lrlluill2cn Am5>iMll5. Von Uaul Kunfalvp. ^Frci aus dem Ungarischen. Verlag von Duncker «^ Hum blot. 1874. Reise ill den (Mecpromlyen. Rtisc in dm SMtMMMM AmÄltlttlK> '^ou Jaul Hunfalvy. Frci aus dc ul ll u n arische n. Verlag v o i: D u n ä c r ^ Hum blot. 1674. Inhalt. i. Vun TlMM nach Niga......'...........Scitc I. (Danzig. Der deutsche Orden, Hermann v. Salza. Betrachtungen deö Bürgermeisters von Eydlknhnen, Königsberg; Kant; daö Universitätsgcbäudc. Die Gebäude Stiiler's. Wirballen; die rnssische Eisenbahn. Polen uud Litthauen von 1300—1572. Dünabnrg) II. -Mga. ......................Seitc 17. (Riga. Statistische und historische Skizze des Est-, Liv- und Kurlandcs. Liu-land mit Polen vereinigt. Polen seit 1572. Stephan Bathory, mächtiger Beherrscher Polens; ein Freund der Jesuiten. Die Gegenreformation bringt das schwedische Wasagcschlecht auf den polnischen Königsthron. Krieg zwischen den schwedischen und polnischen Wasa'ö; Livland kommt unter schwedische Macht. Schwedische Bcsitzverleihungeu lind nachhcrig« Reduction«:. Der große, nordische K'vieg vereinigt Est« und Livland mit Rußland. Auch Kurland wird russisch. — Ethnographische Skizze der drei Hcrzogthümcr; der tivische, estnischc lind lettische Bauer; der deutsche oder sächsische Herr. Znstand der Baueru bis 1804 und 1819. — Geschichte uud Verfassung der Stadt Niga, das eine reine Hansastadt. In Riga keine estnischc Elementarschule.) III. Von Nissll nach Neval...............» . Seite 47. (Von Riga nach Ncval. Die Werke Schirren'S und Samarw's. Die neuere russische Politik gegenüber den Ostsee^Provinzcu; deren Vertheidigung gegen die Angriffe der russischen Politik. Der Hafen von Hapsal. Peter der Große unterwirft die Provinzen seiner Herrschaft nicht als eroberte, sondern alö erworbene. Betrachtungen über die Polnische und schwedische Politik gegenüber den baltischen Provinzen; ob es auch Rußland so ergehen wird? Ankunft in Reval.) IV. In Torpat.....................Seite 73. (Ernteanösichten. Wie man hier reist. Eine kurze Sommernacht, Estnischc Sage von Koit uud Ämarik. Der Küstenstrich des Dorpater Vczirks der Herd __ VI — der estnischen Sagcil. Lage der Stadt Dorpat; Geschichte Die Freiheitofeier des cstnischeil Volts. Die Wanemniuc-Gesellschaft. Zustand der cstnischcn Vauern nach 1819. Ihr'Loos Wird durch die Gesetze von 1840 und 1865 gebessert. Sie erlangen Grundbesitz. Das Fest währt drei Tage. Das Acußcre, die Lernbcgierdc des Volts, Die Esten halten früher icine Familiennamen. Der Bürgermeister von Dorpat,) V. Religion......................Seite 93. (Der religiöse Eiser des Volkes. Der Nystädtcr Friedensschluß begründet die Parität der religiösen Bekenntnisse in den baltischen Provinzen. Im russischen Reich ist die orthodoxe Kirche die herrschende, die übrigen sind nnr tolcrirt. Peter der Große macht sich znm Oberhanpt der orthodoxen Kirche. In den baltischen Provinzen verschwindet die Parität der Bekenntnisse. Die russische Geistlichkeit kommt in's Land. Die Bekehrungen von 1845—1846. Die Bekehrten sehnen sich znrnck. Die Rundreise nnd der Bericht des Grafen Bobrinski. Die Rundreise des ErzbischofH Platon. Einige Concessionen. Walter, Döbner, Platon werden ihres Amtes entsetzt.) VI. Tic cstnische Literatur..................Seite 117. (Estnische Volkssagen. Kreutzwald nicht in Torpat. Lydia, eine estnische Schriftstellerin; der Wassermüllcr. Iannscn und die cstnischc Journalistik. Leo Meyer. Die Dorpatcr Universität. Die Sammlungen der Estnischen Gelehrten Gesellschaft. Vognlische^ Evangelium. Historische Skizze der est-uischen Literatur. Entstehung nnd Thätigkeit der Estnischen Gelehrten Gesellschaft. Das Gedicht der Kalevi-pocg-Sage. Andere