dem König, dem Repräsentanten des besiegten Volks und der Geistlichkeit frei und unumschränkt gegenüber, und erkannten nur noch scheinbar die Gewalt ihrer friedlichen Herrscher an. Frankreich theilte sich in seine beiden Elemente, in daS Land der eroberten Römer, und in das der erobernden Germanen, in den Westen und in den Osten, in Neustrien und Austrasien. Jede Hälfte wählte ihren Hausmeier; zwischen den Hausmeiern aber erhoben sich Zwistigkeiten, wie früher zwischen den Herrschern, und die schwachen Könige segneten unfreiwillig die Sieger, und die moralische Person des Friedensrichters befand sich trotz der Majestät in der Sklaverei der triumphirenden Befehlshaber des Heers. Das germanische 3and war stärker, als das gallisch-römische Alistrasicn siegte. Das große Geschlecht Pipin's von Heristal erhielt den Erbtitel eines Hausmeiers und unterdrückte fast vollständig das Haus der Merovinger. Das kraftlose Volk schwieg; allein die Geistlichkeit wollte sich nicht mit der neuen Gewalt versöhnen; sie sprach gegen Karl Martell, den Besieger der Mauren und den Retter Frankreichs, den Besieger der götzendienerischen Friesen und den Verbreiter des Christenthums, den Bann aus. Sie verstand die Feindschaft, welche unter der Maske des Protectorats versteckt war. Es kam die Zeit der Gefahr für den römischen Bischof von dem Ungcwitter der Longobar-den. Er suchte Schutz bei Frankreich: allein die nichtigen Könige vermochten keine Hülfe zu leisten; die mächtigen Hausmeier wollten sie ohne Aussicht auf persönliche Vortheile nicht gewähren. Das Haupt der abendländischen Kirche gab seine geliebten Söhne, die Merovinger, auf, und neue geliebte 209 Söhne wurden an Kindesstatt angenommen. Die Könige der Merovinger verschmachteten in den Klöstern. Die Nachkommen Npin's, die Karolinger, bestiegen den Thron und vereinigten in sich die Würde des Hausmeiers und die Würde des Königs. So endigte im 9. Jahrhundert die erste Dynastie; allein der Dualismus der Principien erlosch nicht nnd die moralische Idee gewann neuerdings die Oberhand. Die Karolinger betraten bald nach Karl dem Großen dieselbe Bahn, auf welcher ihre Vorgänger gewandelt, und gingen ebenso zu Grunde wie die Merovinger. Eine nene Dynastie, die Kape-tinger, traten an ihre Stelle und setzten das frühere Werk fort, ohne jedoch ihre kriegerische Bedeutung vollständig aufzugeben. So erklärt sich insbesondere die Stellung Ludwig's IX. und der unbewußte Nusspruch eines französischen Schriftstellers : „1^6 roi 63t Is (^ranä «luAb äs paix äu ro^auin« 6e Granes." Vielleicht wären die Kapetinger demselben Schicksale erlegen wie ihre Vorgänger; allein das Volk erstarkte, und die Könige begriffen, daß die moralische Bedeutung eines Friedensrichters den materiellen Begriffen des unmoralischen Volks uicht zugänglich sei. Statt der geistlichen Waffe der Principien der menschlichen Wahrheit, ergriffen sie die Waffe des römischen Rechts, und Philipp der Schöne und seine Nachfolger, jene gewissenlosen Ncchtsverdreher, gewannen den Sieg, welchen ihre edeln Vorgänger verdient hatten. Dies ist die Bedeutung und der Charakter der ersten französischen Geschichte, wodurch sich dieselbe scharf von der germanischen Geschichte trennt, welche auf einem andern Boden und unter andern Bedingungen gegründet ist. Die Siege der Waffen, aber mehr noch das Vündniß wit dem römischen Bischöfe hatte Frankreich erweitert und die Rufsische Fragmente. II. 14 210 Mcrovinger berühmt gemacht. Die Franken, die Beherrscher fast des ganzen Abendlandes, verfügten über dessen Geschicke; allein dieses ganze änßere todte Leben blieb ohne Früchte für die Menschheit. Weder Literatur, noch Poesie, noch Wissenschaft erwachten in dem Gebiete des untergegangenen Gallien, noch in dem wilden Lande der jenseit des Rhein wohnenden Germanen. Finstere Jahrhunderte warteten eines neuen Lichts. Der westiranische Stamm der Germanen beherrschte den Westen Europas. Die iranische Lehre, welche sich zwanzig Jahrhunderte hindurch durch Israel erhalten und sich plötzlich in ihrer ganzen Erhabenheit entwickelt hatte, ward die Lehre und der Glauben der frischen und kräftigen, zur Weltherrschaft bestimmten Nationen. Allein weder die von Leben und Kraft erfüllte Lehre, noch die mit einem unerschöpflichen Reichthum geistiger Fähigkeiten ausgestatteten Völker vermochten belebende Früchte für die Menschheit zu tragen. Die germanischen Völker, durch die Barbarei eines kriegerischen Lebens iu ihren vaterländischen Wäldern oder durch ihre eigene Herrschaft über die Slawen und Celten verdorben, schlossm sich schließlich in die Form des bedingten Heeres, in die Form einer unmenschlichen nnd unterdrückenden Kaste ein, erfüllt von Feindschaft und Verachtung gegen die schwachen romanischen oder celto-kymrifcheu Völker, die unter ihr Joch gerathen waren. Die Lehre des Friedens, der Liebe nnd der geistigen Civilisation, welche durch die dem Martertode geopferten Glaubensboten aus dem Orient gebracht worden, ward in ihrem Triumphe über die römischeu Principien verunstaltet; in ihrem Siege über die äußerliche Staatsreligion nahm sie den Charakter der Acußerlichkeit und des Staats-thums an. Sie forderte nicht Liebe, sondern Unterwürfigkeit, nicht Glauben, sondern Ceremonie. Die wahre lebendige Einheit, die Einheit des Geistes, welche sich iu der Einheit sicht- 211 barer Formen ausspricht, wurde durch die Einheit einer materiellen Norm ersetzt und der Begriff der Gewalt übertragen, welche diese Norm aufstellte, in den Begriff einer Kaste, welche die geistigeu Angelegenheiten verwaltete, in den Begriff der Geistlichkeit, welche vorzugsweise für die Kirche angesehen wurde, und endlich in den Begriff eines einzigen Bischofs, des Bischofs des alten Rom, welcher sowol die volle Einheit der geistigen Gewalt als auch deren unbedingte Unfehlbarkeit repräseutirte. Die Idee des Rechts stand auf dem Fundamente des römischen Lebens, uud das römische Leben, Welches den germanischen Eroberern ein-neues Princip der Bildnng übermittelte, übermittelte denselben zugleich die Idee des strengen, logischen Rechts, uud zwar nicht nur in dem bedingten und folglich ohue die Unterordnung unter das logische Recht uumo'glichen Staatswesen, fondern auch iu dem geistigen nnd religiösen Leben. Das tnschitische Princip der logischen Nothwendigkeit drang in die Lehre ein, welche von dem iranischen Iudäa vererbt worden, und gab den Beziehungen des Menschen zu Gott die Bedeutung eines ewigen Haders, dem Gebete und dem Geheimnisse — den Sinu einer Beschwörung, dem liebenden Glauben — den Charakter eines obligatorischen Gesetzes. Das innere und geistige Leben blieb im Abendlande nur noch ein Eigenthum der Celto-Kymrer Irlands nnd theilwcisc der Sachsen in Britannien; allein es War denselben beschiedcn, das jenseit des Rhein gelegene Germanien zum Lichte zu führen, selbst aber durch äußere Gewalt und durch innere Zwistigkeiten, welche aus den romanischen Ländern mitgebracht worden, zu Grunde zn gehen. Der Same des Bösen, welcher von Rom gesäet worden war, Mußte in der Verunstaltung der Vernunft seine Früchte tragen. Der Same der Feindschaft und des Hasses, welcher durch die Eroberung gefäet worden war, mußte in der Ver-derbuiß des Geistes feine Früchte tragen, nnd das Abendland 312 mußte sich in ein gewaltiges Ganze zusammenpressen lassen, nach außen unbesiegbar und lebendig, im Innern aber unharmonisch, schwach und erstarrt. Die Keime, welche in den ersten Jahrhunderten des Christenthums auf den germano-römischen Boden gepflanzt wurden, wuchsen empor und gediehen durch die Geschichte von achtzehn Jahrhunderten zur Reife. Anders waren die Erscheinungen in dem byzantinischen Osten. Dort erstarb das staatliche Leben und nur der vielhundertjährige Kampf gegen äußere Angriffe dauerte ohne Hoffnung auf Triumph, ohne Hoffnung auf eine innere Restauration fort. Die Byzantiner, welche sich freiwillig in die von Rom ererbten socialen Formen eingeschlossen hatten, verloren die Möglichkeit einer staatlichen Entwickelung; allein die sociale Fäulniß mußte sich allmählich in den einzelnen Personen widerspiegeln und den Umfang ihrer Gedanken in die engen Grenzen der Einseitigkeit festbannen. Unterdessen wurde die große That der religiösen Wissenschaft oder der wissenschaftlichen Bestimmung der christlichen Lehre durch Denker, durch die Erben der hellenischen Bildung vollbracht, und es wurde dieselbe nicht nur für Byzanz allein, fondern für die ganze europäische Welt vollbracht, welche von demselben das Licht der Vernunft uud die Norm des Glaubens auuahm. Unaufhörlich entstanden neue Lehren, welche die alte Tradition bekämpfte» und sie zu einem deutlichern Ausdrucke ihrer noch nicht ausgesprochenen Bedeutung aufforderte::. Die Streitfragen wurden auf großartigen Synodeu entschieden, an welchen die geistlichen Repräsentanten der abendländischen Provinzen uud der von barbarischen Irrgläubigen unterworfenen Länder anwohnten; aber noch großartiger als die Synoden selbst, welche häufig durch die Excesse uiederer Leidenschaften in Aufregung versetzt wurden (wie z. V. die Versammlung in Ephefus, bekannt unter dem Namen der Räuberei von Ephc- 213 sus), war das Leben des Gedankens, welches sich unaufhörlich und allenthalben in Sendbriefen, in Predigten, in schriftlichen und mündlichen Disputationen, in der eifrigen Theilnahme aller Stände, in den Spitzfindigkeiten der Dialektik, in dem Donner der Rhetorik aussprach. Die Synoden selbst bestimmten nicht, sondern verliehen dem in den kirchlichen Gemeinden lebenden Gedanken und Glauben nur Ausdruck. Sie erhielten ihre Bedeutung weder von besondern Formen, noch von materiellen Merkmalen der Gewalt, noch von der Zustimmung, welche die abwesenden Christen dem Bekenntnisse gaben, das von ihren Repräsentanten, den Bischöfen oder andern in der Synode sitzenden Klerikern festgestellt worden war. Sonach hatte das Recht der Repräsentanten selbst, ebenso wie das Recht des Urtheils keine bedingte oder staatliche Grundlage, sondern gründete sich einzig und allem auf die Freiheit der geistigen, durch keine formellen Satzungen gefesselten Einheit. Die Synode war keine Gewalt, sondern eine Stimme, und in diesem Mangel an formeller Gewalt muß die Geschichte die Uuantastbarkeit ihrer geistigen Gewalt anerkennen. Dies war zu allen Zeiten die Anschanung des Ostens: dies war auch die Auffassung des Abendlandes, solange seine Gemeinschaft mit dem Osten noch nicht aufgehoben war. Deshalb gab auch weder die Zahl der auf der Synode anwesenden Bischöfe, noch die Gewalt oder die Zustimmung der Imperatoren, noch die Zustimmung der ältesten Bischöfe und Patriarchen, kurz, gar keiu äußeres Merkmal, nichts gab der Synode einen universellen (d. h. allgemein-kirchlichen) Charakter. So wohnten z. B. den von der Kirche verworfenen Synoden häufig eine diel größere Zahl von Bischöfen an, als deren auf den fogenann-ten allgemeinen Synoden zugegen waren. So wurden viele von ihnen von den Kaisern bestätigt, viele von allen Pa- 214 triarchen anerkannt, selbst den römischen nicht ausgenommen (denn der Beschluß der Mailänder Synode wurde von Liberius unterzeichnet, welcher dem kaiserlichen Drucke nachgegeben hatte). Die allgemeine Meinung war die Richterin der Synode, die Synode aber nur der Ausdruck der geistigen und moralischen Einheit. Von diesem Standpunkte aus ist es begreiflich, wie in der Folge die siorentinischc Synode, trotz aller äußern Merkmale der Gesetzmäßigkeit, von der morgenländischen Gemeinde verworfen wurdet Auch im Abendlaude war dies der ursprüngliche Begriff der Synoden; in der Folge aber unterdrückte die äußerliche oder staatliche Neligiou die frühere Lehre und die Lehre des Abendlandes nahm eine äußere Norm für die Beurtheilung der Gesetzmäßigkeit einer Synode an, eine Norm, welche sich auf äußere Merkmale gründete, wie z. B. auf die Gesetzmäßigkeit der Rechte der an der Synode theil-uehmenden Personen, auf ihre Zahl, auf ihre Uebereinstimmung mit dem römischen Bischöfe n. s. w. Die Idee der bedingten, administrativen Einheit (Autorität oder Gewalt) trat an die Stelle der Idee einer inneru oder organischen (lebendigeu) Eiuheit. Die genaue Betrachtuug dieser Frage ist uicht sowol Erforderniß der religiösen Dogmatit als vielmehr der gesunden historischen Kritik. Selbst der Gang der Entwickelung in der religiösen Wissenschaft stellt eine bemerkenswerthe Consequeuz dar und zeigt auf die strengen Anforderungen des Verstandes in der Welt der hellenischen Bildung hin. Die großen Fragen, welche das morgenländische Reich in Aufregung versetzten, entziehen sich jctzt dem oberflächlichen Beobachter nnter den Formeln religiöser Dogmatik nnd finden selten eine unparteiische Beurtheilung; allein dogmatische Formeln waren unvermeidbar, denn die Aufgabe des Denkens bestand während der ersten Jahrhunderte nach Konstantin nicht in der Schöpfung 215 einer neuen Wissenschaft aus der freien Kraft des menschlichen Geistes, sondern in einer wissenschaftlichen oder geistigen Erklärung der Tradition; die Tradition ist aber unauflöslich an Formen und Formeln geknüpft, in welchen sie sich von Geschlecht zu Geschlecht forterbt. Die historische Betrachtung der synodalen Thätigkeit aber entdeckt, wenn sie alle Einzelheiten und Zufälligkeiten der Streitfragen und deren äußere Formen fern hält, sowol die hohe Bedeutung derselben als auch die großartigen Leistungen, welche durch das geistige Leben Konstantinopels vollbracht wurden.') Die Synoden retteten der Menschheit die erhabene Lehre, deren wohlthätige Früchte derselben seit vielen Jahrhunderten bis auf den heutigen Tag zur Nahruug dienen, indem sie das Streben derselben veredeln und erhöhen und es auf ein unendlich erhabenes Ziel hinleiten. Das Dogma war festgestellt, und die Kirche konnte zur Ruhe zurückkehren; allein ein neuer verheerender Sturm sollte dieselbe und mit ihr zugleich auf lange Zeit das byzantinische Reich erschüttern und vielleicht auf immer schwächen. Die ersten Jahrhunderte der Kirche waren arm an Ceremonien und fast aller äußern gottesdienstlichen Form fremd. Der Staatstriumph des Christenthums unter Konstantin gab dem äußern Leben Freiheit: es erschienen Ceremonien, frei geschaffen zum Ausdruck des innern Lebens und der innern Einheit; der Geist der Knust fchuf eine neue Kirchenpoesie, eine neue christliche Architektur, eine nene Malerei, arm in Beziehung auf plastische Schönheit, aber reich in Beziehung auf geistigen Ausdruck, und dies War wiederum das Werk der byzantinischen Welt. Die Bil- 1) Es folgt h«r eine kurze Beleuchtung der dogmatischen Thätigkeit der ersten sechs allgemeinen Synoden. Da dieselbe aber nur in Ver bindung mit der ganzen Anschauung Ehomjalow's einen vollständigen Sinn erhält, so haben wir dieselben bei dem Drucke des vorliegenden Fragments Übergängen. 216 der wurden zu einem Gegenstand der Liebe, der Ehrfurcht und der Andacht; bei dem unwissenden Volke wurden sie zu einem Gegenstande des Götzendienstes. Gegen diese Abweichung vom Christcnthume erhoben sich Männer von gewaltigem Eifer und starkem Geiste, Imperatoren, welche sich durch ihre Siege über das Ausland berühmt gemacht hatten. Allein statt znr Ueberzeugung und Belehrung ihre Zuflucht zu nehmen, griffen sie in Dingen geistiger Natur zur Gewalt. Der Widerstand weckte den Stolz; der beleidigte Stolz drückte sich durch grausame Verfolgungen aus. Die Geistlichkeit empörte sich gegen diese ungesetzliche Anwendung äußerer Gewalt (zu der sie selbst häufig aus ungesetzliche Weise ihre Znftucht genommen). Sie fühlte sich erniedrigt, und trat ebenso für ihre weltlichen Vortheile als für ihre kirchlichen Rechte in die Schranken. Die Leidenschaften loderten auf. Die innere Zwietracht untergrub die Kräfte des Staats; die Wahrheit verfinsterte sich in der unvermeidlichen Erbitterung des Parteikampfes, das Heer, die materielle Kraft, und vielleicht auch die Reinheit der Absichten waren ans feiten der Verfolger, der Bilderstürmer. Aber die Ueberzeugung des Volks, das Recht und die Wahrheit waren auf feiten der verfolgten Vertheidiger der Gilder. Auf diesen hundertjährigen Streit sieht die moderne Wissenschaft mit hochmüthigem Lächeln herab. Der Sinn desselben ist für sie ebenso dunkel, wie er es für die Unwissenheit der frühern Kirchenhistoriker gewesen. Sowol diesen wie jener mangelte die unparteiische Bildung. Die wahre Bedeutung der infolge der Bilderstürmerei entstandenen Streitigkeiten ist äußerst wichtig und würdig, in der Geschichte der Meuschheit rühmend erwähnt zn werden; würdiger als die unbedeutenden Kriege und unbedeutenden Siege der Barbaren über Barbaren, deren sich das abendländische Europa und seine blutigen Annalen rühmen. Der Bilderstürmer erhob sich gegen den 217 Misbrauch, welcher das Christenthum zu einem Götzendienst herabwürdigte; allein er brachte Gewalt und Zwang in die Sache der höchsten menschlichen Freiheit, nnd sein Sieg wäre nicht die Verurtheilung der Bilder allein, sondern die Verurteilung jeder Art von Ceremonie gewesen. Die Vertheidiger der Bilder vertheidigten in denselben das Recht der menschlichen Freiheit, ja noch mehr, die Freiheit jedes Menschen und jeder Gemeinde, in ihrer lebendigen Einheit ihren Gedanken und ihr Gefühl durch Worte, Töne und Bilder auszudrücken. Sie siegten nnd ihr Sieg rettete die Unan« tastbarkeit der Kirche und ihres Glaubens an sich selbst und an die lebendige Idee, welche den Götzendienst ohne jeden äußern Zwang entfernen sollte, sie retteten die poetische Freiheit der Ceremonie und die Kunst der Zukunft. Dies war die Aufgabe der zweiten Nicäischen und zugleich der letzten der großen Synoden. Mit dieser Synode beschloß Byzanz seine geistliche Laufbahn, indem es das Dogma, den wissenschaftlichen Ausdruck des Gedankens, auf immer bestätigte und die Ceremonie — den poetischen Ausdruck des Lebens rettete. Diese That wird unvergeßlich bleiben und dollständig gewürdigt werdeu, sobald sich das abendländische Europa einigermaßen von seiner stolzen Abneigung gegen den Osten und die Wissenschaft sich von ihrer stumpfen Einseitigkeit freimacht. Das politische Leben Konstantinopels entsprach nicht der Höhe feines geistigen Lebens; doch war auch dieses nicht ohne großen Ruhm und ohne große Thaten. Kein Staat auf der Welt hatte so nnausgesetzte, so fürchterliche Angriffe auszuhalten; nicht ein einziger Staat führte gegen dieselben solche lange andauernde Kämpfe. Von Norden und von Westen brauste eine Woge nach der andern daher; Unglück anf Unglück brach über das wankende Gebände des römischen Staatsthums herein, welches sich nur durch den ihm inne- 218 wohnenden Geist der hellenischen Vernunft nnd der hellenischen Bildung erhielt. Der Schrecken Deutschlands und des abendländischen Europa, Attila und seine Hunnen, zogen sich vor der stolzen Kühnheit Marxian's zurück. Die alles verwüstende Flut wendete sich gegen Italien; allein Marcian starb und seine unwürdigen Nachfolger verstanden die Ehre des Staats nicht zu wahren. Die Trümmer des hunnischen Heeres, Gepiden und Slawen, Wenden und Anten, plünderten die nördlichen, an der Donau liegenden Gebiete; die Vandalen plünderten den Pcloponnes; die eigenmächtigen Diener und Miethlinge des Reichs, die Ostgothen, führten einen Bürgerkrieg und gründeten znletzt, nachdem sie ihre Kräfte unter der Anführung des großen Thcodorich vereinigt hatten, ein neues unabhängiges Reich in Italien; die Bergbewohner des Kau« kasns und die Perser verwüsteten den ganzen Osten, während die künftigen Eroberer der halben Welt, die Araber und Sarazenen, von Süden her in Syrien und Palästina einbrachen. In der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts bestieg ein in dcr Geschichte der Menschheit denkwürdiger Kaiser den byzantinischen Thron. Ein Slawe unvermischter Abkunft, der Sohn slawischer Aeltern (wie aus den Namen und insbesondere aus dem Namen der Mutter — Biägleniza — erficht« lich ist). Upravda wurde zur Regierung berufen. Seinen' Namen übertrug er in die lateinische Regierungssprache und nannte, sich Justinian. Wenn es noch eines Beweises bedürfte, daß die Slawen von alters her die an der Donau gelegenen Länder bewohnten, und wenn es noch nöthig wäre, die absurde Ansicht über die Bewegung der Slawen zu verwerfen, als seien dieselben erst nach den Hunnen in Enropa eingedrungen, so dürften die Namen Uftravda's nnd seiner Aeltern allein selbst die hartnäckigsten Skeptiker hinlänglich überzeugen. Weder die Hunnen noch die Slawen brachen vor 219 der Mitte des 5. Jahrhunderts in das Reich ein, während Justinian von einem slawischen Pater nnd einer slawischen Mntter im Jahre 482 geboren ward und nicht ein einziger byzantinischer, noch abendländischer Schriftsteller ihn für einen Barbaren oder Ausländer hielt nnb als solchen bezeichnete. Geht hierans nicht deutlich hervor, daß er ein eingeborener Slawe, ein Nachkomme der alten Bewohner Illyriens oder Thraziens gewesen? Justinian - Npravda zeichnete sich weder durch kriegerische Tugenden noch durch Geisteskraft aus. Dem Kriegswesen fremd, ein Spielzeug der Hofintriguen nnd eines sittenlosen Weibes, dem Volke durch seine Gutherzigkeit weder Furcht, noch durch seinen Mangel an Festigkeit und Selbständigkeit in Regiernngsangelcgenheiten tiefe Verehrnng einstößend, erweckte der flawische Kaiser von Byzanz nur durch die Kraft seiner Liebe zur Wahrheit nnd Bildung, mir dnrch das wahrhaft menschliche Gefühl gegen die Menschheit, die Elemente der Idee nnd des Lebens, welche, obgleich in dem Staate eingeschlummert, sich doch in den Gliedern desselben ungeschwächt erhalten hatten. Seine Epoche war eine Epoche nur allzu vorübergehenden Ruhmes; allein dieselbe wird wegen ihres Einflusses auf die Rechtswissenschaft und die religwfe Knnst ewig denkwürdig bleiben. Die Thaten Justinian's verrathen in ihren Einzelheiten häufig Grausamkeit oder Schwäche; in den allgemeinen Umrissen und Absichten tragen sie jedoch den Stempel der Größe und des tiefen Gefühls des Christenthums und der Wahrheit. Nur mit Hochachtung kann man sich des Herrschers erinnern, welcher an die kaukasischen Barbaren die Forderung stellte, in Znkunft nicht mehr die Gefangenen zu entmannen, und welcher sich zu diesem einzigen Hwecke zum Kriege entschloß. Die Forderung Justinian's erinnert an die Abschaffung der Menschenopfer in Carta- 220 gena auf Befehl des großen Sohns des Hystaspes. Reine moralische Beweggründe treten so fetten in der Geschichte auf, daß dieselbe nicht das Recht hat, sie mit Stillschweigen zu umgehen. Afrika ward den Vandalen, Italien den Westgothcn von neuem entrissen. Ein Belisar und Narses riefen der Welt die frühern Triumphe der römischen Waffen ins Gedächtniß zurück und erinnerten die wilden Germanen an die Nichtigkeit ihrer untergeordneten Tapferkeit gegenüber der organisirten Macht Roms. Persien ward trotz der unternehmenden Ruhmesliebe und der Kampfeslust eines Chosroes innerhalb seiner Grenzen zurückgehalten; die slawischen Bulgaren wurdeu über die Donau zurückgedrängt. Das byzantinische Reich erstreckte sich von neuem von dem Kasvischen Meere und der Dema^ wendischen Bergkette bis zum Atlas uud dem westlichen Ocean. Die Architektur erinnerte an ihre frühere Größe und die Wölbungen des Sophiendoms erhoben sich kühn gegen den Himmel, gleich einem geistigen Lobgesange zur Lehre für zukünftige Jahrhunderte und als ein Beweis der unsterblichen Kunst in dem hellenischen Lande. Die vollständige und großartige Sammlung der bürgerlichen Gesetze (das beste Andenken an die alte sociale Welt), welche unter der Aufsicht des Kaisers selbst verfaßt wurde, erhielt der Nachwelt den Ausdruck der römischen Nechtsgelehrsamkeit, einer Gelehrsamkeit, welche den spätern Nationen häufig zum Aergernisse und zum Schaden gereichte, aber noch häufiger reich war an Satzungen für alle Zeiten und zweifelsohne durch nichts Übertrossen ward. Dies war die große That Justinian's. Allein er konnte den Fall des Reichs nicht aufhalten. Zu kräftig war der Andrang von außen, zu schwach die inncre Organisation des Reichs. Das Recht, welches von Rom dem eroberten Abeudlande Übermacht wurde, war für dasselbe nur eine polizeiliche Vorschrift äußerer Ordnung; dasselbe der hellem- 221 schen Welt übermachte Recht war für letztere nur eine Wissenschaft, welche von derselben gleich andern Wissenschaften ausgebeutet wurde, die aber, deren Verstand bereichernd, sich in ihrem Leben nur in geringem Maße widerspiegelte. Die Dogmatik des Gesetzes wirkte auf die Gesellschaft ebenso wenig ein als die Dogmatik der Religion. Beide entfalteten ihre Blüten einzeln, als Sprößlinge eines speciellen Wissens für jedes einzelne Individuum, und blieben in ihrer Vereinzelung resultatlos für das nationale Leben. Uebcrdics hatte das Römifche Recht, eine wunderbar logische Entwickelung bedingter und willkürlicher Anhaltspunkte, durchaus nichts mit dein neuen, seit den Feiten Konstantin's angenommenen Glauben gemein. Die Trennung des Menschen in einen ascetischen gegen alles äußere Leben gleichgültigen Christen, und in einen leidenden, den zufälligen Gesetzen des Staats sich unterordnenden Christen blieb beibehalten. Das bürgerliche Recht war gerade so wie das staatliche Recht (dieselben können schwerlich streng von einander geschieden werden) unabhängig von dem Glauben. Die Kaiser legten sich dem Christenthum zum Trotz das Prädicat „göttlich" (äivus) bei und nannten sich „unsere Ewigkeit" (pm-eunitl^ nostrll). Die Gesetze über die Ehe, die Sklaven, daS Eigenthnm u. s. w. behielten einen unauslöschlichen Stempel heidnischer Gleichgültigkeit gegen die Principien der Moralität. Die Kirche, welche sich für vollkommen hielt, dachte nicht daran, sich der ewig unvollkommenen Organisation der Gesellschaft anzunehmen, indem sie derselben gestattete, sich des doppelsinnigen Rechts zu bedienen, sich nach dem Glaubensbekenntnisse der Individuen, ans welcher sie bestand, eine christliche zu nennen. Sie hatte recht, denn durch eine solche Gleichgültigkeit gegen alles Zeitliche erhielt sie die innere Reinheit und Freiheit ihrer Lehre unverletzt; allein von der andern Seite förderte sie in der Seele des Bürgers nicht das mora- 222 tische Bestreben, seine bürgerlichen und menschlichen Pflichten gegenseitig in Einklang zu bringen, sie flößte demselben keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft ein, und erinnerte ihn nicht an die erhabene Wahrheit, daß sich die äußere Form früher oder später zum Ausdrucke des innern Gehalts machen, und daß sich das Recht schließlich nicht auf bedingte und willkürlich angenommene, sondern auf ewige und menschliche Principien stützen müsse. Es gelangte die Bildungskraft des Christenthums, aber nicht die Erbauungskraft derselben zur Anerkennung. Diese Trennung dauerte fort bis zum Ende des byzantinischen Reichs. Allerdings blieb das Christenthum nicht ohne Einfluß auf die politische Wissenschaft: viele einzelne Gesetze wurden abgeschafft, allein es herrschte in allen diesen Abschaffungen weder Vollständigkeit noch Bewußtsein. Das Recht bewahrte seine Unabhängigkeit von dem Glauben und folglich von dem nationalen ^ebcn selbst oder von dem bessern Theile desselben. Die unversöhnten Hälften blieben in ihrer Trennung gleich kraftlos. Das Staatsrecht machte nicht einen Schritt vorwärts. Byzanz kannte ebenso wenig wie Rom die Gesetze der Thronfolge. Die Volkswahl war die wahre, wenn auch nicht die anerkannte Grundlage des Thronrechts, nnd selbst die Erbfolge nach der Gebnrt war von einer factischen oder stillschweigenden Wahl, oder durch die noch bei Lebzeiten des Vorgängers erfolgte Krönung des Nachfolgers begleitet. Ganz dasselbe war anch m Nom der Fall. Es ist deshalb das strenge Urtheil der Historiker über Empörer und Thronprätcndeuten schr ungerecht, sobald sich dasselbe auf das römische Reich bezieht. Es spricht sich darin eine totale Unkenntniß der Ornndpriucipien des Staats aus. Seit den Zeiten Trajan's hatten sich die Provinzen vollkommen von der Hauptstadt losgesagt und für sich das Recht 223 der Kaiserwahl in Anspruch genominen. Diese Periode zieht sich bis zur definitiven Theilung des Reichs in ein morgenländisches und ein abendländisches hin. Das morgenländische mußte die Erscheinungen der großen römischen Macht in verkleinertem Maßstabe wiederholen, und wiederholte dieselben theilweise auch; allein neue Zufälligkeiten des Lebens gaben dem frühern Princip einen veränderten Ausdruck. Die Provinzen, unaufhörlich von Barbaren überschwemmt und theil-weise von denselben colonisirt, verloren die Erinnerungen ihres Rechts oder die Möglichkeit von demselben Gebrauch zu machen. Die christlichen Bürger, durch die unversöhnte Disharmonie des privaten christlichen Lebens und des staatlichen heidnischen und römischen Lebens in ihrem Innern entzweit, wurden von Tag zu Tag gegen das allgemein staatliche Wesen gleichgültiger und überließen ihr Schicksal der dem Mittelpunkte des Staats zunächstliegenden Provinz. Neich durch ihre Lage an einer Handelsstraße, durch das Meer und durch fast unersteigbare Wälle gegen die Einfälle fremder Völker gesichert, als Mittelpunkt der Wissenschaft und Bildung, vor allem aber als Mittelpunkt alles Ehrgeizes und aller egoistischen Leidenschaften, erwarb sich Bhzanz auf diese Weise die Rechte, welche durch die Macht der Provinzen der römischen Willkür entrissen, aber durch deren Schwäche und Gleichgültigkeit von neuem verloren worden waren. Sie machte sich nicht zur Hauptstadt, sondern zur völligen Gebieterin des Neichs. Heraklius, der Retter des Reichs, war vielleicht der letzte Kaiser, welcher dem ganzen Reiche durch eine Provinz gegeben wurde. Die andern, welche ebenfalls aus den Provinzen kamen oder durch das Heer auf den Thron erhoben wurden, stützten sich immer auf Parteien, welche in der Hauptstadt herrschten; überhaupt sind diese Beispiele ziemlich selten. Das Leben des Reichs concentrirte sich in der Hauptstadt. 224 Die Empörungen der Provinzen, häufig gerecht und edel, weil sie ans dem Bedürfnisse der Wahrheit und dem Heldenmuthe des Herrschers entsprangen, wurden durch die Emeuten der sittenlosen Hauptstadt und durch die Verschwörungen des immer und in allen Stücken sittenlosen Hofes ersetzt. Die Bolkswahl war ebenso blind als die natürliche Thronfolge. Allein auch die dynastische Thronfolge war in Byzanz mit größern Unbequemlichkeiten verknüpft, als dies irgendwo anders der Fall war. Die Trennung des Menschen und Bürgers ertödtete das Leben der bürgerlichen Sitten, sie er-tödtete auch das Leben der christlichen Sitten. Die Sitten-losigkeit des Einzelnen war ebenso groß als die bürgerliche Sittenlosigkeit (obgleich dieselbe unstreitig weniger abscheuerregend war als im Abendlande in der Epoche jener mittelalterlichen Einfachheit, welche von der parteiischen Unwissenheit so sehr gepriesen wird, oder in der Epoche der ersten germanischen Reiche vor Karl dem Großen). Der junge Herrscher, von den Lastern der Stadt und des Hofes angesteckt, fand bei seiner Thronbesteigung nicht einen einzigen Stützpunkt, weder in sich noch außer sich, und alle seine Anstrengungen scheiterten, wenn er, wie es häufig der Fall war, mit Geistesund Seelengröße begabt war, an der Fänluiß des Staatskörpers, der bereits unfähig war, einen neuen Geist des Lebens und der Kraft in sich aufzunehmen. Es konnte auch nicht anders fein, denn die schwankende Zufälligkeit der natürlichen Erbfolge wird nnr durch die Stetigkeit allgemeiner lebendiger Gewohnheiten und Sitten geregelt. Dies war das Schicksal dcö Reichs, welches, in die vom Heidenthum ererbten Formen gebannt, an die großen Erinne-ruugen der Vergangenheit gefesselt und an den frühern Ruhm und seinen Nationalstolz geknüpft war, welches das Christenthum angenommen halte, ohne durch das Christenthum befreit zu werden. Der Leichnam des Gräco-Römers war Gift für den 235 Christen. Das Leben des Geistes und der Idee, die Glut der Poesie, alles Bessere und Heiligere floh aus einer Gesellschaft, welcher es sich nicht unterwerfen wollte und welche es nicht zu besiegeu vermochte, in die verödeten Wohnsitze Aegyp-tens, in die Bergklöster Griechenlands und Syriens, das Reich der Gewalt, der Sittenlosigkeit und der Habsucht und einer unvermeidlichen und unheilbaren Fäulniß als Beute überlassend. Die großartige Epoche Justinian's sollte bald verschwinden. Ihre Größe gehört der milden und verständigen Persönlichkeit des Kaisers, viele ihrer Trübsale feinem Mangel an Geistesgröße an; ihre Fruchtlosigkeit für das Reich gehört der Fäulniß des Reichs selbst an. Justinian hatte unwürdige Nachfolger. Unterdessen warf der Sturm, der sich in Mittelasien erhoben, dessen Völker immer mehr und mehr auf das Gebiet des iranischen Stammes. Die kriegerischen Bewohner des Altai, die Türken, zerstörten das Reich der östlichen Hunnen (Ephtaliten), gründeten eine neue Macht in dem Wiegenlande des slawischen Stamms (Baktrien) und bedrohten Persien, zu dessen Eroberung sie in der Folge bestimmt waren; einzelne Abtheilungen derselben drangen längs der nördlichen Küste des Kaspischen Meeres bis an den Kaukasus vor und stürzten sich, nachdem sie dessen Schneewälle durchbrachen oder, indem sie mit Byzanz Freundschaft schlössen, auf die Slawen nnd die an dem Don wohnenden Finno-Türken, oder verwüstete», indem fie sich mit dem Reiche entzweiten, feine Besitzungen anf der nördlichen Küste des Schwarzen Meeres und legten die Bosporusstädte auf Tauris in Asche. Die Bewegung der Hunnen hatte noch nicht ihr Ende erreicht. Zur Zeit des großen Attila befreiten sie, Bh-zanz in Ruhe lassend, ihre Brüder, die westlichen Slawen, von dem Joche der Fremden uud warfen, nachdem sie das Russische Fragmente. II. 15 226 römische Reich erschüttert, die erschreckten Germanen auf die Länder der Celten und Römer und auf das äußerste Ende Europas. Dieselben Hunnen, unter dem Namen Bolgaren (an der Wolga Wohnende, von Volga — Wolga), begannen allmählich von der Wolga nach den gesegneten Ufern der Donau und auf das byzantinische Gebiet überzusiedeln. Immer schwächer und schwächer wurde die slawische Bevölkerung an der Wolga; immer stärker und stärker der Andrang der finno-tiirkischen und kaukasischen Völker. Die Bolgaren hatten gerade fo wie die Hunnen (wie wir gesehen und wie von den chinesischen Chroniken bezeugt wird) bereits die Uiguren, Flüchtlinge aus Mittelasien, in den Bestand ihres Kosackenthums aufgenommen; aber es herrschte in denselben noch das slawische Element vor und sie begannen trotz der feindlichen Reibungen mit den altslawischen Bewohnern des Donaulandes, bald im ekgcn Vereine mit denselben zu leben und zu kämpfen, indem sie sich immermehr von der unbedeutende» fremden Beimischung läuterten. Ein anderes Misgeschick drohte der slawischen Welt und Byzanz. Die oberflächliche Kritik einiger deutschen Schriftsteller hat in der gelehrten Welt die Meinung befestigt und verbreitet, als seien die Bolgaren oder besser Wologer von Anfang an von einer erbitterten Feindschaft gegen die Slawen beseelt gewesen und als seien die Slawen vor denselben von der Donau gegen Norden zurückgewichen. Diese Meinung ist fast keiner Widerlegung werth. Kann man wol eine starke Auswanderung slawischer Stämme gegen Norden zu einer Zeit annehmen, wo gerade ihre uuauf-haltsame Strömnng gegen Süden am stärksten hervortritt? Kann man glauben, daß sie im 6. Jahrhundert nach den Quellen der Elbe (oder Laba) und in die obern Dmeftrgegen-den zogen, nachdem sie am Ende des 5. Jahrhunderts in die byzantinischen Länder und in das östliche Italien eingefallen 227 waren? Nachdem sie schließlich am Ende des <». Jahrhunderts die Hauptmacht der Krirgsscharen bilden, welche Äyzanz belagern, am Anfange des 7. Jahrhunderts dagegen auf Einladung der Kaiser in ganzen großen Stämmen in das verwüstete Pannonien und Dalmatien einwandern und allmählich ganz Griechenland und selbst den Peloponnes erobern, wo bisjetzt ihre Nachkommen leben, die erst vor kurzem ein neues Leben und eine neue Freiheit unter dem Namen der Griechen erhielten? Die Meinung, als seien die Slawen von den Bolgaren (ebenfalls Slawen, eine Abtheilung des alten saco-hunnischen Kosackenthums) von den Ufern der Donau gegen Norden znrückgcwichen, ist vollständig unstichhaltig; dieselbe beruht auf einem sehr einfachen Irrthume.- Die Oolgaren wurden auch Wologcr (wahrscheinlich Wolgaren, nach zwei verschiedenen Aussprachen des Namens Wolga) genannt, und hat der Name Wolog die alten Chronisten irre geführt. Sie verwechselten denselben mit dem Namen Wolochen (Machen), d. h. Celten (von ßaei, gaol^Ii), welche im Alterthume einen Theil der Donaugegend, Tschechinien, dem sie ihren Namen (Bojer) hinterließen, sowie das an den Karpateu sich hinziehende Land (das jetzige Galitsch) und vielleicht auch einen Theil Wolhymcns eroberten. Der Name Celten, der uralten Bewohner des nördlichen Italien, wurde von den Slawen ebenso wie auch von den Deutschen auf die Italo-Nömcr übertragen, und die Tradition von einer Flucht vor den alten Wlacho-Celten und insbesondere der Römer zur Feit Trajan's, und der Fall der Geten wurde von der halbgelchrten, sich halb erinnernden Nachwelt auf die Bol-gareti — die Wologer, auf Slawen übertragen, welche ihre Brüder zu keiner Zeit aus irgendeiner Gegend vertrieben. Wer erkennt nicht die Nömer in ihren umgewandelten Nachkömmlingen — den Walachen an der Sprache? nnd wer 15" 228 nimmt bei den Bolgaren irgendetwas wahr, das nicht slawisch wäre? Vom Osten und offenbar vom Südosten des jetzigen Rußland setzte sich ein kriegerisches, wildes und blutgieriges, gegen alle andern Völker feindlich gesinntes nud jeder Bildung völlig fremdes Volk in Bewegung. Dieses Volk erschien unter dem Namen Avaren. Nach seinen Sitten konnte man dasselbe einem finno-türkischen Zweige zuzählen, und dies ist bis heute noch der Fall; allein die orientalischen Chronisten kennen seinen Namen nicht. Sein erstes Erscheinen an den Mündungen des Don deutet durchaus nicht auf die mittelasiatische Wiege hin, und die Namen der avarischen Fürsten sowie viele ihrer Gewohnheiten weisen ebenfalls nicht auf einen türkischen Stamm hin. Bei den gegenwärtigen Auhalls-punkten ist es schwierig und fast unmöglich, die wirkliche Abstammung der Nvaren zu bestimmen; mir die unparteiische und gelehrte Untersuchung der Einzelheiten der avarischen Sprache in den kaukasischen Gebirgen bietet vielleicht mit der Zeit Aichaltspunkte zur Lösung dieser dunkeln Frage. Selbstverständlich wird man das ganze türkische von den Avaren angenommene Element von den Nachbarn trennen und die Elemente bestimmen müsseu, welche ihrem klei^ neu Stamm vorzugsweise angehören. Die Bewegung der Avaren ging, die von den Bolgaren eingeschlagene Richtuug durchschneidend, gegen die Mündung der Donau und war direct gegen Westen oder selbst gegen Nordwesten gerichtet. Das am Kaukasus sich hinziehende Land war der Ausgangspunkt, über welchen hinaus man dieselben unmöglich verfolge« kanu. Von ciuer Rückwärts-bewegung des avarischen Volks oder von der Abtrennung irgendeines Zweigs desselben ist der Geschichte nichts bekannt; aber dennoch hat sich ihr Name und der kriegerische Ruhm in den unzugänglichen Gebirgen des nordöstlichen Daghestan 229 erhalten; folglich ist tein vernünftiger Grund horhanden, ihr Vaterland außerhalb des kaukasischen Gebiets zu suchen. Es wäre lächerlich, eine Identität der Avaren und der vermeintlichen Abircn der byzantinischen Schriftsteller annehmen zu wollen. Abiren ist, wie bereits gesagt, nichts anderes als eine b'nfache Corruption des Wortes Sabir — Sianbij (wie Mandschur — Mandschui und Tatar — Tatan). Aller Wahrscheinlichkeit nach muß man die Avaren für Nachkömmlinge der kaukasischen Ureinwohner, für einen Ueberrest jenes großen und erobernden Stammes halten. Welcher durch den Schrecken seines Schwertes und seiner wilden Tapferkeit das ganze abendländische und mittlere Europa zerstörte und seine Kolonien weit nach Süden, nach Spanien, Italien und nach dem nördlichen Griechenland warf, nämlich des celto - kymrischen Stamms. Der Name, bereits in dem fernen Gallien bekannt (z. B. im Lande der Burgunder die Stadt Avarikum) und in Italien und Pauuonien unter einer andern Form, als Ombroner oder Ambroner, berühmt geworden, erscheint abermals in feinen beiden Formen, Avaren bei den Byzantinern und Obrer bei den Slawen, und tritt von neuem mit dem ganzen frühern Schrecken seiner unbezähmbaren Kriegslnst auf. Natürlich darf man nicht die vollkommene Erhaltung des celto-kymrischen Elements in seiner ganzen Reinheit vom tt. Jahrhundert vor Christi bis zum 6. Jahrhundert nach Christi annehmen. Es wäre dies eine unvernünftige Hypothese, insbesondere bei der ungeheuern und unaufhörlichen Bewegung der Böller im Kaukasus und in den an seinem Fuße sich hinziehenden Ländern. Doch kann man nicht umhin zu bemerken, daß auch jetzt im nördlichen Daghestan die Nachbarn und, wie es scheint, die Stammgenossen der Avaren, die Inguger, sich Galen neunen, und daß im südlichen Ungarn, wo aller Wahrscheinlichkeit nach sich noch 230 Ueberreste der Avaren erhalten haben, der Bergschotte jetzt noch seinen buntgestreiften Tartan wiederfindet und den Dudelsack, die Lieblingsmusit seiner heimischen Berge, vernimmt. Vielleicht hat sich selbst in der slawischen Benennung des Dudelsacks (Volynka) sowie in dem Namen Vol-hynien eine Erinnerung an den gälischen Ursprung erhalten. Vom Kaukasus zogen die Avaren um die Mitte des 6. Jahrhunderts an die Mündungen des Don, verlegten den Bolgaren den Weg, besiegten dieselben sowie deren Verbündete, die Anten, schlugen die einzelnen uigurischrn Stämme, welche damals in dem ganzen Steppengebiet zwischen Wolga und Donau nomadisirend umherzogen, rissen sie wahrscheinlich mit sich fort und eroberten oder zertrümmerten, immer neue und neue Kräfte zusammenraffend, das ganze an den Karpaten sich hinziehende Gebiet, das Land der Tschechen und Wenden und drangen in Thüringen und gegen die Grenze der merovingischen Macht vor. Eine Menge Völker (uuter andern sämmtliche Uiguren) flohen damals vor den östlichen Eroberern von Mittelasien nach Europa und drangen über die Wolga in das alte slawische Gebiet ein. Kraftlos und durch ein ständiges Bnndniß nicht unter sich vereint, streiften sie in dem wcitausgedehnten Lande umher, überfielen die Ansiedeluugen, plünderten sie oder legten ihnen zeitweilige Abgaben auf. Erhob sich aber irgendein kühner oder unternehmender Führer, oder kam ein neuer Stamm aus einem andern Lande an, so vereinigten sich alle getrennten Nomadenlager unwillkürlich in einen gewaltigen Heerhaufen und ergossen sich unaufhaltsam über die benachbarten Gebiete, um zu erobern und zu plündern. Erschlaffte der Stamm oder die Horde, welche das ganze Bünduiß geleitet, fo zerfielen die einzelnen Theile wieder und erwarteten einen neuen Mittelpunkt zu neuer vereinigter Thätigkeit. Derart ist beinahe die ganze Ehronik Mittelasiens, derart die Erscheinungen der an der 231 Wolga und an dem Dniepr sich hinziehenden Steppen. Die Avaren waren allen Anzeichen nach ein nicht sehr zahlreiches, aber ein tapferes und an das Kriegsleben gewöhntes Volk: nachdem sie die zerstreut lebenden Uiguren besiegt hatten, verstärkten sie sich durch einen Theil der besiegten Scharen; nachdem sie die Slawen besiegt, stellten sie sich au deren Spitze, um neue Eroberungen zu machen, indem sie denselben Schutz versprachen gegen ihre übrigen Feinde, die Franken, Türken oder Byzantiner, und ihnen neue ausgedehnte Besitzungen in den reichen Ländern des Südens verhießen. Sie machtcu sich zum Mittelpunkte des slawischen Kosackenthums, zu einem ständigen Heere, um welches sich heimatlose Wagehälse sammelten, die das Ungebundene des Kriegslebens dem friedlichen Treiben ihres heimatlichen Dorfes vorzogen. Sie machten sich in kurzer Zeit zu Beherrschern und Unterdrückern des Landes und drängten ganze slawische Stämme gegen die Mauern von Byzanz und sogar in das Innere Griechenlands. Unerträglich waren die Kränkungen, welche die Slawen von den Avaren zu erdulden hatten, unerträglich ihre Steuererhebungen und Plünderungen (unter der Form von Winterquartieren und Naturalverpflcgungen u. s. w. nach den Worten abendländischer Chronisten). Die Beleidigungen und Plünderungen riefen endlich Widerstand und Aufruhr hervor. Die Avaren gingen, durch die überwiegende slawische Kraft erdrückt, zu Grunde; aber während ihrer anderthalbhnndcrtjährigen Herrschaft theilten sie der slawischen Welt eine erobernde Bewegung mit, welche zu wiederholten malen das Reich der Franken im Westen und das der Longobardeu iu Italien bedrohte, nachdem sie in Illyrien die germanische Niederlassung der Gepiden vernichtet, das ganze, alte Griechenland u... das byzautiuische Reich erschüttert, zugleich aber ein frisches und gesundes Blut in dessen erschlaffte nud ausgetrocknete Adern gegossen hatten. Die erste Richtung der Avaren sowie 232 ihrer Vorgänger, der Eelto-Khmrer und der kaukasischen Aß-Engern (Adige — die Bewohner des westlichen, Avaren --des östlichen Kaukasus) ging gegen Nordwesten. Aufgehalten durch die mächtigen an der Elbe wohnenden Wenden, oder angezogen durch den Reichthum des alten Pannonien (des hentigen Ungarn, siedelten sie in die fruchtbaren Ebenen des Donaulandes über und gründeten dort ihr Hauptlager, den Mittelpunkt ihres Reichs und ihrer Regierung. Einige slawische Stämme, welche den Frieden dem Kampfe nnd selbst der Freiheit vorzogen, unterwarfen sich ihnen und erkannten ihre Regiernngsgewalt an. Andere, stolz auf ihren Kriegsruhm und ihre alte Freiheit, zogen den Kampf vor und wurden besiegt. So gingen die mächtigen, an den Karpaten wohnenden Anten, die Siewerer (Sebircn) und die am Don wohnenden Ephtaliten (offenbar dieselben Hunnen, in der Geschichte Persiens unter dem Namen Ephtaliten bekannt und offenbar Slawen, wegen ihrer Verbindung mit den Siewerern); so gaben die Bolgareu nach einem fruchtlosen Kampfe ihre Auswanderung nach der Donau auf und schlössen sich einstweilen in das an der Wolga liegende Gebiet ein. Die Herrschaft der Avaren war von kurzer Dauer. Viele slawische Stämme machten sich schon am Ende des 6. Jahrhunderts frei; die Vandalen und nordwestlichen Serben sagten sich im Anfange des 7. Jahrhunderts los; ihrem Beispiel folgten die nördlich von den Karpaten wohnenden Völker: die garitanischen (Käru-ten) Wenden und Tschechen unter der Anführung eines fränkischen Kaufmanns Samo (einer offenbar erdichteten Persönlichkeit vielleicht von dem slawischen Worte elMii hergeleitet) gründeten ein nicht lange dauerndes selbständiges Reich, vor welchem nicht nur die Hecrhaufen der Avaren, sondern auch die Scharen der im Jahre 630 bei Wohastebmg besiegten Franken, Sachsen und Longobardcn die Flucht ergriffen. Die am Eurinus wohnenden Bolgaren schlössen 233 mit den Byzantinern ein Bündniß und einer ihrer Fürsten nahm bereits im Jahre 616 das Christenthum an (ein offenbares Zeugniß, daß die Bolgaren nicht türkischer Abstammung find); die vannonifchen Bolgaren (die Verbündeten der Ava-ren) forderten bereits den Vorrang und die Bestimmung eines aus ihrem Stamme zn wählenden Oberhaupts des ganzen Bündnisses; allein die Zeit war dazu noch nicht gekommen. Die nordwestlichen Slawen befreiten sich wirklich ebenso wie die westlichen, welche sich in der Folge den Avaren nur vorübergehend unterwarfen; allein die längs der Karpaten wohnenden Slawen wurden besiegt und erlangten erst später ihre Freiheit. Die vannonischen Bolgaren wurden beinahe vernichtet; die eilfinischen wurden von neuem zur Unterwerfung gezwungen. Die Avaren lenkten die ganze Kraft der slawischen Welt gegen Byzanz. — Groß war der Stnrm, welcher gegen Byzanz heranzog. Das Ncich der Sasfaniden in Persien ging seinem Verfall entgegen wegen Mangel an Zusammenhang der das Reich bildenden verwilderten und halbunabhängigen Völker, welche nur durch die äußern Bande der königlichen Gewalt zusammengehalten wurden, sowie infolge innerer Erschlaffung der Staats-religiou, des Magisnms, der seine Rmcheit verloren und den ganzen Charakter des geisterbeschwörenden Kuschitismus angenommen hatte. Das Christenthum drang weit in das alte Iran, selbst bis Baktrieu, dessen nordwestlichem äußern Ende vor, wo die Erzählungen chinesischer Reisenden im 4. Jahrhundert sehr deutlich auf die Osterceremonien der Christen hinweisen; allein die alte Religion hatte ihre Diener noch nicht verloren: sie erhoben sich mit Schwert und Folter gegen das neue Bekenntniß. Die Aufregung des nationalen Fanatismus verlieh der hinsterbenden Religion und dem erschlafften Reiche eine vorübergehende Kraft. Die Bekanntschaft mit der hellenischen Welt und die von derselben erborgten mate- 234 riellen Vervollkommnungen gaben Persien neue Kräfte kriegerischer Thätigkeit. Die Schwäche Konstantinopels, welches durch den Andrang der von den jenseitigen Donaugegenden kommenden Slawen eingeengt, von bedeutungslosen Herrschern regiert und durch religiöse Zwistigkeiten erschüttert wurde, gestattete den persischen Königen, die glücklichen Umstände znl Erweiterung und Kräftigung ihrer Macht zu benutzen. Das Reich der Sassaniden strahlte vor seinem endlichen Falle in einem bisjetzt noch nicht im Orient vergessenen Ruhm, es glänzte durch Herrscher, deren Name noch in den Liedern der jenseit des Euphrat wohnenden Stämme ertönen. Die Hnnnen-Ephtaliten (offenbar cine Mischung von ostiranischen Elementen und türkischen Anschwemmungen), welche lange über Persien geherrscht oder dasselbe durch Tribute und Naub-züge ausgesogen hatten, wurden besiegt und fast ganz vernichtet. Die Striche am Kaukasus wurden erobert oder in ein Bimdniß gezogen; die Einfälle der Türken wurden zurückgeschlagen, Shrien und ein Theil von Kleinasien verwüstet. Damals drangen die Avaren über die Donau und rissen die ganze Macht der an der Donau wohnenden Slawen mit sich fort. Die Heere der Kaiser ergriffen die Flucht; die Festungen wurden umgangen oder genommen. Der Strom der Barbaren überschwemmte ganz Mösien und Thrazien, und die Mauern Konstantinopels vermochten letzteres nur mit Mühe gegen die avaro-slawischen Scharen zu sichern. Damals erhob die Stimme des Volks einen würdigen Kaiser und großen Heerführer auf den Thron. Das Reich eilte feinem Untergang entgegen: die Provinzen Asiens waren von den Persern erobert oder verwüstet; die europäischen Provinzen befanden sich in der Gewalt der Slawen und Avaren. Er erkaufte von dcu nördlichen Barbaren durch Geld einen momentanen Frieden und wendete die Waffen gegen Persieu. Die Perser wurden besiegt, baten um Frieden und gaben die 235 entrissenen Provinzen zurück; durch das Protectorat oes Mau» ritius wurde der legitime, durch einen Palastaufstand ver-triebene Herrscher auf den perfischen Thron erhoben. Nachdem der Kaiser den Osten gcdemüthigt, rüstete er sich zum Kampfe gegen die Avaren, welche die Friedeusvcrträge verletzt hatten, und von nenem erfuhren die Barbaren die Ueberlegen-heit der römischen Waffen unter einem tüchtigen Führer. Die Avaren wurden besiegt und flohen, die Slawen flohen oder unterwarfen sich. Die Integrität und die Ehre des Reichs waren, wenn auch nicht auf lauge Dauer, wiederhergestellt. Das Heer ermordete den großen Herrscher und erhob einen grausameu, unbesonneuen und gewissenlosen Menschen anf den Thron. Schrecklich wareu die Trübsale, welche durch äußere Feinde und durch den unmenschlichen Kaiser dem Reich bereitet wurden; seine Erniedrigung war ohne gleichen: der Untergang schien unvermeidlich. Der gottlose und unwürdige Herrscher suchte, nachdem ihm das Murreu des Volks und das Murren der Geistlichkeit bekannt geworden, Schutz in dem Segen des römischen Bischofs, des ersten der abendländischen Bischöfe, welcher damals die Bedeutung eines Oberhauptes der gauzen abendländischen Geistlichkeit erlangt hatte. Durch die Anerkennuug des Vorrangs des römischen Stuhls vor allen übrigen, durch die Erhöhung seiner geistlichen Rechte und die ihm gewordene Bestätigung seiner Hcrrscherrechte in dem römischen Gebiete wurde die Freundschaft des Papstes erkauft. Die egoistische Dankbarkeit des Bischofs heiligte die Gottlosigkeit des Kaisers und bis auf den heutigen Tag erinnert ein Schandpfahl in Rom an die Geschenke des Kaisers Phokius und givt ein feierliches Zeugniß von der schamlosen Bestechung und der gleich schamlosen Bestechlichkeit. Nichts aber vermochte den schändlichen Räuber und Mörder zu retten. Das empörte Aegypteu sendete eiu Heer unter der Anführung des Heraklius und der Sieg rief einen würdigen Regenten auf 236 den Thron. Die Anfänge seiner Regierung waren unglücklich. Er hatte weder Heer noch Geld, während ihm einerseits ein Kampf bevorstand gegen die Aoaro-Slawen, welche in der vollen Entwickelung ihrer Kräfte unter der Führung eines wegen seiner Tapferkeit, Kühnheit und Schlauheit berühmten Heerführers standen, von der andern Seite — gegen den größten aller Herrscher aus der Dynastie der Sasfaniden, welcher durch Byzauz gleichsam zu dessen eigenem Verderben auf den Thron erhoben worden. Chosroes Parvig eroberte Syrien, Aegypten und Kleinasien und schloß Konstantiuopel von der Meeresseite ein. Die Avaren eroberten gauz Mö-sien, Thrazien und schlössen Konstantinipel zu Lande ein. Der Kaiser, des Reichs beraubt, verzweifelte an der Rettung der Hauptstadt: er wollte sich nach Afrika zurückziehen. Der Patriarch und das Volk hiclteu ihu zurück und die Tapferkeit der Unterthanen fand in der Seele des Kaisers ihren Widerhall. Durch eine unermüdliche Ausdauer, einen jahrelangen, ununterbrochenen Krieg und eine Reihe fast unglaublicher Heldenthaten, in welchen Heraklius sich nicht nur als tüchtiger Heerführer, sondern auch als persöulich tapferer Soldat bewies, ward das Reich gerettet. Der besiegte Chosroes ging zu Grunde: Persien wurde zertrümmert uud alle im Osten verloren gegangenen Provinzen wurden zurückgegeben; die Avaren wurden von neuem über die Donau zurückgejagt und die moralische Kraft des Reichs zeigte sich in ihrem vollen Glänze. Dies war das Werk des Heraklius. Allein die materiellen Kräfte des Reichs waren erschöpft. Der Orient war durch die Plünderung der Perser, die europäischen Provinzen waren unter dem Sturme des aoarischen Einfalls verödet. Die Maßregel, welche Heraklius ergriff, rückte den Fall des Reichs auf viele Jahrhunderte hinaus. Er verstaud den Charakter der Völker, welche das byzantinische Reich umgaben: er sah, daß bei den Einfällen der 237 Mseit der Donau wohnenden Barbaren die Avaren m,d andere ihnen ähnliche Stämme, nämlich dentsche (wie die Geftiden) und finno-türkische (wie die Uiguren) nur auf Plünderung ausgingen und daß sie, nachdem sie sich mit Beute beladen, bis zu einem neuen Einfalle wieder in ihre Einöden zurückkehrten, daß hingegen die Slawen gern in den entvölkerten Gebieten verblieben und sich dort niederlassend wie ein befruchtender Schlamm nach einer stürmischen Ueberflutung dem erstorbenen Lande neues Leben wiedergaben. Die Ueberreste der alten Epiroten und wahrscheinlich die Trümmer der . an der Donau und in den Alpen wohnenden celtischen Völker zogen sich vor den ucuen Einfällen zurück, schlössen sich in den Gebirgen des westlichen Griechenland ein und bewahrten dort ihre unbezähmbare Wildheit und ihre grausamen Sitten, welche sie auf ihre Nachkommm, die Albanesen vererbten. Die Slawen breiteten sich im Reiche allmählich als friedliche Colonisten aus; selbst weun sie als bewaffnete Eroberer kamen, umspannten He es mit dem Netze ihrer Familiengemeinden und nahmen die Principien der Civilisation' und der vernünftigen Gesetzlichkeit in ihre Seele und ihr Leben auf. Heraklius hatte das tiefmcnschlichc und gercchtigkcitliebende Naturell des Slawen erkannt unb berief die an den Karpaten wohnenden Slawen nach dem Donaugebiet. Die Serben und Chorwcp ten gaben seinem Rufe Gehör und nahmen einen Theil des alten Pannonien und Illyrien in Besitz. Nach und nach drangen einzelne Abtheilungen von ihnen oder von den Bol-garcn, welche bereits seit langem an der untern Donau gewohnt, oder von neuen bolgarischen Ankömmlingen, den Gründern eines abgesonderten Reichs, weiter und weiter gegen Süden vor. Macedomen und Thessalien wurden mit ihren Colonim angefüllt. Die Provinzen, Flüsse und Grenzscheiden nahmen slawisch? Namen an, die Städte erhielten eine slawische Bevölkerung. Zuletzt wurde auch der alte Peloponnes zu 238 einem slawischen Lande und nahm den ncuen Namen Morea (am Meere gelegenes Land) an; allein bald unterwarfen sich die Slawen selbst der höhern Entwickelung der Hellenen; sie nahmen ihre Religion; ihre Bildung und ihre Sprache an. Hellas lebte durch die neuen Bewohner von neuem auf; die Avaren waren auf immer in ihr jenseit der Donau gelegenes Gebiet eingeschlossen. Die nördlichen Grenzen des Reichs waren auf immer gegen den verderblichen Andrang der Barbaren gesichert; denn der letzte Krieg mit den Bolgaren war bereits ein Kampf des Staats gegen den Staat uud hatte mit einer geistigen Eroberung geendet. Die Idee des Hera-klius brachte reichliche Früchte und die Spuren derselben werden sich nicht verwischen und ihre große Bedeutung wird der gebildeten Welt täglich klarer und klarer werden. Heratlius wird wie viele andere aus den byzantinischen Kaisern von den abendländischen Schriftstellern nicht gehörig gewürdigt. Das Abendland, zu sehr für seinen eige--nen Ruhm eingenommen, bleibt gleichgültig gegen die großartigen Erscheinungen der übrigen Welt und ist insbesondere Bhzanz und den Slawen nicht gewogen, indem es, ohne sich davon emc genaue Rechenschaft geben zu können, eine von den Germanen und dem Katholicismus ererbte Feindschaft nährt. Der Name des Heraklius uud seine Thaten müssen für jedeu unparteiischen Richter wenigstens auf gleiche Stufe mit Bruce von Schottland gestellt werden, sowie auf gleiche Stufe mit dem Gründer des habsbnrgischcn Hauses, und mit dem Sachsen, welcher Deutschland von den Uu-garu befreite. Die Slawen, welche in das byzantinische Reich eingewandert waren, vertheidigten dasselbe lange gegen dessen Feinde, sowol in Europa als, in Asien, wohin dieselben von Konstautiu Kopronymns offenbar eingeladen, aber nicht mit Gewalt geschleppt wurden. Sie retteten Vyzanz nicht, denn dasselbe mußte zu Grunde gehen und war einer tota- 239 len Umgestaltung gänzlich unfähig; allein sie legten den Grund zur künftigen Geschichte des südöstlichen Europa, einer Geschichte, deren Morgenröthe erst in unserer Zeit am Horizont aufgegangen und deren Tag bereits angebrochen ist. Man darf nicht vergessen, daß selbst die sogenannten Griechen, welche sich vor nicht zu langer Zeit von dem türkischen Joch befreit haben, größteutheils slawischer Abstammung sind, und daß sich in denselben unzweifelhaft das allgemeiu menschliche Streben des slawischen Stammes ausspricht, welches, durch die erhabene Individualität der Hellenen veredelt, deren Stolz nnd übermäßige Einseitigkeit verbessert. Die Kriegsliedcr der Klephthen und Annatolcn liefern 'der vernünftigen Kritik einen Beweis von der Vereinigung beider Elemente in dem heutigen Griechenland. Ihr Urbild findet sich in dem russischen Liede: ihre schönpoetische Anlage trägt den Charakter des schönen Hellas. Die plastische Vollkommenheit (z. B. in dem Streit des Olymp mit Kissaw) ist durch den Geist vererbt, welcher einen Homer und Pindar geschaffen. Die negativen Formen des Vergleichs, die Anerkennung des geistigen Lebens in der ganzen Natur und der ganze tragifche Sinn gehören vollkommen und unbestreitbar dem slawischen und vorzugsweise dem russischen Liede an. Wenn die historischen Forschungen und die byzantinischen Chronikeil die Slawi-sirung des gesammten Hellas im 6., ?. und 8. Jahrhundert nach Christi nicht mit einer so vollständigen Genauigkeit nachwiesen, so würdeu die Lieder der Klephthen allem ein mehr als hinreichender Beweis dieser historischen Thatsache sein. Wir fügen noch bei, daß in den Klephthenliedern sich Bruchstücke befinden, die nicht allein von einem slawischen Geiste geschaffen sind, sondern welche ganz einfach für Trümmer von alten Liedern gehalten werden müssen, welche der Hellenisirnng der südlichen Slawen in Morca und 240 Thessalien vorangingen. So z. S. der Schluß des Liedes, in welchem ein Klefththe seinem Weibe sagen läßt: daß er ein anderes Weib genommen, auf feuchter Erde u. s. w. Mit demselben Anftrag und beinahe mit denselben Ausdrücken schließt ein bekanntes russisches Lied. Wir haben also nicht nur ein unwiderlegbares Zeugniß für die zwischen den heutigen Griechen und den Slawen vorhandene Stam-mesidetitität, fondern auch ein Zeugniß von dem Alterthum einiger russischen Lieder, einem Alterthum, welches sich bis auf jene der slawischen Colonisation Griechenlands vorausgehenden Zeiten, d. h. wenigstens bis zum 5. Jahrhundert nach Christi und wahrscheinlich noch weiter zurückführen läßt. Dies ist die Wichtigkeit der Klephthenlieder in historischer Beziehung; aber auch dem Studium des Künstlers und Philosophen bieten sie das wunderbare Beispiel eines Zusammenflusses zweier Volksindividnalitätcn in ein organisches Ganzes dar, welches die deutlichen Merkmale seiner Grnndprincipien bewahrt hat. Nur das genaue Verständniß solcher Erscheinungen vermag andere Erscheinungen des tiefsten Alterthums, wie z. B. die Bildung der lateinischen Sprache aus dem Slawischen mit italischen und helleno-pelasgischen Zusätzen aufzuhellen. Zur Zeit der Siege der Nvaren und Perser und des endlichen Triumphs Konstantinopels über letztere (d. h. im Anfang des 7. Jahrhunderts nach Christi) begann eine neue geistige und nationale Bewegung, infolge deren fowol Persien und Byzanz als sämmtliche Ucberrcste dcr hellenischen Wclt zu Grunde gehen sollten. Damals entstand uiw begann sich die Lehre Mohammed's zu befestigen: damals erwachte die kriegerische Energie Arabiens — eines bis dorthin von der Oe-schichie nicht beachteten Bandes. Aumertun g. Jedem denkenden ^'escr wird das vorstehende Fragment fruchtbare Anregungen geboten nnd neue Gesichtspnnkte eröffnet haben, selbst wenn er sich in neun Fällen unter zehn mit dem Verfasser nicht ganz, oder gar nicht einverstanden erklären konnte. Wir werden hier auf ein Gebiet geführt, wo dem Historiker, dem Linguisten und besonders dcm Mhthologen bei gründlicher Forschung die reichste Ausbeute winkt. Ja, man darf geradezu behaupten, das; die deutsche Mythologie, nach Ausscheidung der darin enthaltenen slawischen Elemente, ein ganz neues Gesicht erhalten würde. Dein russischen Autor aber kann man gründliche Forschung nicht nachrühmen. Wir finden bei ihm mehr Anregung als Befriedigung, mehr geistreiche Winke als begründete Ausführungen. Er zeigt uns wo unbekannte Sckatze vergraben liegen, altein er weiß sie selbst nicht zu heben. Er trifft zuweilen daß Richtige durch poetische Intuition, nie auf wisseuschaftlichem Wege. Es fehlt ihm weder an Kenntnissen, noch an Geist und Scharfsinn, noch an ehrlichem Streben nach Wahrheit, aber es fehlt ihm (wie den meisten russischen Gelehrten) an Einem was vor allem noth thut: an der rechten wissenschaftlichen Methode der Forschung. Sein Patriotismus treibt ihn jedes fremde Wort, welches irgendwelche Aehnlichtcit nm einem slawischen Wort bietet, sofort aus dcm Slawischen abzuleiten. Ebenso genügt ihm die zufällige Aehnlichkeit zweier verschiedenen Volksstämme, nm beide zu ibentificiren, wie er z. B. (einer ältern Annahme folgend, dereil Unhaltbarkeit ich schon vor vierzehn Jahren in meinem Werke über die „Völker des Kaukasus" nachgewiesen habe'), die Avaren "us dem östlichen Kaukasus stammen läßt, weil dort noch hcnte ein ähn> llch benannter Volksstamm haust. Chvmjakow geht in diesen Dingen mit derselbe« genialen Gemüthlichkeit zu Werke, wie weiland der berühmte polnische Dichter Mickicwicz in seinen pariser Borlesungen über 1) Zweite Auftagc, Berlin, Decl«, l«54. Russische Fmgmcitte. II. ^<; 242 slawische Literatur und Zustände gethan. Da seine historischen Erör-terungen mit seinen sprachvergleichenden Bemerkungen zusammenfallen und diese auf ein Gebiet führen, wohin ich ihm — da ich kein Germanist bin — nicht zu folgen vermag, so hat mein Freund und College, Professor Konrad Hofmanu, die Güte gehabt, die Bogen durchzusehen uud folgende Anmerkungen dazu zu macheu: „Die Behauptung des Verfassers (S. 15)7), daß sich in der Uebersetzung des Ulphilas der slawische Charakter fast ebenso stark als der germanische ausspreche, ist gerade so unrichtig wie seine andere: die Gothen seien einmal die Vasallen der Slawen gewesen. „Das Wort duNa^inu«, welcheö er mit dem modcrucu russischen Worte >K,.in)«enio vergleicht, ist laugst von den Germanisten mit einem gothischen dila-^einsis ideutificirt, welches mit dem russischen Wort allerdings zufälligerweise die Wurzel ^>i', gothisch li^, gemeinsam hat. „Ebenso unrichtig ist das (S. 16.8) über Frank Gesagte, sowie die Ableitung von iw^«?. nnd Volt (S. 170). „Daß die Sachsen in England slawische Götter verehrt haben sollen, übersieht man fast über der Blütenlese, welche sich ans derselben Seite (17?) findet, wo laä^ (aus dem ags. !üa und englisch »uutl, radical zusammengehören; der Grund davon liegt aber nicht im n-Laut, der iu beiden Wörtern zufällig ist, sondern in dem Umstände, daß beide Formen ans ein Ursprung« licheö «ant zurückgehen. Der ^Verfasser würde demnach mit seinem System nie entdecken könneu, daß das nordische scmin- mit saatll identisch ist." Ueber eine Handschrift aus der Zeit des Zaren Alcfci Michailowitsch. Aufgefunden und unter dem Titel: Das russische Neich in der Mitte des 17. Jahrhunderts herausgegeben von P. Bessonow. 16* <^>ir lassen Herrn Bessonow über das durch ihn aufgefundene Schriftdenkmal selbst reden, indem wir alles Wesentliche aus seiner Einleitung reproduciren: Dic Handschrift, von welcher hier die Rede ist, war bisher der Aufmerksamkeit dcr Gelehrten entgangen, welche sie vielleicht nicht eines einzigen prüfenden Blickes würdigten. Wahrscheinlich blieb sie wol deshalb so lange verborgen, weil sie mit lateinischen Buchstaben geschrieben ist und mit einem unbedeutenden in lateinischer Sprache verfaßten Fragment beginnt, nach welchem man den Inhalt des Ganzen beurtheilte. Mit besonderm Glück hat sich dcr Forscher, welcher die Handschrift an das Tageslicht zog und jetzt deren Herausgeber geworden ist, mit philologischer Genauigkeit bei den verschiedenartigen Abschnitten, welche in lateinischer Form vom russischcu Volk handeln, sowie bei den lateinischen Buchstaben aufgehalten, nntcr welchen die russische Sprache verborgen lag. Es erforderte keine geringe Mühe, diese entstellten Zeilen aufzuklären und in den Inhalt derselben einzudringen; die Frucht der Arbeit war die Entdeckung eines werthvollen Deut-Mals über das alte Rußland des 17. Jahrhunderts. Der Autor behandelt in eingehender Weise die Zustände des russischen Reichs unter dcr Regierung des Zaren Alexe'i Michai-lowitsch. Die Wichtigkeit dieser Aufzeichnungen eines Zeitgenossen und activeu Theilncbmcrs jcner Epoche, sein eigener 246 Blick, die Tiefe seines Wisseus, das gebildete Urtheil, als ein beredtes Zeugniß des damaligen Bildungsgrades — alle diese Eigenschaften und Eigenthümlichkeiten werden gewiß von allen aufrichtigen Freunden der russischen Geschichte gewürdigt und nach ihrem ganzen Werth bemessen werden. Der Herausgeber wollte sich deshalb uach eiuer in aller Abgeschiedenheit vorgenommenen Bearbeitung der Ausgabe, die allgemeine Auffassung dem gesammten russischen Volk überlassend, ganz neutral verhalteu, um durch vorzeitige Beurtheilungen uud Bemerkungen die Frische des Eindrucks nicht zu stören und die Selbständigkeit der Anschauung nicht zu beinträchtigeu. Er wollte, wenigstens in der ersten Zeit, nur Zeuge, nicht aber Theilnehmer der Resultate bleiben, nm so mehr, als die Andeutungen des Denkmals den verschiedenartigsten nnd selbst entgegengesetztesten Ansichten über das russische Alterthum in: allgemeinen nnd die geschilderte Epoche insbesondere Stoff in Ueberfluß gewähren. Aber wegen der natürlichen und eng verwandtschaftlichen Beziehungen zn einer Sache, die erst durch ihn zum Gemeingut der Nation wird, wagt der Heransgeber, sich jetzt, uach reiflicher Erwägung nicht des Rechts zu entschla-gen, den Leser selbst auf dem laugen Wege der sich vor ihm entrollenden Bilder nnd Erscheinungen zu begleiten, nicht aber schweigend, sondern mit dem Wort, welches bei dem Durch-lesen des ganzen Buchs und bei dessen laugsamem nnd sehr viele Aufmerksamkeit erforderndem Stndium zur Reife ge-dieheu ist. Für diejenigen, welchen es zu lange währt, Reihen von Bilderu zu erwarten, welche nicht mit Gednld bei der allmählichen Entwickelung der Einzelheiten verweilen, oder welche schon gleich beim Beginn vorlaut iu Worte des Entzückens oder des Tadels ansznbrechen bereit sind, für diese möchte vielleicht das knrze Wort eines begleitenden Gefährten, frei von jeder Anmaßung und nur von dem aufrichtigen Wunsch erfüllt, die Wahrheit mitzutheilen, nicht überflüssig sciu, 24? wenigstens nicht bis zn jenem Momente, wo der Leser, nach dem er die ganze Reihe der abgedruckten Kapitel durchgegangen, von dem Begleiter Abschied nimmt nnd dann mit seinen Eindrücken sich selbst überlassen bleibt, um seine eigenen Schlüsse und Nutzanwendungen daraus zu ziehen. In der Epoche, welcher der Verfasser der Handschrift angehört und von welcher hier die Nede ist, galt die Negierungs-zeit Iwan's IV. als die äußerste Grenze der Zeit, als der Gesichtskreis, über welchen die lebendigen Erinnerungen des Volks nicht hinauszureichen vermochten. Für die Zcitgenof-sen Alexc'i Michailowitsch's war diese Epoche wegen ihrer grellcu Bilder, die sich dem Gedächtnisse des Volks tief eingeprägt hatten, ganz dasselbe, was für uns die Zeit Katharina's II., und in: allgemeinen das Ende des 18. Jahrhunderts, eiue Zeit, die noch so lebhaft in den Erzählungen uuserer hinsterbenden Greise sich abspiegelt, nnd die zugleich die änßerste, letzte in der Erinnerung uud der Sprache uuserer Generation ist. Wie die nenen Principien, welche dem Organismus des russischen Bebens dnrch die kräftige Hand Peter's I. eingeprägt wurden, sich mit ihrem ganzen positiven Inhalt, mit allem, was in ihucu fruchtbringend war, in den Erscheinungen der Epoche Katharina's II. anssprachen, gerade so war es mit den wesentlichen Principien dcö russischcu Lebens, mit allem, was dasselbe vou deu crsteu Jahren an positiv für die Totalität der Menschengeschichte vollendet hatte, in der Epoche Iwan's IV. der Fall. Die Form, in welcher Rußland bei dem Uebertritt ans seiner häuslichen Erziehung in die Familie der andern europäischen Völker, aus dem engen Kreise seiner iuueru Kraftschwinguugen in die weite Bahu politischer Thätigkeit sich darzustellen hatte — war damals bereits in allen ihren Zügen, die hier schwächer, dort wieder schärfer hervortraten — jedenfalls aber in ihren Hauptzügcn fertig. — Hier fprachen sich zuerst vorwiegend die duukeln, 248 die negativen Seiten des russischen Lebens aus, es trat dessen Bodensatz an die Oberfläche, als die nothwendige, wenn auch nicht wünschenswerthe Folge der gärenden Kräfte der Jugend, es trat das Schlechte desselben, als der unvermeidliche Begleiter der Entwickelung, in den Vordergrund. Niemals vorher war diese, durch Jahrhunderte herangewachsene negative Größe so grell aufgefallen, welche so laut zum entscheidenden Kampf, zur Krisis der Neife herausforderte. So-wol die eine wie die andere, die positive wie die negative Seite, das Gute wie das Böse, waren bereit zu siegen oder zu sterben, in jedem Fall aber durch den Kampf das Leben umzubilden und den weitern Gang der russischen Geschichte nur uutcr der Bedingung einer völligen Umgestaltung zuzulassen. Diese nicht zurückzuweisende Aufgabe nahm Iwan der Schreckliche auf sich und identificirte dieselbe völlig mit seiner Persönlichkeit. In seinen Handlungen wollen einige nur das Streben nach politischen, socialen Umbildungen und Umstürzungen wahrnehmen; andere seheu dagegen nur vie rohen Gelüste einer leidenschaftlichen, ungezügelten, weuugleich kraftvollen Persönlichkeit. Das eine wie das andere springt in der That einem jeden einzeln in die Augen; allein Weber in dem einen noch dem andern liegt seine charakteristische Eigenthümlichkeit. Seine Totalität vereinigte in sich beide Seiten in unzertrennlicher Weise: alles Politische wurde von seiner gesetzlichen Bahn getrieben, von den Lebenssäften eines gesunden Volks abgelöst und anf den Willen einer Persönlichkeit übertragen, die unstreitig von Natur aus empfänglich und erhaben, aber in moralischer Verdorbenheit aufgelöst war, einer uneingeschränkten, sozusagen sich selbst bestimmenden Persönlichkeit, die aber bei alledem engherzig und in kleinlicher Selbstliebe befangen war. Auf der andern Seite beanspruchte diese Persönlichkeit die Incarnation alles Volkswillcus und aller Politik zn sein; sie beanspruchte sich durch das Staatliche 249 und Sociale zu schützen nnd verfiel auf diesem Wege unans^ Weichbar in Lüge und Heuchelei. Was sich auf volksthüm-liche Weise bilden wollte, wurde nur zu einer greulichen nnd mißgestalteten Maske; die Regelmäßigkeit der Züge, das lebendige Spiel der Physiognomie wnrde dnrch eine Grimasse ersetzt. Iwan IV. war „der gesalbe Zorn" — die Leidenschaft auf dem Thron; der Zorn, als drohende Gewalt^ die dnrch sich alles Böse strafte, das sich in das Leben des Volks wahrend seiner laugen Entwickclungsfteriodc eingeschlichcn hatte; auf dem Thron, weil er aus einem abenteuerlichen Leben in die höchste Sphäre politischer Thätigkeit, zum Herrscher erhoben wurde; und uach alledem der Zoru als Leidenschaft mit aller Engherzigkeit persönlicher Lust, der Zorn, der nicht uur straft, soudern an sich selbst gestraft wiro — gekrönt durch das äußerste Maß ungezügelter Gelüste. Noch mehr: Iwan IV., in seiner Totalität als Mensch wie als Herrscher genommen, war bis zu einem gewissen Grade der Ausdruck der Epoche, des damaligen Rußland selbst; nur nicht in jener Form, welche in den weitern Schicksalsbcstim^ mungen der russischen Geschichte hätte walten sollen, nicht in l'ener verklärten Natnr, welche aus dem Kampfe der Umgestaltung zu einen: neu sich bildenden Leben hätte hervorgehen sollen; in ihm war das nationale Gute und Vöse, das positive und negative Princip gerade in dem Moment des heftigsten Zusammenstoßes, in der ärgsten Hitze des Dampfes zusammengefaßt, in dem noch kein glücklicher Ausgang vorauszusehen war. Und in diesem Kampfe, für welchen die Kraft einer einzigen Persönlichkeit nicht ausreichen konnte, mußte natürlich diese unzweifelhaft hohe Persönlichkeit verbrannt und aufgezehrt werden, sie verschwand spurlos in dem Vulkan, durch die eigeue Lava zerstört, durch ihre eigene Schwere in der Tiefe versinkend. Das Volk aber blieb in seinem frühern Wesen, das nationale russische Leben überlebte 250 Iwan IV., und zwar mit derselben unbefriedigten Forderung nach einer Umgestaltung. Was in dem schrecklichen Herrscher sich bekämpfte, aber völlig in persönliche Formen gebannt, keinen socialen Aufschwung erzeugen konnte, das mußte in den unvermeidlichen Kampf eintreten, wenn auch nicht mehr auf der Bahn persönlicher, wenngleich fürstlicher Handlungen, sondern im Volk selbst, durch das Schicksal zu der großen That erkoren, welcher die auscrwähltcn gekrönten Hänpter in seinem häuslichen, social-politischen Leben nicht gewachsen waren. Dieser Kampf begann in den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts; in jener herrscherloscn Zeit, wo wir auf der ganzen Fläche Rußlands, in dem ganzen weiten Umfang des Lebens, nur das Volk erblicken, einzig und allein anf sicb selbst angewiesen, mit dem ererbten und gegenwärtigen Gnten und Vosen seiner Geschichte: die Unglücksfälle von anßen gesellten sich diesem innern Umschwünge nur bei, sie begleiteten denselben blos, sie boten abwechselnd unr die unterstützende, hindernde oder zerstörende Hand dar. Wt diesem bedeutungsvollen Anfang treten wir in das 17. Iahrhuudert ein und wenngleich wir aus Furcht vor Uebertreibung diese Epoche mit dem Beginn unsers Jahrhunderts nicht iu gleiche Linie stellen wollen, so besteht doch, was die Reihe der Erscheinungen betrifft, zwischen dem Jahre 1812 und dem Jahre 1«12 eine überraschende Analogie. Wie dem auch sein möge: wir sehen doch nur in den beiden Eztrcmen des 17. Jahrhunderts, in dessen Anfang und Schluß, die fürchterlichen Erschütterungen in den Massen des ganzen Volks. Alles ist hier in völligem Schwanken begriffen, alles droht für immer zusammenzustürzen. - Wer aber möchte glauben, daß sich zwischen solchen Extremen ein so ungestörtes, gleichmäßiges und ruhiges Jahrhundert dahingezogen habe, als wofür man das Jahrhundert Michail'S, Alerei's und Feodor's zu halten pflegt? Es ist schwer zu glauben, daß dies in der That so der Fall gewesen, 251 allein es war auch nicht so. Die Umwälzungen am Ende des 17. Jahrhunderts überzeugen uns unzweifelhaft, daß auch die Mitte desselben nicht die erwünfchte Nuhe genoß, daß es auch hier anf alleu Punkten gärte, und daß der vorhandene Gärungsstoff erst nach mehreren aufeinander folgenden Ausbrüchen ausgeschieden wurde. Die Wiederholung allgemeiner Empörungen am Ende des Jahrhunderts drängt uns unwillkürlich den Gedanken anf, daß die Empörungen bei dessen Anfang den stampf nicht beendigt und die Nation nicht zu den angestrebten Resultaten geführt hatten. Und in der That wnrde der Sturm der ersten Jahre des 17. Jahrhunderts durch kchi heiteres Wetter verscheucht; die scheiubare Nuhe wurde nur durch einen dichten Nebel hervorgebracht, in welchem immer noch dieselben frühern zerstörenden Elemente hin-uud herwogten; es blieb ein Bodensatz zmück, iu welchem auf tiefem Oruude die frühere Gärung fortarbeitete. Nachdem die Nation das große Werk der Errettung ihres ßandes vollbracht hatte, stieg sie von dem Vordergründe, welchen sie momentan eingenommen, in die frühere Tiefe hinab, die nns nur wenig ans den officiellen Andeutungen des wieder aufgerichteten Reichs bekannt ist. Die Errettung, übereinstimmend mit der Wnrzctbcdentung des Worts, blieb in ihren allgemeinen Zügeu eine Errettung, d. h. eine Bewahrung der Ucbcrreste der Vergangenheit mit alleu frühern Bestandtheilen. Es war dies nicht die Frncht einer Reorganisation, eS war hier keine Verklärung sichtbar geworden. Die nämlichen Bedürfnisse des Kampfes zwischen dem Guten und Bösen blieben unversehrt erhallen, nur wnrde der Kampf durch die Macht des ganzen Volks der persönlichen Rebellion der Epoche Iwan's IV., der gewaltsamen Verdrchnng aller Principien, welche in dem Zwischenreiche zn gären angefangen hatten, entzogen nnd anf den friedlichen Weg ocs frühern Verfahrens gebracht. Allein die ersten Schritte auf diesem Wege zeigen sogleich, daß sie 252 aus den frühern unveränderlichen Forderungen heraustreten und zu einer nuauswcichbaren Umgestaltung führen. Die Regierung Michail's, welche den Brand dämpfte uud die Wuuden der vcrgaugenen unruhigen Zeit heilte, bereitet nur die' Kräfte zum Anlauf gegen das frühere, nur augedentete, aber noch nicht erreichte Ziel vor. Die Ncgieruug Alexc'i's . . . doch hier entrollt sich das Manuscript vor uus, welches jeue Epoche mit grellen Farben sattsam schildert. Die Massen des Volks, welche von Zeit zu Zeit zu dem gemeinsamen Geschäft der Landesversammluug berufen wurden, sahen sich nnr zu häufig durch die Geschäftigkeit ihrer Vertreter paralysirt, welche gleichsam contractmäßig für sie dach» ten und für sie im Rath saßen; nach dem heimischen Herd zurückgekehrt, brachten sie wie ersichtlich, von dem Landtage in den Bedarf des täglichen Lebens nichts weniger als umgestaltende Principien mit; ihre Ruhe ging in Sorglosigkeit, in die allen Slawen so wohl bekannte Trägheit über. Sie lebten nicht im entferntesten schlecht, ja unvergleichbar besser als feit dem 18. Jahrhundert: das- Alltägliche des Lebens befriedigte den gemeinen Mauu leicht durch den Gedanken, daß es wie ehedem gehe, uud dasi es seit alteu Zeiten so gewesen sei. Man sah keine Verbesserungen im Ackerbau, keincu kühnen Unternehmungsgeist im Handel; es war nicht nur keine weitere Entwickelung bemerkbar, sondern es wurdeu uicht einmal die uralten allgemeinen Gesetze befestigt und gegen die nahe Gefahr gesichert: es gab keine Volksschulen als Schirm-und Zufluchtsorte, wo sich die Grundlagen der alten, selbständigen Bildung hätten erhalten und festigen können. Unterdessen aber legt sich die Gärnng der alten verschiedenartigen, noch nicht gelösten Fragen keineswegs; die Aufreguug erreicht fogar die höchste Sphäre des Geistes, das Gebiet des Glaubens; und dies ist um so schlimmer, da sie abstrahirend von den anschaulichen Fragen des bürgerlichen Bebens nnd dieselben 253 absorbirend alles zu einerSache des Glaubens umwandelt; um so schlimmer, als dort, wo im Namen des Glaubens über burger-liche Verhältnisse verhandelt wird, wie z. B. über die Frage von dem Text der Bücher, über das Recht zu deuken und zu sprechen, über die Freiheit einer Lieblingsgewohnheit