Arbeiten Krentzwald's. Wiedemann's estnisches Wörterblich.) ' VII. Ucbcr Fellin nach Ncval................Seite 143. (Die Iohauuisuacht in Dorpat. Znm Gotleödienst eilende Wagen. Um-Mimmgen der Acckcr. Die Kirche von Pohja-tüla. Volt auf dem Wege nach Nannokirk. ^Itobbenspeck und -Fett. Wirtz- «der Wörts-järv. Der Embach bernhint. Mahrchen vom Emmu- nnd Wirtz-järv. Hallswirth in Neietüla, seine Gebäude nud Leistungen. Felliu. Aufenthalt in Wöh'ma. Anni-tüla. Die Leistungen der Kisacr Banern. Antnnft in Neval.) VIII. Ncval......................Seite 160. (Neval nnd die Äalev-Sage. Die dänische Eroberung. Die Geschichte der Stadt. Peter dcr Kroße in Neval. Die städtische Verwaltung und ihre Beamten. Die städtischen Unterthanen. Die städtischen Einnahmen. Die Bevölkerung der Stadt. Ihre Kirchen. Estuische Kirche lind cstnischer Gottesdienst, Statistischer Ausweis dcr estnischen Gemeinde. Das Hans dcr großen Gilde. Geschichte der Domschnle. Ernst Karl Bacr, ihr einstiger Schüler, rühmt sie. Verschiedene Systeme derselben. Die für die militärische Laufbahn — VII — ' sich Vorbereitenden werden russisch unterrichtet. Die Störung der Schule im I. 1854. Sie feiert das Jubiläum Baer'6 im I. 1864. Baer schreibt im I. 1844 über Negnly. Heutige Verfassung der Domschule. Die russischen Gymnasien. Die Vielsprachigkeit ist nirgends zu vermeiden. Katharincntbal. Kosch. Die Brigittenruine. Eille Arl Einsiedler-Wohnung. Kahnfahrt auf bewegter See.) IX. Der frühere Zustand der Esten..............Seite 184. (Das Interesse für die vorhistorische Zeit der Nationen. Heinrich der Lette beschreibt als Angeuzcngc die Eroberung dcr baltischen Provinzen. Wie be-tnigen sich die linterdrückten Letten gegen die Christen? Die vier Bezirke der Liucn. Sie fühlen zuerst die Wirkung der Eroberuug-, sie empören sich mehrmals. Unter ihnen entsteht die ^civocatia, welche bald in, Verfall geräth. Die christlichen Liven sind grausam gcgcu die Esten. Der Live Kaupo ist treu. Die Vezirle der Esten; sie ve-rtheidigcn sich energisch. Der Este Lembit. Kilegund. Maja. Maleva. Nagat ^ Häute als Geld. Estnische Städle. Tharapita. Losung. Die Sage. Taara. Mko. Iumal. Wanemuinc. Dem Menschengeschlecht gehen Niesen voran. Kalev. Kalev's Sohn ^ Kalcvipoeg. Geschichte der Kalevipoeg-Sagc. Die Sänge (Betten) deö Kalcvipocg. Die Sage ist mir ein Bruchstück.) X. Tic Verwandtschaft der MMnschen Sprache.........Seite 200. (Die cstnische Sprache ist cm Dialekt der finnischen. Die sprachliche Verwandtschaft hat einen bestimmten Charakter. Nur ursprüngliche Wörter tönuen hierbei entscheiden. Jede Sprache hat eine zwiefache, einc äußere und eine innere Geschichte. Die Sprachen verändern sich. Die localen Verzweigungen der Grundsprache crzcugen die verwandten Sprachen. Die Verwandtschaft beweisen einzelne Wörter und die grammatischen Formen. Unter den Wörtern fallen die Zahlwörter sehr in'S Gewicht. Die ungarische Sprache ist im Allgemeinen mit den finnischen, besonder« aber mit den ugrifchen Sprachen verwandt. Die heutigen und einstigen Wohnsitze der finnisch-ugrischen Völt'cr. Die Resultate vergleichender Sprachforschung habcu historische Gtanbwnrdigken.) XI. In Petersburg.................... Seite 228. (Schiefncr. Dampfschiff Vekanntschaft. Ein russischer Oberst, der an dem ungarischeil icriegc Theil genommen. Kronstadt. Die Newa. Petersburg. Die Verehrung der heiligen Bilder. NewM-Prospet't. Bazar. Sommcr-garten. Kaiserliche Akademie der Wissenschaften. Kunik. Die Isaatskirche. Das Monument Peters des Grosten. Ein Spazicrgang auf den Inseln der Newa. Die Confessious-Vcrhältuisse des russische,: Reiches. Sekten. Kaiserliche Sammlungen. DaöHaus Pctcrö des Großen. Ausflug auf« Land.) I. Von Daiyig nach Riga. (Danzig. Der deutsche Orden. Hermann v, Salza. Betrachtungen des Bürgermeisters von Cydtknhucn. Königsberg- Kant; das Universitätsgebäude. Die Gebäude Stiilcrs, Wirballen; die russische Eisenbahn. Polen nnd Litthauen von 1300—1572. Dünaburg.) Die Ostsee oder das baltische Meer nimmt wohl in der Geschichte der europäischen Menschheit keine so hervorragende Stelle ein, wie das mittelländische Meer. Doch ist seine Bedeutung für die östlichen und nördlichen Reiche, von denen auch Ungarn sowohl in der Vergangenheit beeinflußt wurde, als auch in der nächsten oder einer ferneren Zukunft beeinflußt werden wird, nicht gering. Nnd wo könnten wir"nützlichere ethnographische Studien machen, als in den Ländern des baltischen Meeres? Vielleicht, daß es auch aus anderen Gründen Zweckmäßig sein wird, dahin zu reisen, buchte ich, und stieg Anfangs Juni im Jahre 18Ü9 in Danzig aus, welches der ungarische Reisende im 17. Jahrhundert nnd die damalige ungarische Literatur Danzka nannte. Die Gassen Danzigs (polnisch Gdansk) find überraschend. Dieselbe betrachtend, dünkt man sich iu cmcm Theater, dessen Dekorationen der Wirklichkeit ganz nahe kommen. Die mittelalterlichen Gebäude, die nach oben sM auslaufcndcn Giebel, und die die Straßen einengenden Auf-gange, welche steinerne Löwen und andere plastische Werte zieren, haben sich hier besser erhalten, als selbst in Lübeck. Wir befinden uns in einer Hansestadt, die das Acußcre von einst bewahrt, als ob es sich unserm Jahrhundert noch nicht anschmiegen wollte oder nicht könnte; von wcl-cher wir aber gleich herzlich gerne bekennen, daß sie daran wohl thut, so lange als möglich das zu bleiben was sie ist. Die beiden Arme der Motlau nmgeben die Stadt von Ost, — das kleine Flüßchen Nadanne Hunfnlvy. 1 __ >>__ vou Nord-West^-und ergießen sich nach ihrer Vereinigung in die Weichsel. Das Meer und dic Weichsel gaben der Stadt ihre Bedeutung, jenes, indem es dieselbe mit den Hansestädten verband und den Handel beförderte, diese, indem sic die Produtte Polens in die einzige Hafenstadt, über welche das große Neich mit anderen Reichen in Berührung treten konnte, herbeiführte. Nach Odessa ist Danzig die größte Getrcidc-Exportstadt Europas. Die Gctrcidcnicderlagcn sind auf der sogenannten Speicher-iusel, welche für 2,625,(>()() Scheffel Getreide Raum hat, und in welche man weder Feuer uoch ^icht tragen darf. Auch wohnt Niemand auf der Insel. Da die Stadt eine Festung ist, so schmücken dieselbe alte und große Thore, wie das im Jahre 158tt erbaute Hohe Thor, das 1612 erbaute ^anggassenthor, endlich das Grüue Thor, Oliva-Thor u. s. w. Das berühmteste Haus des Langemarkts ist das Stadthaus aus dem 14. Jahrhundert, mit einem im Jahre 1566 crbautcu Thurm, in welchen mau uus zu uuscrm Bedauern nicht hinauf ließ, da man eben die Treppen baute. Mit um so größcrem Interesse betrachteten wir den Be-rathuugssaal, dessen Gleichen mau sich bei uus nicht einmal träumen ließe, da in den früheren Jahrhunderten vor der Türlenzeit bei uns nur wenig gebaut wurde, während derselben daran nicht einmal gedacht werden konnte und nach derselben sogar das niedergerissen wurde, was die Türken verschont oder selbst gebaut hatten. Hier kanu sich das Auge au den Ornamenten erfreuen, welche den Plafond des Saales zieren, an den künstlerischen Wandschnitzcrcien aus Holz, welche man jetzt, wo es etwas gu rcparircu gilt, nachzumachcu kaum im Stande ist. — In dem benachbarten Artus- oder Iunkerhof (im Mittclalter das Waarcnhaus der Großhändler, jetzt die Börse) bewundern wir den hohen Saal, dessen Gewölbe auf vier schlanken Granitsäulcn ruht und dessen Bilder nicht minder sehenswert!) sind. Das