zu folgen, es keine Aufrichtigkeit und Reinheit des Glaubens, keine selbstständige Bestimmung einer bürgerlichen Frage gibt. Dort auf der Höhe des kalten Dogmas, in der symbolischen Sphäre des todten Buchstabens, in diesem ertödtenden Leben der Ein-bildnnss vermag sich nur die einförmige Energie zu entwickeln und zu entfalten, die Häresie, als die erkenntnißlose Negation der bestehenden Ordnung der Dinge, aber ohne die positiven znr Umbildnng des Lebens führenden Principien. Von dort, von dieser erzwungenen, abstracten Höhe entbrennt der Kampf, aber nicht jener Kampf, den man hätte erwarten follen, der einen günstigen Ansgang versprochen hätte: in der Nähe erschallen die donnernden Entscheidungen deö Jahres 1667, und die Märtyrer der Hartnäckigkeit finden in den fernen Mostermanern ihren Untergang. Der Kampf bringt aber nicht näher, sondern kräftigt blos die Trennung. Das in der Sprache der Häresie mit dem eigentlichen Namen nicht benannte, aber durch das Gefühl der eingeschlichenen Zwietracht klar gewordene Mistrauen der Massen gegen den Ewat wächst von Stunde zu Stunde; schon sind viele bereit zu sagen: „es haben uns jene vergessen, welchen wir unser Schicksal anvertraut haben", doch senken sie den Blick znr Erde nnd antworten nicht auf die Frage: „warum habt ihr euch selbst vergessen, warum habt ihr, da ihr konntet, nicht fur euch gesprochen, warum habt ihr euch nicht vertheidigt?" Die Unzufriedenheit, welche sich offen ausspricht, glaubt die Selbständigkeit des Protestes dnrch die Absonderung von dem socialen Leben, durch stillschweigende Hartnäckigkeit und dnrch passiven Widerstand zn retten. Der Hebel einer jeden Bewe- 254 gnng geht immcr mehr und mehr in die Hände der höhcru Administration über, die sich vom Volke abschließt und seinen Wünschen und Bedürfnissen fremd wird. Ungchenere Striche Bandes liegen wüste; armselige Wcrkzmgc durchfurchen die Felder, um nur das tägliche Brot zu gewinnen; das Salz führt mau auf elenden Karren oder schleppt es auf dem Rücken daher; ganze Striche von Erzlagern liegen unbearbeitet, und es genügt, wenn das Metall für das cursirende Geld hinreicht; der Anbau von Flachs, Hanf und ähnlichen Pflanzen geht nicht über die häuslichen Bedürfnisse und das grobe Gewebe hinaus und belebt nicht die einheimische Indnstrie. Es sind noch uicht die nothwendigsten Bedürfnisse befriedigt, und es entstehen bereits neue, die früher uicht vorhanden nud den Großältern nicht bekannt gewesen, nnd die von Stm de zu Stunde an Ueppigkeit zunehmen. Allerdings hätte der Handel diesem abhelfen können; allein derselbe hatte zu wenig Märkte, die Wege waren zu schlecht uud selbst gefährlich, mau wagte nichts in Speculationen, der Tauschhandel war allenthalben abgeschnitten; von den alten Stapelplätzen standen demselben nnr Nowgorod und Pskow nnd am Meer Archangelsk offen; alle Bedingungen zum Anfschwung des Handels fehlten. Die Kaufleute ans fremden Bändern erwarten uns nicht auf den Grenzen; es wird ihr Kommen nnd Gehen nicht geregelt, in unermeßlichen Scharen fliegen sie wie ein Schwärm Heuschrecken herbei, lassen sich im Lande nieder und verzehren alle Früchte; bei uns kaufen sie das rohe Material anf, bereiten es selbst zu und verkaufen es uns wieder zu hohen Preisen; der ganze Umsatz ist in ihre Hände gerathen. Dnrch sie breitet sich mmöthige Ueppigkeit nnd Genußsucht von oben herab aus und dringt dnrch alle Volksschichten; man befriedigt ,sie; setzt aber hierbei nicht unsere, sondern fremde Hände in Bewegung. Die Fremden bestimmen uns die Strafe und wir beugen uns gezwungen unter ihre 255 drückende Gewalt. Wo immer ihr nur hinblickt, überall sind Ausländer, und wie wächst ihre Macht und ihr Einfluß durch unsere eigene Schuld, dnrch unsere Unwissenheit, unsere Tchwächc, Faulheit und die Unbewcglichkeit unserer Hände: hier lüften die Gesandten in stolzen Reihen einherfchrcitend nicht einmal die Mütze vor den theuersten Heiligthümern des Volks; dort im Heere gehen sie mit unsern als Gemeine dienenden Söhnen nach Belieben um und plagen sie anf den Märschen; dort gehen sie unter uns spazieren, sich mit ihrer Waare, ihrer Meisterschaft vor uns brüstend oder vor un> sern Angen mit dem bei uns erworbenen Gelde klingelnd oder Stoff sammelnd zu beißenden Pasquillen und zn Büchern gegen Rnßland; ausschweifend, aufrührerisch, keck und unverschämt, wie sie sind, lachen sie über unsere einfachen Sitten, über unsere Furchtsamkeit, unser schüchternes Benehmen und die Bereitwilligkeit, mit welcher wir unS ihnen überliefern. Erzogen in den Anforderungen stlbständigcr Aufklärung, welche in den Augen der Abendländer der Unwissenheit des Ostens sehr ähnlich war nnd leicht an Thorheit grenzte, gingen wir in jener Zeit im Gebiet der dem damaligen bekannten Europa bekannten Wissenschaften nicht über die Bekanntschaft mit den ersten Anfangsgründen Hinalts. Im Kriege schlugen wir nns mit Kühnheit und mannhaftem Mnth, wenn auch nicht mit Kunst und schließlich nicht mit lcncn fruchtlosen Zwistigkcitsn der obersten Führer, welche, im Verein mit der Unkcnntniß des Landes, uns in den Schlachten zu Grunde richteten, indem sie das Schicksal ganzer Heere uud die ganze Ehre des Volks nntanglichen Händen, die ganze innere Anordnnng in der Gliederung dagegen zahllosen Auswanderern alls fremden Ländern anvertrauten. Die Rechtspflege war corrumvirt durch Bestechlichkeit, wenn anch uicht, nach unserer Annahme, in so allgemein verbreiteter Weise, wie dies in andern Epochen vorkommt, wobri man 256 gleichwol nicht vergessen darf, daß die anerkannten Formen der damaligen Einrichtungen eine solche Anstecknng zuließen, nicht nur in der Möglichkeit sondern anch m der Wirklichkeit, worüber die erpreßten Klagen bis zu uns gelaugen. Zur Hebung der Finanzen wnrden die Steuern an Meistbietende verpachtet, und die vorzüglichsten Hülfsqnellen der Staatskasse stützten sich im Innern ans schwere Umlagen nnd nack außen ans den Tribut. Um sich über das Thuu nnd Treiben des Gesandtencollegiums zu unterrichten — nicht in Bezug aus einzelne Personen, in welchen wir oft einen Schatz von wirklichen Talenten antreffen, sondern in Bezug auf seine allgemeine Zusammensetzung, seine innere Einrichtung —, darf man nur jene Klagebriefe an den Zaren dnrchlefen, in welchen der uusterbliche Naschtschokin seine beißende Galle nnd die ganze Bitterkeit der mit Gewalt sich ^nft machenden Klagen ausgoß. Der Luxus des Hofs erforderte reiche Vorräthe, weun auch nicht in der maßlosen Weise, wie dies später vor--kam; ja wenn er sie auch nur selbst verzehrt hätte, so aber fütterte er damit alle jene fremden Ankömmlinge, welchen man durch die Gastfreundschaft Sand in die Angeil streuen wollte, alle jene, welche auf unsere Kosten essen und trinken wollten, und dies uuter dem Scheiu nothwendiger nationaler Beziehungen verdeckten. Die Schöpfungskraft der Sprache, die einst das ganze Volk durchdrungen, wurde immer mehr uud mehr Eigenthum eines kleineu Kreises, sie beginnt von oben und verbreitet nach unten nur höfisches Wesen, Schwnlst und Aufgeblasenheit, eine Phrasenmacherei nnd ihren eigenen, das Iahrhuudert charakterisirenden, pomphaft rhetorischen, scholastischen Stil. Wo ist unsere Predigt, welche einst mit ihrem wahren, überzeugenden Wort in dem Ohre ganzer Massen widerhallte? An ihre Stelle ist die theologische Polemik oder find die griesgrämigen Denkschriften der Klosterzellen getreten; aber auch hier, in der Erforschung und der Analyse der Hand- 257 schriften, in den vielfachen Uebersetzungen, Wörterbüchern und ähnlicher Schularbeit find keine großen Fortschritte zn ersehen: und ein sehr deutliches Zeichen hiervon ist, daft in dem Lauf des ganzen Jahrhunderts nichts Denkwürdiges für den heiligen Text geschah; die moskanischen Bücher verbessern einen Fehler, verfallen aber sogleich in einen andern, indem sie ihren Fehlgriff zugestehen und dadurch der Händelsucht der Häresie reichliche Nahrung gebeu. Mas' will man da noch weiter? Nir erblicken vor uns, in abwechselnder Reihenfolge drei Repräsentanten der geistigen Anfklärnng. Es inangelt ihnen weder an Kraft noch an Thätigkeit; es fand sowol in ihrem Geist als in ihrer Ueberzeugung manch heftiger Kampf statt; und dennoch traten keine Früchte zn Tage, wenigstens nicht nach der Art jener, welche das Volksgemüth dankbar als das Erbtheil der frühern friedlichen, aber dauernden Entwickelung empfing. Sie widersprechen sich dnrch das Wert ihres Lebens, ihre Werke selbst richten sich gegenseitig zn Grnnde. Der Eine (Philaret Romanow), in dcn Intriguen des Hofs und politischen Wirren grau geworden, regiert als Patriarch die weltlichen Dinge im Namen seines Sohnes nnd verkündet, indem er auf gewaltsame Weise mit denselben den Beruf aussöhnt, welcher dcn Menschen über jedes änßer-liche Bestreben erhebt, eben dadurch den unausbleiblichen Bruch des Unversöhnlichen; der andere, mitten nnter den sick erhebenden brennenden Fragen, setzt seinen Eifer in die eilfertige Ausgabe vou Büchern und in die Ansammlung irdischer Schätze iu seiuer Zelle, worüber der Zar, als Testamentsvollstrecker, erstaunte, woran aber die Hände gewöhnt waren, die zahllose Schätze für jene wunderlichen Heiligen angesammelt, welche die Wclt verlassen hatten! der dritte aber zerstört das Bücherwerk des zweiten und sucht für die Geistlichkeit Macht und Einfluß zn gewinnen, doch nicht mehr in Landgütern, wie es bisher der Fall gewesen, Nussiichc Fvagnientc. 17. 17 258 oder in vergänglichen Reichthümern, wie sein Vorgänger gethan, sondern in dem Bereich äußerer Einflüsse, wodnrch er denn wieder bei demselben Ziele ankam, welches der erste mit Gewalt erreicht hatte, indem er dnrch einen Bruch dasjenige zu Ende brachte, was einst ^selbständig, aber Hand in Hand mit der gemeinsamen Sachc gegangen war — nämlich durch den Streit der geistlichen und weltlichen Gewalt und durch die erzwungene, einseitige, wenn auch nur zeitweilige, aber prophetische Uebcrtragung beider in die Hände des erzürnten Herrschers. Bei einer solchen stürmischen Nnf-rcgnng des Geistes und zwar in seinem höchsten Gebiet, konnte cine ruhige, ganz uud gar volksthümliche Schöpfungs-kraft in der Sprache nicht stattfinden; und in der That, wenn nicht Briefe einzelner Personen, nicht Bruchstücke von Polks-sagen und Volksliedern vorhanden wären, so könnten wir in den vou phrasenhaften Formen strotzenden Acten, in den Hof-anuotationen, in den gelehrten Reden, den Klosterarbeitcu, in dem gauzeu Stoff jeucr erkünstelten Sprache, die ihre eigenthümliche Ausdrucksweise hatte, nur mit Mühe erkennen, wenn dies überhaupt möglich, wie eigentlich die allgemeine Sprache dieses Jahrhunderts, wie die echte lebende Volkssprache war. Das Ceremonie! herrschte nicht nnr hier, sondern überall und in allem. Man darf nur einen Blick in jene Bände werfen, in welchen (gleichsam mit lüustlerischer Liebhaberei und Genauigkeit) zur Erbauung für die Nachkommen, die Farbe der Stiefel, die Tressen an den Mützen aufgezeichnet oder au jedem Tag die verschiedenen Kleider des Zaren, die Schüsseln, die Nudeln, Hühner und Rosinen der Hofküche aufgezählt stehen. Es fchieu, als ob die Russen, trotz ihres vollen Reichthums an Geist, der ihnen angeboren war nud den sie im Verlanf von Jahrhunderten erworbeu hatteu, im Begriff stauben, Chinesen zn werden. Wir wollen keine Beispiele anführen; der ^cser wird sic in dcm ausgegebenen 259 Denkmal noch im Ueberfluß finden und kennen lernen. lind namentlich dieses Ceremoniel, diese Formalität verbirgt nns und verbarg sogar nicht selten den besten Menschen jenes Jahrhunderts die Bewegungen des Herzens, mit welchen sich das entstellte, aber noch nicht ertödtete Leben abquälte, die Stürme des Geistes, das Verlangen nach neuen Reformen und Verbesserungen, gerade als ob alles in einen dichten Nebel eingehüllt gewesen wäre, der nichts klar erkennen ließ. llnd je unerträglicher dieses Halbdunkel war, desto lebhafter äußerte sich der Wunsch, diese Hülle abzuwerfen, um au das Licht hervorzutreten, mu desto 'freier die Luft eiu-athmen zu können, und zugleich auch die unterdrückte und zusammengepreßte Masse des Volks derselbeu Behaglichkeit eutgcgeuzuführen. Deshalb schauen seit der Hälfte des 17. Iahrhnnderts fast alle Männer, welche die Geschickte am meisten verehrt, auf die Reformatoren, sie blicken mit Spannung nach vorwärts, ahnen etwas in der Ferne nnd sind jeden Augenblick bereit die Bande zu zerreißen, durch die sie an die Vergangenheit geknüpft sind. Es war in der That so, als ob die Nähe der Reform sick in der Luft ankündigte; es wurden bereits die Punkte wahrnehmbar, anf welchen sich die frühere Form des nationalen Lebens zu äudern hatte, nnd zwar von seinen höchsten Erscheinungen bis zu seiner niedrigsten, zu seiner einfachen hänslichen Sphäre. Es war eine immer sich wiederholende Frage: hat uns dieses Jahrhundert nicht ciuen Peter geweissagt? Ja es hat in der That eine unauswcichbare Umgestaltung und folglich auch die Erscheinung des Umgestalters gcweissagt. Wie aber diese Umgestaltung vor sich gehen werde — ob in progressivem, wenn auch raschem Vorwärtsschreiten, ob mit einem jähen, augenblicklichen, wmn auch lange Jahrhunderte dauernden Risse, ob durch die ge--Meinsame Theilnahme aller, oder durch den Wink cincr lau-ucuhafteu Persönlichkeit, ob mit Beibehaltung aller fcstge- 17» 260 wurzelten Principien und Grundlagen des russischen Lebens, oder mit Losreißung von demselben durch willkürliche Neuerung — diese Fragen konnten damals im voraus durch keine Geschichte gelöst werden nnd die besten Geisteskräfte mußten sich hierbei in leeren Vermuthungen erschöpfen. Gott sei Dank, es gab tüchtige Leute genug, und es fand sich auch ein Zar, bereit ihnen seine Aufmerksamkeit zuznwenden, und der mit aller Hochherzigkeit, mit aller Zugänglichkeit eines geneigten Ohrs, mit jenen Eigenschaften begabt war, welche die Umstände der damaligen Epoche von einem Herrscher verlangten. Der Wohlwollende, dies ist der Beiname, welchen das Geschlecht, das unter der Regierung Alerc'i's lebte, ihm mit vollem Rechte zuerkannte und welchen ihm die dankbare Geschichte zuerkennen muß. Unter die Männer, welche vor dem Zaren erschienen, und ihn in kühner Sprache au die bevorstehende Anfgabe erinnerten, gesellte sich anch der Verfasser unsers Manuscripts. Weißrußland war nach einer zeitweiligen Trennung wieder mit Großrnßland vereinigt worden; anch Kleiurußland reichte die Hand zum Bunde dar; gleich als ob sie wie drei Schwestern es fühlten, vereinigt sein nnd zusammenhalten zu müssen in dem bevorstehenden großen Werkc der Umgestaltung. Alles was nicht eng an den Dienst oder an die polemischen Schulen im Paterlaude gebuuden war, alles was nicht persönlich berührt war und sich nicht ganz ausschließlich für den Streit mit Polen nnd dem Römcrthnm interessirtc, was durch Talente und das Bewußtsein eigener Fähigfeittu fortgerissen wurde, zog sich nach Moskau, iu Zügen von Auswanderern, welche Großrußland in gewissem Sinn colonisir-tcn; ihr mächtiger Einfluß machte sich auch bald an: Hofe, im Dienste wie in der Literatur fühlbar. Es ist zwar nicl't zu leugnen, daß diese Auswanderer cine gewisse Beschränktheit des Blicks mit sich brachten, cine Beschränktheit, die aber 261 vollkommen natürlich war, weil sie unter dem Gesichtspunkt ganz eigenthümlicher Umstände und des lokalen und partikularen Patriotismus erzogen war. Nicht nur in der ersten Zeit, soudern auch noch im verflossenen Jahrhundert vermochten sie die Tiefe Großrußlauds, seine Erziehung, seine Herzensbedürfnisse ebenso wenig zu verstehen, als die Erhabenheit feines Charakters, der nicht selten durch seine Fehler abstößt, aber durch seine echt menschliche Grundlage dcnuoch jede kleine Besonderheit weit überragt. — So vermögen wir Groß' russen und insbesondere wir Moskowiter bisjetzt noch in diesen geschichtlichen Factoren auf den ersten Blick den kleinrus-fischen Typus zu unterscheiden, und wir merken augenblicklich, was er au Moskau nicht begreifen, und warum er es nicht be-greifeu konnte, warum er fich mit deu vielen Ueberresten nn-serer alten Zeit so oft abmühte, indem er in denselben nichts sich Verwandtes fühlte; nicht die positive Grundlage des historischen Factums anerkannte, und warum er sich manchmal mit solcher Begeisterung unter die Fahne der neuen Reform stellte, welche ihm von dem allgemein menschlichen Staudpunkt aus, in der allgemeinen Idee nahe lag. Aber zugleich wird ein jeder von nns nicht nur mit erzwungener, sondern mit aufrichtiger Verehrung die Namen und die großen Thaten dieser Männer nennen, welche mit verzeihlichen Mängeln nicht ;u bestreitende glänzende Eigenschaften vereinigten: sie besaßen eine genaue Bekanntschaft mit der Bildung in ihrer damaligen, westeuropäischen Form; einen glühenden Eifer für deren Aufblühen und Gedeihen auf russischem Boden, eiu Eifer, welcher sich auch durch die härtesteu Prüfungen und größten Schwierigkeiten nicht entmulhigen ließ; ein feines Verständniß Polens, welches damals in fo hohem Ansehen stand, und ein viel näheres Verhältniß zu den übrigen Slawen, die in dem abgeschlossene« Leben der Großrusscn beinahe vergessen waren; eme Uebung im Umgänge mit nnsern Nach- 262 barn, den Fremden; einc Kühnheit des logischen Schlusses, der vor keiner anch noch so alten Tradition zurückbebte und der bei dem Anstreben einer jeden Reform von so großem Werth ist; endlich eine Gewandtheit in der buntscheckigen, aber charakterfesten Sprache, welche in dem langjährigen Streit mit der Zudringlichkeit Polens und dem Despotismus des Römerthums erstarkt war. Die Weißrussen hatten hier sogar einen gewisseu Vortheil, einen gewissen Vorzug: bei ihnen vermochte sich der lokale Patriotismus uicht zu cutwickeln; es war folglich ihr Blick auch uicht so einseitig; iu ihrer Vergangenheit gab es uicht wie bei deu Klcinrussen solche grelle Äilder, solche lebhafte Erinnerungen an die Selbständigkeit der alten Zeiten; deshalb verschmolzen sie auch enger mit Großrußland; es war ihnen letzteres verständlicher, bekannter. Dies war auch mit dem Verfasser unsers Manuscripts der Fall. — Wir begiuueu mit der Sprache. Abgesehen von einigen' anderu Andeutungen erhalten wir bei der großen Menge serbischer Ausdrücke die feste Ueberzeugung, daß der Verfasser mit dem südlichen Slawenthnm verwandt gewesen, dort seiue ersten Iugendjahre zugebracht und vielleicht auch südslawischer Abkunft gewesen sei. Allein zugleich läßt die Auwenduug polnischer Ausdrücke und das Vorherrschen lateinischer Wen-duugeu iu Verbindung mit einer tiefen Kenntniß Polens, durchaus keiueu Zweifel übrig, daß er iu Weißrußland erzogen worden uud lauge dort gelebt habe, und zwar iu Mitte der dortigen, aufgeklärten Kreise, welche sich um die Schulen gebildet hatten. Die Sprache ist formloS und beinahe ohne jedes volksthümliche Elemeut; mau sieht, daß dieselbe in der Studirstube heranwuchs, in engem Umgang mit Altersgenossen, welche sich mit der couventiouellen Bedeutung des Worts begnügten. Der Stubenascetismus, welcher sich so lange von dem Strudel des ihn umgebenden Lebens fern hielt, nnd der 263 zu gleicher Zeit in der gebildeteil Sphäre vorhandene Mangel au treffenden, fertigen AusdrüZen für neuentstehende Begriffe, sowie die leider ungenügende Bekanntschaft mit der alten Schrift- und der gleichzeitigen Volkssprache, dies alles veranlaßte den Verfasser, häufig neue Worte, größteutheils nach lateinischem Muster zu erfinden. Zuweilen nimmt er fogar direct und vollständig zur lateinifchen Sprache seuie Zuflucht, während die unwillkürlich von der Sprache abgerissenen lateinischen Ausdrücke, Bemerkungen uud Einschaltungen darauf hindeuten, daß er fogar lateinisch dachte, uud daß ihm diese Art uud Weise des Deutens am geläufigsten war. Selbst die lateinischen' Buchstaben sind bei der Abfast'nug der Handschrift nicht der Hcimlichhaltuug wegen oder aus geheimen Zwecken, sondern einfach uur deshalb gewählt worden, weil die Hand des Verfassers durch den häufigen Gebrauch iu deusclben mehr geübt war. Und neben allem diesem vernimmt unser Ohr ganze Sätze, welche soeben erst mitten ans unserer gegenwärtigen, durch Bücher und durch Gelehrte herangebildeten Sprache entnommen zu schein scheinen. Der Grund hiervon lag darin, daß namentlich die Auswanderer des 17. und 18. Jahrhunderts, durch ihre Theilnahme au uuserer Literatur, an unsern höhern Schuleu, die allen gegenwärtig uns innewohnende Bücher- oder gebildete Sprache zn Tage förderten, welche so uueudlich von der Sprache des gemeinen Volks abstach. Deshalb sehen wir, wenn wir unsere Anfmerksamkeit auch nur ans die Sprache des Schriftstellers lenken, in der? selben eine vollkommen eigenthümliche Erscheinung, an welche man nicht den großrussischen oder specieller — den moskowitischen Maßstab anlegen darf. — Allerdings schrieb der Verfasser, wie es scheint, größtentheils in Moskau, und nur eiuige Kapitel aus Sibirien, aber anch diese doch nnr für Moskau; doch kam er bei alledem von auswärts hierher nach Moskau, brennend vor Begierde, 264 das Nort der Reform, das Wort der reformirenden Wahrheit zu sprechen. So wenigstens ist seine eigene Aeußerung zu verstehen, mit welcher er seiue Arbeit Alexei Mi-chailowitsch widmet. Unstreitig besaß er eine allenthalben hervortretende, tiefe, ausgebreitete Kenntniß Rußlands und zwar nach allen auch den entferntesten Richtungen. Vieles hatte er im Lande selbst gesehen, vieles hatte cr von Augenzeugen gehört und in seinem Innern niedergelegt: nichtsdestoweniger aber ist der Blick, mit dem er Nnß-land betrachtet, wenngleich derselbe damals von viclw Zeitgenossen der an der Spitze stehenden Klasse getheilt ward — ist seine Stimme dennoch in keiner Weise der Blick oder die Stimme des Volts, welche mit eiuer gewissen Unfehlbarkeit in das innerste Wesen eindringt, sie ist nicht, wie man sagt — die Stimme Gottes. Wir sagcn feruer: cs ist dies uicht der Blick, noch viel weniger aber die Stimme, die Sprache des Großrusscn. Ferner, wenn dies die Anschauungsweise eines Weißrussen ist, so ist dieselbe ohne alle lokale und particular Schattirung, sondern geht einzig nur von jener Höhe der Bildnng ans, anf welcher die südwestlichen, russischeu Schulen standeu uud wohin von Moskau aus bereits einige Blicke gedrungen waren, ein Umstand, welcher die leichten Erfolge der weißrnssifchen nnd kleinrussischen Auswanderer unter uns erklärlich macht. Auf diese Weise hatte die Bildung des Verfassers, der in fremden Bändern sich aufgehalten und mit der Geschichte aller Völker betauut war, ihn zu eiuer uuiversellen Anschauung erhoben, zn Weltideen und zu jenem Gebiet, in welchem er uicht mehr als Russe, nicht mehr als Weißrusse, sondern als selbständige Einheit sich darstellte. Auf ähnliche Weise zeigt er sich trotz seiner nahen Bekanntschaft mit der Geschichte des ganzen Slawen-thums, uud trotz seiner warmen Theilnahme an dessen Schicksalen, wicdernm nicht eiufach als Slawe oder als iu allge-emein slawis chcn Ideen erzogen, sondern er fördert? in seiner 265 individuellen Anschauungsweise eine markirt selbständige und individuelle Schattirung zu Tage. In ihm hat die Thatsache ihre beste Lösung gefunden, wie die sichtbare Ausdehnung allgemein-menschlicher Anschauung den Menschen gerade iu dieser Anschauung äußerst individuell macht: sein Blick, seine Stimme erhält für nns einen ganz abgesonderten, speciellen, manchmal sogar engen und beschränkten Charakter. Ebendeshalb lassen sich nnscre eigenen Veziehnngen zu einem solchen Schriftsteller leicht uud einfach bestimmen; jedes von ihm geschilderte Ereignis?, jede von ihm angeführte Thatsache wird mit dem vollen Glaubcu an seine Wahrheit und hochherzige Unparteilichkeit aufgenommen; allein die Beurtheilung, die Schlußfolgerung, die Anschauungsweise, dies alles ist rein individuell, es wird dadurch niemand in irgendeiner Weise eine Verpflichtung aufgelegt. Gerade so wie das Volk nicht verpflichtet war, eine derartige Meinung zu theilen, uoch viel weniger aber verpflichtet war, sich hierüber gegen die Nachwelt zu verantworten — ebenso ist der Leser durchaus nicht gehalten, hier eine unbedingte Wahrheit oder einen entschiedenen Irrthum zu sehen, wodurch einem jeden eifrigen Theil-nehmer eine Verantwortlichkeit auferlegt würde. Es ist zu wünschen, und dies wäre wol das Allerbeste, daß der Leser, aus Achtung für die historische Wahrheit, weder für noch gegen diese iudividuelleu Meiuungen Partei ergriffe. Möchte der Schriftsteller selbst vor dem Slick des Lesers auf dem Standpunkt des historischen Factums stehen, dem nichts hinzugefügt und von dem nichts hiuweggenommen werden darf, sondern welches man als ein möglichst treues Spiegelbild der ganzen Epoche betrachten muß. In der That ist der Verfasser der Handschrift, abgesehen von den von ihm gegebenen Andeutungen über die Erscheinungen und Ereignisse seiner Zeit, und zugleich mit allen seinen Urtheilen und seiner Deductwu selbst ein lebendiges, historisches Factum, das mit 266 lauter Stimme von dem Zustande nnd den Bestrebungen der Epoche Zeugniß gibt. ES verlangt selbstverständlich die Gerechtigkeit, hier eine Bemerkung näher zu erklären, die wir cben vorhin flüchtig hingeworfen haben: so sehr der Autor auch als subjectiv, und wenn man will, als selbst beschränkt in allem erscheint, was er auf den Seiten des vorliegenden Denkmals als Andenken an sich hinterlassen, so kann man dennoch nicht nnchin zu bemerken, daß er anf der Höhe, anf wclchcr er wirtlich staub, auf welche er durch seine Stellung als Richter der Gesellschaft uud als Rathgeber des Zaren erhoben wurde, unmöglich allein stehen konnte; nnd wenn er auch dort uur eine Minntc lang allein gestanden, so wäre er auch dann eine glänzende Lenchte gewesen, welche das Licht der Aufklärung um sich nach nah und fern ausgegossen hätte. In jedem Falle mußten deshalb, wenn auch nicht das ge-fammte Volk, so doch die Repräsentanten der damaligen Bildung mit ihm in gleicher Neihe stehen, und wenn vielleicht auch nicht mit ihm vereint, so doch sicherlich mit denselben Zwecken und denselben Bestrebungen, wie Matwjajew, Nasch-tschokin, Morosow, Galizin nnd viele andere. In dem einen war mehr, in den: andern weniger Bildung, Wissen, Eifer, Takt und Erfahrung vorhanden; der eine besaß lebendigere Orundprincipien der Nationalität; der andere eiu ausgeprägteres Streben nach abstracten Ideen der allgemein-menschlichen Sphäre; der eine war mehr Großrusse, der andere Klcinrusse oder Weißrusse; der eine war an der Spitze des Hofs, der andere am Hofe, der andere aber einfach anf dem Hofe draußen und außerhalb des administrativen Mittelpunkts; der eine war Mönch, der andere Laie, aber bei allen nimmt man ein tiefbegründetes und gleichartiges Streben nach Reformen wahr, und zwar nm jeden Preis, ein Streben, selbstthätige Theil-nehmer zu sein, oder sich selbst Schauplatz des Kampfes zu sein, von dem wir oben gesprochen, des Kampfes des Guten 267 Uno des Bösen in den geschichtlichen Principien des russischen Lebens. Es war keine Uebergangsepoche, welche sich überlebt hatte, wie die PseudoHistoriker sich ausdrücken, mit ihren ewigen nnd ziellosen Umstürzungen, mit ihrer Oberflächlichkeit, sondern es war eine Zeit des entschiedenen Bruchs, eine Zeit des Schicksals, welches seiner nnausweichbaren Lösung, smiem Gericht, oder wie man sich ausdrückt, semer Krisis entgegcnschritt. Ner die Handschrift aufmerksamer durchliest, wird sich überzeugen, daß die ^ösnng der Fragen in den Gemüthern nnd den Herzen verschiedener Art sein konnte, denn nur eine sich allmählich bildende Geschichte war im Stande, dein Ganzen einen einzigen entscheidenden Stoß beizubringen; allein man fühlt dennoch, daß alle und selbst die kleinsten Fragen, welche einer Lösung entgegenharrtcu, bereits erhoben waren und von allen als eine und dieselbe Aufgabe angesehen wnrdcn, mit Einem Wort, daß unser Autor hier in einem Kreise nnd inmitten einer ganzen Menge von Theilnehmern steht. Wir wiederholen deshalb: gerade so wie die Fragen, welche durch die Geschichte selbst erhoben werden, wie die Erscheinungen der sich entwickelnden Natur des menschlichen Geistes nicht Gegenstand unserer doctrmäreu Begutachtung oder Verwerfung sein tonnen; ebenso sind auch die Verkünder dieser Fragen, uud unter dieseu der Autor unserer Handschrift selbst, für nns nnr Gegenstände historischer Iorschnngen und Studien. Wir werden deshalb fortfahren, uns ebenso genau mit ihm bekannt zu macheu wie wir begonnen, uud gehen nun von der Sprache zur Art und Weise der Ausführung, zur Schöpfungömethode übcr. Der Verfasser begnügte sich nicht blos mit einer praktischen Theilnahme an der allgemeinen Sache der damaligen Zeit: ähnlich vielen ihm vorausgegangenen Motoren anderer Epochen erhebt er alle ihn umgebenden Erscheinungen aus ihren gewöhnlichen Principien zu einem System des Denkens, zu der Welt der 268 Begriffe und der Vernunftschlüsse, mit Einem Wort, cr schreibt eine Abhandlung über das damalige Rußland. Sein gründlicher Blick in die Organisation und Bedeutung des Reichs, insbesondere vom nationalökonomischen Standpunkt ans, folgt der Autorität einiger theils ältern, alx>r noch mehr ihm gleichzeitiger Schriftsteller, deren Namen die Leser zu wiederholten malen begegnen werden. Aber in diesem angenommene« Schema will er das ganze russische Leben in allen seinen Ver-zweignngen nmfassen, nnd dazu in eiuer Weise, um die Gegenwart ans der Vergangenheit abzuleiten, nm sie mit der zu erwartenden Zukunft zu verbiuden, und zwar nicht nur im Umfang des moskowitifcheu Reichs, sondern in Vereinigung mit den übrigen Slawen und in seinen Beziehungen mit dein allgemeinen Leben Europas. Deshalb nimmt er ganz unwillkürlich zu hunderterlei Abtheilungen nnd Unterabtheilungen seine Zuflucht. Nachdem er gleich am Anfang eine Uebersicht der Kapitel vorangestellt, fügt er noch eine zweite, nnd spater wieder eine nene uud danu für einige Absätze noch eine dritte und endlich eine ganz alphabetische Uebersicht der Gegenstände semer Abhandlung bei. Aber abgesehen von dem Inhaltsverzeichnisse, füllt er anch den Text mit verschiedenartigen Beilagen an; ein und derselbe Artikel findet sich zuerst in russischer Sprache und dauu iu lateinischer oder umgekehrt, sobald dies nur irgend zu einer vollständigcrn Erörterung des Gedankens beiträgt. Zuweilen sind einige Absätze, welche früher nebeneinander nnd im Zusammenhang standen, vermischt und in eine andere besser scheinende Ordnuug gebracht. Ueberhaupt siud zwei Hauptaufuahmeu, zwei Grundredactioncu der Arbeit ersichtbar; die eine endigt nach einer directen Andeutung der Ereignisse mit dem Jahre 1663; hier steht die Hand allerdings noch mit dem Kopf in Verbindung; sie halt sich noch an eine Ordnnng uud schreibt mit gleichen Zügen j im Jahre 1664 dagegen ergänzte, vollendete sie das Werk in 269 seiner gegenwärtigen Gestalt, ging noch einmal die Arbeit durch, verbesserte, erläuterte, fügte hinzn uud führt das Jahr 1WZ bereitö als cm verflossenes an. Die beabsichtigte Verbindung der hauptsächlichen, leitenden, großartigen, wenn anch in mehrere Theile zersplitterten Idee sind allenthalben zu bemerken; allein der große Umfang der unternommenen Aufgabe, die Verschicdenartigkeit und die schwierige Behandlung eines Gegenstandes, wie das russische Leben in seiner Totalität, verhinderte ihn, die ganze Arbeit in Einem Gusse zn vollenden; dieselbe ist nicht nnr durcheinander geworfen, sondern offenbar uicht ganz fertig; sie gelangte, uur im Concept entworfen, -aller Wahrscheinlichkeit nach nicht znr Vollendung und konnte nicht mehr umgeschrieben werden. Der Verfasser wollte vieles sagen, es war ihm dcS Gesagten aber immer zu wenig, und so kam er wie ersichtlich zu keinem Schluß; der allgemeine Eindruck auf den Leser wird durch eine gewisse Lückenhaftigkeit gestört. Gerade so kam auch die dem Zaren Alexc'i Michailowilsch gemachte Dedication mitten in dem Entwnrf des Textes vor uud erreichte aller Wahrscheinlichkeit nach nic ihre Vestimmnng, sie kam dem Zaren nie vor Augen. Nichtsdestoweniger ist jedoch der Sinn dieser Dedication, deren innere mit dem ganzen Manuscript in enger Verbindung stehende Bedeutung für uus äußerst lehrreich. Den Mangel seiner Kräfte bei einer so uuermeßlichen Arbeit wohl erkennend, nnd ganz unwillkürlich die Einseitigkeit der logischen Welt nnd der ihm zu Gebote stehenden Sprache fühlend, im Vergleich mit jenen zn besprechenden Erscheinungen, mit dem Leben selbst, welches er zu sckildcru hatte, welches umgeschaffen werden mußte, — glaubte der Autor sich aus der Schwierigkeit zn ziehen, indem er seine Schlußfolgerungen und feine Sprache in eine kräftigere Hand legte, von welcher allein er die Nealisirung seiner Plane und den Uebcrgang der Hoffnung zur Wirklichkeit erwartete. Mit Entzücken diese 270 Hand küssend, hätte er ihr die ganze Kraft der Welt, die cm solches Handeln erfordert, überantworten nnd gleichsam eiu-hanchen mögen, aber nur zu dein Zweck, daß sie die Lieblmgs-idem des Autors zur Verwirklichung bringe; nnd weil er, obwol er diese Hand mit aller Machtvollkommenheit ausstattete, dieselbe dennoch hätte leiten mögen, flüsterte er dem Zaren Reden, Urkunden und Gesetze zu. Es war dies nicht mehr die ehemalige Vorstellung vou einem Zaren, der ans eigener Machtvollkommenheit und ohne weitere Appellation alle Fragen des Lebens entscheidet: es ist die Vorstelluug von einem Administrator, mit hinlänglicher Kraft ausgestattet, um die fertigen Entwürfe in Ausführung zu bringen. Die Idee von der göttlichen Weisheit und Machtvollkommenheit des Zaren, welche sich in ganz eigenthümlicher Weise Jahrhunderte hindnrch im Volke entwickelt, aber nnter dem byzantinischen Einfluß bei den Gelehrten eine beinahe theokratische Höhe erreicht hatte, geht offenbar auf die Stufe des einfachen Begriffs, des nur mit aller Vollmacht ausgerüsteten Staatsdiencrs über. Wie schwer es gewesen, sich mit dieser ncncn Vorstellnng zu befreunden, wie gefährlich der Versuch gewesen, und wie sehr auch, um in der gewöhnlichen Sprache zu reden, der Unterthan selbst vor seinen eigenen Reden erschrak und ungläubig nntersnchte, ob denn in der That ciu früheres phantastisches Bild sich vor ihm entfalte — dies springt jedem Leser in die Auge:,. Uebcrall ist dic Furcht zu erkennen, sich zu versprechen, die Aengstlichkeit ein Wort zu viel zu sageu; es waren zahlreiche Fingerzeige, Umschreibungen und Anspielungen auf irgendeine fremde Nation, auf beliebige, fremde Mächte nöthig, wo es sich direct um das russische Volk nnd das russische Reich handelt. Der Autor legte hier eine große Gewandtheit an den Tag: ein halbes Jahrhundert vor Dolgoruki gelang es ihm anf die Vermnthnng zu kommen, daß der „Herrscher die Zwietracht nicht liebe". Auf der andern Seite muß 271 man anerkennen, daß dieser heftige, wenn anch nicht immer dirccte Protest gegen die vorhandene Ordnung der Dinge, der sich so oft und zwar nicht nur bei nnserm Antor, sondern bei allen feineu Zeitgenossen lant äußert, und unerbittlich alle Bunden der Epoche aufdeckt, uns unwillkürlich wieder versöhnt, denn er zengt von einem aufrichtigen nnd uucrfchütter-lichm Glauben an die Möglichkeit eiuer Besserung. Allein alle diese Anspielungen, diese nicht zu Ende gcführteu Reden, diese gezwungene Ironie, welche die dunkle Seite eines Lebens beurkuudet, unter welchem die Wahrheit nur mit Mühe offen nnd in ihrer felbstcigeuen Gestalt hervorzutreten vermochte, führen nus anch die Lichtseite der Epoche vor Angcn: es waren Leute vorhanden, welches ein kühnes Wort zu sprechen wagten; es gab eine höfliche Form, in welche sich, die Schwierigkeiten umgehend, eine kühne Rede bergen konnte; es war der Glaube vorhanden, daß sich die Wahrheit von der Masse der Anspielungen uud Umschweife, vor dem Blick des Mächtigen trenne, sich knnd gebe nnd als solche aufgenommen werde. Eiu solcher Glaube au die vollzieheude Gewalt, an ihre Fähigkeit zu verbessern und selbst verbessert zu werden, kann in unserm Autor auch andere Epochen in Erstaunen setzen. Und es ist um so mehr ;u bedauern, wenn damit der Unglaube au die Kraft des eigenen Geistes nud des eigeuen Worts so enge verbunden ist. In der That wird die ganze Verschiedenartig-keit in den Erscheinungen des russischen Lebens bei ihm in die Welt der Logik emporgehoben, alle Fragen durch ciue logische Schlußfolgerung entschieden, gleichsam als ob dieselben durch das Wort einer gelehrten Abhandlung endgültig gelöst werden könnten. Doch darf mau fich durch diese scheiubare Freiheit nicht verführen lassen; betrachten wir die Sache geuancr, so werden wir sehen, daß die logische Dednctiou, schon in ihrer Wurzel durch den Zweifel an der eigenen Maft vergiftet, uirgeuos in ihrem Bereich bis zum Schluß gelangt 272, und schon auf halbem Wege erstirbt; für die Lösung des Gedankens und für dessen Hebel, das Wort, erscheint die Hülfe äußerer Kräfte, der Mächtigen der Welt, nothwendig; sein Glaube an die Reform stutzt sich nnr ans die Gewalt des Zaren. Wir sagen nicht allein, daß in diesem Glaubeu die Kühnheit des Gedankens und des Worts erstirbt; hier erstirbt auch der Volkswille und die Kraft der historischen Ueberlieferungen —, uud die durch Jahrhunderte erworbene vollgültige Unantastbarkcit des wirklich vorhandenen Factums. Diese ganze Fülle des historischen Voltslebens gibt der Autor, logisch eutwickelt und systematisch geordnet, in die Hände der Administratoren: schneid^ und formet um — vom Gewerbe, dem Handel uud dein Ackerbau angefangen bis zum Zuschnitt des Kleides, bis zur Form der Hüte und dem Nasircu der Värtc und von da bis zu den subtilsten moralischen Erscheinungen. Es ist begreiflich, welche Rolle dem Volke, dessen Massen zu Theil wird, wenn die Administration ein so ausgedehntes Feld der Thätigkeit besitzt; das Volk ist wie Wachs, ans welchem man bilden kaun, was man will. Ein Verhältniß voll stumpfer Selbsttäuschung und beleidigender Verachtung gegen die Mehrzahl der Landslcnte: es wird dadurch erkauft, daß man die Rechte der Logik über das Leben stellt und dann lcichlsinnigerweisc diese Rechte einem Kreise von Leuten überantwortet, welche mit dem Herrschcrstab ausgerüstet sind. Vor unserm Blick entsteht nnd erhebt das Haupt eine Klasse von an der Spitze stehenden Leuten, eine Klasse, die in dem alten Rußland nicht vorhanden, die noch im 17. Jahrhundert um war, aber den folgenden Iahrhnn-dcrten gnt bekannt ward, eine in zwei eng miteinander verbundene Zweige getheilte Klasse: die einen glaubteu, das sic umgebende Leben, außerhalb dessen Kreise stehend, ideologisch formen zu können, ohne mit demselben anch nur in Berührung zu kommen; — es ist dies die vorzugsweise von oben herab 273 wirkende, die despotisch-theoretische Reform; die andern angesteckt durch das Miasma logischer Lösungen, ohne in deren Wesen einzudringen, aber in ihrer rohen Natnr einen Anstoß von ihrer Seite fühlend und denselben für sich als einen heiligen Ruf der Pflicht betrachtend, werfen ohne alle Rücksicbt alles Bestehende nieder; sie bauen und zerstören, zerstören nnd bauen, indem sie sich in der Sphäre äußerer Erscheinungen bewegen und ihre hundertjährigen Rechte den Schwingungen der materiellen Gewalt zum Opfer bringen — nnd dies ist Vorzngsweise die Umbildung von der Seite her und von unten herauf, es ist dies die tyrannisch-praktische Reform. Die eine derselben ruft die andere hervor, der Theoretiker befreundet sich mit dem Praktiker, der Liberale mit dem Henker und Gens-darmen. Das wahre Leben bleibt zwischen Extremen, bleibt sich selbst gleich, ja eS entschlüpft sogar im Laufe der Zeit der Aufmerksamkeit der eiuen sowie der andern seiner Umbildner; das Bedürfniß wahrer Reform bleibt in ihm wie vorher unerfüllt und erlischt in langsamem Feuer bis auf den Grund, die handlosen Denker nnd die kopflosen Administratoren überdauernd; in seinem äußerst bedauerlichen Zustande, in einem kaum bemerkbaren und verborgenen Dasein steht es aber immer noch erhaben über seinen Drängern und erwartet nock lange Jahrhunderte hindurch den Augenblick, nm sich mit einem mal zn erheben. Zur Zahl der Reformatoren der ersten Klasse gehört auch unser Autor, indem er die nahe Erscheinung eines praktischen Mithelfers voraussagt, ihn aus dem Dunkel der Zukunft hervorruft und für diese Schicksals-Verkündigung, für diese Hervorrufung durch einen frappanten Mechanismus die schreiendsten Widersprüche in sich vereinigt: eine tiefe Verachtung gegen das Volk im Namen feines anf logischem Wege zn findenden Wohls nnd zu gleicher Zeit einen glühenden