schönste Bild Danzigs befindet sich jedoch-in der Marienkirche. Diese hat leider keinen Platz, da die Häuser ganz nahe daran gebaut wurden. Und doch ist die Marienkirche eine der schönsten in den Bändern der Ostsee, und wie man sagt, die größte evangelische Kirche. Ihre drei Schisse sind gleich lang uuo hoch. In einer Kapelle befindet sich ein berühmtes Crucifix aus Holz, welches die Danziger für eine Arbeit Michel Angclo's ausgeben, iu einer andern ein im Jahre 146? gefertigtes Gemälde, auf einem großen Flügclaltar, welches das letzte Gericht darstellt und ein Werk Mcmlings ist; das ist das berühmteste Bild Danzigs. Im Jahre 1807 führten es die Franzosen nach Paris, doch haben es die Preußen von dort zurückgebracht. König Friedrich Wilhelm III. bot der Stadt 4<),^)it,u,1i« N^riao loutoniooruin Ititiruso-I^mitllni) wurde 11W von brcmcr und lübischen Bürgern gestiftet, zur Vertheidigung des heiligen Landes und zur Pflege der Pilger. Pabst und Kaiser bestätigten in, I. N91 den Orden, dessen Ritter das- — 5 — schwarze Kreuz am weißen Mantel trngen. Der vierte Meister Herrmann von Salza (seit 1210) wurde vom Kaiser Friedrich II. zum Reichsmitglicd und Großmeister ernannt, und brachte dcn Orden bald zu Macht nnd Ansehen, der überhaupt bereit war gegen die Heiden auch außerhalb Palästina's zu kämpfen. Auch der ungarische König Andreas II schenkte demselben im I. 1217 ein Landesgebiet in Siebenbürgen >>r-renn Nornlw", damit er es gegen die heidnischen Kumanicr sichere. Und der deutsche Orden dehnt seine Eroberungen bis in die Walachei aus, lultnl innnte» niviuin), wo bereits im I. 1.224 anf kumanischcm Boden ein Bisthum entsteht, dessen Bischof die päpstlichen Briefe ^pi^oapu« ^umtnioruiu" nennen. Doch Andreas zieht seine Schenkung zurück und der deutsche Orden hört hier bald auf zu wirken. Der Ordcns-Großmcistcr, der berühmte Herrmann von Salza weilte als kaiserlicher Bote in den lombardischcn Städten, als eine Gesandtschaft des Herzogs von Masovicn zu ihm kam, von ihm die Hilfe des Ordens gegen die heidnischen Prenßcn zu erbitten und ihm dagegen die Gegend von Kulm und Löbau Zum Geschenk anzubieten. Das Bündniß zwischen dem Orden und dem polnischen Fürsten bestätigten Kaiser und Pabst, und Herrmann von Salza schickt Hermann Balk mit einem Haustein Tapferer dahin, die sich im I. 122^ in Masovien niederlassen. Der Orden beginnt im I. 1230 den blntigen Krieg gegen die Preußen, der mehr ein Vcrtilgnngs- als Bckehrungslricg war, und im I. 1283 mit der Unterjochung nnd der Taufe der Heiden endet. Die Nachbarn der Preußen, die Lithaner, halfen jenen oft gegen die deutschen Ritter, und so geschah es, daß der Orden einmal Ottokar, dcn mächtigen Böhmenköuig, nm Hilfe anrief. Dieser, Folge leistend, richtete einen siegreichen Feldzng gegen Prcußcu und Lithauer, und gründete bei dieser Gelegenheit im I. 1255 eine Festung, deren Name deshalb Königsberg wnrdc und die bis zum hcntigcn Tage in der danach genannten Stadt besteht. Der Orden selbst erbaute im I. 1274 zur Ehre Mariens eine zweite Festung nnd so entstand das heutige Marien-burg an dem Flusse Nogat. Als die Sarazenen Palästina wieder einnahmen, wurde der Sitz des Ordens von dort zuerst nach Venedig, dann nach Marburg verlegt. Siegfried von Fcnchtwangcn, Großmeister von 1306 — 9, erweiterte die Festung Maricnbnrg und verlegte den Sitz des Ordens im I. 1309 hierher. Wir sahen bereits, daß dieser im I. 1310 auch Danzig eroberte. Unter dem Großmeister Winrich von Kuiprode (1351—82) erreichte der Orden seinen Gipfelpunkt: er besiegt im I. 1376 auch die Athaucr. Denn der Orden richtete nach der Unterwerfung der Preußen — 6 ^ seine Waffen gegen die Lithauer, jedoch ohne bleibenden Erfolg. Die lithauischen Fürsten wurden l bringt das schwedische Wasageschlecht auf den polnischen Königsthron. Krieg zwischen den schwedischen und polnischen Wasa's; Livland kommt unter schwedische Macht. Schwedische Ve-sitzvcrlcihungcn und nachhcrige Rcductionen. Der große nordische Krieg vereinigt Est- und Livland nüt Rußland. Auch Knrland wild russisch. — Ethnographische Skizze der drei Herzogthnmcr; der livische, cstnische nnd lettische Bauer; der deutsche oder sächsische Herr. Znstand der Vaueru bis 1804 und 181». — Geschichten. Verfassung der Stadt Riga, das eine reine Hansastadt. In Riga keine estnische Elementarschule). Vom Bahnhof durch die Vorstadt an dem sich großartig präsen-tircndcn auf offenem Platze befindlichen Theater vorbeifahrend gelangen wir in die innere Stadt, deren Gassen schmal und trumm sind, und wir steigen in einem Hotel nahe an der Düna ab, uns gegenüber das Schloß, in welchem der Gouverneur wohnt. Denn Riga ist nicht nur Hauptstadt der eigentlichen livländischcn Provinz, sondern anch der sogenannten Ostsee-Provinzen, d. h, von Est-, Liv- und Kurland, welche Zusammen das heutige russisch-livländischc Gouvernement bilden. Riga ist nach Petersburg die bcdcntcndstc rnssischc Handelsstadt am baltischen Meere, obwohl es zwei Meilen landeinwärts liegt. Aber die Düna, welche wirklich die livländischc Donau ist, (russisch Dwina, lettisch Daugava), nnd aus dem Innern Rußlands, dem twerischcn Gouvernement, erst südlich, dann westlich fließt, ist bei Riga 1500 Schritte breit und bis hichcr gehen die Seeschiffe, deren eigentlicher Hafen Dünamünde (Mimdung der Düna) ist. Hunfalvl). 2 — 18 — sich belauft; die Nusseu grhörcu natürlich zur orientalischen Kirche, doch befinden sich untcr ihnen auch viele Rastolniks, Abtrünnige, die seit lauger Zeit hier wohucn, wo sie ein Asyl vor Verfolgungen fanden. Verhältnismäßig gering ist die Zahl dcr Katholiken und Juden. In der Stadt befinden sich dreizehn steinerne und Zehn hölzerne Kirchen. Untcr den crsteru sind sieben lutherische, die gleichzeitig die bedeutenderen nnd älteren find; vier russische, eiuc rcformirte, cinc katholische nnd cinc anglikanische; von dcu hölzerneu sind zwei lutherisch; auch die Kirche dcr Naskolniks und die Synagoge sind aus Holz. Riga besitzt ein Polytechnikum, zn dem die Stadt den Grund und 100,000 Rubel geschenkt hat und zu dessen Erhaltung dieselbe 10,000 Rubel, das Börsen - Eomite gleichfalls 10,000, zwei andere städtische Vereine 2000 Rubel, 0 Proviuzialstädte Zusammen 1W0 Nndel, die baltische Ritterschaft endlich Z750 Rubel jährlich beitragen. Die Stadt besitzt ferner zwei Gymnasien, eine Marineschule ?e. Anf den Bau des Hafens wurden von 1850—1861 2,040,000 Rubel verwendet, was allem schon auf Wohlstand hiudcutct. In einer fremden Stadt an dcu Fluß eilcu, wenn einer da ist, und von dort dann einen höheren Thurm besteigen, heißt so viel als uns einheimisch machen. Ueber die Düua führt cinc Schiffsbrücke in die Mitaucr Vorstadt. Die Brücke ist laug und criuncrt an die einstige Pester Schisssbrücke; doch die Ufer der Düna siud flach. Auffallend find die Wagcu uud Kutscher. Icue siud Zumeist einspännig, mit ciuem sehr schmalen Sitz, so daß zwei Personen kaum neben einander sitzen können; der Kutscher trägt einen langen Rock, die beiden Theile des Rockschooßes sind übcrciuaudcrgeworfen uud mit ciucm Gürtel zusammcu-gchaltcn; dabei ist der Kutscher sehr dick, denn wenn es uöthig ist, so stopft er sich aus, damit er den Kutschersitz ganz ausfüllt; sciu Hut ist halbhoch. Dcr Kutscher ist lein Deutscher, wahrscheinlich Russe odcr^ette. Das Pferd steckt bei einem herrschaftlichen Gcspauu in einem reizenden Geschirr, an