Eifer für dieses Wohl, einen Eifer, dem jedoch alle männliche, thätige und ausführende Kraft mangelt. Zu seinem Nussisckn' Fragmnck, II. 16 274 Glück und zur Wahrung seiner Ehre kam noch cm wichtiger Umstand hinzu: wie dies immer bei dem ersten Anstritt aus dem Kreise des abstracten Gedankens in die lebendig bewegte Wirklichkeit, bei dem Zusammentreffen der Logik mit den: täglichen Leben der Fall ist, so ergreift den Autor unwillkürlich ein Schrecken auf dem Wege zu seinem Ziele. Wie lebendig auch sein Glaube au die Gewalt der umformenden Administrativmaßregeln ist, so läßt derselbe trotzdem einen Zweifel an der Wirksamkeit ihrer Anwendung zu. Was, wenn wir von dem frühern Punkt entfernt, die ursprüuglichen Grundlagen unsers selbständigen Lebens verlieren, welche von alters her, wenn anch nicht harmonisch, doch fest zusammengefügt waren? Was, wenn wir, wie man zu sagen vflcgt, strauchclu, und hierdurch erschüttert den Verstand verlieren? Und wie der Autor die Kraft der Bewegung der Administration übergibt, gerade so ist er bereit, in ihr auch die conservative Kraft zu suchen, jene Kraft, welche noch rechtzeitig den völligen Zusammensturz zurückzuhalten vermag, und in dem sie die Wurzel rettet, dieselbe vor den Einflüssen der zersetzenden Elemente bewahrt. In einer solchen Sache aber reicht dieses Mittel allein nicht aus. Der Denker hatte uoch Geistesfrifche genug, nm die ganze Schwäche äußerer Administrativmaßregelu bei einer solcheu Aufgabe, wie die Bewahrnug der Grundzüge eines selbständigen Lebens, zu begreifen; er wandte sich in gläubigem Vertraue» mit seinen Fragen an das ihn umge-beude Volksleben, erkannte dessen volle Berechtigung an und setzte auf dasselbe seine Hoffnuug. „Trane nicht den Fremden" — „Erkenne dich selbst" — dies sind die beiden Grundsätze, welche er aufstellte uud der fortschreitenden Entwickelnng zur Befolgung empfahl. Je lebhafter er die von dem Auslande her allenthalben eindringende Verderbniß fühlte, desto mehr wendete er seinen Blick von dem schlauen Gewebe der Administration ab und desto fester heftete er ihn auf die ein- 275 geschlagenen Fäden des ganzen russischen Volkslebens, auf dessen Sitten und (Gewohnheiten; es thaten sich vor ihm bisher ungekannte Quellen gewaltiger Kräfte auf, welche er kühn ',um Kampfe anfforderte, der vollen Hoffnnng, daß dieselben in dem entscheidenden Augenblick ihm zur Seite stehen würden. Hier erhebt sich seine Betrachtung nicht selten zn einem gewissen dogmatischen Gesichtskreis, und es ist für uns von Interesse, den Weg einer solchen Selbstverticfung in das Tiefstinnerste des Volkslebens zu verfolgen. Dieser Weg ist folgender: alles 'Neue, welches in der Zukunft der Reform herangerückt war, schien damals und war auch wirklich ein Angriff auf die Integrität des Lebens, welches sich seit Jahrhunderten harmonisch gegliedert hatte; es erschien als ein Aergerniß, oder wie der Autor sich ausdrückt, als eine Ketzerei, als eine Häresie. Wie verführend auch dieses Aergerniß war, so hielt sich doch das immer wache Gefühl der Sclbsterhal-tnng für überzeugt, daß es nicht bis zur endlichen Ausschließung der Selbständigkeit überhandnehmen dürfe: gegen seine Extreme mußten Maßregeln ergriffen werden. Dieses Aergerniß personificirte sich für den Autor in den Fremden. Als wirtlich gebildeter Mensch nimmt er bei denselben eine Menge für Rußland lehrreiche Beispiele wahr, er abstrahirt unausgesetzt aus dem Leben derselben nachahmungswcrthc Erscheinungen, er räth sie scharenweise zur Unterrichtung der russischen Jugend in Handwerken nnd Künsten herbeizurufen; mit Einem Wort, die Frage in Betreff des Entlehnens bei d?m aufgeklärten Europa ist durch ihn gewissenhaft und leidenschaftslos entschieden. Aber bei alledem, kann er mit seinem hellen Verstand nicht alles Fremde für besser, oder alles Bessere an dnn Fremden als einen befriedigenden Ersatz für unser Eigenes betrachten, er wählt für die Heimat mir das Taugliche aus, und zwar mit aller Freihrit in d, v N^lil des Besten. Zugleich haßt dn- Autor als echter Swrc, f^mn ix* 376 Erziehung nach Weißrusse, und näher mit den westlichen Nachbarn bekannt, nnd endlich als Russe aus der Epoche des Zaren Alexei, in der die Deutschen Rußland bereits überschwemmten nnd die tyrannischen Erscheinnngen des 18. Jahrhunderts vorbereiteten, unwillkürlich mit tiefem Haß diese fremden Ankömmlinge, die allerdings zn Hanse vortrefflich, aber erfahrungsgemäß Feinde jeder Erscheinung eines selbstständigen, slawischen Volkslebens waren; er verfolgt dieselben auf allen Krümmungen ihrer Schleichwege, vom Handelsmonopol angefangen bis zur Brautwerbung der regierenden Häuser. Es erwacht dann in ihm mit aller Kraft das Gefühl nationaler Würde nnd nationalen Stolzes: „Wir kommen mit unsern eigenen Dingen so gut zu recht wie die Deutschen, wir werden uns umbilden, ohne nnsere Volksthüm-lichkeit für einen nahe liegenden Gewinn, für eine kurzsichtige Speculation nnd den blendenden Glanz des Fremden dahinzu-geben; lasset nns nnr nnsere, eigene Natur uud unsere eigenen Kräfte näher ins Auge fassen." Und je weiter er sich dnrch dieses berechtigte Gefühl fortreißen läßt, desto deutlicher erscheint vor seinem Blick der ganze Nachtheil des despotischen Eindringens der fremden Elemente, und zwar nickt nnr von seiten der Deutscheu allein, nnd anch nicht nnr in der äußern Sphäre; desto kräftiger entbrennt in ihm der Wunsch den Russen durch Selbsterkenntniß das trinmphirende Gefühl der Selbständigkeit einzuhauchen nnd zwar in den höchsten Aeußerungen menschlicher Entwickelung. Er erhebt deshalb, in seiner Feindschaft gegen die Fremden manchmal fast bis zn einer chineseuartigen Exclusivität gehend, das Bedürfniß einer nationalen Selbständigkeit zn jener Höhe, von welcher herab alle nnsere Beziehungen zu unsern Nachbaren mit der höchsten Unparteilichkeit bestimmt werden und nns in gleichem Maße das Urtheil über die protestantische Zersetzung, die römische Anmaßung und die griechische Engherzigkeit in die Hände gelegt 277 wird. Von der sich nnbewnßten Furcht des logischen Gedankens vor der eigentlichen Wirklichkeit beginnend folgt der Antor dem Wege ihrer Umbildung, vertieft sich in das Wesen des ihr unterworfenen Geistes, entnimmt den lebendigen Kräften desselben die unerfaßliche Größe des Bewußtseins und stellt sich nicht nur über die ganze Gegenwart, sondern auch über Tausende von hervorragenden Persönlichkeiten vergangener Zeiten. Daß er nicht lange auf dieser einsamen Höhe abstracter Anschauung sich zu halten vermochte, wird jeder erfahrene Historiker leicht begreifen; die lebendige Individualität wird, wie jede lebende Erscheinung leicht von dem sie umgebenden Strudel ergriffen und häufig uucndlick weit von dem Hafcu hinweggefchleudert, den sie durch große Anstrengung gewonnen. Je höher aber die Forderungen sind, welche an das russische Leben in seinem Ideal gestellt werden, mit desto größerm Kummer blickt der Denker ans die Außenseite des Landes, auf das Material, welches eiuer künftigen Reform entgegenharrt, aber in seinen Augeu nicht selten als roh und unförmig erscheint: er bricht geradczn in Tadel und in die härtesten Vorwürfe gegen den Nüssen aus. Allein man fühlt, daß dicS bei weitem nicht jenes greisenhafte, mürrische Wesen, oder jene griesgrämige Händelsucht ist, welche sich später im 18., besonders aber im 19. Jahrhundert zum Nachtheil aller Volisthnmlichkeit cutwickelte; nein, es ist dies das Nebermaß der Kräfte, welche in dem jungen Blnte gären uud toben, aber die befruchtenden Säfte der lebendigen, von ihren Großältern überkommeneu Traditiou nicht ausscheiden können. Man kann vielleicht uichl mit ihm übereinstimmen, man kann sogar einen heftigen Unwillen gegen feine Meinung empfinden, allein man kann die von ihm ausgesprochene« Fragen nicht mit bloßem Stillschweigen oder mit Geringschätzung übergehen: so lebhaft sind die Bedürfnisse einer 278 Umgestaltung berührt. Und ist es etwa seine Schuld, wenn er aus heftiger Liebe zum Vaterlande selbst an den Raud des Abgruudes ankommt, und in demselben weder alles Böse sehen noch es durch die Idee besiegen komtte, uachdem sich dasselbe im Laufe der Geschichte angesammelt uud uoch nicht durch ein organisches Princip überwunden worden war? Allein wie das wirkliche Leben Rußlands, indem es der Mittelpunkt blieb, in welcbem sich die Veränderungen vorbereiteten, in seiner Originalität den Ertremen der Umbildung entschlüpfte, gerade so wenig konnten seine Grnndprincipien, die seit alters vorhanden, und ihrerseits zu einer festen Schutzmauer der russischen Volkstümlichkeit gewordeu wareu, ihrem Wesen nach Veranderungeu zulassen, gleichwie dieselben auch bisher, nachdem sie die gegen die Oberfläche geführteu Schläge der Epoche Peter's ausgehaltm, diese durch ihre Selbständigkeit überlebten: die Orthodoxie, so sehr dieselbe anch den Bewegungen des Volksgcistes nnterliegt; die Bedingungen der Aufklärung, von der äußerlichsten Bedentnng des Staats bis zn dem innersten Bestand der Gesellschaft, von der Praris des Rechts bis zur Harmonie des Verstandes und des moralischen Charakters; eudlich die geistig-materielle Kraft, welche die Sprache organisirte lind die Sitten, Gebräuche, die typische Aeußerlichkeit erzeugte. Alle diese Principien, auf welche wir uns bisjetzt in dem gemeinschaftlichen Wirken und Leben mit dem Volke stützen, nnd welche, so lange das russische Volk leben wird, immer seine Stütze sein werden, alle diese autonomet» und an und für sich unerschütterlichen Grnndsatze erhielten ihre verkehrte Form nur iu den Feitverhältnisfen, in den speciellen Beziehungen, in der Anwendung, in all jener Zufälligkeit, auf welche sich der Einfluß des Schlechten erstreckt. Hier muß eiuc gründliche Reform eintreten. Indessen ist der Autor, wenn anch an der Wnrzel geknickt, und durch die fortreißende Bewegnng der herangebrochenen 279 Umgestaltung seinen Grundlagen entrissen, bereit, gerade in der Stabilität der ursprünglichen Volksprincipien einen Widerstand, ein Hinderniß für die Entwickelung zu sehen und hätte deren Hartnäckigkeit zu brechen und die Principien selbst in den Lauf der Umgestaltung zn leiten gewünscht. Die Sphäre der Erscheinungen, welche eine Reform erheischten, sollte nach seinem Wnnsch das volksthümliche Wesen selbst in ihre Fragen hineinziehen, und wenn sich dasselbe nicht fügte, so wurde doch der Zweifel an seiner Fähigkeit nicht ausgefchlosseu. Mit andern Worten, er erkennt die Grundprincipien des russischen Volkslebens, die elementare Möglichkeit einer selbständigen Entwickelung an: allein die Idee, welche die Geschichte nach vorwärts treibt, triumphirte noch nicht über das Böse, welches sich der Entwickelnng als Begleiter zugesellt, es ist noch lange nicht die glänzende Zukunft, noch lange nicht das erstarkte und trimufthirende Reich des nationalen Geistes wahrnehmbar. Alles Genie vermengte sich damals mit dem Schlechten, Alles beleidigt und versetzt in Aufregung. Dann aber ist der Antor, indem er nach rückwärts blickt, bereit, jeden Augenblick an der Wirksamkeit und der Äefruchtungsfähigkeit der Gruudelementc des ihn umgebenden Lebens, des sich gebildet habenden Wesens und der Organisation zu verzweifeln; er ist beinahe bereit, sogar au die Kraftlosigkeit der eigenen russischen Natur zn glauben. Auf diescu betlagenswerthen, aber charakteristischen Seiten der Abhandlung wird der Kämpfer, in seiner Kraftlosigkeit jene Kette von Umgestaltungen aus deu Händen lassend, welche er früher der Wirklichkeit auferlegt hatte, selbst zum Schauplatz des Kampfes, zu welchen: er früher das ihn umgebende Leben so kühn aufgefordert hatte. Rnßland mit glühender Liebe zugethan, und noch heftiger den Despotismus fremder Einflüsse hassend, entfremdet er sich dem russischen Leben, er wird von demselben abgezogen, von der hohen Bildung angefangen, bis zu der ab- 280 stoßenden, nicht russischen Sprache, welche auf despotische Weise dem Verständniß eine unerträgliche ^ast auferlegte, ohne im geringsten zu vermuthen, baß seine energische Sprache nicht nur der Mehrzahl des Volks, sondern auch dm damaligen Repräsentanten der Bildung lind dein Zaren selbst, der das ihm gewidmete Nerk zu dnrchlesen hatte, unverständlich sei. Der Bertheidiger der umformenden Weisheit, der Vertheidiger ihrer Freiheit beugt sich vor der äußern, administrativen Kraft, welche in dem damaligen Staat herangewachsen war, indem er zu ihrer Stütze sogar die Nothwendigkeit häßlicher Knechtschaft zuläßt. In diesem Strudel von Widersprüchen mit der Vergangenheit, der Gegenwart und mit sich selbst —, ist nur in dem einzigen Dränge — in dem Dränge der Bewegung eine Consequenz vorhanden; deutlich und klar driugt nur ein Ruf durch — der Ruf nach — vorwärts! Deshalb gleicht auch der Verfasser iu dieser Weise nicht den übrigen Factoren des alten Rußland, an welchen wir, bis zum 17. Jahrhundert, eine entschiedene Zähigkeit, eine Festigkeit lind eine Dauerhaftigkeit der Volksprincipien wahrnehmen, und welche Schritt für Schritt, langsam aber sicher auf der Bahn der Geschichte vorwärts gingen. Er steht uns nahe, er ist nns verwandt; es trennt uns nur die Epoche Peter's, welche mit allen ihren Früchten, gleichsam nur deshalb sich als Zwischenzeit dahinzog, damit wir sagen: „Schon vorher regten sich in den russische« Geistern dieselben Bestrebungen; auch sie brachte das mit qualvoller Sehnsucht Erwartete nicht; auch nach ihr stehen wir fast mit derselben unbefriedigten Erwartung da!" Der Unterschied besteht blos darin, daß wir die Unglücksfälle in der That erfahren haben, nnd daß etwa nur sie nns das beklagenswerthe Recht geben — über die Plane eines solchen Reorganisators, wie unser Antor gewesen, nicht selten ein hartes Urtheil auszusprechen. Das Denkmal trägt keinen bestimmten und genanen Namen. 281 Uns auf den Inhalt stützend, sind wir genöthigt, demselben den willkürlichen Titel zu geben: „Das russische Reich in der Mitte des 17. Jahrhunderts." P. Bellouow. So weit der russische Herausgeber des Manuscripts. Dieses selbst hier in der Uebersehung mitzutheilen ist schon seines großen Umfangs wegen (es umfaßt mehrere Äände), unmöglich. Auch würde der größte Theil davon die Leser, für welche diese Fragmente berechnet sind, wenig iuteressiren, nachdem sie scholl im Vorstehenden Andentnngen über den Inhalt des Manuscripts mw die Anschauungsweise des Verfassers erhalten haben. Derselbe verbreitet sich mit staunenswerther Sach-keuntniß über alle Zweige menschlicher Thätigkeit; er liefert eingehende Abhandlungen über innere und äußere Politik, über den Staatshanshalt, das Finanzwesen, über Bergbau, Handel, Ackerban, Fischfang und alle Gewerbe, wobei er fortwährend die Zustände Nußlands mit denen der vorgeschrittenem europäischen Länder vergleicht und seinen Landsleuten tapfer ins Gemüth redet, von ihrer angeerbteu Trägheit und Gleichgültigkeit zu lassen, wonach es ihnen denn nicht fehlen tönue, die verhaßten Fremden in weltlich nutzbringender Thätigkeit bald ebenso zu übertreffen wie in Glauben und Frömmigkeit. Besonders groß ist sein bei jeder Gelegenheit hervorbrechender Haß gegen die Deutschen, die er seinen Lands-leulen in ähnlicher Weise schildert, wie nnser Laudsmann Olcarius in seinem berühmten Neisewerte uns die Nussm schildert. Ich lasse davou, zum Ergötzeu des Lesers, auszugsweise einige Proben folgen uud wähle solche Stellen, welche lateinisch geschrieben sind, um den Autor selbst rcden zu lassen, ohne Vermittelung cincö Dolmetschers. Nach einer vorbe- 282 reitenden, russisch geschriebenen Einleitung, in welcher er die Stellung der Deutschen gegenüber den Russen schildert, fährt er plötzlich lateinisch fort: ,,Tres igitur sunt causie odii ct malignitatis Germa-norum ei'ga nos. 1. Maledicunt nobis Germaui: quia propter bonst regni huius statuta non possunt nos redigere in ornni-modam seruitutem (queinadinodum redegerunt Ungaros, Lechos, et Cechos): neque possunt nobis eripere oinnem substantiam, sicut eripuerunt illis: neque occupare reg-num hoc, sicut occuparunt ilia. 2. Maledicunt: quia cum ipsi sint lleretici, oderunt ueritatem et tidem ortodoxam. Idcirt-o ut odiosam ta-ciant fideiu ortodoxam: omnibus artibus demoniacis ni-tuntur odiosos facere nos. 3. Tertia odii et maledicentiue ipsorum causa, est nostra Frugalitas, et Simplicitas inorum, quie paucis contenta est. Cum enim ipsi sint in omnem uoluptatem ac luxum dissoluti; non possunt nou odisse Parsiiuoniam, et Frugalitatem. Idcirco igitur ut eripiant nobis Regnum, et omnes substantias: Ut priuent nos fide ortodoxa: Ut inducant nos in omnem Luxuriain omni conatu nituntur dissoluere Bona statuta huius regni: et componunt contra nos cal-lidissima mendacia, et diabolicas calumnias, sine fine-" quibus ipsi conantur nos Kussos et Sclauinos reddere omnibus gentibus conteinptos, et abominabiles, plus quam canes mortuos, et odiosos plus quam deinones. In primis mentiuntury et in plurimis libris praedicaiit: Russos esse omnium mundi gentium inbellissimos ac uilis-simos. Non esse uiros; sed canes mortuos, et fungos, et stercora. Et hanc acerbissimam caluinniam ita in 283 suis libris depraedicarunt: et Lechis uarie a se demen-tatis, ita persuaserunt: ut ctiam Leclii eandeni infamiain ubique cantent ac praediccnt. Et tota Europa id eis credit: et gens nostra pessimo ubique contemnitur: et Reputatio huius regni uario modo tota annihilatur. Ununi quemdam ex Germanis insignem legiouarium ego audiui saepius, qualiter deierabat, animamque suam una cum corpore omnibus demonibus deuouebat, dicens: Si de-cem Tartari ant Gennani in campo comparerent contra 100 aut oOO Russos, quod omnes illi Russi seniiniortui conciderent in terrain, seque permitterent concidi quasi rapas. IUe idem multoties deierabat, Russos non esse dignos, ut eos sol illuininet, aut terra sustineat: propter uilitatein, et propter nmltas alias causas. Et quando ego respondebam: Quomodo ergo f'actum est ut liussi 3 Tartarorum regna, Cazan, Astrachan, et Sibiriam oc-cuparent? Quomodo a Suedis multas arces ui ceperunt? tune ille tliraso obmutescebat. Deinde latrant canes rnaledici, blasfemant, ac scribunt: Russos supra omnes gentes esse furaces, latrones, mendares, fallaces, ebrio-sos, lasciuos, impudentes, immundos, porcinos: et ut quidam ex ipsis pro conclusione scripsenmt, «Russi (inquit) oninem uirtutem et omnem lionestatem a se eiurarunt». Sic scripsit latrator quidam nomine Adamus Olearius, et ante ipsum alius quidam Zoilus nomine Jacobus Danus. Sed ad ista maledicta eis respondimus articulo 21, folio 150. Germani gloriantur, ac praedicant: Quando (inquunt) Russi non liabebant commercium cum Germanis; ince-debant omnes in pannis albis, et in ouinis pellibus. Nunc autem incedunt toti colorati: (|iiia liabent pannos a nobis. Istis callidis sermonibus suadent nobis appe-tere Colores pretiosos: quibus multo satius esset, si nos 284 in uniuersum careremus. Profecto maior esset Russo-rum gloria, si in suis laenis ct albis pannis regno berie ordinato et populoso perfruerentur sine inixtura Germa-norum; quam quod nunc Germani uendunt nobis Colo-res (quasi Poma pueris) et interea totam Russiam inun-dant cateruae Germanorum; et omnes bonos fructus ter-rse nostr;e ipsi deuorant: et regionem nostram faciunt desolatain: et paulatim insensibiliterque faciunt nos sibi prorsus tributarios ac subditos, Callide persuadere nobis conantur, omnia sua esse optima, et nobis necessa-ria atque honorifica. Et ista fraude nos sibi obnoxios subditosque faciunt. Ita nobis persuaserunt etiam Mili-tiam suam ab ipsis discere: et ipsos in duces assumere: et ab ipsis arma inutilia prorsusquc ridicula emptitare: spatas scilicet, et pistolas, et malefactas carabinas. In hac re nehementer nos decepernnt, et toti rnundo in lu-dibriurn exposuenmt, ac contempt]biles cffecerunt. Ta-ceo amissionem generositatis, iniuriam genti factam, et alia plura mala — Dixi: quod Germani, dum nobis Co-lores preciosos, Anna ridicula, et alias merces inutiles ac superfluas uendunt, per id regionem nostram deso-lant. Hoc est, non pennittunt populmn multiplicari. Nihil enim est, quod magis impediat multiplicationein populi, quam Frumenti euectio: sicut alibi suo loco la-tius ostendemus. Germani autem intinitum Frumentum, aliaque uictualia singulis annis ex Russia eucJiunt: et per id ipsi ad uastitatein Russia} unam ex praecipuis causis attnlerunt. Eadem fere ratio est de Cineribus: quia et mellificium et agricultura per eos impeditur. Non tamen Cineres causant tanta damna, quanta causat frumenti euectio. Ad acquirendam reputntioncni coram Germanis (aut aliis quibuscunque gentibus) non debemus nos cum illis 285 certare in illis rebus, quibus illi multo magis abundunt, aut excellunt nos, siue quas nos ab illis debenms petere, em ere, ant discere. 1. Non debemus cum Germanis certare longis dis-putationibus, et tractatibus. Quia illi superant nos in-genio; ct semper decipiunt ac uincunt, quando admitti-mus eos ad tales tractatus. 2. Non debemus cum illis certare auro, argento siue uasis instrumentisque argenteis, neque gemmis, unioni-bus, aut ulla opum ostentatione. Istis enim omnibus incomparabiliter Germani superant nos. Ad minimum 20 urbes sunt in una Germania, et totidem alite in una Gallia, in qua rum singulis est plus auri, argenti, et gem-marum, quain in tota Russia. Ipsi enim nauigant et mercantur per totum mundum, et terras ipsorum sunt ieraces metallorum, aruarum, etc: Russia non ita. Id-circo non debemus talia coram istarum gentium legatis ad gloriam ostentare. 3. Praecipue coram Germanis et Europaeis non debemus producere equos Germanicos; sed potius Tarta-ricos Persicosque. Coram Persis autem decet producere utrosque: eo quod a rege Persaruin mittuntur no-bis equi in donum: quos proinde non decet abscondi, sed ostendi: et cum illis alios eiusdem regionis, De Spatis Germanicis quid dicam? Praeter id quod sunt inutiles: nihil est magis ridiculuni, quani uidere liomi-nem in habitu Russiaco, cum appensa spata Gerinanica. 4 Non debemus gloriari coram Germanis in panuis coloratis, nee eos ostentare coram illis: praesertim illos, quos illi texunt, et quos ab ipsis emere debemus. Imo expediret secreto ita rem instituere: us coram legatis Germanicis nullus llussorum curialium aut nobilium com-pareret in ullo panno Germanico: sed onines in Persi- 286 eis Tureicisque Muchaiaribus: in Bucharicis scu Kitaicis pictis serieeis pannis: et in Bumbacinis aliisque Orien-talium materiis, et praesertim in ornamentis pellium zi-bellinarum, et nigraram uulpium. Pannos tarnen nihi-lominus a Germain's emeremus, et Persis, Turcis, Bu-charisque uenderemus. O quam tum prodesset Russia ista prouisio. 5. Non debemus coram ipsis certare in artibus ma-nualibus: neque ostentare ulla uasa argentea, aliane in-strumenta, florata, ornata, deaurata; et quibus est pre-tium ex artificio. Incomparabiliter cnim nos superamur ab ipsis in omni artificio. Expedit ergo proponere lc-gatis Europaeis uasa argentea in multitudine quidem ad necessitatein, non ad ostentationem; in qualitate aiitem, non ouriose elaborata, florata, striata, sed potius omnia undequaque leuissima, et sine ulla deauratione. Et ita certabimus cum ipsis non uana ostentatione, sed Fru-galitate. Et aliud in hoc erit commodum: quod talia uasa facile mundantur et munda tenentur. lila auteiü artificiosa non possiint munda teneri, nee facile emun-dari; et ex illis semper dedecus potius, quam reputa-tionem, hactenus acquisiuimus. Coram Persis autern aliisque Oricntalium legatis licebit proponere uasa Ger-inanica artificiosa. Certare igitur debemus cum Germanis 1. Frugali-tate, simplicitate, modestia, et uirili temperantia in uictu, et amictu, et in omnibus uitse instrumentis. 2. Certemus Uigilantia: ita ut peruigilemus in noc-turnis preeibus; et summo mane surgamus ad opera sine exercitia nostra; uocationis et professionis. Et non dor-miamus tota nocte, et usque in -J-am et 4-am horam diei; ut faciunt Germani. 3. Certemus Temperantia in stratis: ita ut contenti 287 simus uno mataracio laneo, aut ad sumnmm una perina, nee ea nirnium densa: supposito inferius Stramine. Et non utamur simul duabus tribusue perinis inferne, et tertia quartaue superne: sicut Germani faciimt, et sudant in plumis quasi in balneis, ac pone suffocantur. 4. Certemus Frugalitate in praeparatione ciborum et potuum. Et non emulcmur incredibilem Germanorum solicitudinem circa culinas et catinas. Non inuidcamus eis ista felicitate. 5. Certemus Modestia in cultu et ornatu domorum. Non fabricemus lectos auratos: et qui constent centenos aut millenos aureos: ut faciunt Germani. Non indwea-mus pannis sericeis, nee coreis auratis, nee sinipliciter ullis pannis, parietcs et scamna; ut faciunt Germani. Non teneamus mensas contectas pannis aut tapetibus: nisi forte corio: et tempore prandii mappa linea. Non con-stcrnamus pauimentuvn domus tapetibus aliisue pannis: ut faciunt Turci. Non conquiramus uasa Vitrea, quse constent umim, tres., 10, et centum rublos: ut faciunt Lechi; sed potius utamur argenteis moderate, et apte efibrrantis. Non teneamus puluinaria in senmnis, ad Sup-ponandum nobis ipsis, uel hospitibus, in sedendo uel ge-nuflectendo: ut facmnt Germani. Non imitenmr nimis curiosam et laboriosam Germanorum nnmditiam: qui pauimeuta domorum toties lauant: et ubi non licet hos-piti sputum expuere super pauimentum: et si forte Jios-pes expuit, protinus ancilla extergit. Tales anxii uolup-tatum et carnalis munditirc obseruatores conantur ex ter-reno hospitio facere celestis patrke habitaculum. Nos autem cogitare debemus corpus nostrum esse saccum stercoris, et cibum uermium. Epicureas, Sibariticas, et Sardanapalicas munditias relinquamus Germanis: et nullo ^iodo eas aemulemur. Certe ab orbe condito non suit 288 nee esse potest gens, qua; raaiorem uentris oarnisque curam et munditiain haberet: quseue cum maiore solici-tudine elaboraret omne id, quod potest pertinere ad Mollitiam, pigritiam, blaudimenta, lenocinia carnis; siue ad maiorem in edendo, bibendo, sedendo, iacendo, ain-bulando, dormiendo, proficiscendo, eommoditatein, quani Germani. Et tarnen cum omnibus istis epicuraeis mun-ditiis, lautitiis, et deliciis tandem reuertuntur Germani in idem stercus et j)iilucrem, in quem reuertuntur cunc-tae alia) gentes. Et tunc non quseritur: quis habuerit mundius pauimentum aut stratum; sed quis habcat mun-diorem conscientiam. Sciamus, et Germania responde-amus, Epicureas istas munditias non posse esse sine peccato. Si enim de omni uerbo otioso debebit tunc reddi ratio: multo utique inagis de omni munditia supers] ua et ad uoluptatem facta debebit reddi ratio, et non erit excusatio. Tales munditke sunt coram Deo innnundac. Mundate corda uestra; et non pauimenta uestra. (>. Ccrtemus Militiai nostrie et Armatur;e pulcro et utili et uere militari modo ac institutione. Equitmn agi-litate: et armoruin praestantia; nempe turmis equitum pulcherrime instructis more Chusarico, et Cozacico: cum hastig, loricis, brachialibus, pennis gruinis, non struthonieis, areubus et sagittis. Non Germanorum tur-mae, sed Chusarorum et Cozacorum, adderent genti nostrae splendorem et reputationem. Peditnm autein cobortes habeant aliae fistulas peditales, aliae arcus lon-gos et sagittas: omnes autem uestimenta aptissima ad sufferendum frigus, pluuias: non colorata, sed ob figu-ram scissurac laudabilia: sicut suo loco diximus. NB: In militiae modis nos siiinus medii inter Scitas et Gennanos. Scitae tantum lein, Germani tantura graui 289 armatura praepollent; nos commode utimur utraque, et Sat feliciter possumus utramque istam gentem imitari, quamuis non adaequare. Scitas superamus armatura gram, leui prope accedimus. Germanos armatura leui superamus, graue prope accedimus. Igitur contra utros-que armatura debemus uti, et agnoscere nostrum auan-tagium. 7. Obseruantia optimorum statutorum liuius regni; de quibus egimus art: 20, sol: 152. Et potissimum supra que omnia profiteainur coram Germanis, nos uelle cum ipsis certare conseruatione et reuerentia perfectae Monarchiae; et perfectissima obedientia erga nostros re-gcs. Ilacc est enini res, quae maximc populum quem-uis facit clarum, felicem, uictoriosum, et gloriosum: sicut uidere est hodie in regno Turcorum, et olim suit in omnibus magnis regnis. 8. Certemus cum eis laudando Veritatem; spernen-doque ac uituperando omncs uanitates et insanias falsas. Pracsertim contemnamas ac derideamus Germanorum Caualarias, aliosque plurimos inanes nobilitatis ordines et distinctiones: qui cum nihil ab inuicem in rei ueritate distingunntur, putant tarnen se esse uarios, et alios aliis digniores. — Vera libertas, et summa gloria est, Vera pietas (quae sion potcst esse sine uera fide) et Perfecta monarchia. Vera enim pietas, sine seruitus Dei (non libertas carnis, quam uos falso appellatis euangelicam) facit homines reges in coelis. Perfecta autem monarchia facit ueram Libertatem in terris. In hac enim omnibus bonis uiris Hcent omnia iusta et honesta; sceleratis autem non licet inipune scelera patrare, et bonos affligere: sicut licet in Uestra effreni ac disordinata libertate. Quid enim o Gennani in omni uestra libertate Iustum, Honestum, et Diuffifrfjc fti-aflmeitti'. H. 19 290 Reipublicae iitile; quod non pariter nobis liceat, sicut et uobis? Quod autem nobis non licet impune scelcra patrare: hoc ipsum est uera et summa libertas. Concedamus eis gloriam diuitiarum, fateamurque nos non uelle certare opibus cum Mercatoribus, qui cursi-tant quotidie ad Indos. — Spernamus, nee aeniulemur ipsornm innumerabiles curas circa praeparationein ciborum et potuum: uasa uitrea immensis pretiis: lectos auratos: tapetia et aulaea: perinas et puluinaria: lotiones pauimenti: et alias istius modi Epicureas Sibariticasque industrias. 1). Postremo eoncludamus: Nos nolle nostram, sed Dei gloriam quaerere. «Non nobis, Domine, non nobis, sed nomini tuo da gloriam.» Ideo nostra gloria est Dei gratia: et in primis Fides Orthodoxa. Hanc magni facimus: et omnibus diuitiis, deliciis, et gloriis mvmdi praef'erimus. Haec nobis maxima est Dei gratia et gloria., quod apud nos uigeat obedientia sacrorum conci-liorum et patrum: et non sit liberuin hominibus impiis seininare errorum zizania. Nos in hac gloria et beati-tudine acquiescimus: et felices nos ex gratia Dei esse ngnoscimus isto nomine. Quia agnoscere ueritatem et seruire Deo, regnare est. Si apud uos o Germani essent nostri mores; uestri autem essent apud nos: et sinml uestra loquacitas esset apud nos, ut mine est: profecto uos miris modis pro-scinderetis in nobis Lnsciuiam, uoluptates, et intolera-bilem Epieuream uitam: et faceretis nos omnibus Sar-danapalis et Sibaritis et demonibus immimdiores. (^iii^ diceretis deinde: si apud nos esset inuenta ingeniosis-siinu ilia tnalitia, quae nulli genti est cognita, nisi uobis: per quarn scilicet canpones tencnt depictas in cameris meretrices sub nomine Sibillarum: easque liospitibus l^raesentant ad eligendum, et singularem diuersa i^retia 291 indicant? — Si ebrietatem nobis objicitis: certum est, quod pro imo Russo ebrio semper reperientur 100 Germani ebrii. Quid si apud nos omnes uici pleni essent popinis, et pcrsonarcnt fistulis, saltibus, uomitu, ct ebri-orum clamoribus? Quid si Itali, Hispani, Galli nos prouerbiis notarent quasi ebriosos, sicnt notant uos?u In einer später geschriebenen Abhandlung kommt er auf denselben Gegenstand zurück, wovon hier noch einc Probe folgen möge: Articulus de Natura Germanornm.1) 1. Maledictus liumani generis Jiostis innumerabiles habet artes, ad decipcudos, et ad perdendos liomines. Ille inter alia sua uenena liabet triplices Hereses; Doc-trinales: Politioas: et Absconditas: quas sequente articulo explicabiinvis. — Hereses Doctrinales sunt errores con-trarii doctnna; sanctorum patrum, et fidei eatolicic; qui-bus destruitur pietas siue honor Dei, et amittitur salus animarum. — Hereses Politicae sunt errores contrarii prudentia; politicac; quibns destruitur honor et reputa-tio natiotium, et amittitur tetnporalis felicitas. — Hereses Abscondit;e, siue Demonolatria Palliata., sunt Astro-rnantia, Alchimia, Cabala, Fisiognomia, et omnis reliqua Magia. — Priccipua antem instrumenta, per qu;c demon istud siiuin omnigenarum heresum uirus erga nos et erga alias Europae gentes effundit, .sunt Germani. 2. Scire iTitur debemus: quod Germani pulehritu-dine, et loquncitate, superant multas g'entes. In artibus autem ineehanieis; in nauigatione, et in mercatura, su- 1) Tic M'ere, vom Auior später geänderte Ucberschnft lalliotc: 292 perant omiies totius mundi populos. Idcirco consequen-ter sunt Superbissimi, et intolerabiles aliorum populorum contemptores. Ego cum ipsis millies milliesque fui: et pene semper audire debni, quomodo illi gentem nostram uocitant Canes, porcos, asinos: et omnibus aliis uitupe-riis calumniisque proscindunt. 3. Lingua Germanorum est plena horrendis Blasfe-miis. In toto mundo non est gens, in qua audirentur tarn horrendae biasfeiniae, sicut audiuntur in Germanis. Et si inter alias Europae gentes sunt aliquae licet pau-ciores blasfemiae; illae quoque prouenerunt a Germanis. Quia Groti, Uandali, Longobardi, aliique Germani illas regiones inundarunt, et lingnas transformarunt. 4. Germanorum lingua est aptissima Ritmis, Cantio-nibus, Prouerbiis, Salibus, Scommatibus. Et Germani ingenio suo sunt Fabulosi, ac Loquacissimi, dicacissimi: calumniis, cauillis, contumcliis, fellitis salibus, et uiperi-nis sibilis semper plenissimi,: et omni cane mordaciores. Draconinas suas linguas ita incessabiliter uibrant; ut alias nationes, quae inter ipsos nel iuxta ipsos uiuunt, ad desperatioiiem cogant. Imo inter seipsos mordent se tanquam canes. Nulla pene est prouincia in ipsis, aut populus, quem non soleant aliquo fatnoso scommate no-tare ac irritare. Aliquos appellant Putentrager'os.1) Ali-quos norainant Kokskem2), Pectines gallinarum: quasi nimis uoluptuosos, ut qui putent se non posse uiuere sine cibo ex pectinibus gallinarum facto. De aliis narrant, quod Asinum deuorarint. Alios derident, quod Horologium solare sub tecto fabricarint. De aliis narrant, quod septem uiri unasti hastam tenentes ad ununi 1) ? 2) Klingt fast wie das englische coclc'8-comi). 293 leporem occidendum accurrerint. Alios appellant Tel-pellos1), id est rupices, de tali oppido. Ita Germani falsa scommata praedicant de suis propriis fratribus: et saepe blasf'emant ac acerrime, et ad mortem pugnant pro istis conuiciis. Sicut non pridem uisum suit exemplum Mos-quae: quando propter uocabulum Putentrager, milites in sloboda2) Germanica unum mercatorem publice fustibus percusserunt: et magnas lites excitarunt. Alias autcm gentes uocitant Barbaros, Satiros, Bestias, et aliis uitu-periis proscindunt. — De aliquibus narrant: quod ha-buerint aliquando regem Canem. Scilicet, cum diu non possent electores concordare de rege eligendo, tandem eoncluserunt, qui primus iutrauerit ad ipsos, ille sit rex, qualiscunque sit, dummodo sit uiuus. Intrauit canis uenaticus; et illi hunc coronarunt regem, dicentes: Co-ronemus eum: ipse scdeat in loco suo, et nos guberna-bimus. Et ita canis ille uno anno regnauit, ligatus ut sederet in trono, et regiis cibis nutritus. etc. — Pegae ciuitatis incolae uexantur, quod canem deuorarint seu canis assati pedem. Ilinc (aiebat quidam) ad 50 homines ego scio esse occisos. Et tandem ciuitas ipsa ad arma uenit ex eadem causa, et exusta suit: ut idem Seitz aiebat. 5. Germani supra omnes populos sunt deditissimi Demonolatriae siue impiis dcmonuin imposturis: Astro-mantiae, Grammatomantiae. Alchimiae et reliquae om-nigenae Magiae. Glim apud Graecos erant famosi magi Apollonius, Trasillus, Simon magus, et alii: et libri multi magici reperiebantur. Sicut legitur Actorum 19. 19, quod Efesi praedicante Paulo fuerint combusti libri 1) Tölpel. ^i) Dorf, Vorstadt. 294 lnagici, ad ualorein denariorum 50 millium. Postea au-tem, non solum apud Christianos, sed etiam in toto mundo non fuerunt tain f'amosi Magi, sicut fuerunt qui-dam apud Germanos: Quales fuerunt demones illi, Teo-frastus falso sic dictus, Faustus, Michael Scotus, et alii, et nostro aeuo quidain Campanus et Helmontiy: et duo Pseudoprof'etae, profetautes diem iudieii. ivTullibi ctiam habentur tot blasfemiaruin et hnpietutis libri et artifices, et societates, qui se appellant Fratres lioseae Crucis, quot sunt in sola Germania. Si libri tain cari essent, ut olim erant: non 50 millia denarioriun, sed pluries millena millia denariorum in Germania inueiiiretur pre-tium illorum. Carnifiees Germanorum pene omnes sunt, et publice soiuntur, esse magi. Saepius factuin est, ut quando debebant iudicio puniri magi, integrorum oppi-doruin ciues plurimi ct praecipui deprehensi fuerint esse magi. Hamburg! in Austria aliquando praecipui ciues fuerunt supplicio affecti. In Hamburgo maiore oinissuin suit aliquando iudicium: quia carnifex deterruit iudices, dicens: Si inciperent indicium f'acere, quod nullus esset finis futurus, antequam tota urbs desolaretur. In aliis quoque locis his siniilia contigerunt. Arces et domus diuitum hmumerae sunt obsessae spectris, ut nusquam alibi ita: unde signum est, ibi alchimistas, astromantes, aliosque demonolatros magos habitasse. In militia Germanorum niliil est frequentius, quam habere demoniaca amuleta contra anna. Gustauus ipse rex Suedorum ge-stabat gladium: cui incisae erant demonum inuocationes-In nostra j>orro dilecta patria Russia, per Astromantiam suam quae mala non eftecerunt isti demonis ministri? Cum Seino sub Smolensco suit quidam Germanus Maior Dam. Iste cum sua uxore ofierebat se, totiun exerci-tum facerc inuulnerabilem. Non suit ille tune punitus, 295 sicut fieri debebat, scd totum suum regimen turn fecit inuulnerabile. Hinc quid consecutum est? Non sunt uulnerati, nee occisi. Sed quam turpiter uicti? Quis-quis talibus artibus utitur, o nines in fine male pereunt. Sicut et regi Suedorum contigit, et aliis. Praeeique au-tem illi Germani, qui Metallicas ai'tes profitentur, et illi qui esse Ingeniarios appellant, plerique habent eommer-cium cum demonibus. Praeterea Boiarum Borissem Go-dunium Germani suis demoniacis uatieiniis incitarunt ad appetendum imperium. Hinc deinde consecutum est urbis Mosquae excidium, hinc totius regni desolatio. Nostro autem tempore quidam demon incarnatus, nomine Furman, praebuit unam ex praecipuis causis praesentis irae Dei contra hoc regnum, sicut alibi ostendimus. Idem demon in sua psendologia supra annum 10(18 con-scripta, scripsit, Ante salutarem Iesu Christi Domini ac Dei nostri natiuitatem contigisse quasdam certas stella-ruin conuentiones: et propterea facta esse, quae facta sunt in mundo per Christum. Per hoc demon iste inspirit hominibus tarn horrendam blasfemiam: quasi con-ditor stellarum, stellis esset subiectus. Quidam Taissa apud Krasniy lar ostentabat nostris legatis baculum, ex quo emittebat fumum et igneni. Ituiusmodi praestigias in pretio liabent Calmici, et reliqui Scitae. Habent si-niiliter in pretio Germani. Gollaniae in magna uene-ratione est quidam Lapis pseudoprofeticus. Apud Swarcenburgicos est quoddam idolum ferreum, quod ex capite emittit ignem. Apud ... est quoddam Cormi, ex quo qui bibunt, post horam uomunt. 6. Germani iinpudentissima audacia iactant se esse omnium gentium Fidelissimos, Constantissimos, et Vera-cissimos. Et tanien sunt Perfidissimi. Ipsi prouerbiis suis iactant ac praedicant suam fidelitatem: sed credat 296 illis qui uult decipi. Nos crediraus eos tamdiu esse fideles, quamdiu ipsis expedit. In mercando non attendunt exiguam rapinam. At in magna summa certissime de-fraudant, si possunt, et Falsis Monetis totum mundum defraud ant. Millies id opere ostenderunt in Russia: et non pridem ille, qui 40 millia rublorum ex tesauro im-peratoris accepta fraudulente retinuit: et postea ut fur-turn ' suum tegeret, auctor suit cudendae monetae aereae: sicut ab alio Germano hoinine mendacissimo narrari au-dirii. In proeliis autem, si contigit aliquando, aliis fu-gicntibus, ipsos non fiigere; id factum est non propter fidelitatem, sed propter Tarditatem ipsorum. Cum enim non possint fugere; necessitate coguntur in loco stare. At quando possunt proditionem faoere, non id omittunt: sicut multis luculentissimis exemplis id demonstrarunt. 7. Germani, si alicui homini ant populo male uolunt, et non possunt ei aliter no cere; utuntur contra ipsum iaculis Calumniae. Conscribunt libros infamatorios: et in illis pracdicant odiosissimas calumnias: ut per illas faciant hominern ilium mundo odiosum. Ita olim cum Magister ipsorum Luterus cepisset rebellare ecclesiaeRomanae, con-finxit ipse et postea alii multos mendaoiorum libros contra Papam. Ibi inter alia aiunt, 1. Papam esse Antichristum ilium ipsum, qui in sacris scripturis ucnturus esse praedi-citur: 2. aiunt Feminam quandam fuisse papam: 3. Papam qucmdam ex superbia pedibus conculcasse caput cuiusdam ipsorum imperatoris: etc. Has et alias manifeste impossibiles calumnias illi multis libris praedica-runt: et aliquando etiam imperatori nostro lohanni Ba-silidi in scripto porrexerunt. — Quando autem sua men-dacia contra Romanam ecclesiam detecta ac a toto mundo derisa fuisse uiderunt: serpentinas suas linguas et libros conuerterunt contra hoc gloriosum regnum- 297 Scilicet: Ut sanctam Iesu Christi iidem in odium addu-cerent; et ut suas impias hereses commendarent: multos libros Infamiarum de nobis conscripserunt, quibus pec-cata fidelium in immensum exaggerant (Uide sol. 112, num. 3. Et sol. 312, num. 7). Et multa falsa commi-niscuntur: in odium sanctae fidei. De Maledicis ipso-rura libris uide totum art. 9, sol. 107. Et refutationem nostram, articulo 10, sol: 110. 8. Germani totam gentem nostram Sclauinicam, et praecipue hoc gloriosum regnum, oderunt implacabili, aeterno, demoniaco odio. Acrius illi oderunt hoc regnum, quain ipsain urbem et pontificem Romanum: quia habent easdem, et plures impii sui odii causas. Tres autem sunt praecipuae odii et malignitatis Germanorum erga nos causae.l) 1. Maledicunt nobis Germani: Quia ipsi sint Ilere-tici, oderunt ueritatem et fidem ortodoxam. Idcirco: ut odiomm hominibus faciant fidem ortodoxam: omnibus ar-tibus demoniacis student odiosum facere populum ortodo-xum. Sicut hie immediate iam dixiinus. 2. Maledicunt nobis Germani: quia propter bona huius regni Statuta, nondum poterunt nos redigere in omnimodarn seruitutem; sicut redegerunt Ungarvs, CechoSj et Lechos: neque occupare hoc regnum, sicut occuparunt ilia regna. Et quia in Russia non possunt libere rur-sum deorsum ambulare, et oranes suas nequitias pera-gere: ideo maledicunt ac latrant. 3. Odii et mahdicentiae Germanorum causa est nostra Frugalitas, et Simplicitas uitae, quae paucis contenta est. Cum enim ipsi sint Luxuriosissimi supra omnem mensu- 1) Dies und das Folgende kommt im Texte wiederholt vor, gleich al« ob es der Autor seinen Lesern recht zu Gemüihe führen wollte. 298 ram (ut mox dicemus) non possttnt non odisse Frvga-litatem. Idcirco ut dissoluant salutaria statuta optimamque politiam huius regni: ut possint sursuin deorsum per hoc regnum libere uagari quasi per suas popinas: ut nos inducant in omnem luxuriam, dissolutionem, et insa-niam: ut nobis eripiant omnem honorem, et reputationem, et omnes substantias nostras, ao demum us eripiant regnum ipsum; sicut eripuerunt Ijechis et Ungaris: idcirco compomtnt contra nos Kussos odiosissima mendacia, et diabolicas calumnias, sine fine: quibus ipsi conantur nos Russos redd ere omnibus gentibus Contemptos, et Abomina-biles, plus quam canes mortvos; et Odiosos, plus qvatn demones. 9. Certe antiquus ille Jtostis veritatis et pater mendacity qui proprio nomine appeUatur Calumniator, serpen-tinis suis sibilis nunc uchementer affianit sua instrumenta pestilentiac: disponens, tit per ea contaminaret primo Honorem et Reputationem nostrae gentis; deinde autem ut omnem nostram bonam politiam, et populum orto-doxum omni heresum colluuie permisceret, skut iani fecit apud Lechos. Quippe isti homines a sancta lesu Christi fide alieni, et consequenter electa uasa diaboli; ut ueram fidem in odium deducant, et ut suas blasfemas impietates commendent; Peccata ortodoivorum supra omnem modum exagyemnt: fragilitates et lapsus fidehum in im-mensum amplificant: et in suis libris per mundum spar-gunt ae depraedicant. Antea contra ecclcsiam Koma-nam multis librorum plaustris debacchati sunt; in odium sanctae fidei; postremo uero contra gent em nostram (iti-dein in odium fidei) omnes maledicentiae tubas infla-runt; et tot am Europam Satins in nostrum nomen com-positis imphverunt. NuUi fabulosi Centauri, nutti Ciclo- 299 pes, nitlli demoncs turn focde de-pingi possunt, qnam illi nos depinxerunt* Sed quid est wirvm, si semis maledi-ctint, qui dominiim ipsum Iesum Christum suis impiis hcre-sibus blusfemunt^ Ipso Saluator hoc nobis j)raedixit: Si me persecuti suns, et vos perse quentur. Et odio crisis onuiifntfi hominibtis propter nomen vumm. Idcirco nobis non est opus ad ipBorum mededicta respondere: cum iam SaJuator ipse pro nobis respondent, dicens: Qui uestrum sine peccato est, iaciat primus in earn lapidem. Et alibi: Si ms cd'dpere festucam tie oculo fratris tui, eiice priits trabem de oculo tvo. Si Gennani hoc Domini praecep-tum considerarent, fortasse lentius contra nos baccha-rentur. 10. Nulli porro sermones satis exprimcre possunt, quatn perniciosum sit nostraj genti, et lmic glorioso regno, Gcrmanaruin caluiniiiarum uirus. Ipsi in suis popinis uociferantiir, et in pin rinds suis infcrnalibus libris wentiuntur ac pracdicaitt: linssos esse omnium mortalium hominum Imbellissiwos ac Uillissimos. Non esse uiros, non feniinas; sed canes mortuos, et fungos, et stercoribus uiliores. lianc ])estileutissiniam calum-niam ita in avis colloquiis ct libris depraedicarunt: et Lechis per onniia iam a se dementatis ita pevsnasernnt: vt etiam ipsi e and em infamiam crcdant esse uerain, et ubique cantent ac praedieent, et columnis marmoreis in-cidant, historiistjiie suis inscribant. Quippe Varsauiae erexerunt abominationem desolationis in columua uiar-morea: idolum Germanicac Superbiae: et Tropaem ig-nominiae suae. Pludra enim ilia super capita nostra erecta nihil aliud esse potest, quam aeterna ignominia totius gentis Sclauinicae. Hinc tota Europa calumnias de nobis credit: et gens nostra i)essime ubique contemm-tur: et omnis huius gloriosi Regni Honor ac Beputatio, 300 apud Europaeos, prorsus annihilata est: ct clementissimis nostris imperatoribus magna ubique in sermonibus et libris Europaeorum fit dedecoratio et ignominia. Non possum hie omittere, quin dicam: Quomodo ego unum quemdam ex Germanis insignem ac nobilem legionarium saepe saepiusque audiui, qualiter deierabat, animamque suam una cum corpore omnibus demonibus deuouebat, di-cens: Si decent Tartari in campo comparerent contra 300 Russos, quod omnes illi Russi condderent semimortui in terrain, seque permitterent concidi quasi rapas. Me idem midtoties deierahat: Russos non esse dignos, ut eos Sol illuminet, ut eos terra sustentet, ut eos pluuia irroret. Et quando ego obiiciebam: Quomodo ergo faetum est, ut Ru88i tria Tartarorum regna, Cazancnse, Astrachanense, et Sibiriensc per Dei gratiam ceperint? Quomodo Ma-maium Chanum bis ad internecionem ceciderunt? Quomodo a Suedis multas a,rces ceperunt? tune ille traso ob-mutescebat. Alter diaboli praeco in libro scripsit: Quod in una urbe Mosqua habitabant 700 millia uirorum arma ferentium, praeter aliam imbellem multitudinem: et quod hi omnes ab 800 Germanis et a 5 millibus Polonorum occisi fuerint. O portentum mendacii! In una tot bel-lis et obsidionibus antea afflicta urbe, reperiri 700 millia armatorum. 11. Antiquis temporibus Sardanapalus, Salomon, Sibaritae, et Epicuraei, erant insigniter uoluptuosi, ita ut ipsorum immoderatae luxuriae in prouerbium abiue-rint. At si nunc a mortuis resurgerent omnes Sibarita? et Epicuraei, „ et conspicerent Germanicas uoluptates; mirarentur ac faterentur, se a Germanis longe esse supera-tos. Germani enim sunt omnium hominumUoluptuosissinii. Nullus scrrao potest exprimere: Quales, et quam solicite praeparatae sunt ibi quotidianae epulae: Qui apparatus 301 lectorum: Qui lusus, qui cantus musici, quae saltationes, quae lasciuiae, quac mollitiae, quae ebrietates. Non cub ant in lectis, sed merguntur in plumis. Unicam toto anno agunt sacram Vigiliam, in nocte Natiuitatis Domini: et tune qui cogitant ire ad ecclesiam, cartis ct aliis lu-sibus transigunt illas horas, quousque pulsantur cam-panae ad ecclesiam. Non surgunt ante lioram prandii: et de lecto prosiliunt immediate ad epulas, et ad iocos. In uestimentis, in equis, in curribus, et in omni alio ipsorum apparatu, talia sunt ornamenta, tales figurae, tales lasciuiae, mollitiae, et uarietates, quales nullius al-terius populi mens excogitare potest. Si in Gallia aut alibi forte aliquid lasciuum, ludicrum, leue, aut luxurio-sum excogitatur: mox accurrunt Germani, et illud soli-cite imitantnr. Domus ipsorum ad summam uolupta-tem sunt factae. Pauimenta domorum marmorea assidae lauari iubent, et accuratius ea obseruant, quam altaria. Omnes Europaei, praesertim Itali, Galli, et Hispani, prouerbiis notarunt Germanorum ebrietatem. Germani quippe potant ad musicam, ad sonitum tubarum, ct ad strepitum bombardarnm. Perpetui sunt in potando et bacchando. Uinum saccharo miscent. Calices uitreos, prae insolentia, post epotionem per fenestras proiichmt. ■Quis porro cxplicarc, imo quis credere poterit exqtiisi-tas ipsorum lasciuias? Caupones in popinis, in uariis cameris tenent multas imagines sub nomimbus Sibilla-rum: quae imagines singulae repraesentant ad uinum singulas meretrices. Has praesentant hospitibus ad eli-gendum, et singularum diuersa pretia indicant. Qui-dam pictor depinxit singulas gentes in propriis ipsorum habitibus: Germanum autem depinxit nudum, cum frnsto panni sub axilla: quia Germani singulis annis mutant uestitum. Abrumpanus tandem sermonem. Nullus enim 302 esset finis uerbornm: si uellemus persequi Uoluptatcs ipsorum; et quac ac qualia damua et dedecora ipsi no-bis f'aciant. Satis nobis est, breuibus uerbis indieasse Ingenium ac naturam ipsorum. Uide fol. 15(1. n. ,'}. 4. et fol. 112. 5. 12. Omnium gentium Filautissimi, Inuidissimi et In-hospitalissiuü sunt Germani. Russus, Lechus, aut quis-cunque Sclauinus, mercator, miles; aut cuiuscunque con-ditionis homo, si ad Germanos vienerit; ille certissime aut peribit, aut fortunis suis priuabitur, et ad egestatem iniseriamque redactus, cum uerecundia domuin redibit. Innumeri Germani inter Kussos, Lechos, et reliquos Sclauinos possident magnas diuitias, et summos honores: usque adeo regalem dignitatem: et uhiunt suis moribus et legibus, in summa übertäte et honore. Nullum autem Sclauinici generis hominem qizö hactenus auditu cojnio-scere potui: qui mercando, militando, aut per aliam in-dustriam, apud Germanos mediocrem aliquem apum aut reputationis gradum consecutus esset. Omnes nostrates, qui illuc abeunt; ob Puncturas Scommatum, et ob f're-quentes exinde Monomachias, ob Germanorum Fraudes et uexationes in agendo, ob uenenum, et ob magiam, aut uitam ainittimt, aut aliter ad desj)erationein cogun-tur. Quid loquor de nostratibus? Etiarn sapientiores Europae populi, Itali, Hispani, et Gralli pamm ant nihil apud Germanos lucrantur. Plurimi Germani apud illos sunt diuites, potentes, atque adeo reges in Ilispania hoc tenipore. Apud Germanos autem rarissimi apparent ex istis gentibus uiri diuites. Postremo Germani et Mendicos non admittunt ad suas urbes sine examine: et admissos non diu hospitari permittunt. Adeo elee-mosinam pauiteribus inuident. Cum igitur Germani sint Herctici, et omnium Euro- 303 pnearum Heresum inuentores ac fabri: cum sint Super-hissimi, Blasfemissimi, Loquacissimi et Mordacissimi omnium gentium: cum sint deditissimi Astromantiae, Alchimiae, Fisiognorniae, et omni reliqiue Deinonolatriai: cum sint Perfidissimi in bellis, Fraudatores in comrner-ciis, Infamatores et Calumniatores uirulcnti in libris: cum sint omnium hominum inaxime Uoluptuosi, Ebriosi, Epicurrei et Sibaritae: cum sint inuidissimi et Inhospi-tales: cum gen tern nostram iurato, aeterno, diabolico odio prosequantnr: cumque Honorem et Reputationein . nostram apud omnes gentes turpissime odiosissimeque coinquinarint: consequens est, quod nos nobis a conuer-satione Gcrmanorum, plus quam ab omni lupo, dracone, et demone, can ere debeamus. Demon enim est mille artium artifex: et omnibus temporibus inducit homines in uarios ac nocuos errores. Nullus est numerus, nul-lus finis, fraudum ipsius. Pessime ergo et Perniciosis-sime errant, et ab ipsomet demone in fraudem inducti sunt illi, qui dicunt: Omnes hereses iam esse definitas et recensitas in Conciliis. Habet enim demon alias iji-nurneras frandes, quac misqiiam in sanctissimis Conci-liis expresse nominatae leguntur. Pi'aecipua autem una eius fraus estr Quod per populos Ingeniosos et Sapien-tes, solet in errorem trahcre alios populos rudiores. Ita olim per Graecos seducebat reliquas gentes: hodie se-ducit per Germanos: qui (sicut praediximus) sunt omnium nouissimarum heresum fabri. Ueber die Är b eiter asso ci ati onen Ml Gouvernement Iaroslaw. (Schreiben an den Herausgeber der „Russischen Unterhaltungen". Russische Fragmente. II. 20 Es scheint, daß jetzt auch die Gegner der „Russischen Unterhaltungen", welche sich so lange über die „russische Anschauung in der Wissenschaft" lustig gemacht, endlich doch erkannt haben, daß unser bäuerliches Gemeindewescn mit feinem Gemeindegrundbesitz, in die Wissenschaft der Nationalökonomie eine neue, originelle ökonomische Ansicht einführt, welche über den geistigen Horizont der westeuropäischen Denker hinausgeht. Die „Russischen Unterhaltungen" können sich über das Erscheinen vieler neuer Factoren aufrichtig freuen, welche, obgleich sie nicht wagen, die Richtigkeit der von den „Unterhaltungen" aufgestellten Thesis offen anzuerkennen, nichtsdestoweniger die angeregte Frage in ihrer Gcistesrichtung bearbeiten. Auch das bringt dem Ziele näher. Es handelt sich nicht darum, wem die Ehre des Siegs zuerkannt wird; sondern es handelt sich um die Sache, um den Triumph der Wahrheit selbst. Hierdurch ist jedoch die Aufgabe der russischen Unterhaltungen noch nicht erschöpft. Dieselben müssen auf dem begonnenen Wege fortschreiten und das russische Ge-meindepnncip in allen seinen Erscheinungen verfolgen. Aus diesem Zweck halte ich es für nothwendig, Ihrem Journal und durch dasselbe allen unsern Staatsökonomen ein kleines Muster von der Arbeiterassociation im jaroslawischen Gouvernement borzuführeu, mit welcher ich mich in den Jahren 1851—5>2 persönlich bekannt zu machen Gelegenheit hatte. 20* 308 Ungefähr zehn Werst von Iaroslaw, auf der Straße nach Vologda, liegen in nicht weiter Entfernung voneinander zwei Erbgüter, von welchen eins der Fran von Morkow und das andere der Fürstin C. P. Obolenskij gehört. Ersteres besteht aus den Dörfern Iwankowo und Poltschaninowo und aus dem Kirchdorf Ponomarewo, das zweite — aus den Dörfern Philin und Podwjäsnowo. Auf den Erbgütern leben etwas über 400 Seelen; beide zahlen Obrok und stehen deshalb in keinen weitern Beziehnngen zu den Gutsbesitzerinnen. Ein jedes Erbgut wird durch einen Burmistr verwaltet, welcher auf der gemeinsamen Versammlung der Dörfer, aus welchen das Erbgut besteht, gewählt wird; in jedem Dorf wird dann nach dem Aussftruch einer besondern Gemeindeversammlung eines jeden Dorfs zur Unterstützung des Burmistr noch ein eigener „Starschina" oder „Nettester" bestimmt. Sowol der Burmistr als die Aeltesten werden auf unbestimmte Zeit gewählt oder, nach der den Bauern eigenen Ausdrucksweise, „solange die Gemeinde mit ihm zufrieden ist". Im Sommer beschäftigen sich die Bauern mit Getreidebau, im Herbst und Winter — sind sie Tischler und Zimmerlente, welche Beschäftigung ihnen auch den Hauptertrag abwirft. Unter der Zahl der zu der Tischlerindustrie gehörenden Gegenstände ist die Verfertigung hölzerner Kisten besonders wichtig, welche die Handelsleute zum Aufbewahren und zur Verpackung von Branntwein, Blei' weiß, Mennige und anderer Farben, sowie von Wachs- und Talglichtorn, von Taback u. s. w. nöthig haben. Niemand würde sich wol wundern, ja es würde im Gegentheil jeder die Sache ganz natürlich finden, wenn einer der reichern Bauern die Anfertigung der Kisten in Lieferung genommen und dann seinerseits die Arbeit an die übrigen Bauern vertheilt und dieselben für sich um einen sehr geringen Preis hätte arbeiten lassen; oder wcnn die Kisten an die Kaufleute von einigen freiwilligen Artells (Genossenschaften) geliefert 309 würden, welche, durch eine gegenseitige Concurrenz die Preise auf eine äußerste, ihnen nachtheilige Billigkeit herabgedrückt hätten. Allein die von uns erwähnten Dörfer sind anders organisirt. Um einem jeden das Necht anf die Arbeit und den gesetzlichen Verdienst zu sichern, der hinreichend ist, um den Obrok zu bezahlen, sowie ihn vor Armuth zu schützen und ebenso um die für den Armen schädliche Concurrenz mit dem Reichen fern zn halten — haben die Bauern der beiden Erbgüter unter sich eine Verbindung geschlossen und bei sich eine ganz eigenthümliche Ordnung eingeführt. Dieselbe ist deshalb bcmerkenswerth, weil sie uns eine Probe von der Anwendung des Gemeindeprincips auf die Handwerksindustrie gibt, nicht aber in der Form des gewöhnlichen Genossenschafts-oechältnisses, sondern im Sinne der Tjagloorganisation, eine Art Tjaglovertheilung (Pflichtvcrtheilung), nur nicht von Grund nnd Boden, sondern von Arbeit und Verdienst. Doch urtheilen Sie selbst. In diesen fünf Dörfern werden für verschiedene Kaufleute und für verschiedene Plätze alle Arten von Kisten angefertigt, nnd zwar jährlich gegen 150000 StüÄ, das Tausend zu 12 Rubel Silber oder etwas darüber'); die Burmistrs der beiden Erbgüter erholen vorläufig von den Kaufleuten approximative Angaben über die Menge der während einer bestimmten Zeit ihnen nothwendigen Kisten, unterhandeln über den 1) Und zwar: Kisten für Branntwein gegen 5000, das Stück zn 20—21 Kop. Elb. ,, „ Talgkcrzen gegen 25000. ,, ,, ,, 16 „ ,, „ ,, Wachskerzen gegen 4000, ,, ,, ,, 16 ,, „ „ „ Bleiweiß gegen 60000, „ „ „ 4 „ „ „ „ Mennige gegen 10000, „ „ „ 5 „ „ „ Taback gegen 10000, „ „ ., 7 „ „ „ Confect gegen 10000, „ ,, ,, 6—10 „ „ Verschiedene andere, worunter auch von Schreinern verfertigte Särge 25000 Stück. 310 Preis einer jeden Sorte und bestimmen dann im Herbst, nach Beendigung aller Feldarbeiten, den Tag nnd den Ort der allgemeinen Zusammenkunft für alle fünf Dörfer. Ans der Versammlung werden den Banern die Namen der Kaufleute, mit welchen sie vorher schon zu thun gehabt, sowie sämmtliche Bedingungen des abgelaufenen Vertrags vorgelesen, es wird genau erörtert, wie viel Gewinn ein jedes Dorf erhalten nnd wie viele Kisten nnd wem es dieselben geliefert, uud endlich wird bekannt gemacht, wer von den Kanflcuteu ueuc Bestellungen gemacht und welcher Art dieselben sind. Nachdem die Gemeinde die Preise in Betracht gezogen, nimmt sie dieselben an, wenn sie ihr annehmbar erscheinen, oder es wird mit den Kaufleuten von neuem unterhandelt, was übrigens fast nie geschieht. Die Kanflente haben mir versichert, daß die von den Bauern gemachten Preise immer der Billigkeit entsprechend und mäßig gehalten sind. Nachdem nnn die Gefammtgemeinde-Vrrsammlnng O^ii^M cx»u'l,), wie sie sich selbst nennt, den ganzen Umfang der Arbeit bemessen hat, bestimmt dieselbe und zwar mit der möglichst strengsten Unparteilichkeit die Lieferung für diescu oder jeucu slanfmann nach den ein-zelmn Dorfern, z. V. die Lieferung der Confectkiften fnr den Kaufmann Garzow überweist sie dem Dorfe Philin — die Bleiweißkisten für deu Kaufmann Sorokin dem Dorfe Pod-wjäsnowo u. f. w. Hierbei beschränkt die Gemeinde (»lip-b) die Arbeit des Dorfs nicht auf eine gewisse Anzahl von Kisten, denn diese Anzahl ändert sich nicht selten, sondern sie bringt die approximativen Zusammenstellnngn! der Kaufleute, die Beispiele der frühern Jahre, sowie den von einem jeden Dorfe nach dem verflossenen Vertrag genommenen Gewinn, sowie die Anzahl der Tjaglos in Nechuuug. So wird z. V-auf der allgemeinen Versammlung bestimmt, die Lieferung der Kisten für die Kaufleute Scrcbrennikow nud Solowjew dem Dorfe Iwankowo znzuwciftn; nachdem aber dieses Dorf, welches, 311 wir wollen annehmen, aus 40 Bauern besteht, in dem verflossenen Jahre einen größeru Verdienst gehabt, als das Dorf Poltschaninowo, welches für den Kaufmann Sorokin gearbeitet, so läßt die Gemeinde dem Dorf Iwankowo noch zwei Tjaglos von dem Dorfe Poltschaninowo zutheilen; auf diese Weise fällt der Verdienst von dem Kaufmauu Sorokin einer geringern Zahl von Tjaglos anheim und wird dadurch deren Einnahme mit den Banern ins Gleichgewicht, welche für die Kaufleute Serebrennikow und Solowjew arbeiten, üldem der von denselben fallende Verdienst dann unter eine größere Zahl von Arbeitsantheilen vertheilt wird. — Es ist sonach Sache der allgemeinen Versammlung, die Arbeit gleichheitlich auszutheilen; die einzelne (Detail-) Vertheilung, sozusagen im Innern eines jeden Dorfs, nämlich die Vertheilnng der ihm zufallenden Arbeiten und Einnahmen, wird dem Dorfe felbst überlassen, welches wiederum auf einer speciellen Gemeindeversammlung eine gleichheitlichc Repartition unter seinen Bauern vornimmt und zwar nach dem nächsten Befunde der persönlichen Eigenthümlichkeiten eines jeden Tjaglos, sowie anderer lokalen und zufälligen Umstände. Auf der allgemeinen Versammlung wird nach der Wahl aller fünf Dörfer ein Lieferant (Postawschtschit) gewählt; demselben liegt die Verpflichtung ob, die Arbeiten zu überwachen (welche immer zu Hause, nicht außerhalb des Dorfs vorgenommen werden müssen), dieselben ill gehöriger Güte gefertigt, zur bestimmten Zeit an die Kaufleute abzuliefern, die schlecht gearbeiteten Kisten ansznmustern nud keine ungerechte Ausmusterung von selten der Handelsleute zuzulassen. Die Satzung (Bestimmung) der allgemeinen Gemeindeversammlung wird immer durch einen schriftlichen Vertrag oder Act festgesetzt, selbstverständlich auf einfachem Papier und zwar ohue Auzeige bei dem Makler, soudern nur mit der Unterschrift der Bnrmistr, der Aeltcsten und Bauern beider 312 Erbgüter und mit dem Gutssiegel versehen. Nach der Versicherung der Kaufleute wird der Vertrag heilig gehalten. Keiner von den Bauern hat das Necht, die Preise zu erhöhen oder herabzusetzen, oder die Kisten mit Umgehung des Betreffenden einem dritten zu liefern, noch die Anfertigung der Kisten ohne Vorwissen der Gemeinde in Accord zu nehmen. Eine etwaige Verletzung des gemeinschaftlichen Vertrags wird mit einer Geld- oder Körperstrafe geahndet. Allein diese Maßregel, welche einem jeden Bauern, sowol dem armen als dem reichen, eine gleichmäßige, bestimmte, mäßige und dauerhafte Einnahme zusichert, erstreckt sich nur auf diesen einen Zw?ig der Schreinerindustrie, d. h. auf die Verfertigung der Kisten, an welcher, wegen der Leichtigkeit der Arbeit, sowol das Weib als die Kinder des Bauern theiluehmen können. Niemand ist es verboten, im Fall er Zeit und Mittel besitzt, sich auch mit der Erzeugung anderer Arbeiten ganz unabhängig von der Gemeinde zu beschäftigen, z.B. mit Anfertigung vou Möbeln, Geräthschaften, Rädern u. s. w.; er kaun ganz auf feinen Antheil an dem Kistenlieferungsaccord verzichten ober denselben irgend an einen andern aus der Gemeinde verkaufen, wenn er die Gemeinde nur für die Entrichtung des Obroks sicher stellt. Es finden vielleicht einige, daß eine derartige Verbindung einerseits die Freiheit der Arbeit beeinträchtigt und sie der zur Entwickelung nothwendigen Concurrenz beraubt, andererseits aber der Faulheit und dem Müßiggang Vorschub leistet, indem sie es eiuem jeden frei stellt, fich der Arbeit zu ent-schlagen und das Geld für den Verkauf seines Antheils umsonst zu empfange». Allein eine solche Meinung wäre vollkommen unrichtig. Diese Verbindung ist keine geschlossene privilegirte Corporation, welche alle ihr nicht Angehörigen 313 des Rechts auf Arbeit beraubt; ganz abgesehen davon, daß andere benachbarte, größere und kleinere Dörfer die volle Möglichkeit genießen, sich mit demselben Gewerbe zu beschäftigen, so hat auch jedes einzelne Glied der Verbindung das Recht, nach eigenem Gutdünken zu arbeiten und sich zu bereichern — nnr in einem einzigen Theile seiues Gewerbes verzichtet er freiwillig auf das Monopol, beschränkt freiwillig seine persönlichen Rechte zum Vortheil der ganzen Gemeinde und stellt selbst zwischeu sich und seinen Mitgenossen ein gewisses Gleichgewicht her. Bezüglich der Concurrenz berufen wir uns auf die Kaufleute, welche diese Anordnung der Bauern einstimmig für sich in hohem Grade vortheilhaft und beqnem halten. Die solidarische Haftnng der Gemeindcglieder sichert die richtige Einhaltung des Contracts, während die gemeinschaftliche Arbeit die Production selbst billiger macht. So kauften z. B. im Jahre 1850 die Bauern aller fünf Dorfgemeinden zusammen einen ganzen Holzschlag, der ihnen daS Material zur Anfertigung der Kisten lieferte. — Was die Faulheit uud deu Müßiggang betrifft, so bietet die moralische Verpflichtung der Gemeinde allerdings einem jeden die Mittel zur Eristenz, das Recht anf Arbeit und auf Verdienst; allein der Faule wird trotzdem nicht wohlhabend und wird immer durch seine eigene Faulheit bestraft, worau nur er allein, nicht aber die sociale Einrichtung Schnld trägt, wie dies fast allenthalben in Westeuropa der Fall ist. Uebrigens soll diese Gewerbsverbindung (Handwerksassociation) erst seit 15 Jahren, nicht länger, existiren. In einem der ursprünglicheu schriftlichen Contracte wnrden alle Regeln und die ganze, von den Bauern getroffene Einrichtung festgesetzt. Leider waren wir nicht im Stande, diese vollständige, schriftliche Satzuug zu erhalten, uud die, welche wir abschrieben, enthält, als eine spätere, keine detaillirteu Regeln, 314 deren Wiederholung übrigens für die Bauern auch völlig überflüssig wäre. Wir lassen hier eiuen Vertrag, der am 12. November 1851 aufgesetzt worden, folgen; wir geben denselben vollständig wieder, ohne auf die etwas fehlerhafte Fassung weiter Rücksicht zu nehmen: „Wir Unterzeichnete, der der Fürstin Obolenskij und der Frau von Morkow gehöreudm, im Gouvernement Iaroslaw und in dcm gleichnamigen Kreise gelegenen Dörfer Pouoma-rewo, Podwjäönowo, Philin, Iwaukowo und Poltschaninowo haben uns auf einer allgemeinen Gemeindeversammlung beider Erbgüter versammelt. Gegenwärtig sind sämmtliche Bauern und die erbgüterlichen Burmistr: nämlich Sossim Demidow aus dem Dorfe Philiu der Fürsten Obolenskij, sowie die Ael-testen des genannten Erbguts und Dorfs Sawa Merkurjew Schustow, und Alexc'i Nil'olajew Karakin aus dcm Dorfe Podwjäönowo und der Burmistr Merknl Pawlow ^issentow des zu dem Erbgute der Frau von Morkow gehörenden Dorfes Iwankowo, sowie die Nettesten der Dörfer Ponomarewo, Iwaukowo und Poltschauinowo — nämlich Ossip Wassiljewitsch Gawril Timofejcw und Pawel Athanasjew Schicharew, sowie sämmtliche Baueru beider Erbgüter. „Nachdem wir uns zu einer allgemeinen Gemeindeversammlung eingefunden, haben wir unter uns nachstehenden Vertrag vereinbart und die Kaufleute in Bezug auf uuser Kistengewerbe also vertheilt: „Der Burmistr Sossim Demidow und die Aeltesten res Erbguts der Fürstiu Obolenskij sowie die Bauern des ganzen Erbguts übernehmen die Vcrfertiguug der Aleiweißkistcn nach Iaroflaw, und zwar l) an den Kaufmann Sorokin; 2) au Urjädow; 3) für die Lichterbudeureihe; 4) für die (Hülsen-friichte-) Victualienbudenreihe; für diese habeu sie Bleiweiß-kisten zu liefern. 5) Fässer für Vlaustärke und 6) für 315 Mennige werden nach Iaroslaw an die Kaufleute Dhlew, und zwar mit Lack angestrichen, und Korelin und Gnusdew abgeliefert. „Der Burmistr Merknl Pawlow und die Aeltesten sowie sämmtliche Bauern des Erbguts der Frau von Morkow haben die Verfertigung von Bleiweißkisten nach Iaroslaw 1) für Bachromjäjew; 2) für Olowjanitschnikow; 3) für Ugriumow zu übernehmen. Die zur Verpackung von Flüssigkeiten bestimmten Kisten haben ebendieselben nach Iaroslaw an die Kaufleute Soboljew, Screbrennikow, Elzow, Balow, Matwe-jewski und an die übrigen Kaufleute abzuliefern, welche Branntweinkeller besitzen; alle für den Transport bestimmte Kisten sind an das Branntweincomptoir, die bronzirten, die Confcct- und Tabackskisteu aber gegen Bescheinigung in das Magazin abzuliefern. Die Lichter- und Cichorienkisten sind ebenfalls von den Morkow'schen Bauern zu liefern, und zwar nach Kostroma, nach Romanow, nach Poschechonje, mid uach dem Dorfe Davidkowo; auch die Tischlerfärge kommen auf den Morkow'schen Antheil. „Nach Nostow, uach Uglitsch und in die Handelsdörfer Po-rätschje, Wofchtschaschiukowo und Welitoje Selo sind von beiden Erbgütern je nach der Vertheilung der Kaufleute und der Ausgleichung der Fuhren, Lieferungen zu machen, und zwar nach dem Verhältniß der in beiden Erbgütern bestimmten Tjaglos. Das Maß ist bei allen gleich zu halteu, nicht größer und uicht kleiuer, nämlich 1 Arschin in der Länge, 10 Werschok in der Breite und 7 Werschok iu der Höhe. ^) „Au fremde Kaufleute dürfeu nach diesem Vertrag keiue Kisten geliefert, auch darf kein Hausirhandel mit denselben getrieben werden; sollte aber dennoch jemand solche unerlaubte 1) Wahrscheinlich bezieht sich dieses Maß nur auf jene Kisten, welche in diesem Punkte erwähnt sind. 316 Lieferungen machen, so wird eine Versammlung beider Erbgüter anberaumt, wo der Uebertreter von Gemeinde wegen verurtheilt und strenge bestraft wird; es wird daher bestimmt, daß der Uebertreter unweigerlich um 10 Rubel zu bestrafen und ihm dieses Strafgeld von seiner Obrokleiswng ohne Gnade abzuziehen ist. Dieser Pertrag wird auf drei Jahre, nämlich für die Jahre 1852, 1853 und 1854 bestätigt unter Beifügung der herrschaftlichen Siegel und unserer eigenen Unterschriften. Dieser Vertrag ist vor Gott und unter uns selbst heilig und unverbrüchlich zu halten." Dieser Act enthält sozusagen nur die rohen Umrisse des Vertrags; die übrigen Einzelheiten werden mündlich bestimmt, entweder auf der nämlichen oder einer zweiten Versammlung, wie dies schon aus den Worten hervorgeht: „Die Lieferungen der beiden Erbgüter haben je nach der Vertheilung der Kaufleute oder nach der Ausgleichung der Fuhren zu geschehen, und zwar nach dem Verhältnisse der in beiden Erbgütern bestimmten Tjaglos." Unter der Zahl der Theilnehmer an dieser Verbindung befand sich im Jahre 1852 und befindet sich vielleicht auch jetzt noch, ein freigelassener Gauer ans einem dieser Dörfer mit Namen Sorokin. Er war früher Bnrmistr, kaufte sich aber später los und erhielt mit Zustimmung der Gemeinde seinen Antheil an der Nutznießung des Bodens und an der Verfertigung der Kisten, wobei er dem Gutsbesitzer den Obrok gleich den übrigen Bauern leistet. Iwan Alsatow. Gras Markow. Ein Veitrag zur Geschichte der russischen Diplomatie. Eeit Peter der Große mit eiserner Hand Rußland nach Europa vorgeschoben, zu gleicher Zeit sein asiatisches Hinterland erweiternd und dem rasch wachsenden Ricsenstaat mit weitsehendem Blick seine Ziele steckend, die er — unbeirrt durch den Wechsel der Negierungen — langsam, aber ausdauernd und hartnäckig verfolgt, ist es einzig und allein seine Diplomatie gewesen, durch welche Rußland sich andern Völkern überlegen gezeigt hat und der es seine wichtigsten Erfolge verdankt. In Kunst und Wissenschaft, welche nur da recht gedeihen, wo mau sie um ihrer selbst willen pflegt und, um die Göttin freiend, nicht das Weib sucht, sind die Russen bis heute weit hinter allen Culturvölkeru zurückgeblieben; in der Diplomatie hingegen stehen sie allen voran. Solauge die Censur und drückende Verhältnisse aller Art freie Forschung und ein reges Leben unmöglich machten, war es ganz natürlich, daß viele der bcgabtern Geister in Rußlaud sich vorzugsweise der diplomatischen Carriere zuwendeten, welche ihnen am meisten Aussicht bot auf Geuuß, Einfluß und Belohnung, uud ihrem Ehrgeiz die gauze Welt öffnete. Dazu kommt, daß die Russen für das, was den Diplomaten ausmacht, vou Haus aus eine ganz besondere Befähigung mitbringen. 320 Sie eignen sich leicht fremde Sprachen an, sind feine Beobachter, früh geübt in Verstellung und Selbstbeherrschung, verschlagen, gewandt uud vou wunderbar schneller Auffassung schwieriger und verwickelter Verhältnisse. Diesen persönlichen Vorzügen dient die große traditionelle Politik ihres Landes, deren Grundgedanke und Ziel immer dieselben bleiben, zugleich als Hebel uud Rückhalt. Außerdem siud sie, wie zweifelhaft auch sonst ihre sittlichen Grundsätze sein mögen, durchweg glühende Patrioten, denen Glanz, Ruhm und Größe ihres Vaterlandes über alles geht. So erklärt sich leicht ihr Uebergewicht über andere — besonders über deutsche Diplomateu, die selteu recht wissen, was sie eigentlich sollen und noch seltener im Stande sind, etwas energisch durchzusetzen, weil ihnen aller einheitliche nationale Rückhalt fehlt. Am einleuchtendsten zeigt sich das bei der Betrachtung der Geschichte des letzten Decenniums des vorigen und des ersten Decenniums dieses Jahrhunderts. Wir wollen die Einzelheiten jeuer für uus so schmachvollen Zeit, die wol jedem guten Dentschen tief genug ins Gedächtniß gebrannt ist, hier nicht auffrischen, sondern heute die Aufmerksamkeit uuserer Leser auf einen russischen Diplomaten lenken, der unter Katharina II. eine der hervorragendsten Rollen spielte. Dieser Diplomat ist Graf Arkady Iwano-witsch Morkow'), ein Mann, der während der letzten Decen-nien des vergangenen Jahrhunderts im Vordergrund stand, dessen Name jetzt aber beinahe vergessen ist. Es wird seiner oft genug von Schlosser, Häusser, Sybcl sowie deu französische« Historikern der Revolutionszeit Erwähnung gethan, allein es fehlte bisjetzt an zuverlässigen biographische« Notizen über ihn, sowie an einem zusammenfassenden Bilde seiner staatsmännischen Thätigkeit. 1) In Deu tschland gewöhnlich ausgesprochen Markow. 321 Diesem Mangel ist in neuerer Zeit abgeholfen durch eine umfangreiche Arbeit von Peter Bartcnjew, der bei seinen Aufzeichnungen unmittelbar aus den Quellen (officiellen Acten-stücken und Familienpapieren) schöpfte und seinen Gegenstand mit liebevollem Fleiße behandelt hat. Obwol er selbstverständlich ganz auf dem russischen Standpunkte steht, scheint er es doch mit besonderer Sorgfalt vermieden zu haben, Dinge hervorzuheben oder auch nur anzudeuten, welche das deutsche Gefühl verletzen könnten, wozu sich, nebenbei gesagt, ungesucht Veranlassung genug geboten hätte, denn in den Depeschen, welche Morkow an die preußische Negierung richtete (während ihr Vertreter in Petersburg, Gtaf Goltz, so gut wie gar nicht beachtet wurde), kommen so starke, den König persönlich beleidigende Ausdrucke vor, daß ein schlichter Unterthanenverstand es heute noch nicht begreifen kann, wie ein Nachfolger des großen Friedrich sich dergleichen ruhig gefallen lassen mochte. Doch, wie gesagt, der russische Historiker hat diese Dinge mit großer Delicatesse übergangen, und wir wollen sie deshalb hier auch nicht erörtern, sondern uns darauf beschränken, einen möglichst erschöpfenden Auszug aus den Aufzeichnungen des Herrn Bartcnjew zu gcbeu. Der Gegenstand ist interessant genug, um die Aufmerksamkeit jedes gebildeten Lesers zu fesseln, und zugleich wird dem Historiker von Fach hier neues Material zur Geschichte der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts geboten. Die Einleitung, in welcher der Verfasser nachweist, daß das Geschlecht der Morkow in Rußland schon seit 400 Jahren eine historische Bedeutung habe, können wir füglich überspringen, da die darin gegebenen Details für deutsche Leser ohne Interesse sind und Herr Bartcnjew das ausführliche Ge-schlechtsregistcr der Morkow hauptsächlich nnr deswegen zn Tage fördert, weil er annimmt, daß die fremden Historiker, und besonders Schlosser (in seiner „Geschichte des 18. Iahr- Nussische Fragmente. II. I1 322 Hunderts"), durch ihre Angabe, Morkow sei aus niederm Stande entsprossen (Schlosser sagt, er habe sich aus dem Bauernstande zum ersten Range emporgeschwungen, VI, 126), einen Makel auf den Namen des russischen Staatsmannes werfen wollten. Wir können Herrn Bartcnjew versichern, daß seine Vermuthung eine völlig irrige ist, denn obgleich das Zauberwort: „1^3, Lai-riöi-6 0nv6i-t6 KUX tll1kn8!" wodurch der erste Napoleon so mächtige Erfolge errungen, in Deutschland bis heute nur ein frommer Wunsch geblieben, so gibt es doch keinen nennenswerthen deutschen Historiker, der die Erfüllung dieses frommen Wunsches nicht von ganzem Herzen ersehnte, und wenn bei uns z.B. von einem Scharnhorst gesagt wird, sein Vater sei ein hannoverscher Bauer gewesen, so geschieht das nur, um die Verdienste des Sohnes in ein desto helleres Licht zu stellen. Graf Arkady Iwanowitsch Morkow, geboren zu Moskau am 6. Januar 1747, stammte aus einer altrussischen Adcls-familie, die aber wenig mit Glücksgütern gesegnet war, sodaß sein Vater ihm nnd seinen beiden Brüdern, Nikolai und Irakly, nur mit Noth und Mühe cine standesgemäße Erziehung konnte zu Theil werden lassen. Es sei hier gleich erwähnt, daß der jüngere dieser Brüder, Irakly Iwanowitsch Morkow, als Zögling und Rnhmesgenosse Suworow's ebenfalls eine hervorragende Rolle spielte und irrthümlicherwcise häufig mit Arkady Iwanowitsch verwechselt wird. Der Mortow, mit dem wir es hier zu thun haben, kam früh aus dem Vaterhause auf das Gymnasium zn Moskau und bezog dann die daselbst neugegründete Universität, wo er sehr fleißig feinen Studien oblag, mehrere Preise gewann und sich besonders als ein feiner Kenner der lateinischen nnd französischen Sprache hervorthat. Die letztere beherrschte er im Reden und Schreiben wie seine Muttersprache. Alle die zahlreichen, französisch geschriebenen Actcnstücko, Briefe, politischen 323 Memoiren und Berichte, welche von ihm vorliegen, sind wahre Musterstücke des Stils und guten Geschmacks. Er entwickelte früh einen scharfen Verstand, eine schnelle Auffassungsgabe, ein lebhaftes Ehrgefühl und eine große Gewandtheit der Rede, mit schlagenden Reparties. Seine in gedrückten Verhältnissen verlebte Jugend hatte ihn nicht, wie es bei schwachen Charakteren der Fall zu sein pflegt, gebeugt und eingeschüchtert, sondern angespornt, sich in die Höhe zu arbeiten, zugleich aber seinem Geiste eine etwas herbe und bittere Beimischung gegeben. Ohne Mittel von Haus, klein und unansehnlich von Gestalt, das Gesicht von Pockennarben entstellt, sah er sich, nm vorwärts zu kommen, lediglich auf seine Kenntnisse und Arbeitstüchtigkeit augewiesen. Um aber diese am rechten Orte geltend zu machen, bedürfte er mächtiger Gönner, denn er war klug genug, einzusehen, daß sein Acußcres ihn wenig bei der Kaiserin empfehlen würde, und er verstand es während seiner langen amtlichen Laufbahn meisterhaft, immer die Gunst des gerade am Ruder stehenden Mächtigen zu gewinnen, gleichviel ob diese Mächtigen schlaue Staatsmänner waren, wie Panin, Besborodko nnd Ostermann, oder blos starkschcntelige Liebhaber Ihrer Majestät, wie der dnrch nnd durch nichtige Subow. Er konnte herrisch, schroff, barsch und außerordentlich einschmeichelnd und biegsam sein, je nachdem es die Umstände mit sich brachten. Er war geistreich, aber gemüthlos; ein Freund des schönen Geschlechts, aber blos von der sinnlichen Seite. Die Natur übte keinen Reiz auf ihn; dcsto mehr reizten ihn die aufregenden Genüsse der Welt. Er langweilte sich in Spanien und Italien und sehnte sich aus Neapel und Rom nach den Zerstreuungen von Petersburg zurück. Er liebte ein bequemes und elegantes Leben und verlangte von der Negierung immer Geld, Geld und wieder Geld, nicht um es aufzuspeichern, sondern um es durchzubringen, hierin cm echter Russe. 