dem die gläuzcudcn Knöpfe nicht fehlen; übcr das Schulterblatt des Pferdes, von einem Theile dcr Wagcngabel zmn andern, er-- — 10 — HM sich im Halbkreis ein Bogen, bci Vancru- oder Lastwagen besteht dieser Bogen aus dickem Holz und spannt die Gabel so auseinander, daß dich' die Seite des Pferdes nicht berührt. Die Leine bei elegantem Gespann ans rother Seide, wo dann derKutscher weiß bchandschnht ist, wird dnrch den Nina, des Halbbogens durchgezogen. Die Pferde sind nicht übertrieben groß, sehr schnell nnd start gebaut; anch die lastzichcu« den sind znmcist gnt gepflegt nnd scheinen besser gehalten als bei nns. Ans der Brücke, an den Ufern des.Flnsscs bewegt sich eine große Menscheumassc. Dampfschiffe gibt es vcrhältnißmäßig nnr wenige-, dic ankernden, ein- nnd ansladcndcn Segelschiffe bilden die Mehrzahl. Im Iahrc 1666 langten hier !^4<> Schiffe an, nnd sichren ^'."^ ab, wclchc Flachs, Hanf, Leinsamen, Holz, Getreide nach allen Gegenden trcmspor-tircn. Nigacr Flachs nnd Leinsamen wird anch bei nns gcsncht; die Anländer der Düna prodncircu sehr viel Flachs nnd Hanf, wclchc über Riga in den cnropäischcn Handel gelangen. Unter den Thürmen ragt der von St. Pctcr empor. Wir lesen von ihm, daß cr seinc jetzige von Gängen durchbrochene Knppelform nach 16l>li erhielt. „Der Meister dieses, dnrch seine Form einzig dastehenden Gcbändcs ist unbekannt, nnd doch verdient er, getannt zu werden. Ein Thurm von ähnlicher Gestalt, so kühn und schlank, so stark, graciös und symmetrisch ist kaum Zu finden." Wir gehen bis zur ersten Gallcric. Vor uns breitet sich Niga nnd scinc Umgegend ans. Das Ange sncht zncrst die Düna, von wo sic kommt nnd wohin sie fließt, und wenn man sie verfolgt, so stoßt das Angc wie anf großc weiße Steinmauern, wclchc dort dic Gcgcud absperren. Es sind dies dic Sanddüncu des Meeres; dort sehen wir Dnnamünde, wo dcr rigaischc Meerbusen den Horizont abschließt. Auf dcr entgegengesetzten Scitc des Flnsses ist dic Mitauer Vorstadt; anf dem diesseitigen Ufcr umgcbcn die Stadt dic St. Petersburger und Moskauer Vorstadt. Promcnadcn nnd Gärtcn sind iil großer Zahl sichtbar. Dic Hänscr dcr innern Stadt sind gut zu unterscheiden; das Schloß kennen wir bereits, denn wir sahcn es von dcu Fcnstcrn des Gasthofcs, in dem wir nns cinqnartirtcn; dort ist das Nathhaus. ihm gegenüber das Schwarzhänptcr-Haus; dort die St. Iakobs-Kirchc, ncbcu derselben dcr ucne Palast, das Nitterhaus des liu-ländischcu Adels, in den: die Prouinziallandtagc abgchallen wcrdcn, die Häuser der großen und dcr tlciucn Gildc, die Börse, das ncue Thcatcr, dic Gasanstalt n. s. w. In dcr St, Petersburger Vorstadt ist unter Andcrm das Polytechnikum; der Vahuhof befindet sich in dcr Moskauer Vorstadt. Dic Kirche zu St. Peter stammt aus dcr ältcstcu Zeit der Stadt (1209)', ihre gcgcuwärtige Gestalt erhielt sic im fünfzehnten Iahrhnndcrt. — 20 — Eiue reiche Kirche einer reichen Stadt, obwohl der Küster, der das schönste Deutsch spricht, sie für viel ärmer bczeichuct als die Domkirchc. Die Sitzreihen zeugen von dem mittelalterlichen Ursprung der Stadt. Hier sitzen die Väter derselben, die Glieder des „llin^U^iinns seuatn«"; dort die Glieder der großen, hier die der kleinen Gilde. Doch was sehen wir dort? Schwarze Statncn bewachen und bezeichnen die Sitzreihen, was sollen sie bedeuten? Diese Plätze sind die Sitze der Schwarzhäupter! Auch in der Domkirchc finden wir dieselbe Absonderung. Dann ctwas, was wir hier zncrst scheu: daß man die Kirche im Winter heizt. Vier Oefcn, welche man im Innern der Kirche gar nicht bemerkt, werden am Samstag und Sonntag zeitig des Morgens geheizt, bis zum Beginn des Gottesdienstes erfüllt cinc angenehme Wärme das Gebäude und die frommcn Gläubigen können ohne Gefahr der Erkältung ihre Andacht verrichten. Auch Wappeu und Vegräbnißtafeln finden sich hier mehr, als in den andern Kirchen. Der Bau der Domtirchc oder der Marienkirche wurde sogleich bei Gründung der Stadt in Augriff genommen, im Jahre 1201; in ihrer gegenwärtigen Gestalt begann man sie im Jahre 1215 zu bauen und im Jahre 1226 war man bereits so weit, daß in jenem Jahre der päpstliche Gesandte, Wilhelm von Modcna, dort eine Synode abhalten konnte. „Unser Dom, ein bcwundcruöwcrlhcs, großartiges, und symmetrisches Zicgclgebäude, wurde in erstaunlich kurzer Zeit volleudct, ebenso wicDorpats große und schönste Kirche, au welcher man blos von 1223 — 1230 baute, und wie die Schlösser in unserm Lande, welche iu ihren Trümmern noch znr Bewunderung hinreißen. Znr Errichtung eines sc> riesigen Bauwerkes fehlte es in Riga weder an den Mitteln, noch an dem Willen, ganz im Gegensatz zu den meisten Städten Deutschlands, namentlich Lübeck, wo an dem aus Ziegel gefertigten Dom 150 Jahre laug (1170 — 1321) gebaut wurde." *) Für die Esten wird der Gottesdienst iu der St. Ialobskirchc ab-gehaltcu. Hier hält auch der Provinzial-Supcrintcudcnt dcu den Pro-viuziallandtag einleitenden Gottesdienst und weiht die Geistlichen der Provinz. Denn Niga ist die Hauptstadt von Livland, hier begegnen sich städtische und Proviuzialbchördcn, wie dies schau die kirchlichen Behörden zeigen. In Niga befindet sich nämlich ein städtischer Superintendent, den der Stadtralh wählt und bezahlt, und welcher der Präses des *) Dr. W. v. Gutzeit. Zl^r Geschichte dcr Kirchen Nigas. (Mittheilungen aus der livländ. Geschichte X Bd. 2. Heft. Riga, 1863) — 21 — städtischen Eonsistorimns und das Haupt dcr städtischen evangelischen Geistlichkeit ist; es befindet sich tort ferner ein Landcssnpcrmtcndcnt, den dcr Landtag oder die Ständcvcrsammlnng wählt und dcr der Präses des Landcsconsistorinms und das Hanpt dcr Provinzialgeistlichkcit ist. Die oberste Kirchcnbchörde ist aber für die Stadt dcr Stadtrath, für die Provinz die Versammlung der Stände. — Wenn wir demnach mit der Verfassung und dcr Geschichte der Stadt bekannt werden wollen, so ist es nothwendig, die Provinz, — ja alle drei Provinzen, Est-, Liv- nnd Kurlaud kcnucu zu lcrucn, denn alle stehen sie in dcr innigsten Verbindung nu't einander. Estland nmgiebt von Norden dcr finnische Meerbusen, von Osten die Narua, von Westen das baltische Meer, von Süden Livland. Mit den Inseln beträgt es 370 Quadratmcilcn; dic Einwohnerzahl bclänft sich anf 312,710; es kommen daher auf eine Qncwratmeile 845 Seelen. Seit 1721 gehört es unter dem Titel eiucs Hcrzogthmns zn Rußland. Das Land ist flach, Zählt 200 kleine Seeen; es ftroducirt Roggen, Gerste, Hafer, Flachs, Kartoffeln; es hat Fichten- nnd Birkenwälder. Der Boden ist kühl und nicht sehr fruchtbar; doch dcr menschliche Fleiß verbessert ihn. Die ursprünglichen Einwohner sind die Esten, die nicht nur in dieser Provinz, sondern auch in Livland, in.den russischen Gouvernements Petersburg, Pskow und Witepsk Wohnen uud 650,000 betragen. Administrativ zerfällt das Land in vier Bezirke- 1) den Harrier oder Rcualcr, 2) Wircr oder Wcsenbergcr, 3) Iürvcr oder Weißen-stcincr und 4) Wicker oder Hapsaler Bezirk. Wict bezeichnet im Skandinavischen einen Meerbusen, denn dieser Bezirk ist buscn- und insclrcich (Dagö, Worms, Odcnsholm, Nargcu). Der berühmte Namen Wickingcr bezeichnet daher Anwohner des Meerbusens. Die Provinz oder das Hcrzogthum hat fünf Städte: Rcval, Weißen-stein, Wcsenbcrg, Hapsal, Baltischport; unter diesen beläuft sich die Bewohnerschaft von Ncval auf 25,124-; die übrigen sind klein. Hinsichtlich der Religion sind die