2l* 324 Nach diesen kleinen Vorbemerkungen, die uns zum richtigen Verständniß des Folgenden nöthig schienen, lassen wir ausschließlich Herrn Bartenjew reden. Morkow begann seine Laufbahn im Ministerium des Auswärtigen (damals „Collegium der auswärtigen Angelegenheiten" genannt) 1,764 als Uebersetzcr, mit dem Range eines Kapitänlieutenants und einem Iahttsgehalt von 200 Rubeln. An der Spitze der Geschäfte stand damals Panin, der mit scharfem Auge junge Talente ausfindig zu machen und zu verwenden wußte. Im März 176? wurde Morkow dem russischen Gesandten in Paris (Graf Stackelberg) attachirt und bald darauf mit demselben nach Spanien versetzt. Er wußte durch seine Berichte die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und da es ihm in Spanien nicht gefiel, so erhielt er bald bessere, anderseitige Verwendung: am 12. März 1771 wurde er, wie es in seiner Dieustlistc heißt, durch allerhöchsten Ukas zum Legationssecretär in Warschau mit Majorsrang ernannt. Zum Unglück für Morkow kam fast zur nämlichen Zeit ein neuer russischer Gesaudter, Baron Kaspar Salderu, nach Warschau, welcher den Fürsten M. R. Wolchonsty (der damals als Gouverneur nach dem durch die Pest verheerten Moskau berufen ward) in diesem Amte ersetzte. Für Morkow war der Um-' gang mit diesem Vorgesetzten nicht so leicht als mit dem liebenswürdigen und angenehmen Stackelberg. Der alte Saldern, in den Memoiren Poroschny's so oft unter der Zahl jener Personen erwähnt, welche den Großfürsten Paul Petrowitsch besuchten und zwar unter dem Namen eines holsteinischen Geheimraths, war ein strenger Formenmensch, von kleinlichem Charakter, zanksüchtig und, wie dies bei solchen Leuten immer zu sein pflegt, aufbrausend und despotisch; schon sechs Jahre 325 früher hatte er an den polnischen Angelegenheiten theilgenommen und sich damals znr Regelung derselben nach Berlin begeben, wo er sich jedoch mit Friedrich II. nicht vertragen konnte; Friedrich erwähnt desselben in seinen Memoiren und bemerkt, daß Saldern im Umgänge mit ihm immer als ein römischer Dictator habe erscheinen wollen. ^) Seit jener Zeit hatten sich die Verhältnisse Polens noch mehr verwickelt und die Stellung eines russischen Gesandten in Warschau war sehr schwierig. Die Berichte Saldern's zeigen, daß er sich in einer beständigen Gemüthsaufregung befand. Sein vier-unbzwanzigjähriger Secretär wollte ihm nicht behagen. Mor-kow beging die Unvorsichtigkeit, die Permittelung des Briefwechsels eines seiner Freunde, eines gewissen Fürsten G., mit einer Warschauerin zu übernehmen. Einer dieser Briefe fiel in die Hände des Gesandten ^); Morkow kam für diesmal noch mit einem strengen Verweise davon, aber die Verhältnisse zwischen dem Vorgesetzten und seinem Untergebenen wurden derart, daß die geringste Veranlassung zn einem vollständigen Brnche führen mußte. Ueber ihre Zwietracht haben wir ein authentisches Zeugniß von dem bekannten Alexander Flitsch Bibikow, der damals die in Polen stehenden russischen Truppen commandirtc. Bibikow erzählt in seinen Briefen, daß Saldern einst nach Morkow schickte, und daß, als dieser, mit seinem Erscheinen etwas zögernd, mit einem Papiere erschien, in welchem sich einige Fehler vorfanden, der alte Holsteiuer so in Zorn gerieth, daß er Morkow das Papier ius Gesicht warf, ihn 1) Hinterlassene Weck Friedrich's II. (Berlin 1788), V, 19. An einer andern Stelle (S. 20) sagt der König, daß Saldern sich ein zweiter Prätor Popiüus dünkte und in ihm den König Antiochus zn sehen glaubte. 2) Wisin, Fürst Wjäsemski, S. 83 u. 84. 326 mit den verletzendsten Vorwürfen überhäufte nnd ihm unter andcrm drohte, ihn nach Petersburg zurückzuschicken, worauf sich Morkow zu entgegnen erlaubte, daß er abreise, sobald es ihm beliebe. Saldern ward nun noch zorniger und setzte zuletzt seinen Secretär im Gesandtschaftshotel in Arrest. Dieser Porgang machte sowol in Warschau als in Petersburg Aufsehen, wo die Frennde und ehemaligen Commilitonen sich für Morkow eifrig verwendeten, vor allem aber von Wisin, welcher damals unter Panin diente. Morkow wußte seinen Quäler lächerlich zn machen: „Lfd pertc de ma liberte", fdjjricfr er an Ucm 3Öifin r „est le moindre malheur que je prevois: celui d'unc mauvaise chair me parait inevitable. Ainsi, mon ami, conjurez M. Panin, que je ne disc pas conime lo : «Aux fureurs de Junon Jupiter m'abandonne.»" ž) Panin beeilte sich, Morkow ans seiner unangenehmen Lage zu befreien. Derselbe schrieb nntcnn 30. December 1771 an Saldern (welcher auf Zureden Bibikow's sich jedoch selbst bald eines Bessern besann und in einem Berichte an Panin seinen Secretär entschuldigte), er möge, wenn es ihm beliebe und es möglich sei, Morkow nach Petersburg schicken, wo derselbe mit "Nutzen im Collegium des Auswärtigen verwendet werden könne. Herr von Wisin drückt sich in einem Schreiben von demselben Datum an I. I. Bulgakow, der sich damals als Gesandtschaftsrath in Warschan befand, wie folgt ans: „Das Verfahren des Gesandten gegen Morkow ist so schrecklich, daß mir die Haare zu Berge stehen würden, wenn ich nicht eine Perrüke trüge und ich nicht unglücklicherweise meine Haare schon vor zwci Jahren verloren hätte; aber Spaß beiseite, Euer Leben muß ziemlich schlecht sein. Hentc schrieb der Graf ^) 1) Wisin, Fürst Wjäsemsti. S. 84. 2) Paiün war damals bereits Graf. 327 an den Gesandten in Betreff der Rückkehr Morkow's. Wenn Sie zu seiner baldigen Abreise etwas beitragen können, so bitte ich Sie, es zu thun." ^) Morkow stellte an Saldcrn die Bitte um Entlassung ans dem Dienste: ,,^16ti-i c;t äesiwnor^", schrieb er demselben, „par les epithetes difiamantes de sot et de miserable dont Votre Excellence m'a qualifie, je nie regarde incapable desormais d'etre employe au service de ma Sou- voraine." ^) Unterdessen ersuchte Panin in seiner Fürsorge Saldern, Morkow 150 Dukaten zur Bestreitung der Reisekosten mitzugebeu und seine Abreise nicht zu verzögern, wenn er sich hierzu entschließen sollte. Mit einem Wort: die Angelegenheit fand eine sehr baldige Lösung und zwar zur vollkommenen Zufriedenheit Morkow's, welcher au von Wisin schrieb: „baß das Benehmen des Grafen Pauin die Hoffnungen, die er von dessen Edelmuth und Rechtlichkeit gehegt, bei weitem übertroffen habe." ^) Dennoch wurde Morkow, wie aus einem Berichte Sal-dern's an Panin zu ersehen ist, erst am 28. Januar (8. Februar) l772 entlassen. Diese Zögeruug versetzte seine Frennde in nicht geringe Unruhe. „Dcr arme Morkow ist bis zur Stunde noch nicht bei uus angekommen", schrieb von Wisin unterm 8. Februar 1772 au Bulgakow. „Ob er in Warschau oder in der andern Welt lebt, scheint ihm ganz einerlei zu sein. Ich habe schon die Hoffmmg aufgegeben, ihn hier zu sehen, und fürchte, daß Ihre nächsten Briefe mir keine gutcu Nachrichten über ihu bringen werden." ^) 1) Vollständige Sammlung der Werke von Wisin. 2) Wisin, Fürst Wjäsemski, S. 84. 3) Ebendaselbst, S. 84. 4) Gesammte Werke von Wisin. S. 144. 328 Im Frühjahr 1772 kehrte Morkow nach Petersburg zurück und trat, aber ohne bestimmte Amtsthätigkeit, wieder bei dem Collegium des Auswärtigen in Dienst. Bei einem Manue von Talent, Verstand und Willenskraft dienen Hindernisse gewöhnlich zu nur noch größerer Entfaltung seiner Fähigkeiten. Dies war bei Morkow der Fall. Seine Uneinigkeit mit Salderu und sein Arrest in Warschau gereichten ihm nur zum Nutzen und machten ihn zum Gegenstande des allgemeinen Gesprächs. Die höhere Gesellschaft, die diplomatische Welt sowie seine unmittelbaren Vorgefetzten wendeten dem verständigen, feurigen und talentvollen jungen Manne alle Aufmerksamkeit zu. Dennoch verblieb er während eines ganzen Jahres ohne eine besondere Verwendung und ohne besondere Auszeichuuug im Collegium; vielleicht wollte man durch eine auffallende Beförderung Saldern (dessen Posten in Warschau bald vou dem bereits obengenannten Stackelberg eingenommen wurde) nicht beleidigen; erst im Jahre 1773 (26. April) ernannte der Senat auf Antrag des Collegiums Morkow zum Collcgienassefsor mit einem jährlichen Gehalt von 600 Rubeln. Obgleich ununterbrochen in Petersburg lebend, verlor Morkow seine Zeit ohne Zweifel nicht umsonst; es gelang ihm, seine Verbindungen in der Gesellschaft sowol als in seiner Dienstsphäre zu befestigen. Es ward ihm das Glück zu Theil, in einem Kreise gebildeter Männer zu leben, welche Graf Panin um sich zu versammeln pflegte. Zu diesem Kreise gehörten außer andern hervorragenden Personen und Beamten auch die Studiengenossen und Freunde Mor-kow's: vou Wisin, damals schon ein berühmter Schriftsteller, Bogdanowitsch, Domaschnew u. a. Wahrscheinlich wurde Morkow in dieser Zeit der Kaiserin persönlich bekannt, welche talentvolle Leute immer heransznfiuden wußte. Wenigstens wurde Morkow im Jahre 1774 als Gesandtschaftsrath nach dem Haag gesendet, bei welcher Gelegenheit Katharina in 329 einem Schreiben an den dortigen russischen Minister, Fürsten D. A. Galizin, diesen anwies, er möge Morkow in den Geschäften der Gesandtschaft zu verwenden suchen. Diese neue Bestimmung war jedoch von sehr kurzer Dauer. Morkow brachte im Haag im ganzen nur einige Monate zu; er kam dort Ende Juli an nnd ward bereits im October wieder nach Petersburg zurückberufen; es erwartete ihn jetzt eine viel bedeutendere Stelle. Am 10. Juli desselben Jahres wurde der bekannte Frieden uon Kutschuk - Kainardschi abgeschlossen. Zur Feststellung der Bedingungen desselben beschickten sich Rußland und die Türkei durch außerordentliche Gesandtschaften; in Moskau traf Abdul-Kerim ein; Katharina schickte an den Snltan Abdul-Hamid den Haupttheilnchmer an den kainardschischeu Unterhandlungen, den Fürsten N. W. Repnin (1734-1800); Morkow wurde zum Rath und Secretär der Gesandtschaft ernannt. Die Gesandtschaft begann schon im September 1774 ihre Reisevorbereitungen zu treffen; doch gingen dieselben nur langsam von statten, zum Theil deshalb, weil in Bälde der Hof uud nach ihm die ganze Regierung nach Moskau übersiedelte, um dort den Friedensschluß zu feiern. Rußland athmete damals nach langen Unruhen und Gefahren zum ersten mal wieder auf. Die erste Theilung Polens war vorgenommen, der langwierige türkische Krieg dnrch bedeutende Erwerbungen beendigt; im Innern des Landes heilten allmählich die Wunden, welche durch die Pest geschlagen worden; Pugatschew hatte erst vor kurzem das Haupt auf dem Schaffot verloren. Kurz, Katharina feierte zu Moskau mehr als bcu Frieden von Kai-nardschi. Die Gesandtschaft Repnin's sollte sich deshalb auch durch besondern Glanz auszeichnen; sie sollte dem damaligen Ruhme und der Größe Rußlands entsprechend sein. Morkow hatte das Glück, diese Reise in einer zahlreichen und ausgezeichneten Gesellschaft zu machen. Fürst Rcftnin 330 reiste mit feiner Gemahlin (Natalie Alexandrowna, einer geborenen Fürstin Kuratm) und seinem Kinde; das Gefolge bestand aus 500 Personen. Es war eine ganze Hofhaltung, von der Feldkaftelle und einer vollständigen Kircheneinrichtung i) angefangen bis zu den Pagen und Aerzten herab. Junge Leute von Adel hatten bei dem Gesandten verschiedene Functionen; es waren dies, wie man sich damals ausdrückte, die Höflinge und Cavaliere der Gesandtfchaft. Der Bruder Merkow's, Major Irakly Iwanowitsch, bekleidete das Amt eines Oberquartiermeisters; Marschall der Gesandtschaft war der Universitätsgenosse und Freund Morkow's, der später berühmte Diplomat I. I. Bulgakow. Außerdem befand sich hierbei anch der Dichter I. A. Neledinski-Melezki, der Neffe (von mütterlicher Seite) der Fürstin Nepnin, der an der Abfassung des Tagebuchs der Gesandtschaft theilnahm, welches an die Kaiserin nach Petersbnrg gesendet nnd später von der Akademie der Wissenschaften im Druck herausgegeben wurde („Die russische Gesandtschaft in Konstantmopel", Petersburg 1777). 2) Die Gesandtschaft reiste ziemlich langsam ^), 1) Von jener Zeit datirt sich die Gründung einer russischen Kirche bei der Gesandtschaft in Koustantinopcl. Das Necht, dieselbe zu erbauen, war durch einen Artikel des Friedensvertrags bedungen. Nepnin brachte eine reiche Kirchenausstattung mit, die mau zn diesem Zwecke in Kiew hatte fertigen lassen. 2) Das Tagebuch wurde zugleich mit deu Berichten Repnin's nach Petersburg geschickt. Das Original desselben befiudet sich im moskauer Archiv des Ministeriums des Acußern. Vou der Stadt Cholin augefangen ist es im Drucke erschienen, von Kiew au aber uur als Manuscript vorhaudeu. 3) Sie wurde vorzüglich durch deu festlichen Empfang in IassY, Bukarest uud später in der Türkei selbst aufgehalten. In dem Gefolge der Gesandtschaft rissen auch Krankheiten ein. Iu dem Bericht NcP-nin's an das Collegium des Auswärtigen bei seiner Rückkehr nach Ruß' land ist bemerkt, daß aus seiner Begleitung 27 Personen starben, barunter die beideu Gesandtschaftscavaliere, Junker Alexci Tschitfcherin vom 331 sie verließ Moskau Anfang Mai und kam erst iu dcu ersten Tagen des October in Konstautwopcl an, wo fie bis zur Mitte April des folgenden Jahres blieb. Der Hauptgegcu-stand der Unterhandlungen bestand darin, die Pfortc zur Anerkennung der Unabhängigkeit der Tataren der Krim und ihres ueuen Khans, des Rußland ergebenen Sahin-Gerai zu bewegen. Iu diese Anerteummg hatte die Pforte schon früher bei dcm Abschlüsse des Friedens von Kutschuk-Kainardschi eingewilligt, und gab damals, durch die Erfolge der russischen Waffen eingeschüchtert, zu allem ihre Zustimmung; jetzt aber hatte sie sich wieder ein wenig erholt und gebrauchte allerlei Ausflüchte. Allerdings war es für sie auch kciu Leichtes, auf die Krim Verzicht zu leisten. Trotz aller Erfahrnng Repnin's, der sich schon während seines Aufenthalts in Warschau iu der Führung diplomatischer Geschäfte bewährt hatte, blieb der Erfolg der Gesandtschaft fehr zweifelhaft. Das Volk in Konstantinopel wollte von einer Unabhängigkeit der Tataren der Krim nichts wissen. Die Nnßland feindliche Partei schickte Deputirte aus der Krim, welche der türkischeu Regierung den Wunsch der Tataren ansdrückeu sollte, im Unterthauenverband des Sultans zn verbleiben; und gerade hierauf stützten sich die Türken in ihrer hartnäckigen Weigerung, den eingegangenen Verbindlichkeiten nachzukommen. Fürst Repuiu begaun bereits sehr mnthlos zu wcrdcu. Allem seiner Geschicklichkeit, Gewandtheit und Festigkeit, sowie den Unterhandlungen Pa-nin's mit dem türkischen Gesaudten in Moskau, Abdul-Kerim, verdankte Rußland endlich dennoch die Erhaltung des bereits vor langer Zeit abgeschlossenen Friedens. Eiucu sehr thätigen Mitarbeiter fand Nepuin an Mortow. Ncpnin wählte ihn zu den schwierigen Unterhandlungen mit Regimente Ismailow, und der Marme-Kapitänüentenant Ritter Plcsch-tschejew. Acht Mann desertirten und fünfzehn wurden entlassen. 332 den Türken über die Unabhängigkeit der Tataren. Er begab sich zweimal zum Reis-Efenbi, am 22. October und 6. December, und schilderte genau seine langen Debatten mit demselben in zwei in französischer Sprache abgefaßten Berichten, welche Repnin nach Petersburg schickte. Es konnte deshalb nicht fehlen, daß die Kaiserin auf die Geschicklichkeit aufmerksam wurde, womit der junge Gesandtschaftsrath seinen Gegner besiegte. Nach langen Berathungen, Unterhandlungen und Debatten, nach vielen Diners uud gegenseitigem Austausch von Geschenken l) und nachdem von der türkischen Regierung die in dem Friedensvertrage festgesetzte Contributiou geleistet worden, reiste Repmu eudlich (am 13. April 1776) von Koustantiuopel ab, nachdem er alle Geschäfte dem einige Monate früher angekommenen ständigen Gesandten Rußlauds, Alexander Stachiewitsch Stachiew, übergeben hatte, welcher iu der Folge durch seine Festigkeit beinahe das Leben einbüßte und im Jahre 1776 endlich die Unabhängigkeitsanerkennung der Krim durchsetzte. ^) Offeubar war die Kaiserin mil dem Erfolge der Gesandtschaft sehr zufriedeu; bald darauf wurde Nevuin mit ciuer nicht weniger wichtigen Angelegenheit betrant — dem Eongreß von Teschen anzuwohnen und Baiern vor den Ansprüchen Oesterreichs zu retten. Nepuin war am 2. September 1776 von Konstantinopel nach Petersburg zurückgekehrt. In seinem Bericht au das kaiserliche Collegium der auswärtigen Angelegenheiten vom 29. September empfahl er allerunterthänigst der allerhöchsten Gnade Ihrer kaiserlichen Majestät — den Gesandtschaftsmarschall Bulgakow sonne die Gesandtschaftssecre- 1) Der Gesandtschaft wurden viele werthvolle Gescheute mitgegeben. Dieselben hatten einen Geldwerth von 40000 Rubeln. 2) S. dessen Biographie in dem Lexikon Bantysch-Kameuski's. Der aufrührerische Pöbel von Koustantinopel war nahe daran, denselben zu ermorden. 333 täre Oberst Wilka und Morkow, welche in allen schriftlichen Kanzleigeschäften verwendet worden und wobei letzterm noch überdies eine sehr bedeutende Summe Geldes anvertraut gewesen — ferner den Titnlarrath Tamara und den Gesandtschaftscavalier Kapitän Lwow. „Alle diese erfüllten die ihnen obliegenden Dicnstgeschäfte mit äußerstem Fleiße, mit Eifer nnd Unvcrdrosscnheit, und sind einer allerhöchsten Berücksichtigung Ew. kaiserlichen Majestät vollkommen würdig." Ob Morkow irgendeine Anerkennung erhielt, ist nicht bekannt. Wir wissen blos, daß er sich von neuem den laufenden Geschäften des Collegiums des Neußern widmete und daß er im Jahre 1779 (5. Mai) zum Kanzleirath ernannt wurde. Um diese Zeit gingen mit dem Personal des Collcgimns des Auswärtigen einige Veränderungen vor. Der Chef desselben, Graf Nikita Iwanowitsch Panin, nahm theils seines hohen Alters, theils seiner Mishelligkeiten mit dem Fürsten Potemkin wegen nur noch geringen Theil an den Geschäften. Doch trat dieser Umstand den schnellen Fortschritten Morkow's keineswegs hindernd entgegen. Die hervorragendsten Mitglieder des Collegiums waren damals: der Vicekanzler Graf Iwan Andrejewitsch Ostermann, Peter Was-siliewitsch Bakunin und Alexander Andrejewitsch Bcsborodko (174<> —99), welch letzterer mit jedem Jahre eine größere Bedeutung erlangte. In welchen Beziehungen Morkow zu dicseu Mäuuern stand, wird weiter nuten gezeigt werden; wir erwähnen hier blos, daß die wichtigsten Geschäfte des Collegiums durch seine Hände gingen; in der Instruction, welche später Mortow bei seiner Absendung nach dem Haag mitgegeben und welche von der Kaiserin selbst unterzeichnet wurde, ist erwähnt, daß Morkow in den allgemeinen politischen Angelegenheiten und in den Beziehungen des russischen Hofes zu den übrigen Mächten wegen der ihm eigenen Gewandtheit in den Geschäften mehr als hinlängliche Kenntnisse besitze. , 334 Im Besitze der seltenen Gabe, die Eigenschaften der Menschen zu bemerken, dieselben schnell zu beurtheilen, deren Talente zu entdecken und dieselben geschickt zn benutzen, kannte die Kaiserin zn der Zeit, von welcher hier die Rede, ohne Zweifel bereits Morkow und zwar nicht allein durch die Em^ vfehlnngen des Grafen Pauin und seiner andern Vorgesetzten, sowie aus seinen Berichten und schriftlichen Arbeiten, sondern Morkow hatte ohne Zweifel Gelegenheit gefunden, sich der Kaisenn zu nähern nnd seine diplomatische Verwendbarkeit vor ihr persönlich zu zeigen. Katharina wußte diese zu schätzen; sie eröffnete Morkow im Jahre 1781 eine Laufbahn selbständiger Thätigkeit und ernannte ihn znm zweiten Minister bei den Geueralstaaten der Vereinigten Niederlande. Dort befand sich damals als außerordentlicher russischer Gesandter Fürst Dmitri Alexiewitsch Galizin (1734—1803), bekannt durch seine Uebersetzung Voltaire's und einer der Vermittler Katha-, riua's m ihren Beziehungen zu dem Philosophen; selbst Mitglied verschiedener gelehrten Gesellschaften und Akademien, widmete er den größten Theil seiner Zeit dcn Naturwissenschaften und ließ seine sowie fremde Werke über Mineralogie, Botanik n. f. w. drncken. Seit langer Zeit ans Rußland abwesend, konnte er die Absichten der russischen Regierung sowie alle Combinationen des Petersburger Cabinets unmöglich vollständig kennen. Unterdessen knüpften sich iufolge der Erklärung der bewaffneten Neutralität zwischen Rußland und Holland ziemlich wichtige Beziehungen an, welche eine größere Energie von feiten des dortigen Vertreters Rußlands erforderten. Dies war höchst wahrscheinlich auch der Grund, warum Morkow zur Unterstützung des Fürsten Galkzin nach dein Haag gesendet wnrde. Damals näherte sich eins der größten historischen Ereignisse seinem Ende — die Befreiung der nordameritamschen Colonien von der Herrschast Englands. Dieses Ereigniß 335 beschäftigte ganz Europa. Frankreich und das von ihm ins Schlepptau genommene Spanien hatten mit England schon lange zu Gunsten der nun befreiten Colonien Krieg geführt. Im Jahre 1780 schloß sich denselben mit oder ohne Willen auch Holland an. Die Hanptfache bestand darin, daß die Holländer kraft der bewaffneten Neutralität die Feinde Englands ungehindert mit Kricgsvorrätheu versehen konnten; wegen der Bedeutung ihres Handels war es für England viel vortheilhafter, mit denselben Krieg zu führen, als ihnen die Freiheit neutraler' Schiffahrt zu gestatten. Anf diese Weise sahen sich die Holländer sogleich nach erfolgter Anerkennung der bewaffneten Neutralität in Krieg- verwickelt. Diese Lage Hollands, die anf dessen Handel äußerst nachthcilig wirkte, konnte nicht verfehlen, die Aufmerksamkeit Katharina's auf sich zu lenken. Rußland führte vorzugsweise mit diesem Lande Handel; bekanntlich gehörten die ersten Schiffe, welche im Anfang des 18. Jahrhunderts nach Petersburg kamen, holländischen Kaufleuten. Außerdem machte die Kaiseriu in Antwerpen häufige Anleihen und sonstige Geldgeschäfte. Es war deshalb die Befestigung des rufstschen Einflusses in deu Vereinigten Niederlanden für Katharina von großem Vortheil. Die Aussöhnung Hollands mit England war demnach der Hauptzweck der Sendung Morkow's. Am 20. December 1781 unterzeichnete Graf I. A. Ostcrmann die Instruction, worm die Hauptgegenstände für Morkow's zuküuftige Thätigkeit bestimmt wurdeu. Es waren ihm vorzugsweise alle jene Geschäfte zugewiesen, welche auf den Handel nnd die Schiffahrt der rufsischen Unterthanen in Hollaud Bezug hatteu. Doch war dies wahrscheinlich nur des Schemes halber geschehen, um seinen alten Collegen, den Fürsten Galizin, nicht zu beleidigen. Fast in allen 10 Paragraphen der Instruction ist ausschließlich vou dcr Aussöhnung oder der sogenannten Mediation zwischen Holland und England die Rede. 336 In der Regel wurde die abgesendete Persönlichkeit durch diese sogenannte Instruction in die Details der politischen Geschäfte und Beziehungen eingeweiht. In derjenigen, welche Morkow ans dem kaiserlichen Collegium des Auswärtigen erhielt, war dies jedoch nicht der Fall. Es war darin außer den oben angeführten Ausdrücken über die Einweihung Mor-kow's in die Geheimnisse der Politik mir gesagt: „Nachdem derselbe bereits im Collegium iu den wichtigsten Geschäften und unter andern auch in jenen verwendet wurde, welcbe bisjetzt hier sin Petersburg) und in Wien, Paris, Madrkd, London und im Haag in Betreff der beiden Mediationen geführt wurden, sowol der gemeinschaftlichen Ihrer kaiserlichen Majestät mit dem römischen Kaiser in der Aussöhnung aller kriegführenden Staaten als auch der besondern Ihrer Majestät zum Vortheile der beiden Seestaaten (Holland und England), scheint es nicht nöthig, ihm in gegenwärtiger Instruction ausführlich auseinanderzusetzen, wie weit dieselben gediehen sind." In dem Concept derselben finden wir jedoch einige Details über die damaligen politischen Beziehungen Nnßlands. Wir glauben, daß es für den Leser von Interesse sein dürfte, den Wirkungskreis genauer kennen zu lernen, in welchem der junge Minister Katharina's sich jetzt zn bewegen hatte. 1) „Mit dem Könige von Preußen", heißt es in der In-struction, „wird das frühere Defensivbündniß, folglich anch eine enge Freundschaft fortgesetzt. Es mag allerdings sein, daß die Annäherung Ihrer kaiserlichen Majestät au Se. Majestät den römischen Kaiser, welche aus der von Ihrer Majestät selbst erworbenen Kenntniß seiner freundschaftlichen Gesinnungen gegen Sie uud sciues aufrichtigen Wunsches hervorgegangen, die Bestimmungen des Teschener Tractats getreulich zu halten, diesen unsern alten Verbündeten thcilweise in seinem Innern beunruhigt; doch hat derselbe wenigstens 337 äußerlich bisher nicht die geringste Art von Zweifel oder Mistrauen gegen den hiesigen Hof geäußert, sondern ist dielmehr gerade in diesen: Jahre mit Ihrer kaiserlichen Majestät wegen Ihres ruhmvollen Systems, welches die Aufrechthaltung der Freiheit der neutralen Nationen in ihrem unschädlichen Handel uud ihrer Schiffahrt bezweckt, in neue Verbindung getreten. Infolge dessen muß der Umgang des Herrn Kanzleiraths mit dem Minister Seiner preußischen Majestät im Deutschen Reich ungezwungen und freundschaftlich sein, und muß nach Art der Umstände, soweit dies dem Interesse des Dienstes Ihrer kaiserlichen Majestät entspricht, hierbei Aufrichtigkeit und Eintracht vorherrschen." 2) „Mit Dänemark haben wir gleichfalls einen Defensiv-tractat, sowie andere Verträge, welche dasselbe mit Sicherheit und Festigkeit an Ihre kaiserliche Majestät knüpfen, insbesondere seitdem die bekannte Negotiation in Betreff des Austausches der in Deutschland gelegenen Erbländer Sr. kaiserlichen Hoheit des Großfürsten gegen die Grafschaften Delmenhorst und Oldenburg zu Gunsten der jüngern holsteinischen Linie das von der dänischen Nation so sehr gewünschte Resultat erreicht hat, wodurch eudlich die Ursache der bisher, wenn auch nur vorübergehend, zwischen Rußland und Däne-mark obgewaltet habenden Mißverständnisse uud Uneinigkeiten gehoben ist; folglich ist auch die allezeit natürliche Uebereinstimmung ihrer gegenseitigen Staatsintercssen von jeder anderweitigen Abhängigkeit auf immer befreit." 3) „Mit dem schwedischen Hofe steht Rußland infolge des bestehenden Friedenstractats von Abo in freundschaftlichen Beziehungen." 4) „Mit der polnischen Republik haben wir drei Tractate, von denen der erste im Jahre 1686, die beiden andern aber während der Regierung des gegenwärtigen Königs abgeschlossen wurden, wobei durch letztern Tractat die gegenseitige Russische Fragmente. II. 22 338 Freundschaft auf ewige Zeiten befestigt und Rußland als Ersatz für einige ältere Ansprüche, welche dasselbe rechtmäßigerweise an Polen zu machen hatte, einige polnische an die frühern russischen Grenzen anstoßenden Territorien als immerwährendes Besitzthum abgetreten wurden." 5) „Mit dem wiener Hofe wirb nicht nur eine freundschaftliche Correspondenz gepflogen, sondern es ward mit demselben auch deshalb ein engeres Einvernehmen begründet, weil, wie bereits oben erwähnt, Ihre kaiserliche Majestät von den persönlichen Absichten des römischen Kaisers sich überzeugt haben >), infolge dessen auch die gegenseitigen Minister der beiden kaiserlichen Höfe angewiesen sind, allenthalben nnter sich einen freundschaftlicheu und aufrichtige« Umgang zu Pflegeu und sich gegenseitig auch in Privatunterhandlnngen und Angelegenheiten hülfreiche Hand zu leisten. Als Anhaltspunkt des Herrn Gesandtschaftsraths in dieser Richtung folgt anbei die Abschrift eines Schreibens, welches durch unsern Geheimrath und Vicecanzler Graf Ostermann mit allerhöchster Genehmigung Ihrer kaiserlichen Majestät an alle unsere au den auswärtigen Höfeu befindlichen Minister ergangen ist." 6) „Zwischen dem londoner Hofe uud Nußland besteht ein Handelstractat und überdies allenthalben fast das nämliche Staatsinteresse. Deshalb könnte man sich auch von beiden Theilen mit aller Zuversicht auf eine gegenseitige Freundschaft verlassen, obgleich der frühere Allianzvertrag wegen verschiedener, der Zustimmung entgegenstehenden Schwierigkeiten noch nicht erneuert wurde, wenn anders die Grundsätze und das Verfahren des londoner Hofs in Betreff deS Handels und der Schiffahrt der neutralen Nationen während seines Kriegs mit Spanien, Frankreich, Holland und den jetzt- von demsel- 1) Kurz zuvor hatte Joseph II. mit Katharina eine "Zusammenkunft in Pskow und Mohilew. 339 beu losgerissenen amerikanischen Colonicn, diese glückliche und natürliche Eintracht in den gegenseitigen politischen Angelegenheiten nnd Vortheilen nicht hindern würden. Da sich aber der erwähnte zeitweilige Meinungsunterschied nnr anf die Meere beschränkt, so kann es anf den: Continent und in Angelegenheiten des Continents für die russischen Minister nicht ohne Nutzen sein, mit den englischen Gesandten auf freundschaftliche nnd anfrichtige Weife zn verkehren." 7) „Mit dem französischen Hofe war znr Zeit des Ministeriums Choiseul der unmittelbare schriftliche Verkehr der beiden Staaten abgebrochen, nnd zwar aus dem Gruude, weil derselbe in Bezug anf die kaiserliche Titulatur in den königlichen an Ihre kaiserliche Majestät gerichteten Depeschen ganz absnrde Schwierigkeiten machte. Nachdem dieselben jedoch von dem Hofe von Versailles selbst gehoben wurden, so ist die nnterbrochene Correspoudenz wieder aufgeuommcn, und vermittelst derselben ein doppelt vortheilhafter Umschwung in den Verhältnissen bezweckt worden, namentlich aber in der durch die gemeinschaftliche Vermittelung Ihrer kaiserlichen Majestät und des Königs von Frankreich herbeigeführten Verhinderung des Kriegs, welcher zwischen dem Hofe von Wien einerseits nnd dem von Berlin und Dresden andererseits bei Gelegenheit der bairischen Erbfolge auszubrechen drohte; zwei-tens wnrde durch die freundschaftliche Verwendung Frankreichs bei der ottomanischen Pforte die von uns mit derselben gewünschte Lösnng in Betreff der tatarischen Angelegenheit sonne anderer Artikel des kainardschischen Friedenstractats herbeigeführt, deren Erfüllung von letzterer Seite bisher theilweife erfchwert, theilweise gänzlich bestritten wnrde. Anf diese Weise ist die gegenwärtige Stellung nnscrs Hofs demjenigen von Versailles gegenüber eine sehr freundschaftliche; allein wenn auch allem Anschein nach durchaus keine Veranlassung zn einer nenen und nnvoraussichtlichcn Alteriruug dcr> 340 selben im Verlauf der allgemeinen Angelegenheiten gegeben ist, so erscheint es dessenungeachtet durch eine vernünftige Porsicht geboten, bei jeder Gelegenheit ein unverrücktes Augenmerk auf alle Schritte und Unterhandlungen des französischen Cabinets zu richten, ohne hierdurch gerade Veranlassung zu offenbarem Mistrauen uud noch viel weniger zu eiuer Erkaltung zu geben. Mit Spanien besteht der gewöhnliche, freundschaftliche internationale Verkehr; doch erscheint der madrider Hof infolge der bekannten Verbindlichkeiten, welche derselbe durch deu bourbonischen Vertrag übernommen, immer und in allen Verhältnissen als der Schatten des Hofs von Versailles. Der König von Sardinien ist wegen der natürlichen Lage seiner Länder an das englische Interesse gebunden. Mit der ottomanischen Pforte hatten wir trotz des im Jahre 1774 abgeschlossenen Friedenstractats, wie bereits oben bemerkt, unangenehme Differenzen über verschiedene Artikel desselben und insbesondere wegen der Freiheit der Tataren, welche die Türken zu vernichten und wieder in die frühere Unterthänig-keit zu verwandeln suchten; doch sind diese Schwierigkeiten seit einiger Zeit glücklich gehoben, nachdem infolge des bezeichneten Fricdeustractats im Jahre 1779 eine erläuternde Convention abgeschlossen wurde, durch welche diese Differenzen zu einer vollständigen Lösung gebracht wurden." In dem Original der Instruction waren überdies umständliche Verhaltnngsrcgeln festgestellt, welche Morkow bei seinem Aussöhmmgsgcschäft zwischen Holland und England zu befolgen hatte. Anfang Januar 1782 reiste Morkow nach seinem Bestimmungsort, dem Haag ab. Von Mcmcl schrieb er unterm 14. Januar au deu Vicecauzler Ostermann und schilderte ihm die Schwierigkeiten, die ihm auf seiner Reise entgegentraten. In Riga mußte er sich zwei volle Tage aufhalteu, um seine Equipage ausbessern zu lassen. Als er auf den schlechten Stra- ' 341 ßen Memel erreicht hatte, wollte er nach Tilsit reisen; doch mußte er wegen Mallgel an Fähren an den drei dazwischen-befindlichen Flüssen den Seeweg wählen und durch das Kn-rische Haff fahren. In den ersten Tagen des Februar kam er in Berlin an; am folgenden Tage führte ihn der dortige russische Gesandte, Fürst W. S. Dolgoruky, zu dem Grafen Finkenstein, einem der höchstgcstellteu Männer Preußens. Morkow ersuchte Finkenstein, ihu dein König vorzustellen, erhielt jedoch zur Antwort, daß der König an der Gicht leide nnd ihn erst nach Verlauf ewiger Zeit empfangen könne. Der Wunsch, Friedrich den Großen zu sehen, veranlaßte Morkow, einige Tage in Berlin zu verweilen; während dieses kurzen Zeitraums wurde er der Königin sowie den Prinzen und Priuzessiuuen der königlichen Familie vorgestellt; ferner machte er die Bekanntschaft der hervorragendsten Mitglieder der preußischen Negierung. Einmal lud ihn Baron Herzberg zu einer Soiree ein und theilte ihm dort mit, daß sich der König wegen des Ankaufs von Pferden für die preußische Armee in Verlegenheit befinde. Früher hatte Preußen seinen Bedarf au Pferden in Nußland gekauft; auch iu diesem Jahre hatte Herzberg bei dein russischen Hofe um die Erlaubuiß nachgesucht, Pferde in der Ukraine kaufen zu dürfen, hatte aber wcgeu des starten Pferdefalls in den klein-russischen Proviuzeu voll dein Fürsten Potemkin eine abschlägige Autwort erhalteu; der König beschloß darauf, Pfcrdeauf-käufe am Kuban vornehmen zu lassen; doch beunruhigte ihu der Trausport derselben durch Rußlaud und insbesondere der U! Nnbel betragende Zoll für jedes Pferd. Herzberg, ohne Zweifel im Auftrage des Königs, fragte Morkow, ob man nicht auf eine Ermäßiguug vou feiten Rußlands hoffen könne, und an wen man sich am geeignetsten in dieser Sache zu wenden habe. Morkow entschuldigte sich mit seiner Unkennt- 342 niß des Sachverhalts, schrieb jedoch auf den Wnnsch Herz-berg's hierüber privatim au Bcsborodko. Am preußischen Hofe ging damals das Gerücht, daß Katharina nnb dcr österreichische Kaiser Joseph II. cine Erneuerung des Kriegs mit der Türkei beabsichtigten. Der englische Gesandte in Berlin versicherte Mortow, daß Friedrich seinen Bevollmächtigten in Konstantinopel sogar angewiesen habe, die Aufmerksamkeit des Divaus anf alle Schritte des Petersburger und wiener Hofs zu lenkeu, nnd daß er bei der ersten Veranlassung mit Frankreich in die engste Vcrbinduug zu treten gedenke. Barou Hcrzberg brachte bei jedem Zusammentreffen mit Mortow diesen Gegenstand zur Sprache. Ganz besonders abcr wnrde Mortow von einen: altcn Petersburger Bekannten, dem Grafen Solms, dcr früher preußischer Gesandter am russischen Hofe und zwar schon unter Peter III. und in den ersten Negierungsjahren der Kaiserin Katharina gewesen, hierüber befragt. ^) Gestützt anf feine alte Bekanntschaft und seine Anhänglichkeit an Nußland, das er sein zweites Vaterland nannte, suchte Solms vou Mortow vor allem zu erfahren, weshalb iu Nußland eine neue Nelrntcnanshe-bung stattfinde, weshalb man Schiffe in Cherfon bane lind die Truppen dislocire? Mortow erwiderte ihm, daß die unbedeutende Aushebung von einem Mann anf fünfhundert Scc-len nur zum Zweck der Ergänzung der Truppen vorgenommen werde, daß man aus demfclbeu Grunde Schiffe erbaue und daß iu Rußland alljährlich eine Trnppendislocation vorgenommen werde, weil man den Grundsatz angenommen, die Regimenter nicht zu lange an einem nnd demselben Ort zu belassen, mit Einem Worte, daß Nußland durchaus keine kriegerischen Absichten hege. 1) Es wird seiner mehrmals in deu Memoiren Poroschny's als eines häufige» Besuchers des Großfürsten Petrowitsch erwähnt. 343 Mit ähnlichen Besuchen lind Besprechungen brachte Mor-kow ungefähr eine Woche in Berlin zu. Da er jedoch angc« wiesen war, seine Reise nach dem nenen Bestimmungsort zu beschleunigen, erklärte er endlich Finkenstcin, daß er zu seinem größten Bedauern abreisen und auf die Ehre, den König zu sehen, verzichten müsse. Infolge dessen bestimmte ihm der König eine Audienz in Potsdam. Am 7. Februar verabschiedete sich Morkow in Berlin bei der königlichen Familie, die ihn, wie das erste mal, äußerst huldvoll empfing, und begab sich an: folgenden Tage nach Potsdam. In einem Schreiben an Ostermann schilderte er seinen Empfang bei dem großen Monarchen auf folgende Weise: „Kanm war ich angekommen, als sich der Generalmajor Graf Görtz zn mir begab und mir mittheilte, daß er den Befehl habe, mich um elf Uhr vormittags dem König vorzustellen. In sein Cabinet eingeführt, fand ich ihn in einen großen Pelzmantel eingehüllt und noch au der Gicht leidend, auf einem Kanapee sitzend; doch sah er gut aus und hatte ganz jenen lebhaften Blick, womit er mir immer geschildert worden. Er begann die Unterhaltung mit ciuer Art von Entschuldigung über die Weise, in welcher er mich empfange; daß er es sich aber zum Grundsatz gemacht habe, immer dem Verlangen der Unterthanen seiner guten Freunde und Verbündeten nachzukommen, wenn ihn solche zu besuchcu wünschten. Zuerst erkundigte er sich mit sichtbarem Interesse nach dem Befinden der Kaiserin. Die übrige Conversation drehte sich nm die Zeitverhältnisse, nm den Zweck meiner Sendung, welche Se. Majestät auf die Vermittelung allein beschränkt glanbte, und um die Unruhen, welche von feiten Persiens in den Nachbarstaaten der Kaiserin erregt wurden, was jedoch von den Zeitungen bedeutend übertrieben und sogar in einem ganz falfchen Lichte dargestellt worden war. Der itönig endigte die Unterredung, indem er mir mit 344 vieler Güte bemerkte, wie sehr es ihm leid thue, daß seine Krankheit ihm nicht erlaube, mich länger bei sich zu behalten, und ich verließ ihn, voll der Befriedigung, das Glück gehabt zu haben, eineu so großeu König zu sehen nnd eine vollkommene Beruhigung über seineu Gesundhcitsznstand mit mir fortzunehmen." Vom König begab sich Mortow zum Prinzen von Preußen und setzte, nachdem er bei demselben gespeist, uoch iu derselben Nacht seiue Neise vou Potsdam nach dem Haag fort, wo er am 19. Februar eintraf und feine gesaudtschaftliche Thätigkeit begann. Zwei Tage nach seiner Ankunft fuhr Fürst Galizin mit ihm zu dem Präsidenten der Wache und zu dem Prinz - Statthalter. Morkow übergab demselben seine Kreditive und lctzterm außerdem uoch eiu Schreibeu der Kaiserin. Am 23. Februar erkannten ihn die Staaten als Minister an, worauf er fein neues Amt überuahm. Ehe wir jedoch den Leser damit bekannt machen, müssen wir einige Worte über die Einrichtung der holländischen Republik und ihrer damalige» Lage voraussenden. Die holländische Republik bestand aus sieben Proviuzeu oder Republikeu, welche, jede abgesondert, durch die Versammlung ihrer Provinzialstaaten oder Vertreter und den Präsidenten derselben, den Pensionär, verwaltet wurden. Die allgemeinen Angelegenheiten, insbesondere die des Kriegs und des Auswärtigen, wurden durch eiueu aus den Provinzial-vorstäudeu crwählteu Ausschuß oder die Generalstaateu geleitet, uuter welchen der Großpensionär, welcher durch eine bestimmte Zahl von Iahreu erwählt wurde, deu Vorsitz führte. Die Executivgewalt, der unmittelbare Oberbefehl über das Heer und die Flotte war deu Statthaltern vorbehalten, den Nachkomme« Wilhelm's von Oranien, des Befreiers Hollands von der fpanischeu Herrschaft. In letzterer Zeit war diese Würde im Hause Orauieu erblich geworden. Der schon 345 früher entstandene Streit der oranischen Partei odcr der Anhänger der Statthalterschaft mit der aristokratischen odcr anti-oranischen Partei war der Grund der schnell eintretenden Schwäche nnd des Verfalls der berühmten Seefahrer; dieser Streit gab fremden Mächten Veranlassung zur Einmischung in ihre innern Angelegenheiten; die »ramsche Partei wurde gewöhnlich von England beschützt, während die holländischen Liberalen beständig in Frankreich ihre Stütze fanden. Als Mortow in Holland ankam, war Wilhelm V. Statthalter, der im Jahre 1751 seinem Vater Wilhelm IV. gefolgt; das wichtige Amt eines Großpensionärs hatte Bluiswik innc. Unmittelbar nach Anerkennung der von Katharina pro-clamirten bewaffneten Neutralität wurde Holland, wie wir bereits früher erwähnt, in einen Krieg mit England verwickelt, und dies gab ihm einiges Recht, auf die Hülfe und Vermittelung Rußlands zu hoffen. Das rufsische Cabinet hatte schon im Jahre 1781 durch den in Pctersbnrg sich befindenden holländischen Gesandten Wassenaer für die Aussöhnung zu wirkcn begonnen. Damals schlug auch Fürst Galizin im Haag den Staaten vor, durch die Vermittelung Rußlands Friedensnnterhandlungcn mit England anzuknüpfen, nnd die Antwort auf diesen Vorschlag wurde von den Staaten dem russischen Hofe fast an demselben Tage zugeschickt, als Mor-kow im Haag anlangte — nämlich am 21. Februar (4. März) 1782. Holland erklärte, nur in dem Falle sich in Friedensunterhandlungen einlassen zu tonnen, wenn England die Freiheit des holländischen Handels und der holländischen Schiff-sahrt anerkennen wolle. Auf diese Weise war die Hauptsache bereits vor dem Eintreffen Morkow's abgethan. In seinen ersten Berichten spricht derselbe geradezu aus, wie wenig von einem Erfolg in dieser Angelegenheit zn erwarten stehe. Der Statthalter, obgleich zum Frieden geneigt, besaß weder die Festigkeit des Charak- 346 ters noch das nöthige Vertrauen des Volks, um diese Frage nach seinem Wnnsch zu entscheiden. Alles hing von dem Großvensionär ab; allein dieser war ganz von dem französischen Gesandten, dem Herzog von Beauguignon, abhängig, einem verständigen, gewandten nnd energischen Mann, welcher den Holländern den Gedanken der Nothwendigkeit einer engcn Allianz mit Frankreich zur gemeinschaftlichen Action gegen England beigebracht hatte. Ncbstdem wünschten viele Holländer, mit den Bereinigten amerikanischen Staaten Verbindungen anzuknüpfen. Der Briefwechsel eines Mitglieds der holländischen Regierung mit Franklin wurde von den Engländern aufgefangen und diente England zum änßern Vorwand seiner Kriegserklärung. Mit Morkow kam fast an demselben Tage ein amerikanischer Bevollmächtigter, Adams, im Haag an. Beide Umstände, das definitive Bündniß mit Frankreich und dic Anerkennung der Unabhängigkeit der amerikanischen Colonien, mnß-ten das Geschäft der Aussöhnung bedeutend erschweren. Frankreich erhielt einen entschiedenen Einfluß in Holland. „Um Gottes willen, befehlen Sie uns, was wir thun sollen", schrieb Morkow unterm 1. (12.) März an Beöborodko. „Wir können uns nicht mit den von mir mitgebrachten Instructions durchwinden, welche auf die Voraussetzung eines völligen Gleichgewichts zwischen England und Frankreich gegeben, jetzt zur Erreichung des Hauptobjects der Mediation unzureichend geworden sind. Ich kann nichts anderes thun, als die Dinge dem Lauf, den sie einmal geuommen, zn überlassen." Unterdessen wünschten die Gntgesinnten in Holland aufrichtig den Frieden. Auch England that annähernde Schritte, infolge deren der englische Commissar Wcntworth als einfacher Privatmann, wenngleich nicht ohne Zustimmuug einiger Mitglieder der holländischen Regierung, im Haag eintraf. Er suchte die Stimmung der Gemüther zu erforsche« und fried- 347 liche Absichten zu erwecken; allein alle seine Bemühungen waren erfolglos. Man erwiderte ihm, daß Holland bereits in zn enge Verhältnisse zu Frankreich getreten fei, um dieselben wieder anfznhebcu; in Betreff der Fricdensnnterhaudlungm berief man sich ans die nntcrm 4. März an den rnssischen Hof übersendete Resolution. Fürst Galiziu nnd Morkow konnten nicht offen im Einvernehmen mit Wentworth handeln. Sie hatten den Auftrag, eine strenge Unparteilichkeit gegen beide Theile zn beobachten, und mußten sich nm so mehr an diese Borschrift halten, weil infolge der Nänte des französischen Gesandten die holländischen Zeitungen bereits offen von der Hinneigung der rnssischcn Kaiserin zu England sprachen und dadurch den Holländern Mißtrauen gegen ihre Vermittelung einflößten. Mitte März begab sich Morkow nach Amsterdam, nm die Stimmung der Gemüther in dieser Stadt zn erforschen und sich mit den bedeutenden Persönlichkeiten bekannt zu machen. Es gclang ihm, sich dem reichen Nendorp zu nähern, welcher eine große Aedeutnng in Amsterdam besaß. Aber gerade als Morkow sich mit ihm ill Unterhandlungen befand, benachrichtigte ihn Fürst Galizin von der Anknnft des Kuriers Brcm mit Depeschen von den: rnssischen Minister in London, Simolin, woranf Morkow noch an demselben Tage nach dem Haag zurückeilte. Die Depeschen, welche Brcm gebracht, waren änßerst wichtig. In England war eiue Veränderung des Ministerinms eingetreten nnd wnrdc zngleich der Wunsch nach Frieden immer lebhafter. Die Whigs, welche Holland gewogen waren, hatten die Oberhand über die Tories gewonnen. Für Lord North ward Marquis Rockingham Premierminister; zugleich mit ihm traten Fox, Aurkc, der jnnge William Pitt, der zukünftige Leiter Englands, und Shelbnrne ins Ministerium. Nachdem das ncne Ministerium an: 4. März durch Simolin die Resolution der Generalstaa- 348 ten erhalten hatte, beschloß dasselbe, auf die Anerkennung des freien Handels und der freien Schiffahrt der Holländer einzugehen, und Fox richtete deshalb ein officielles Schreiben an Simolin. Mit dieser Erklärung waren die Haupthindernisse des Friedens völlig unerwartet nnd zn großer Beruhigung der französischen Partei nnd des Großpensionärs beseitigt, da man sich von dieser Seite der festen Ueberzeugung hingegeben hatte, daß England sich zn einem solchen Nachgeben nicht entschließen werde. Es blieb nichts anderes übrig, als sich ans-zusöhncn; allein der Großpcnsionär nahm seine Zuflucht znr List. Er suchte den Fürsten Galizin zu überreden, dem Schreiben Fox' noch keine Publicität zn geben; er wollte diese Zeit zur Abschließung einer offenen Allianz mit Frankreich benutzen, um dann zu erkläreu, daß das Schreiben Fox' zu spät gekommen und daß Holland jetzt nicht mehr für sich allein handeln könne. Allein dnrch die Ankunft Morkow's ans Amsterdam scheiterte dieser Plan. Ungeachtet seiner Iustrnction, die ihn anwies, jeder schriftlichen Erklärung anszuweichen, zögerte Morkow nicht, ein officielles Memorandum der Versammlung der Generalstaaten zn übergeben, worin er die Zustimmung Englands zu der Forderung der Republik feierlich verkündete. Er erklärte dem Großpensionär, daß in diesem Falle jeder Aufschub von feiten der russischen Minister ein Verrath an dem Vertrauen sei, welches das englische Cabinet der russischen Kaiserin bezeugt habe. Das Memorandum Mortow's wurde den Staaten zur Prüfung übcrgebeu. Die neue Lage der Dinge, die durch das Schreiben des Ministers Fox und durch das russische Memorandum herbeigeführt worden, erfüllte alle Friedensfreunde in Hollaub mit Frende und gab denselben die lebhafteste Hoffnuug auf dessen Abschluß. Der Prinz-Statthalter faßte neuen Mnth. Auf der Börse stiegen die Fonds. Einen gleich angenehmen Eindruck brachte dieser Umschwung in Petersburg hervor. Die Kaiserin drückte in einem 349 Rescript an Fürst Galizin und Morkow ä. ä. Zarskoc-Selo, 18. Aftril (von dem Leibgardesergeanten Lanski überbracht), über das taktvolle Anftreten Morkow's ihre volle Befriedi-gnng ans. Ueberzengt von der baldigen Eröffnung der Frie-densunterhandlnngen, versah sie den Fürsten Galizin sowie Morkow mit Vollmachten für ihre Anwesenheit bei dem bevorstehenden Congreß nnd befahl ihnen, insgeheim gewisse Winke.über den Wunsch Nußlands zn erkennen zn geben, es möchten beide Theile, sowol England als Holland, sich mit dem Ansuchen an daS Petersburger Cabinet wenden, die Beobachtung der künftigen Friedensbedingnngen zn gewährleisten. Im Falle gänzlichen Mislingcns aber sollten beide erklären, daß Rußland die Zumuthungen Hollands in Betreff der vermeintlichen Verbindlichkeiten, die ersterm infolge der neutralen Convention zugefallen, für alle Znknnft zurückweise. Am Schlnsse dieses Rescripts war bemerkt: „Sie werden uns einen angenehmen und wichtigen Dienst erweisen, wenn es Ihnen gelingen sollte, dnrch Ihre Vorstellungen und Bemühnngen den in Holland vorwiegenden fremden Einfluß zu erschüttern nnd bei dcr Annahme desselben einen Separatfrieden zwischen England nnd dieser Republik zu Stande zn bringen." Allein die Anstrengnngen nnd Bemühungen der russischen Gesandten waren vergebens. Es war ihnen nicht möglich, den französischen Einstnß zu beseitigen; offenbar bildete sich durch diesen Streit mit dem Herzog von Beaugnignon nnd durch die Bekämpfung seines Einflusses in Morkow jene Abneigung gegen die französische Politik, welche in der Folge seine wichtigsten Handlungen auf der diplomatischen Laufbahn kennzeichnete. „Frankreich herrscht hier ebenso sehr wie in seinem eigenen Lande", schrieb er nntenn 2n. März (0. April) an Besbo-rodko. „Die Holländer selbst zittern, mit Ausnahme der 350 Kaufleute, welche nichts auderes als ihr Geld im Auge haben. Wenn Leute vou solcheu Eigenschaften zu leiden haben, fo muß mau fich uicht sonderlich darüber grämen; aber trotzdem darf mau es uicht mit ihnen verderben, denn sie können wol manchmal nützen, wenn man in gewisseu (Meld-)Verlegenhei-ten ist. Der Hauptgegner des Friedens ist der Großpcnsionär mit seiner Partei, welche ans den angesehensten Ventcn Am^ sterdams besteht. Neben den sehr wahrscheinlichen Absichteu gegen den Statthalter haben dieselben im Sinne, während der Fortdauer des Kriegs zu den Amerikanern überznlaufcu und durch eiueu Haudelstractat mit denselben England zuuor-zukommen." Uud in der That kam, währeud das russische Memorandum den Geueralstaatcn znr Priifnng vorlag, ein ueues Ereigniß zum Ausbruch, welches den Friedensunterhaudlungen mit England offenbar uugünstig war. In der ersten Hälfte Aprils (1782) wurde der Amerikaner Adams, derselbe, welcher später Präsident der Nepnblik wurde, als bevollmächtigter Minister in Holland anerkannt. Bei dieser Gelegenheit gab der Herzog von Beauguiguou dem ganzen diplomatischen Corps ein großes Diner, bei welchem er Adams als ein Mitglied deö diplomatischen Eorps vorstellte. Am folgenden Tage fnhr Adams selbst bei Morkow und Fürst Galizin vor, wurde aber vou deusclbeu uicht empfangen. Ostermann schrieb ihnen hierüber (unterm 6. Mai) wie folgt: „Nachdem nun die Hochmögendcu ^) zu der formellen Anerkennung von Adams geschritten sind, muß ich Ihnen mittheilen, daß Ihre Majestät nicht wünschen, daß von Ihrer Seits irgendeine Demonstration gemacht werde, welche der Vermuthung Raum geben könnte, als ob Sie diesen Schritt billige. Sie werden sich deshalb enthalten, Besuche anzunehmen oder deren zu machen, 1) „Hochmögenbe" wurden die Vertreter der Staaten titulirt. 351 sei es Herrn Adams oder einer andern Persönlichkeit, welche von feiten der Eolonien, die sich von England losgesagt haben, dort accrcditirt ist. ^) Katharina wollte damals noch in keinerlei Beziehungen zn den Amerikanern treten. Wir schließen dies nnter anderm anch aus folgendem Umstände. Michail Nowikow, Rath bei der russischen Gesandtschaft in Holland, schickte an einen gewissen Dina, der sich für einen amerikanischen Edelmann ausgab, das Porträt Washington's nach Petersburg. Die Kaiserin befahl, das Porträt dorthin zurückzusenden, wo es der Kurier empfangen habe, worauf Ostermann (unterm 4. Juli 1782) au Galiziu und Morkow schrieb, daß sie iu Zukuust weder von Amerikanern noch an Amerikaner Briefe oder Packete zur Abfendnng nut Knrieren annehmen sollten, „weil man dadurch in die Unannehmlichkeit versetzt werde, dieselben an Leute schicken zn müssen, von denen das Ministerium Ihrer Majestät nicht wisse, wo nnd warum sich dieselben hier (in Petersburg) aufhalten". Wie stark in Holland die Sympathie für die Amerikaner und folglich die Abneigung gegen England war, geht nuter anderm aus einem Schreiben Morkow's an den Grafen Ostermann vom 2. (13.) Mai 1782 hervor. Er schreibt, daß in Nimwegen, zur Zeit der Versammlung der Staateu, ein Mitglied derselben, Singledon, sich bei einem öffentlichen Gastmahl weigerte, auf die amerikanische Unabhängigkeit zn trinken. Die ganze Gesellschaft kam in Aufregung. Man hätte Singledon beinahe zum Fenster hinausgeworfen; er mußte sich aus seiner Heimat nach dem Haag flüchten, wo anonyme 1) Dies erinnert an eine spätere Aeußerung Katharina's, welche ein scharfes Licht auf ihre ganze Politik wirft und nns von Chrapowicli aufbewahrt wurde. Als sie das Bnch Radischtschew's, ,, Reise von Petersburg nach Moskau", las, sagte sie: „Er ist noch schlechter als Pu-gatschcw! er lobt Franllin." (S. Memoiren Chrapowicki's, nuterm ?. Juli 1790.) 352 Briefe eintrafen, welche an den Statthalter, an den Großpensionär nnd andere Persönlichkeiten der Regierung adressirt waren. Dicfe Briefe drohten einem jeden mit Verfolgung, der sich unterfange, sich der Anerkennung der amerikanischen Freiheit nnd dem Kriege gegen England zn widersetzen. Es ist begreiflich, daß Morkow bei einer solchen Stimmung der Gemüther große Schwierigkeiten fand, den ihm gegebenen Auftrag zu vollziehen. Er mnßte sich anf Ermahnungen und Borstellungen beschränken. Er konnte der zahlreichen Frie-dcnspartci nicht die thätige Unterstützung Nußlands versprechen, denn seine Instruction gab ihm hierzu kein Recht. Der Erfolg der Angelegenheit wurde mit jedem Tage weniger wahrscheinlich. Dem französischen Gesandten, Beauguignon, welcher die innere Aufregung des Landes geschicktzu benutzen wußte, gelang es, den Willm der holländischen Machthaber vollständig zu beherrschen. Die Holländer bei ihrer schwächsten Seite, dem Eigennutz, fassend, stellte er ihnen vor, wie vortheilhaft ein Haudelstractat mit Amerika für sie sein würde. Anf der andern Seite verstand er die Abneigung der Holländer gegen den Statthalter zu benutzen und schmeichelte ihnen mit der Hoffnnng auf eine Beschränkung oder selbst eine vollkommene Aufhebung der Prärogative. Der Prinz von Oranien, ein kurzsichtiger, schwacher und unentschiedener Mann, hatte sich so ziemlich eine allgemeine Abneigung zugezogen, insbesondere dadurch, daß er sich in allem seinem frühern Vormund, dem dcu Holländern verhaßten Herzog Ludwig von Braunschweig, unterwarf (er war der leibliche Bruder Anton Ulrich's, welcher sich eine so traurige Berühmtheit in der russischen Geschichte erworben hat). Im Einklang mit seiner Instruction, worin es hieß, daß Katharina der Schwester Ludwig's, der verwitweten Königin von Dänemark, versprochen habe, „sich für die möglichst beste Erledigung seiner unangenehmen Angelegenheiten zu verwenden", suchte . 353 Morkow darauf hinzuwirken, daß Lndwig die Stelle eines holländischen Feldmarschalls niederlege und gegen die Bewilligung einer Pension und Bezahlung seiner Schulden aus Hol< land abreise. Der größte Theil der holländischen Städte und insbesondere Antwerpen hatte seine Entfcrnnng von den Staatsgcschäften nachdrücklich gefordert. Die Gemahlin Wilhelm's V. war eine leibliche Nichte Friedrich's des Großen; doch half dies dem Statthalter wenig. Die eifrigen Vorstellungen und Proteste des preußischen Gesandten, Baron Thul-maier, zu welchem Morkow in den freundschaftlichsten Beziehungen stand, vermochten die oranischc Partei ebenso wenig zu uutcrstützen als dcu französischen Einfluß zu befeitigen. Die holläudische Rcgieruug zögerte, gleichsam um Zeit zu gewinnen, mit der Antwort auf das Memorandum, welches von dem Fürsten Galiziu und Morkow unterm 3. April übergeben worden war nnd worin die Eröffnung der Friedens-unterhaudlungen verlangt wurde, welchen jetzt kein Hinderniß mehr im Wege stand, nachdem das englische Cabinet durch das Schreiben seines Ministers Fox das Versprechen gegeben, die Freiheit des Handels und der Schiffahrt der Holländer anzuerkennen. Fürst Galizin uud Morkow erhielten durch Simolin, den russischen Gesandten in London, ein zweites Schreiben von Fox, welches sich noch bestimmter darüber aussprach. Allein auf alle Vorstellungen Morkow's erfolgte immer die nämliche Antwort, daß Holland bereits in zu enge Beziehungen zu Frankreich getreten sei, als daß es ohne dasselbe sich mit England aussöhnen könne; daß die während des Kriegs von den Engländern weggcnommrueu transatlantischen Besitzungen Hollands vou den Franzosen besetzt feien, welche diefelbeu im Falle eines Zerwürfnisses auf immer für sich be-halteu könnten. Um diese Schwierigkeit zu beseitigen, wurde dem russischeu Gesandten am Hofe zu Versailles, Fürsten Ba-riatmsky, aufgetragm, das Interesse Hollands in Schntz zu Russische Fragmmte. II. ZZ 354 ' nehmen, doch war auch diese Maßregel ebenso fruchtlos als die Unterhandlungen Morkow's mit dem Herzog von Beau-guignon, - Am 1. Juli erfolgte endlich die Antwort der Generalstaaten. Sie dankten der Kaiserin für ihre Theilnahme an den holländischen Angelegenheiten; ohne anf die Unterhandlungen mit England in Betreff eines Separatfriedens völlig Verzicht zu leisten, bemerkten sie, daß sie auf das Gelingen desselben wenig Hoffnung setzten, indem sie sich auf den in naher Aussicht stehenden Frieden zwischen sämmtlichen kriegführenden Staaten beriefen und die Kaiserin mn ihre fernere Gewogenheit bei dem künftigen allgemeinen Friedenscongreß erfuchten. Um die nämliche Seit benachrichtigte Fürst Bariatinsty von Paris aus die russischen Gesandten von der Absicht des russischen Thronfolgers und seiner Gemahlin, Holland zu be-sucheu. Wie bekannt, bereiste der Großfürst Paul Petrowitsch in den Jahren 1781 und 178^ mit seiuer Gemahlin die meisten Länder Europas. Von Frankreich begaben sich die Hoheiten in die österreichischen Niederlande, nach Brüssel, wohiu ihnen die beiden russischen Gesaudten entgegenreisten. ,,«I6 8up^»1l6 voti-6 NXL6116N06", schreibt Morkow unterm 22. Juni (3. Juli) an Ostermann, „6s voulnir dien i^ils aAi'661' ^ 8a, HIaitzZtS Iiup^ri^le <36tt6 d^lnarolio di«» t^6 par N«tr6 26l6." Es ist bemerkenswerth, daß Morkow in einem besondern Schreiben der Kaiserin über alle Einzelheiten des Aufenthalts der Hoheiten in dem dortigen Lande Bericht erstattete. Die Geueralstaaten ließen dieselben durch ihren Gesandten in Brüssel, Baron Hope, einladen, Holland zu besuchen, während der Prinz und die Prinzessin von Ora-uien eigens ihren Kammerherrn, Grafen Huyden, mit Einladungsschreiben dorthin schickten und ihnen sogar selbst ent-gegenzureisen wünschten. Im Haag bewirthete man dieselben zwei Tage lang mit der größtmöglichsten Zuvorkommenheit- 355 Fürst Galizin begleitete sie durch ganz Holland bis nach Utrecht und sendete einen ausführlichen Bericht hierüber an Ostermann. Ans diesem Bericht wissen wir unter anderm, daß der obengenannte Vormnnd Wilhelm's V., Herzog Lud-wig von Braunschweig, sich ganz besondere Mühe gab, von den hohen Reisenden einen Besuch zu erhalten, von denselben aber jedesmal eine abschlägige Antwort erhielt. Fürst Gali-zin beförderte die Briefe Ihrer Hoheiten an die Kaiserin und Zegab sich nach Amsterdam, um im Auftrag der Großfürstin Spielfachen für die Großfürsten Alexander und Konstantin Pawlowitsch einzukaufen. In Saardam nahmen Ihre Hoheiten das Hans Peter's des Großen in Augenschein; in der Folge wurde für den Großfürsten eine Abbildung dieses Haus-cheus angefertigt.') Einige Zeit später, nntcrm ^7. August l/7. September) und ^0. August (10. September) schrieb Mortow an Ostermcum, daß die Abänderung des Rciseplans des Großfürst-Thronfolgers und seiner Gemahlin Veranlassung zu einigen politischen Conjecture« gegeben habe. Ihre Hoheiten hatten anfänglich beschlossen, nach Prag zu gehen, wo man ihnen zu Ehren eine Heerschau zu halten beabsichtigte, reisten aber plötzlich in aller Eile nach Berlin; hieraus schloß man, daß zwischen dem russischen und österreichischen Hofe eine gewisse Erkaltung eingetreten sei. Mortow und Galizin suchten diese Vermuthung zu widerlegen, indem sie begreiflich machten, daß der Termin der Reise abgelaufen fei und daß ihre Hoheiten bald wieder in Petersburg einzutreffen wünschten. Seit die holländische Regierung das russische Memorandum beantwortet, war keine weitere Hoffnung mehr auf eiue I) Dic Stadt Saardam machte dcr russischen Regierung den Vorschlag, das Häuschen Peter's des Großen zu kaufen; die Kaiserin wies jedoch diesen Vorschlag zurück. 23* 356 Separatausföhnung dieser Republik mit England vorhanden, und die Angelegenheit, wegen welcher Morkow nach Holland gesendet worden, war somit erledigt. Nichtsdestoweniger setzte er seine diplomatische Dienstesthätigkeit mit Eifer und Energie fort. Seine Berichte an den Grafen Ostermann bezeugen, mit welcher Aufmerksamkeit er den äußern und innern Beziehungen Hollands folgte. Er fetzte den Vizekanzler genau von der Theilnahme Hollands an den gemeinschaftlichen Unter' Handlungen, welche in Versailles zwischen den kriegführenden Mächten eingeleitet worden, sowie von den Bewegungen der holländischen Flotte, von dem Kampf der Parteien, von den Handelsveränderungen, von den politischen Broschüren, den bemerkenswerthen Artikeln in den Zeitungen n. s. w. in Kenntniß. Diese Berichte, so wichtig dieselben auch für die holländische Geschichte sind, gehören selbstverständlich nicht in die Biographie Morkow's. Im Frühling 1783 erhielt Mortow den Auftrag, ein An-lehcn, welches die Kaiserin in Holland zn machen wünschte, zu Stande zu bringen. Er begab sich zu diesem Zweck eigens nach Amsterdam und knüpfte mit dem dortigen Hcmdlungshaus Smet Unterhandlungen an. Bald darauf ward ihm ein neuer wichtiger Auftrag zu Theil. Die Kaiferin befahl ihm, für den Eintritt in russische Dienste Seeoffiziere und Matrosen zu suchen, „welche in der Ingemenrwissenschaft, in der Mechanik, Hydrostatik und Hydraulik bewandert seien". Durch seine ausgebreitete Bekanntschaft war es Morkow möglich, mit leichter Mühe die für Rußland nothigen Leute auszuwählen, um so mehr, als viele derselben mit deu innern Un ruhen und dem Wirrwarr, der in Holland herrschte, unzu> frieden nnd gern bereit waren, den dortigen Dienst zu verlassen. Vor allem wendete Mortow seine Aufmerksamkeit auf den Gencraladjutanten Wilhelm's Kingsbergen, welcher Mitglied des Admiralitätscomitc, Contreadmiral und Linien- 357 schiff skapitän war. Derselbe hatte schon früher in russischen Diensten gestanden und zeigte viele Liebe für Rußland. Zn-gleich mit Rendrop und andern war er für einen möglichst baldigen Friedensschluß mit England bemüht nnd beklagte sich in feinen Unterredungen mit Morkow über die Unordnung, welche in allen Theilen der holländischen Regierung eingcris-fen war. Nachdem er von Morkow den Wunsch Katharina's, ihn wieder in ihre Dienste zu nehmen, erfahren, wollte er lange keine definitive Antwort geben. Nus Fnrcht, mit ihm einer feiner wenigen Stützen beranbt zn werden nnd zugleich die Disposition über die Flotte zn verlieren, snchte ihn der Statthalter auf jede mögliche Weise für Holland zn erhalten, was ihm auch endlich gelang. Kingsbergen antwortete Mor-tow, daß er sein Vaterland in der schwierigen Lage, worin sich dasselbe befinde, nicht verlassen könne. Glücklicher ging die Anwerbung von Ingenienroffizieren von statten. Mit Hülfe des Ingenieurcorpscommandauten Dumoulin, der selbst gern anf den Vorschlag der Kaiserin eingegangen wäre, sich jedoch wegen seines Alters nnd seiner Verbindungen mit dem Hause Oranien nicht entschließen konnte, Holland zu verlassen, gelang es Morkow, vier Offiziere für den rnssifchen Dienst zn gewinnen: den Kapitän von Suchtelen i), einen Zögling und Gehülfen Dumoulin's, sonne die Lieutenants Krayenhoff (der an der Erbaunng des Kanals von Murcia in Spanien theilgenommen hatte), Ferguil nnd Falconi. Morkow führte lange Unterhandlungen mit denselben und erstattete über jeden einzelnen genauen Bericht. Welch hohen Werth das Geld damals hatte, ist darans zn 1) Kornilowitsch von Suchteleu (1751 —1,^j Hamann, Gtolberg u. a. und durch die schwärmerischen Aeußerungen Goethe's über ihre Schönheit nnd Liebenswürdigkeit bekannt. 359 im Haag viele Schulden gemacht habe und endlich, daß Mor low gern nach Sardinien gehen würde. Als er bald darauf eine Unterstützung an Geld erhalten und seine Angelegenheiten in Ordnung gebracht hatte, wäre er allerdings gern nach Turin gegangen; allein jetzt war es schon zu spät; es wurde Fürst N. B. Iussupow dorthin bestimmt, Fürst Galizin wurde pensionirt und Morkow erhielt Titel und Stellung eines außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Ministers im Haag. Allein er blieb in dieser Stelle, welche ihm große Auszeichnung brachte und seine immer sehr precären pecuniären Verhältnisse wesentlich aufbesserte, nicht lange. Durch Rescript vom 15. März 1783 rief ihn die Kaiserin aus den Pereinigten Niederlande zurück uud cruanntc den Kammerjunker Ko-lytschew^) zu seinem Nachfolger. Morkow wnrdc in der Eigenschaft eines außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Ministers an dem königlich schwedischen Hofe an die Stelle des wirklichen Kammerherru Mussin-Puschkin accredi-tirt. In demselben Rescript erhielt er zugleich den Auftrag, sich uoch vor seiner Abreise nach Schwedeu nach Paris zu begeben, wo ihm die Besorgung eines besondern Auftrags anvertraut wurde. Für die Reise nach Schwedeu und die Ein-richtuug seines Hanfes dortselbst wurdcu ihm <5000 Rubel und für die Reise vom Haag nach Paris 300<) Rubel bewilligt. Unmittelbar nach Empfang dieses Rescripts, am 5. (1<>.) April, nahm Morkow von der holländischen Regieruug seine Creditive zurück (wobei die Gcneralstaaten in den schmeichelhaftesten Ausdrücken für ihn der Kaiserin ihr Bedanern über seine Abberufung ausdrücktcu), übergab die Geschäfte der Ge- ll Stephan Alerejewitsch, später russischer Gesandter m Paris und unter der Regierung Paul Petrowitsch's in Wien. 360 sandtschaft und das Archiv derselben dein Titularrath Dani-lowsky, und reiste ohne das Geschenk abzuwarten, welches von den Gencralstaaten gewöhnlich dem scheidenden Gesandten zu Theil wurde, am 8. April nach Paris. Er war hier den: Fürsten Iwan Sergejewitsch Bariatinsky zur Dienstleistung bei der Unterzeichnung des Friedens zugewiesen, welcher zwischen Spanien, Frankreich, Holland und den Vereinigten amerikanischen Staaten einerseits und England andererseits abgeschlossen, und durch welchen der langwierige Krieg beendet wurde. Die europäischen Mächte erkannten die Unabhängigkeit der dreizehn amerikanischen Colonien, die sich von England losgesagt hatten, an. Die Friedensunterhandlungen hatten bereits im September des vorhergehenden Jahres begonnen; im Januar 1783 wurden die Präliminarien unterzeichnet. Frankreich, Spanien und England luden Katharina und ihren Verbündeten, Joseph II., ein, die Permittelung bei der endgültigen Feststellung des Tractats zu übernehmen. Morkow hatte sich während seiner Anwesenheit im Haag mit allen Einzelheiten des vorausgegangenen Kriegs, wie ans seinen abgesendeten Berichten hervorgeht, vollständig bekannt gemacht, uud wahrscheinlich war auch dies der Grund, weshalb ihm die Kaiserin auftrug, dem Friedensschlüsse beizuwohnen. Leider haben wir wenige Nachrichten über seinen Aufenthalt in Frankreich. Am 25. April (6. Mai) wurde er Ludwig XVI., Marie Antoinette und der ganzen königlichen Familie vorgestellt; erst am 2. September wurde der Friedens-tractat in Versailles unterzeichnet. Alle Präliminarien in Betreff dieser Angelegenheit wurden durch die beiden russischen sowie durch den österreichischen Gesandten, Grafen Mercy d'Argentean, direct mit dem ersten Minister Ludwig's XVI., dem berühmten Vergemies, geführt, weshalb sich dieselben häufig nach Versailles begeben mußten. In einem Schreiben 361 vom 14. (^5.) September berichtete Morkow an die Kaiserin, daß Vergennes im Anftrag des Königs ihm sowie Bariatinsky zwei mit Brillanten besetzte Porträts Ludwig's Übermacht, nnd daß ihnen der spanische Gesandte die Porträts seines Königs ebenfalls überreicht habe. Während seines Aufenthalts in Paris hatte Morkow Gelegenheit, mit den hervorragenden Persönlichkeiten, die sich zum Friedensschluß eingefunden, bekannt zu werdeu. Von feiten Englands befanden sich dort Fitz Herbert (bekannt unter dem Namen Saint-Ellens) und Lord Manchester; von feiten Spaniens Graf d'Aranda; die Vertreter der amerikanischen Staaten waren Jay, der berühmte Franklin und Adams, der aus Hollaud gekommen war. Mit letzterm stand Morkow in besondern Beziehungen. Damals schon hielt sich Dina als Commissionär der amerikanischen Republik in Petersburg auf. Derselbe hatte dem russischen Hofe den Vorschlag gemacht, mit seinem Vaterlande einen Handelstractat abzuschließen, worauf ihm jedoch eiue abschlägige Antwort ertheilt wurde. Adams trat über dieseu Gegenstand mit Morkow in nähere Erörterungen; dieser aber erklärte ihm, daß Rußland nicht eher zu einem Haudelstractat schreiten könne, bis in Versailles ein definitiver Friedensschluß zu Stande gekommen nnd die Unabhängigkeit der amerikanischen Colonien von allen Mächten formell anerkannt sei. Die russischen Gesandteil hatten den Auftrag, dahin zu wirken, daß bei dem Abschluß eines allgemeinen Friedens die an demselben thcilnehmenden Staaten ihre frühere Anerkennung der bewaffneten Neutralität be-stätigeu möchten. Fürst Bariatiusky und Morkow eröffneten hierüber mit Vergcnnes Unterhandluugen, welche jedoch wie es scheint zu keinem Resultat führten. Außerdem hatten sie sich noch eines andern viel wichtigern Auftrags zu entledigen. Zur nämlichen Zeit erfolgte die definitive Vereinigung der Krim mit Rußland, welchem Ereigniß Frankreich, der alte 362 Alliirte der Pforte, selbstverständlich nicht ruhig zusehen konnte. Doch ging diesmal alles glücklich von statten und durck» die Gesandten in Versailles wurde jede Einsprache von feiten Frankreichs beseitigt. Morkow verweilte bis Anfang Februar des folgenden Jahres 1784 in Paris. Wie er diese Zeit verlebte, wissm wir nicht. Ans einem seiner Schreiben an Besborodko ist zu ersehen, daß er nach Fontainebleau reiste. Sein College, Fürst I. S. Bariatinsky, der bereits einige Jahre in Paris verlebt hatte und bei den Parisern beliebt war, führte ihn wahrscheinlich in die besten Gesellschaften ein. Durch ein Rescript vom 27. December wnrde Morkow von dem französischen Hofe abberufen und zur Abreise an seinen eigentlichen Bestimmungsort, das heißt nach Stockholm, angewiesen. „Ucbrigens", heißt es in dem genannten Rescript, „haben wir Ihrer Bitte allergnädigst zu willfahren geruht lind er-lanben Ihnen, zur Herstellung Ihrer Gesundheit einen dreimonatlichen Aufenthalt in Italien zu nehmen uud zwar mit Beibehaltung des vollen, Ihrem Posten in Stockholm entsprechenden Gehalts." Ans diese Weise wurde die Reise nach Stockholm abermals verschoben und Morkow ein kurzer Aufenthalt in Italien zu Theil. Doch erhielt auch diefe Reise, wie wir sehen werden, eine politische Bedeutung. Die gewaltsame Aneignung der Krim mußte Rußland früher oder später in einen neuen Krieg mit der Türkei verwickeln. Katharina bereitete Rußland schon lange sowol durch innere Maßnahmen als durch politische Unterhandlungen für dcu bevorstehenden Kampf vor. Durch die Freundschaft Joseph's II. sich gegen Oesterreich sichernd und einer thatsächlichen Einmischung Frankreichs vorbeugend, beobachtete sie zu gleicher Zeit das mit Frankreich nnd der Pforte verbündete Schweden mit rastloser Aufmerke famkeit. Auf dem schwedischen Thron saß damals ein Neffe 363 Friedrich's des Großen, Gustav III., der Wiederhersteller der absoluten Königsgewalt in Schweden, bekannt durch seinen unruhigen Charakter, seine Reorganisationen, seinen unglücklichen Krieg mit Rußland und durch seinen Tod durch die Hand des Mörders Ankarström. Katharina, welche sich später in ihrem Lustspiel „Der Held Kosometowitsch" über ihn lustig mackte, begab sich Ende Juni 1783 eigens nach Frederikshamn, um sich mit ihm persönlich zu berathen und seine nähere Bekanntschaft zu macheu. Soviel bekannt, ging Gustav bei diesen persönlichen Unterhandlungen mit Katharina darauf cm, die Anerkennung der bewaffneten Neutralität zn bestätigen; auf einen andern Vorschlag der Kaiserin dagegen, dem Abschluß einer Allianz zwischen den drei nordischen Staaten beizntrcten oder wenigstens alle Verbindungen mit der Türkei abzubrechen, sowie sich aller Verbindlichkeiten gegen dieselbe zu cntschlagcu — gab er jedoch keine definitive Antwort. Bald nach dieser Zusammenkunft, und zwar im October 1783, trat Gustav unter dem Namen eines Grafen von Haag eine größere Reise durch Enropa an. Das Hauptziel derselben war Italien. Gustav gefiel sich darin, für einen eifrigen Liebhaber der Künste zu gelten. Nach dem Abschluß des Friedens von Versailles lebte Morkow ohue besoudere Beschäftigung in Paris. Sein eigentlicher Posten war in Stockholm, bei dem König von Schweden; da sich aber Gustav III. damals in Italien befand, so bot sich Morkow die angenehme Gelegenheit dar, das dortige Klima zu benutzen und seine Gesundheit wiederherzustellen, zugleich aber auch mit dem Fürsten bekannt zu werden, an dessen Hofe er zum Gefandten bestimmt war. Morkow reiste von Paris nach Turin, wo er am t>. (17.) März ankam. Bei dem dortigen außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister Rußlands, dem Fürsten Nikolai Borissowitsch Iussupow, fand er ein an ihn adresfirtes Packet 364 mit einem allerhöchsten Decrete und den Insignien des Wladimirordens dritter Klasse. Ueber seinen Aufenthalt in Turin sowie im allgemeinen über seine Reise befinden sich ziemlich umständliche Nachrichten in seinen Briefen an Besborodko. — „Am dritten Tage nach meiner dahier erfolgten Ankunft", schreibt er unterm 9. (W.) März aus Turin, „hatte ich die Ehre, des Vormittags dem König (Victor Amadeus III.) und seiner ganzen Familie vorgestellt zu werden. Se. Majestät würdigte mich eines sehr Huldvolleu Empfangs und drückte sich in so schmeichelhaften Ausdrücken gegen mich aus, daß ich mir nicht erlauben kaun, dieselben zu wiederholen. Am Abend war Cour bei der Königin, wohin auch ich mich verfügte. Der König kam zn nur und geruhte mir unter andern Dingen zu bemerken, daß er mich mit dem König von Schweden noch einmal zu sehen hoffe. Ich erwiderte, daß ich dieses Glück leider mehr wünschen als hoffen könne, weil mein Aufenthalt in Italien anf drei Monate beschränkt sei und diese Zeit kaum hinreichen dürfte, um auch nur oberflächlich allc Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, ganz abgesehen davon, daß ich einen Theil dieser Zeit meiner Gesundheit widmen müsse, welche sehr der Wiederherstellung bedürfe. Ich weiß nicht, auf welchen Grund hin man hier allgemein vermuthet, daß ich den Befehl habe, bei dem König von Schweden zn verweilen und diesen Vonarchen auf seiuer Reise zu begleiten. Es sollte doch scheinen, als ob die Art meiner eigenen Reise allen diesen Irrthum benehmen müsse; denu ich reise so still, daß dabei auch kein Schein vorhandeu ist, als ob ich irgendeinen Auftrag vom Hofe hätte. Uebrigens ist diese Langsamkeit von meiner Seite eine sehr unfreiwillige: vor meiner Abreise aus Paris bekam ich das Fieber, welches mich während meiner ganzen Reise nicht verlassen hat, uud welches bei jeder übermäßigen Bewegung sich vermehrt; doch reise ich übermorgen unabänderlich von hier ab, uud werde, weun es meine 365 Kräfte erlauben, eilen, um in der Charwoche in Rom einzutreffen." Morkow's erstes Schreiben aus Rom ging von dort am 26. März (0. April) ab. „Ich verließ Turin", schreibt er, „drei Tage später, als ich die Ehre hatte an Ew. Excellenz zu schreiben. Auf meinem Wege stieß ich wegen der schlechten Straßen, der Neberschwemmungen und der Zcrstöruug der Brücken auf viele Hindernisse. Am verflosseneu Mittwoch langte ich iu Nizza an, wo sich der Großherzog von Toscana mit seiner ganzen Familie und seinem Hofe befand. Noch am nämlichen Tage fetzte Graf Mogenigo Se. königliche Hoheit von meiner Aukuuft und meinem Wunfche, derfelbcu vorgestellt zu werden, in Kenntniß. Se. Hoheit geruhten, mich fogleich zu empfangen, woranf ich dann auch die Herzogin, die Prinzen und die Prinzessinnen zu sehen die Ehre hatte. Am folgenden Tage fetzte ich meine Reise fort und kam, nachdem ich Tag und Nacht gefahren, am verflossenen Montag iu Rom au. Ich beeilte mich, noch an demselben Tage den König von Schweden durch Herrn Santini von meiner Ankunft sowie von meinem Wunsche in Kenntniß setzen zu lassen, ihm sobald als möglich meine Aufwartung zu machen. Sc. Majestät befahlen mich um sieben Uhr abends zu sich. Baron Taube, seiu erster Kammerherr, führte mich iu feiu Cabinet, worauf sich derselbe sogleich wieder auS demselben eutfcrnte. Nachdem ich mit dem Könige allein gelassen, ermangelte ich nicht, kraft der mir ertheilten allerhöchsten Weisungen, ihm in den passendsten Ausdrücken die Ueberzeugung aufrichtiger Freundschaft und Hochachtuug gegen seine Person von feiten Ihrer kaiserlichen Majestät auszudrücken. Iu Beziehung auf meine Bestimmung an den schwedischen Hof unterließ ich uicht, mich der Guade und dem Wohlwollen Sr. Majestät zu empfehlen. Der König erwiderte meiue Auredc mit der äußersteu Aucrkcu-uung und in den verbindlichsten Ausdrücken gegenseitiger Ueber- 366 zeugung; er gab nur die Versicherung seines königlichen Wohlwollens, wobei er die Hoffnung aussprach, daß ich von meiner Seite dasselbe dadnrch zn rechtfertigen mich bestreben werde, daß ich, soweit es von mir abhänge und dies im Einklänge mit den ihm bekannten Gesinnungen Ihrer Majestät der Kaiserin stehe, alles befördere, was die Bande der Verwandtschaft ') und Freundschaft, wodurch sie gegenseitig verknüpft seien, befestigen könne. Der kardinal Bernis, welcher durch den Kurier, den ich wegen der Gestellung einer Wohnung vorausgesendet, meine nach einigen Stunden erfolgende Ankunft erfahren hatte, beauftragte Herrn Santini, mich noch an demselben Abend zu einem Concert und Souper einzuladen. Nachdem ich dem Cardinal Herzan, dem Minister des Kaisers und Protector der deutschen Nation, einen Besuch ge-macht und bei demselben ein Schreiben abgegeben hatte, welches ich von dem am Hofe des Großherzogs von Toscana befindlichen Grafen Colloredo an denselben erhalten, entschloß ich mich, der Höflichkeit des Cardinals Bernis m angemessener Weise nachzukommen und bei ihm zum Abendessen zu erscheinen. Auch der König von Schweden hatte sich dort ciu-gefunden. Er kam zu mir und geruhte mir während des Gesprächs zu sagen, daß er am 15,. oder 16. dieses Monats nach Venedig abzureisen gedenke nnd bedauere, nicht bis zum Himmelfahrtstage hier verbleiben zu können, weil eine Aenderung in seinem Reiseplan eingetreten sei, indem anfangs eine Reise nach Frankreich durchaus nicht beabsichtigt gewesen; nachdem er aber eine wiederhotte und sehr dringende Einladung vou dem Könige von Frankreich erhalten, so könne er dieselbe unmöglich von der Hand weisen. Bei dieser Ge- il Der Vater Gustav's III., Adolf Friedrich, vor Besteigung des schwedischen Thrones Herzog von Holstein-Gottorp, that sich viel darauf zugute, ein Verwandter Peter's III. zu sein. 367 legenheit äußerte er sich gegen mich über die mit ihm in Frederikshamn stattgefundene Zusaunnenkmlft und versicherte, daß ihm dieselbe eine außerordentliche Befriedigung gewährt habe." In einem größern unterm 6. (17. April) an die Kaiserin abgeschickten Berichte schildert Morkow umständlich seine am genannten Abende bei dein französischen Gesandten, dem Cardinal Bernis, gepflogene Unterredung und erwähnt unter anderm, daß der König die Dicnstfertigtcit lobend anerkannt habe, welche ihm auf Befehl der Kaiserin die russischen Minister während seiner Reise bezeigt hatten, insbesondere Graf Rasmnowski in Neapel. Gustav befand sich damals in Rom bereits auf dem Rückwege. In den Soireen beim Cardinal Bernis suchte Gustav in seinen Unterredungen mit Morkow das Gespräch auf seine Zusammenkunft mit der Kaiserin in Fredcnkshamn sowie ans politische Angelegenheiten zu lenken, wurde aber jedesmal durch anderweitige Gäste darin unterbrochen. Endlich bestimmte er Morkow eine Zusammenkunft am Lharsamstage in einer Seitcnabtheiluug oder Kapelle der Petcrskirchc. In dieser Kapelle, welche durch einen Vorhang von der Haupttirche getrennt ist, befanden sich keine gefährliche oder unbescheidene Zeugen: nur einige ^eute aus der untern Volkstlasse verrichteten dort ihre Andacht. Hier hatte der König mit dem Minister eine lange politische Unterredung. In dem oben erwähnten Berichte stellte Morkow diese Unterredung in allen ihren Einzelheiten dar. Er schlug Gustav vor, feine Defensiv- und Offcnsivallianz mit der Türkei, in welche sich Schweden schon unter seinen Vorgängern eingelassen, aufzugeben. Gustav, welcher Absichten auf Dänemark hatte, wollte nur nnter der Bedingung darauf eingehen, daß Rußland mit Schweden einen Vertrag abschließe, durch welchen sich beide Staaten verpflichteten, sich in keiner Weise gegenseitig hindernd in den Weg zu treten, und daß Rußland die 368 Allianz mit Dänemark ebenfalls aufgebe. Morkow tonnte selbstverständlich auf solche Bedingungen nicht eingehen. Der König befaß ein großes Rednertalent nnd war in ähnlichen Unterredungen äußerst gewandt; der russische Minister gab ihm jedoch bei dieser Gelegenheit nichts nach. Nach einer zweistündigen Unterredung unter deu Wölbungen des berühmten Tempels trennten sich der König von Schweden und der russische Gesandte, nachdem sie ihre Gründe erschöpft, ohne sich gegenseitig überzeugt und sich zu gegeuseitiger Nachgiebigkeit bewogen zu haben. Am Schlüsse machte Gustav Morkow mit seiner Abreise nach Paris bekannt. Dies hatte keine andere Bedentuug, als daß er keiue Allianz mehr mit Katharina wolle; denn der unvermeidliche Einfluß, dem er in Paris ausgefetzt war, konnte für Rnßland nichts weniger als günstig sein. Zur Probe führen wir folgendes Bruchstück aus dieser Unterredung an, die fowol wegen des Gegenstandes selbst als des Ortes, an dem sie stattfand, merkwürdig ist. Der König wurde etwas aufgeregt und bemerkte unter anderm, daß er, wenn er auch kein nützlicher Freund, doch wcuigsteus ein sehr unbequemer Feind sein könne, und daß es von der schwedischen Grenze nicht gar so weit nach Petersburg sei. Als Antwort hierauf bemerkte Morkow, daß es fast ebenso nahe von der russischen Grenze nach Abo sei. „Ich biu mit Ihnen einverstanden", erwiderte Gustav, „aber Sie müssen zugeben, daß Petersburg wichtiger ist als Abo." „Ew. Majestät haben allerdings recht, allein dasselbe ist auch nicht so zugänglich." „Darauf kauu man sich nicht verlassen", erwiderte der König; „es könuen Umstände eintreten, welche den Zugang beinahe gerade so leicht machen." „Aber um offenherzig zu sprecheu, müßten Ew. Majestät gerade auf solche Umstände rechnen, welche Ihnen nach 369 Petersburg zu gehen erlauben, ohne Sie zu nöthigen, nach rückwärts zu blicken." — Diese Bemerkung mußte den König tief verletzen. Morkow spielte hier offen auf die große Feindschaft an, welche zwischen der schwedischen Aristokratie und Gnstav, welcher deren Rechte eingeschränkt, herrschte. Kehren wir nun zu den Griefen Morkow's zurück, in welchen er Besborodko über seine Reise Bericht erstattete. „Wegen der kirchlichen Ceremonien", schreibt er in einem Briefe vom 6. (17.) April, „konnte ich erst heute dem Heiligen Vater (Pius VI.) vorgestellt werden. Se. Heiligkeit nahm mich sehr huldvoll und mit großer Auszeichnung auf; denn nach der Versicherung Sautiui's empfängt er gewöhnliche Reifende sitzend, während er mich stehend empfing und so länger als eine Viertelstunde mit mir sprach. Unsere Unterredung berührte jedoch durchaus nicht die politischen Verhältnisse, sondern drehte sich von Anfang bis zn Ende nur um die hiesigeu Denkmäler des Alterthums. Nachdem mir von allen Seiten versichert wurde, daß der Papst bei allen Gelegenheiten feine besondere Hochachtnug uud Verehrung für die Kaiseriu Katharina ausdrücke, so hielt ich es um so mehr für eine Pflicht, Rom nicht zn verlassen, ohne ihm meine Ehrfurcht bezeugt zu haben. Nach der Abrcife des Königs von Schweden bin ich entschlossen, nach Neapel zn reisen, um mich mit den dortigen Aerzten zn benehmen uud, im Falle sie mir die neapolitanischen Heilquellen und Bäder aurathen und sie denjenigen von Nizza vorziehen, dort ungefähr zwei Wochen zu verweilen nnd dann hierher zurückzukehren, nm alle Merkwürdigkeiten in Augeufchein zu uehmen, dann aber nach Venedig zn gehen und von dort über Wien mich an den Hof Sr. Majestät zu begeben. Ich hoffe, daß dieses mein Neiseproject die allerhöchste Genehmigung erhalten wird, um so mehr, als dasselbe dem officiell angegebenen Grunde meiner Reise nach Italien entspricht." — „Nach meiner Anlnnft in Neapel", Russische ^wgmi'l!,!'. Il, 24 370 schreibt Morkow unterm 22. April (I.Mai), „besuchte ich den Grafen Rasumowski und bat ihn, mir die Ehre zu erwirken, dem König und der Königin vorgestellt zu werden. Er erwiderte mir, daß an dem hiesigen Hofe die Sitte herrsche/ die Fremden während der öffentlichen Tafel zu empfangen, daß aber der König um die jetzige Zeit häufige Iagdpartien zu machen pflege, und daß er zweifle, ob er mir während der kurzen Zeit, die ich für meinen hiesigen Aufenthalt bestimmt, eine Vorstellung auszuwirken vermöge. Hierauf bat ich ihn, bei Gelegenheit wenigstens meinen Eifer und meineu Wunsch zu erkennen zu geben. Dann wendete ich mich meinen beiden Hauptzwecken zu, d. h. der Kräftigung meiner Gefnndheit und der Befriedigung meiner Neugierde. Die Aerzte versicherten mich, daß die gegenwärtige Jahreszeit den Gebrauch der Bäder noch nicht erlaube. Nachdem ich während zehn Tagen das Innere und die Umgebung der Stadt angesehen und alle Hoffnung, dem Hofe vorgestellt zu werden, aufgegeben hatte, um so mehr, als der König sich vorgestern auf einige Tage nach der Insel Capri anf die Jagd begeben, setzte ich meine Abreise auf gestern Vormittag fest. Meine Koffer waren bereits auf den Wagen gepackt und ich erwartete nur noch die Pferde, als ich statt derselben einen Brief von dem hiesigen Oberhofmeister erhielt. Das Weitere werden Ew. Excellenz aus meiner allerunterthänigsten Relation ersehen." Der Obcrhofinei-ster Fürst Belmonte benachrichtigte Morkow, daß die Königin ihm eine Audienz in Portici bestimmt habe, und daß au demselben Tage die Fürstin Altavilla, die Hofmeisterin der Königin und die Braut des Munsters der auswärtigen Angelegenheiten, Marquis de la Sambuchi, ihn zu sich zur Tafel bitte. Nach dem Diner bei Altabilla, welches eine officielle Bedeutung hatte und wobei mehr als zwanzig sehr angesehene Personen zugegen waren, wurde Morkow von dem Fürsten Belmonte in das Cabinet der Königin geführt. Die Königin Z?1 Karolina war cine leibliche Schwester Kaiser Joseph's II., der zu Katharina in so frenndschaftlichen Beziehungen stand. Den Gegenstand ihres Gesprächs mit Morkow bildete der Graf Andrei Kinllowitsch Rasumowsti, welcher einige Jahre als russischer Gesandter in Neapel gelebt hatte. Es gelang ihm ganz besonders, sich der Königin zu nähern, welche Morkow auch beauftragte, uach Petersburg zu berichten, daß die unangenehmen Gerüchte über Nasumowski, welche die Kaiserin veranlaßten, ihn aus Neapel zu entfernen, ein Werk seiner Feinde gewesen und baß er seinen Verpflichtungen bestmöglichst nachgekommen sei. Zufolge dieses Auftrags sendete Morkow ein Schreiben der Königin mit einer genauen Darstellung seiner Unterredung mit derselben nach Petersburg. Allem die leidenschaftlichen Bitten der Königin wurden nicht erhört: man versetzte Rasumowski nach Kopenhagen. „Ans Furcht vor neuen Zmnnthnngen" — so schließt Morkow sein Schreiben an Bcsborodlo über diesen Gegenstand — „werde ich meinem frühern Entschlüsse treu bleiben; ich werde unabänderlich morgen von hier abreisen und mich in die Bäder von Nizza begeben, wo ich, einer allerhöchsten Erlaubniß entgegensehend, ungefähr drei Wochen verweilen und dann meinen Rückweg antreten werde, ohne mich anderswo als in Wien und in Warschau aufzuhalten." Italien hatte, wie es scheint, Morkow nicht sehr gefallen. „Mit Ausnahme der Statuen und Gemälde gibt cs hier wenig Bewundernswerthes", bemerkt er in einem Schreiben an Bes-borodko, „und hätte es von mir abgehangen, so wäre ich ohne Zögern wieder nach der Heimat zurückgeeilt. Wenn cs möglich gewesen wäre, mich durch eine Stafette in Venedig zu benachrichtigen, so hätte ich drei Wochen früher in Petersburg cmtreffeu können, wohin ich mich mit Ungeduld zurücksehne, insbesondere, um Ihnen, meinem Wohlthäter, meine herzliche Dankbarkeit und Ergebenheit zu bezeigen." 24 * 372 Mitte Juni war Morkow bereits in Wien, wo er einige Tage verweilte, um auf eine Gelegenheit zu warten, dem Kaiser vorgestellt zu werden, welcher damals seinem Bruder, dem Großherzog von Toscana (dem spätern Kaiser Leopold) entgegengereist war. Von Wien aus schrieb Morkow unterm 20. Juni (1. Juli) 1784 wie folgt: „Fürst Kaumtz, bei welchem ich fast jeden Tag bin, behandelt mich auf eine sehr schmeichelhafte Weise. In den Unterredungen, welche ich mit ihm pflog, waren seine Aeußerungen immer von Verehrung gegen die Person Ihrer Majestät und von Hochachtung gegen ihre großen Talente und Eigenschaften erfüllt. Die gegenseitige Stellung der kaiserlichen Höfe, sofern dieselbe unerschütterlich fortdauern sollte, betrachtet er als das größte Wohl für deren gegenwärtige und zukünftige Existenz; die Freundschaft und die Ergebenheit des Kaifers gegen Ihre Majestät die Kaiserin schlägt er höher an als alle staatlichen nnd persönlichen Interessen." Ueber die übrige Reise Merkow's haben wir keine genauen Details. Im Herbste des Jahres 1784 befand er sich bereits in Petersburg, wo ihn die Kaiserin ohne Zweifel zu wiederholten malen Ihrer persönlichen Unterredung würdigte. Dies war eine sehr bewegte Feit für die diplomatische Thätigkeit Morkow's. Das Verhältniß Rußlands zu Schweden erhielt damals eine besonders wichtige Bedeutung; von der Gcschick-lichkeit Morkow's hing der Erfolg aller weitern politischen Berechnungen Katharina's ab. Am 3. November unterzeichnete die Kaiserin die für ihn entworfene Instruction, worin der Zweck der Sendung Morkow's nach Schweden genau bezeichnet war. Es hieß darin: „Die Zweideutigkeit, die Falschheit und die feindselige Gesinnung des Köuigs von Schweden gegen seine Nachbarn traten in den Unterredungen, welche Sie mit ihm in Rom hatten, nur noch deutlicher hervor. Unsere Sorge für die Erhaltung des Friedeus im Norden 373 erlaubt uns deshalb nicht, der gegenwärtigen Regierungsform in Schweden gleichgültig zuzusehen." Morkow sollte uuter den Schweden die frühere russische Partei und jene Ordnung der Dinge wiederherzustellen snchen, welche dort vor dem durch Gustav III. im Jahre 1772 bewirkteu Umstürze geherrscht hatte; er wurde angewiesen, alle Schritte des Kö-uigs zu beobachten uud den Einfluß Frankreichs möglichst zu beseitigen. Während seines kurzen Aufcuthalts iu Petersburg gelang es Morkow, sich die vollkommene Fuucigung des ober-steu Staatslcnkers jeuer Zeit und seines Chefs, des Grafen Hesborodko, zli erwerben. Es ist dies aus dem Tone der nun folgeudcu Schreiben Morkow's an denselben, insbesondere aber aus dem Umstände zu ersehen, daß Besborodto ihm seinen siebzehnjährigen Neffen, den Junker in der Leibgarde Victor Pawlowitsch Kotschubei, zur Dieustleistuug bei der russischen Gesandtschaft in Stockholm bestimmte. Der junge Kotschubei, der Freund des Großfürsten Alexander Pawlowitsch, war die einzige Hoffuung deS uuverhcirathetcu Besbo-rodko, der sich gauz besonders seiner Erziehung annahm und dadurch, daß er ihn Morkow anvertraute, diesem offen feine Freundschaft zu erkennen geben wollte. Morkow reiste im Anfang des Jahres 1785 au deu Ort seiner Bestimmuug ab. Die directe Reise uach Stockholm zur See war bereits nicht mehr möglich; gewöhnlich wird in dieser Jahreszeit die Verbindung mit Schweden entweder auf dem nördlichen Wege dnrch Finnland oder über Hamburg und Kopenhagen bewerkstelligt. Morkow wählte selbstverständlich den letztern nud bequemern Weg, um so mehr, als er in Kopenhagen mit dem däuischeu Premierminister, dem berühmten Bernstorff, der erst vor kurzem nach dem Sturze Guds-berg'ö sich dort befestigt hatte, zusammentreffen mußte. Fast währeud eines gauzeu Monats führte Morkow mit ihm und 374 Herrn Schack Unterhandlungen, welche unter anderm darauf hinzielten, die Eheverbindnng des dänischen Erbprinzen mit der Tochter des Prinzen von Hessen zn verhindern. Es versteht sich von selbst, daß Morkow an dem dänischen Hofe, welcher Rußland seit lange ergeben war, die beste Aufnahme fand; alle seine Porschläge erwiderte man, wie cr sich ans-drückt, mit der änßersten Verehrnng, und dem Titel einer Alliirten wurde der Titel einer Wohlthäterin beigefügt. Sein letztes Schreiben aus Kopenhagen, worin er dem dortigen russischen Geschäftsträger alles Lob fpendete, wnrde am 1. (12. März) abgesendet. Am folgenden Tage begab er sich nach Stockholm. Am l.7. (28.) März hatte er seine erste Audienz bei dem Könige von Schweden, wobei er demselben auch den jungen Kotschubei vorstellte. Morkow verblieb beinahe zwei Jahre in.Schweden. Es ist hier nicht dcr Ort, seine Wirksamkeit in Schweden ausführlich zu schildern. Wir bemerken nur, daß cr hauptsächlich die Erfolge seines Nachfolgers, des Grafen A. K. Rasumowski, vorbereitete und erleichterte. Der Erfolg ihrer Thätigkeit bestand darin, daß, als in der Folge der König von Schweden Rußland endlich doch den Krieg erklärte, die in Finnland stehenden Truppen desselben Katharina eine Adresse mit der Erklärung sendeten, daß sie nicht gesonnen seien, sich gegen die Rnssen zu schlagen. Morkow vermochte übrigens dem Könige von Schweden dnrchaus keine wohlwollende Gesinnung gegen sich einzustoßen; vor keinem der übrigen fremden Minister nahm man sich mehr am schwedischen Hofe in Acht, und keinen beobachtete man genauer als Morkow, wenngleich im Aeußern die freundschaftlichsten Beziehungen obwalteten. So bot der König, welcher lange Zeit in seinem alten vor der Stadt gelegenen Schlosse Drottningholm wohnte, Morkcw einige besondere Zinnner an, damit derselbe nicht der Unannehmlichkeit ausgesetzt fei, nach 375 den Soupers zur Nachtzeit in die Stadt zurückzukehren. Ueber diese Fahrten nach Drottningholm hat sich folgende Anekdote erhalten. Gustav, welcher seine Schlösser in großartiger Weife ausschmückte, liebte es, dieselben den Fremden zu zeigen. Einmal lud einer der Höflinge, oder vielleicht Gustav selbst, Morkow ein, Drottmugholm zu besehen; als man in die Rüstkammer kam, zeigte Morkow's Begleiter demselben drei Fahnen und bemerkte: „Dies sind die russischen Fahnen, welche unter Peter I. nnd in den folgenden Kriegen erobert wurden." — „Ja, es sind unsere Fahnen", erwiderte Morkow, „sie haben Sie drei Provinzen gekostet." Im allgemeinen trat er mit Entschiedenheit nnd Festigkeit auf, indem er den Schmeicheleien nnd Frcnndschaftsversiche-ruugen des Königs zu widerstehen verstand und seine feindseligen Zumuthungen gewandt zurückwies. Er wnßte sich mit eiuer gauzen Schar schwedischer Liberalen zn umgeben, dnrch welche er- die genauesten Nachrichten über alle Schritte des Königs erhielt und die er dann nach Petersburg berichtete. Er erfuhr durch sie seine geheimen Vorbereitungen gegen Dänemark, die Stimnmng der Gemüther in den ent-ferntern Theilen Schwedens n. s. w. Der Charakter und das Benehmen Gustav's erleichterten dem russischen Minister die Erreichung jenes Ziels, auf welches derselbe hinzuarbeiten verpflichtet war. Während seines Aufenthalts in Stockholm machte Morkow die Bekanntschaft einer juugen Französin, einer Fräulein Gouze, welche später auf der Petersburger Bühne als Schauspielerin anftrat und iu der Folge ganz zu Morkow übersiedelte. Im Anfange des Jahres 1786 starb das dritte Mitglied des Collcgiums der auswärtigen Angelegenheiten, Peter Was-siljcwitsch Bakunin. Durch Ukas vom 10. Mai 1786 bestimmte Katharina Morkow zu Bakunin's Nachfolger, zur Belohnung 376 für die eifrige Erfüllung der ihm in Stockholm übertragenen Geschäfte. Die Resultate feiner Bemühungen traten auch bald in der fchwedischcn Reichsversammlung hervor. Fast alle Vorschläge des Königs wurden verworfen. Die russische Partei, zu welcher der Baron von Heer, der Oberst Gyllensvan, Major Patkul, Oberst Sprengtporten gehörten und wovon letzterer zu Gunsten der Unabhängigkeit Finnlands arbeitete, erhielt von neuem eine wichtige Bedeutung. Während der ganzen Dauer der Versammlung, vom 8. Mai bis zum 23. Juni, blieb Morkow noch in Stockholm, obgleich er schon seine Crcditive zurückerhalten hatte. Allenthalben von Spionen umgeben, mußte er in diesen Dingen anßcrordentlich vorsichtig zn Werke gehen, weshalb er mit den ihm nothwendigen Leuten nur durch einen gewissen Titularrath Wukasso-witsch in Verbindung stand. Er schickte unuuterbrochcn genane Berichte über den Gang und den Erfolg der Sache nach Petersburg und übergab erst im Herbste seinen Posten dem frühern russischen Gesandten am dänischen Hofe, Grafen Andrej Kirillowitsch Rasumowski (dessen Stelle in Dänemark Baron Alcrei Krüdener erhielt). Die Kaiserin befahl Mor-tow, für Rasumowski eine ausführliche Instruction aufzusetzen und ihu mit den innern Verhältnissen Schwedens bekannt zu machen, damit er das Begonnene mit um so größcrm Erfolge fortfetze. Morkow erfüllte diesen Auftrag in einem längern Schreiben an Nasumowski vom 14. (25.) October und ging dann nach einigen Tagen in sein Vaterland zurück, wo ihn mit dem neuen Dienste auch neue Gnadenbezeigungen von feiten der Kaiserin erwarteten. Von dieser Zeit beginnt seine eigentliche staatliche Bedeutung, welche sich unausgesetzt bis zum Jahre 1797 immer noch erhöhte, anfänglich mit Hülfe seines Frenndes, des Grafen Besborodko, und dann unter der Protection des Fürsten Pla-ton Alexandrowitfch Subow. 377 Leider sind unsere Nachrichten über diese zweite nnd bedeutendere Lebenshälfte Morkow's spärlich und durchaus nicht genau. Bisher haben wir die Papiere benutzt, welche uns der Enkel und Erbe Morkow's, Fürst M. A. Obolensky, mitzutheilen die Güte hatte. Zur weiteru Darstellung aber besitzen wir kein ähnliches Material, da die erwähnten Papiere nicht über das Jahr 1786 hinausgehen. Wir müssen uns deshalb mit wenigen und kurzen Andeutungen begnügcu. Unbestimmte Nachrichten, die in einigen ausländischen Broschüren enthalten sind, gehören nicht zn unserer Darstellung. Bald nach erfolgter Ankuuft Morkow's in Petersburg, und zwar iu den ersten Tagen des Januar 1787, reiste Katharina mit den ihr näher stehenden Personen nach Südrußland und der Krim, um die neuerworbeuen Provinzen in Augenschein zu nehmen. Mit dieser Reise stand wahrscheinlich die Ernennung Morkow's zum dritten Mitgliede des Collegiums des Auswärtige« und seine schnelle Abberufuug aus Schweden in Verbindung, obgleich er dort die Hauptsache immer noch nicht zu Ende geführt und die herrschsüchtigen Plane Gustav's mehr erschüttert als vernichtet hatte. Die Kaiserin kannte die ganze UuznverlässigkLit ihrer friedlichen Beziehnugen zu dem Könige von Schweden nur zu gut. Es ist mit Grund anzuuehmen, daß sie die Reise nach Süden schon viel früher als im Jahre 1787 ausznführeu beschlossen, dieselbe aber nur iu der Erwartung eines Krieges mit Schweden verschoben hatte. Indem Katharina Petersburg verließ uud auch den Grafen Besborodko, den ersten damaligen Staatsbeamten, mit sich nahm, wünschte sie offenbar in dem Collegium des Auswärtigeu eiueu Mann zu haben, welcher die schwedischen Angelegenheiten genau kaunte und in einem schwierigen Falle dieselben nicht zu einem allzu frühzeitigen Bruche kommen ließ. 378 Die berühmte Reise der Kaiserin dauerte bekanntlich über ein halbes Jahr. Das Collegium des Auswärtigen sendete alle wichtigen Gegenstände anfänglich nach Kiew und dann an die andern Aufenthaltsorte Katharina's. Den Berichten des Vicekanzlers Grafen Ostermann fügte Morkow beständig seine eigenen Beurtheilungen und Bemerkungen bei, wodurch die Kaiserin noch näher mit den Talenten des Verfassers bekannt wnrde. Sie kehrte in den ersten Tagen des Juli wieder nach Petersburg zurück. Es ist ein Schreiben des Grafen Ostermann vom 1. Juli 1787 vorhanden, worin er den Obercommandanten von Petersburg, den Orafen I. A. Bruce, benachrichtigt, daß Morkow seiner schwachen Gesundheit halber sich wol nicht entschließen könne, zum feierlichen Empfang der Kaiserin an die Grenze des petersburgischen Gouvernements abzureisen. Nach der Rückkehr Besborodko's ward Morkow dessen rechte Hand. Die Freundschaft desselben bezeugen unter anderm folgende Worte dcr Kaiserin, welche in den Ehrapowicki'schen Memoiren augeführt werden. „Er (d. h. Besborodko) ist gewohnt, alle Angelegenheiten mit Morkow uud ohne den Vice-tanzler zu beendigen." ') Dieselben waren aber nicht allein durch die Gewohnheit und ihre langjährige Bekanntschaft, sondern anch durch den Umstand näher verbunden, daß Graf Besborodko, ein Zögling der Akademie von Kiew, trotzdem er mehrere fremde Sprachen kannte, dieselben dennoch wahrscheinlich keineswegs mit Leichtigkeit schrieb und sprach, während Morkow der französischen Sprache vollkommen ^nächtig war.-) 1) D.h. ohne Ostermann. S. Vaterländische Chronik, 1822, X, 355; Memoiren Chrapowicki's. 2) S. die Memoiren Gribowski's in Nr. 2 des „Moskwitjanin", 1847, S. 107. Wahrscheinlich sind deshalb anch alle Schreiben Mor-kow's an Beöborodko in russischer, die an Graf Ostermann dagegen in französischer Sprache abgefaßt. 379 Im Genusse der Freundschaft eines Mannes wie Besborodko gewann Morkow allmählich au Einfluß und nahm nicht selten an deu wichtigsten Angelegenheiten theil. Die Kaiserin betraute ihn sogar mit verschiedenen persönlichen Aufträgen. So befahl sie ihm unter anderm, die Autwort auf das Schreiben des Kaisers von Oesterreich zu entwerfen, worin derselbe die Kaiserin zur Einnahme von Otschakow beglückwünscht hatte. ^) Sie berief ihn nicht fclteu zu Berathungen und beauftragte ihu allein mit der Ausfertigung aller wichtigen Papiere in Beziehungen zu den fremden Staaten; Besborodko war mit vielen innern Angelegenheiten, mit dem Postwcsen, dem Hof-meistcramte beschäftigt, während nebenbei auch die persönliche fremde Korrespondenz Katharina's zu seinem Ressort gehörte. ^) Im Jahre 1792 traten neue Factoreu auf der Scene des Hoflebcns auf, iufolge dessen sich die Lage sowie die Verbindungen Morkow's schnell änderten. Graf Besborodko war am Ende des verflossenen Jahres zur Abschließnng des Friedens von Iassy nach der Moldan abgegangen. Als er wieder nach Petersburg zurückkehrte (im März 1792), war der größte Theil der Geschäfte, deneu er früher vorstand, an den Fürsten (damals noch Grafen) P. A. Subow und an den ueueu Ge-neralprocurator Grafen A. N. Samoilow übergegangen. Die Kaiserin sprach zwar persönlich nicht die geringste Unzufriedenheit gegen Besborodto aus, allein derselbe vermochte, da er beinahe gar kein Referat mehr hatte, seinen frühern Einfluß nicht mehr zu gewinnen und wurde als in Ungnade gefallen betrachtet. Viele glanbten, daß infolge dessen auch Mortow, 1) S. die Memoiren Chrapowicki'ö, Vaterländische Annaleu, 1823, XIV, 48. 2) S. die Memoiren Gnbowski's und die Biographie des Grafen Besborodko in dem Lexikon Bantvscki-Kamenski's. 380 der bisher dessen Freund und rechte Hand gewesen, ebenfalls den Dienst verlassen werbe. Allein es geschah anders. Fürst Subow war genöthigt, sich Morkow zn erhalten; er bedürfte seiner Kenntnisse, seiner Umsicht, seiner Erfahrung und Geschäftsroutine. Der Einfluß, den Fürst Subow erlangt hatte, bestimmte Morkow leicht zum Verbleiben im Dienste, und er wußte sich in kurzer Zeit das volle Vertrauen des Fürsten Subow zu erwerben. Es ward ihm unter anderm die ganze Correspondenz mit den russischen Gesandten an den Höfen von Wien und Berlin in Betreff der polnischen Angelegenheiten übertragen. Einige Zeit erschien zwar als Nebenbuhler Mor-tow's der zeitweilige Liebling des Fürsten Subow, ein gewisser Altesti ans Ragusa; doch vermochte dieser sich mit Morkow nicht zu messen. Die Heftigkeit seines Charakters und seine Aufgeblasenheit richteten ihu zu Grunde; er wurde bald uach Kiew verbannt.') Allmählich begann man Morkow als eine unentbehrliche Persönlichkeit, als den Hauptleiter und Chef des Kanzleiwesens zu betrachten. Er erhielt selbst zur Kaiserin Zutritt. Katharina rief ihn häufig des Nachmittags zur Vorlesung von Briefen und Depeschen zn sich. Zuletzt ging die ganze fremde Correspondenz der Kaiserin in seinen unmittelbaren Geschäftskreis über. ^) Es versteht sich von 1) S. hierüber die Memoiren Gribowsl'i'ö, S. 108 u. 109, sowie die Memoiren der Gräfin Daschkow, Thl. 2. 2) S. die Memoiren Gribowsli's, S. 117 u. 182. Um diese Zeit nahm Morkow als drittes Mitglied des Collegiums des Auswärtigen an dem Abschlüsse von sechs Tractaten theil und erhielt natürlich die bei solchen Gelegenheiten herkömmlichen Präsente: 1) mit Frankreich am 31. December 178l; ans zwölf Jahre, gegenseitige Freundschaft sowie Handel und Schiffahrt betreffend; 2) mit Portugal am 9. (20.) December 1787, ebenfalls auf zwölf Jahre, ununterbrochenen Frieden, Eintracht und Freundschaft sowie gegenseitige Dienstleistung in Schifs-fahrt und Handel betreffend; 3) mit dem nngarisch-böhmischen Hofe am 3. (14.) Juli 1792, auf acht Jahre, eine Defrnstvallianz und 381 selbst, daß Dienstesbeförderung und Belohnungen aller Art sich schnell folgten. Im Jahre 1792 am 24. November, dem Namenstag der Kaiserin, wurde er zum Geheimrath ernannt; im folgenden Jahre erhielt er zwei Orden, den Alerander-Newski- und dem Wladimirorden erster Klasse, eine für die damalige Zeit sehr bedeutende Auszeichnung. Der Reichthum floß ihm in Strömen zu. Er erhielt ein steinernes Haus in Petersburg, dem Winterftalast gegenüber, zum Geschenke (wo sich jetzt das Ministerium der auswärtige« Angelegenheiten befindet), 4000 Bauern in den Gouvernements Podolien uud Weißrußland und die ganze Stadt Letitschew mit ihrem Umkreise (ebenfalls im Gouvernement Podolien). Bald fand auck sein Ehrgeiz neue Befriedigung. Der wiener Hof, welcher die russische Regierung zu ciuer Offensivallianz gegen die französische Republik zu bewegen suchte, trachtete die bedeu-tendsten Personen, welche die auswärtigen Angelegenheiten Rußlands leiteten, auf seine Seite zu ziehen. Zu diesem Zwecke Übermächte der österreichische Premierminister Thugut anfänglich Snbow und später (im März 1796) Morkow und sciueu Brüdern das Diplom ihrer Ernennung zn Grafen des Römischen Reichs. Aus glaubwürdiger Quelle wissen wir, daß Morkow iu Mitte dieser Ehreustellen, und nachdem er endlich zu Reich-thnm und zn einer hohen Stelle im Staate gelaugt war, sich dennoch uicht um die Sichcrstelluug seiner Zukunft kümmerte, gegenseitige Freundschaft betreffend; 4) mit Preußen am 27. Juli (?. Aug.) 1792 auf acht Iah«, eine Defensivallianz betreffend; 5) besgl. mit Großbritannien am ?. (18.) Febr. 1795 auf acht Jahre; 6) mit Oesterreich und Prensien am 13. (24.) October 1795 über die Theilung Polens. Im Jahre 1795 nahm Morkow mit den Grafen Ostermann und Sa-moilow und Varon (dem spätern Grafen) P. A. von der Pahlen an der Commission in Betreff der Besitzungen des Herzogs von Lnrland theil. 382 sich in seiner Stellung nicht zu befestigen wußte, und die Gewogenheit des Thronerben sich entweder nicht erwerben konnte oder wollte. Im Anfang des Jahres 179l> schien ihm alles eine glänzende Zukunft vorherzusageu. Er brachte einen Lieblingsgedanken Katharina's in Ausführung, für dessen glückliche Erfüllung neue Geschenke und Auszeichnungen folgen mußten. Es warb nämlich Morkow damals der Auftrag zu Theil, mit dem schwedischen Hofe über die Verheirathung der Groß-fürstiu Alexandra Pawlowna mit dem jungen König von Schweden, Gustav Adolf II-, dem Sohne Gustav's III., zu unterhandeln. Die Beziehungen wurden durch den russischen Gesaudtcn am schwedischen Hofe, Ändberg, nnd den französischen Emigranten Christin eingeleitet. Alles ging vortrefflich von statten. Schon war Gustav mit seinem Oheim und Vormunde, dem Herzog Karl von Südcrmanland, und mit zahlreichem Gefolge nach Petersburg gekommen, er hatte der Großfürstin gefallen und sie selbst lieb gewouuen. Katharina trimnvhirte. Am Hofe folgte ein Fest dein andern. Es war bereits der Tag zur Verlobung bestimmt und alles für die Abhaltung der Ceremonie vorbereitet, als Zweifel über das Glaubcnsbekenntniß der künftigen Königin entstandeni der König willigte in den Heirathscontract, der ihm von Morkow zur Unterzeichnung vorgelegt wurde, nicht ein und reiste bald daranf, ohne nur von der kaiserlichen Familie Abschied zu nehmen, wieder nach Stockholm zurück. Katharina fand sich durch diesen unerwarteten Ausgaug der Sache hart betroffen. Die ganze Verantwortung für das Mislingen siel auf Morkow. Dies war im September des Jahres 1796. Morkow hatte sich von diesem Schlage, welcher alle Phantasien seines Ehrgeizes zerstört hatte, noch nicht erholt, als ihn ein zwei-tcr und noch viel härterer traf. Am 6. November starb die 383 Kaiserin zum Schrecken des Hofs, über welchen dieses Ereig-niß ganz unerwartet hereinbrach. Die neue Regierung war gleich von den ersten Tagen an eine vollkommene Verneinung der frühern. Ein Augenzeuge der schnellen Veränderung, Graf Th. W. Rostopschin, sagt in seinen Memoiren, daß Morkow wie verrückt herumging, ohne zu wissen, was er thun und an wen er sich wenden sollte. Besborodko kam neuerdings zu Macht und wollte ihm das Vergangene nicht verzeihen. Subow hielt sich noch einige Wochen nnd warf ebenfalls alle wirkliche und vermeintliche Schuld auf Mortow. Am 17. November 1790 ward Morkow des Dienstes entlassen, seines reichen Hauses in Petersburg sowie der Stadt Letitschew beraubt, und erhielt Befehl, die Hauptstadt zu verlassen. Ueber vier Jahre, bis zum Tode des Kaisers, lebte er auf seinen Gütern, größtentheils in dem Dorfe Woitowzi, in der Nähe von Letitschew. Die Langeweile seiner dortigen Einsamkeit theilte mit ihm sein Thcilnehmer au der schwedischen Geschichte, der Genfer Christin, welcher ebenfalls in einem ihm ehemals von der Kaiserin verliehenen ftobolischen Dorfe lebte. Mit der Thronbesteigung des Kaifers Alexander beginnt eine neue und zwar die letzte Periode der Thätigkeit Morkow's. Eine persönliche Zuneigung hatte der Kaiser nie für ihn gefühlt; aber er schätzte feine diplomatische Erfahrung und beeilte sich, ihn nach Petersburg zurückzurufen, um die damals ziemlich verwickelten Beziehungen zu Frankreich wieder in Ordnung zu bringen. Seit ungefähr zehn Jahren befand sich kein Vertreter Nußlands mehr in Paris. In den letzten" Monaten der Regierung Paul's hatte zwischen Rußland und Frankreich eine Annäherung begonnen. Der Erste Consul suchte eine Allianz mit Rnßland; dem Kaiser Paul aber war es nicht mehr bcschieden, einen Gesandten für Paris zu be-stimmeu. Die Ernennung Morkow's, welcher vorher noch mit 384 dem Range eines Wirklichen Geheimraths bekleidet wurde, sollte Bonaparte zeigen, wie hoch man in Petersburg das gute Einvernehmen mit Frankreich anschlage.') „Rußland war in Paris durch einen in dcn Rauken der diplomatischen Wissenschaft bewanderten Minister vertreten", sagt Karamsin in seinen Annalen über das alte und ncne Rußland; „die Wahl eines solchen Mannes bewies, wie sehr Alexander die Wichtigkeit dieses Postens erkannte, was der Eigenliebe des Ersten Consuls nnr schmeicheln konnte." UebrigeuS spricht sich dieser Geschichtschreiber durchaus nicht günstig über Morkow aus und tadelt dessen starrsinniges Benehmen gegen Bonaparte und Tallehrand mit bittern Worten. ^) Wir wollen diese Beschuldigungen nicht wiederholen; als Stimme eines Zeitgenossen mögen dieselben allerdings etwas leidenschaftlich sein. Das Verfahren des Grafen Morkow, welches selbst bisjetzt noch nicht ganz aufgeklärt ist, konnte von seinen Feinden, an denen er durchaus keinen Mangel hatte, in Petersburg nur zu leicht in einem schlechten Lichte dargestellt worden sein. 1) In Paris verblieb Mortow von der Mitte des Jahres 1801 bis zum October 18W. Es befanden sich damals bei dem französischen Consul folgende Gesandten: der englische, Mercy; der spanische, Graf Asora; der prenßische, Marquis ^nechcsini; der neapolitanische, Marquis Gallo; der österreichische, Graf Cobenzl, ein altcr Petersburger Bekannter Morkow's; von den Vereinigten amerikanischen Staaten, Livingstone; sowie der päpstliche Cardinal Caprara. Wir entlehnten diese Namen aus dem neuen Werke Villemain's: ^onv^niri-, cont«npc»'mu8 l8t,on-o ot,lo littüiÄtur« (S. ?<)), woselbst es in Betreff des Grafen Mortow heiszt: „I/ambaHSädeur äsKussie, 1« eoint« Uorliu>v, eouvsrt lie eilÄMÄnt,» olimmtz pour nim^ner par Ili uia^nilioonoe 6o 5» pururs Ik« dnns 8entim6ng <1k 8ll cmir." 2) Graf Morkow hatte mit Talleyrand heftige Debatten wegen des obcngenannteii Christin, welchen er mit sich nach Paris genommen nnd den der Erste Consul als einen eifrigen Anhänger der Bonrbonen verfolgte. Gesandtschaftssecretär Morkow's war Baikow, 385 In jedem Falle aber ist gewiß, daß Morkow iu Paris als selbständiger Bertheidiger der russischen Interessen auftrat. Als Zeitgenosse der Regierung Katharina's erkannte er die Bedeutung des Reichs, dessen Repräsentant er war. Eingedenk des Ruhms, welchen die russischen Waffen erst vor kurzem ans den Gefilden Italiens und in den Alpen crrnngen, bellahm cr sich gegen den Ersten Consul, welcher bereits damals die Hand nach der Kaiserkrone ausstreckte, stolz nnd hartnäckig. Dem alten Diplomaten mochten die neuen Manieren der Napoleonischen Regierung nicht behageu. Er fühlte sich durch daS unceremomelle militärische Wesen des Mannes tief verletzt, welcher ans dem einfachen Bürgerstande hervorgegangen, das Schicksal Europas in seine Hände genommen hatte. Es mußte sich zwischen beiden nothwendig eine persönliche Feindschaft bilden. Ueber das damalige Leben nnd die Thätigkeit Mor-kow's in Paris können wir den ausführlichen Nachrichten, welche man bei Bignon und Schlosser findet, nichts Neues von Belang hinzufügen. In der von Bantysch-Kamenski verfaßten kurzen Biographie Morkow's sind mit den Worten von Zeitgenossen folgende Erzählungen über das Benehmen Morkow's gegen Bonaparte aufgenommen: Der Erste Eonsnl trat einmal in dao Empfangszimmer ein nnd begann mit den Gesandten zu sprechen, ohne Morkow seiner Aufmerksamkeit zu würdigen; Morkow Wendete dem Ersten Eonsul sogleich den Rücken nnd verließ den Palast. Wenn Bonaparte einen Ball gab und Morkow nicht einlud, so verfuhr letzterer am folgenden Tage in gleicher Weise gegen ihn. Einst lenkte Morkow nach einem Diner die Unterhaltung mit Napoleon absichtlich auf die Gartenkunst, zeigte sich äußerst liebenswürdig, lobte die Anlagen und den Luxus der Hofgärten nnd erweckte in ihm die Lust, sich in der frischen Luft zu ergehen; kamn waren jedoch beide die Russische FragmMe. II. 25 386 Treppe hinabgestiegen, als Morkow ein Zeichen zum Vorfahren seiner Equipage gab, einstieg und davonfuhr, sodaß es allen übrigen Gästen vorkam, als habe Napoleon ihn bis an bett äBogetl begleitet. „C'est tout le jacobinisme renferme dans iin seul homme et arme de tous les instruments r6vc>1uti0nii3,iro8" — waren die Aeußerungen Morkow's über Bonaparte. Den äußern Vorwand zu einem offenen Bruche gaben eiuige Broschüren sowie die Arretirung Christin's, welcher der russischen Gesandtschaft zugetheilt war. Der Erste Cousul schöpfte Verdacht, daß Christin, als alter Royalist seit lauge schon in Beziehuugeu zu dem Herzog von Artois, Verschwörungen zu Gunsteu der Rückkehr der Bourbonen nach Frankreich anzettele. Auf seinen Befehl wurde Christin in der Schweiz festgeuommen, nach Paris trausportirt nnd in den Temple zur Haft gebracht. Napoleon ging (am 21. September 180''») bei einer feierlichen Audienz, in Gegenwart einer zahlreichen Versammlung, ungestüm auf Morkow zu und schrie mit lanter Stimme: „Es kommt mir außerordentlich sonderbar vor, daß der russische Gesandte einen Schweizer, welcher Verschwörungen anzettelt, in seinen Diensten behält." Nachdem er noch einen ganzen Strom beißender Reden ausgestoßen, sagte er: „Es ist noch nicht so weit mit uns gekommen (teiieinOnt a la ciueliouilis), daß wir ein ähnliches Benehmen dulden; ich werde in Zukunft einen jeden verhaften lassen, welcher gegen das Interesse Frankreichs handelt." Nach dieser Scene brach Morkow alle Beziehungen zu dem Cabinet der Tuilcrien ab. Bereits im Juli 1803 hatte Napoleon mit Umgehung dcr russischen Gesandtschaft ein eigenhändiges Schreiben mit Klagen über Morkow an den Kaiser Alexander gerichtet. Allgemein erwartete man schlimme Folgen für Mor-kow. In dcr That wurde er auch von Paris zurückberufen; zum Abschiede lud er jedoch feme pariser Bekannten zu sich 387 ein und setzte sie alle in nicht geringes Erstaunen, als er sich ihnen mit dem Andreasbande zeigte, welches ihm der Kaiser zngleich mit dem Befehl, nach Petersburg zurückzukehren, übersendet hatte (16. October 1803). ^) Ein offenbares Zeichen, daß man mit seinem Benehmen zufrieden gewesen. Mor-kow übergab die Geschäfte dem Gesandtschaftsrath I. P. Ou-bry, ging nach Wien und von da nach Petersburg zurück. Hier möchte es am Orte sein, die von dem Autor seines Nekrologs gebrauchten Worte zu wiederholen: „Graf Mor-kow erkannte auf den eisten Blick die Gefährlichkeit des Ehrgeizes Napoleon's, war fein entschiedenster Feind Md wies seine Ausfälle jedesmal durch ebenso beißende wie energifche Entgegnungen zurück." — Die Ereignisse ^rechtfertigten seine Grundsätze sowie das bestimmte Beharren bei denselben wenigstens in der Folge. Das Jahr 1812, der Sturz Napoleon's und der vorzügliche Antheil, welchen Rußland an dem Um-schwnng des Schicksals Europas nahm, entsprachen vollkommen der Richtung, welche Morkow der russischen uud europäischen Politik zu geben suchte. Mit der Abberufung aus Frankreich war der active Dienst Morkow's zu Ende. Im Jahre 1804, im siebemmdfuufzigstcn Lebensjahre, nahm er seinen Abschied. Man gab ihm noch den letzten vollen Iahresgchalt nnd eine Pension von 1W00 Nnbeln. Dieses Geld sowie das in seinen frühern Dienstverhältnissen erworbene Vermögen erlaubten ihm, ein ruhiges und vollkommen unabhängiges Leben zu führen. Er lebte theils auf seinen Dörfern, theils in Moskau, wo er ein reiches Hans besaß. Oefter noch theilte er der Regierung seine Ansichten über die damaligen Zeitereignisse mit. So reichte er im Jahre 1808 ein Memoire ein, worin er den Vorschlag machte, den Anf-stand der Spanier nnd die Unglücksfälle der Franzosen auf 1) Er erhielt für die Reise 12000 Rubel. 25'" 388 der Pyrena'ischeu Halbinsel zu benutzen und die Netze zu zerreißen, in welchen Napoleon seine Verbündeten nach dem Tilsiter Frieden verstrickt hielt. Im Jahre 1«20 wurde Morkow zum Mitglied des kaiserlichen Raths ernauut und siedelte von ncucm uud zwar für beständig nach Petersburg über, nahm jedoch fast gar keinen Theil mehr an den Geschäften, widmete den größten Theil seiner Zeit den Karten und ergötzte feine Bekannten durch seine heitere Laune.') Seine sarkastischen Bemerkungen uno Calcmbourgs waren stadibekannt. Die Last der Jahre drückte ihn jedoch nieder u,nd schwächte nicht nur seine physischen, sondern auch seine geistigen Kräfte. Einer seiner Zeitgenossen schildert uns sein letztes Zusammentreffen mit ihm im Paradedienste bei der Leiche des Kaisers Alexander Pawlowitsch im Jahre 1826: alles, was ihn umgab, war ihm fremd, und er nahm nicht den geringsten Antheil an den damaligen Gesprächen und Neuigkeiten; er kam zum Nachtdienst mit einem Roman von Walter Scott in der Tasche. Am 29. Januar 1827, im cimmdachizigstcn Jahre seines Alters, starb er, nachdem er noch vorher die heiligen 1) Man erzählt, daß Morkow sich einmal bei der Kaiserin Maria Feodorowna mit einem alten deutschen General befand. Die Kaiserin fragte die beiden, womit sie dcnn die Zeit vom Morgen bis zum Abend zubrächten. Der General erwiderte, daß er morgens nm 6 Uhr anf-stehe, um 7 Uhr frühstücke, um halb 9 Uhr Briefe schreibe, eine Stunde spazieren gehe u. s. w. „Und Sie, Arkady Iwanowitsch", wmdcle sich die Kaiserin an Morkow, ,,Sic stehen gewiß erst am Nackmittag ans; ich höre immer das Gerassel Ihres Wagens, wenn Sie vom Karten» spiel nach Hause kehren." „Nnäam«", antwortete Morlow, ,,^'»>mL nneux iairo i-l^n, c^i« 6u suiro äe« rions." — Irgendein Senator spielte mit Morlow Karten. Die Partie dauerte sehr lange und Mor« kow verspielte. Nährend er Geld ans der Brieftasche nahm, sagte der Senator: „Ach! das hat Mühe gekostet; ich bin zn Tode matt." Bei diesen Worten reichte ihm Morkow das Geld hm uud sagte: „Nehmen Sie, mein Herr, es ist für das Begräbniß." 389 Sterbesakramente empfangen.') Seine Leiche wurde in bom alten Kirchhofe des Newski-Klosterö beerdigt. Morkow war von mittlern: Wnchse; feurige nnd durch-oringendc Augen und ein spöttisches Lächeln belebten sein unschönes und mit Pockennarben bedecktes Gesicht. Als Devise hatte er sich den lateinischen Spruch gewählt: „ßtado c^o-«ums^li6 terÄr" (^„Ick) erhalte mich, wo ich stehe"). Morkow war nicht verheirathet. ^) Auf sein Ansuchen erfolgte jedoch am 29. April 1801 eiu allerhöchster Ukas, welcher alle Rechte auf seiu Vermögen und seine Titel auf sciue Pflegetochter Barbara Arkadicwna übertrug. Deren einziger Sohn aus der Ehe mit dem Fürsten Sergej Iakowlowitsch Galizin, Fürst Arkady Sergejewitsch, diente im Kaukasus, in der diplomatischen Kanzlei nnter Fürst Woronzow und starb im Jahre 1847. 1) Vantysch-Kamenski erzählt, baß Mortow noch knrz vor seinem Tode uach Karten verlangt lind sich aufgerichtet habe, um mit seinen Freunden zu spielen, woranf die Karten seineu erstarrten Händen ent-sielen. Doch wird diese Anekdote von Leuten, welche mit Morkow persönlich bekannt waren, nicht bestätigt. 2) Er selbst erzählt, daß Katharina ihn mit einer ihrer Lieblings-Hofdamen, Anna Stcpanowna Protassow, verhcirathcn wollte, welche jedoch nichts weniger als schön war. Morkow gab sich das Ansehen, als ob er von der Absicht der Kaiserin nichts wisse. Nach wiederholten Anspielungen fragte ihn die Kaiserin endlich direct, warum er Fräulein Protassow nicht Heirathe. „Niemand verehrt Anna Stepanowna mehr als ich", erwiderte Morkow; „allein Ew. Majestät werden zugestehen, daß sie häßlich ist, daß anch ich häßlich bin, und daß wir beide nur dag Menschengeschlecht verunstalten würden." Druck uon F. A. Blockhaus in kcipzig. vrrlaq »»on F A, Vrocliljittts m llipziq Geschichte Rnssischen Reiches Nach der zweiten Original'Ausgabe übersetzt. Elf Äändr. Mit des VMsstt5 I>,lö,nft, ^. l<) Thlr. Heine in die Steppen des südlichen Riisnhimls, miteriiomnten von Dr. Fr. Goebel iu ]!<\i>-i<:iiii»M' drr IIcütimi Or. ('. ülaus und A. Bergmann, Zwei Theile. Nil !^ slllj0j;rap!)irlen Anslchlm und mm Illttle »nin t>n' Imusu'ol^nijchcll '.'kW' 4. ^5 11>lr, Nilßlands Novellcildichtcr. Ncderlragcu und ulit biograpliisch-kritischcn Emleitullgou von Wilhelm Wolfsohn. Drci TlMc. 12. l Thlr. l. Helena Hahn: Dschellalcddm; Utballa. Alckandcr Pnschtm: Die Capilain^tuchtei,'. ll. NltolallS PlWlUw: Der MastV'lchaU; Dcr Nameiista^: Eine Mlliun; Dcr Malaga». in, Alexander He^cn: Wcr ist Hchuld? s.