Bewohner des Landes Protestanten mit Ausnahme weniger Nnsseu, und bilden 45 Kircheugemcmdcu, welche in sogenannte Priorate (bei uus würde man fie Senioratc nenucu) Zerfallen. Ihrc Kirchcnbchörde bildet das Eonsistorium zu Ncval, wo auch dcr Landes-oder Gcreral-Snvcrintendcnt wohnt, dcr von der Ständcversammlnng des cstländischcn HerZogthums gewählt wird. Die evangelische Geistlichkeit der Stadt Neval selbst aber steht nnter dem städtischen Superintendenten, den der Stadtrath wählt nnd besoldet. — 22 — Die ursprünglichen Einwohner sind, wie wir bereits sagten, die Esten, doch dcr Adel, dic Stammbnrgcr der Städte sind dcntsch; Schweden und Nüssen kommen nnr in geringer Anzahl vor. Die Grenzen von ^iuland sind-, im Westen das baltische Meer, speciell der rigaischc Mcerbnscn, im Norden Eftland, int Osten der Pcipnssec nnd Plcskau (Pskow), im Süden Kurland. Dieser Provinz ist anch die große Insel Oescl einverleibt. Die Größe beträgt 883 Ouadratmcilcn, die Einwohnerschaft 93« »,<><»<> (nach der Volkszählung von 1864). Hier cutfallcn also ans eine Qnadratmcilc N20 Seelen. Altch Livland ist znmcist flach; südlich von Werro ist jedoch ein 997 Fuß hoher Bcrg, den mau Mnnamägi oder Eicrberg nennt. Die Gegend von Wenden aber pflegt mau als die livländischc Schweiz zn loben. Es giebt zwei größere Seen, den Pcipnssee, der die östliche Grenze bildet, nnd den Wirzjärver, ans dem der Embach (Muttcrfluß) sich in den Peipns ergießt. Dcr Peipus ergießt seine Wässer dnrch die Narva in den sinnischen Meerbusen. Auch dieses ^and tani nntcr dem Titel eines Hcrzogthums im Iahrc 1721 zu Rußland. Der Boden ist fruchtbarer als in Estland; er producirt Roggen, Gerste, Hafer, Kartoffeln, aber anch viel Flachs und Häuf. Die Einwohnerschaft ist gemischter. Wenn wir nns dnrch die Stadt Walk von West gegen Ost eine ^inic gezogen denken, so bildet diese die Grenze, die jetzt zwischen der ursprünglichen Einwohnerschaft besteht. Nördlich von dieser Linie wohnen Esten, südlich davon betten. Die Vivcn, von welchen das ^nud seinen Namen erhielt, sind hier beinahe gänzlich verschwunden und finden sich nur noch in Kurland iu einer Anzahl uou 3lrenzhecr nnd gelangt NW nach UeMll. Schlösser-gründungen und Taufen gehen Hand in Hand; Albert baut an dem Flußarm, genannt Riga, eine Festung, die von demselben ihren Namen erhalt, und in welche er aus Bremen und Viibeck durch verschiedene Privilegien Einwohner lockt. — Aber die Kreuzfahrer, sobald sie ihr Gelübde erfüllt haben, zerstreuen sich: Albert jedoch braucht eine dauernde Stütze. Er folgt dem Geiste seiner'Zeit nnd gründet einen Ritterorden, den Drden der Brüderschaft des Heeres Christi (iivltoi-uitn« militia (AmM)) mit rothem Kreuz am weißen Mantel uud rothem Schwert, wovon er gcwöhulich der Schwertordcn genannt wird. Eine Päpstliche Bnlle bestätigt schon im Jahre 1202 den neuen Orden, der nun ZU blutiger Bekehrung schreitet. Nur weuigc Vändcr haben für ihre Eroberung und ihren historischen Ursprung einen Erzähler cmfzmvcisen wie Heinrich den Letten, der ein Geistlicher und Legat des Bischofs Albert, an Vielem Persönlich Theil genommen hatte, während er anderes nach Augenzeugen anfzeichnete, und so der Nachwelt ein glaubwürdiges Werk hinterließ. Schon seiner Stellung gemäß konnte er nicht zu Gunsten der Einwohner parteiisch sein; um so eher dürfen wir ihm Glauben sclMtcn, wo er Gutes vom Feinde, Ueblesvon dcnEhristen spricht. — Nach ihm ist dastand der Liven schon im Jahre 1206 uuterjocht nnd die wenigen übriggebliebenen Ureinwohner sind getauft. Aber schon gleich Anfangs entsteht Unfriede zwischen den Siegern. Die Schwcrtrittcr sollten dem Bischof gehorchen, aber die Grausamkeit, welche sie in Gemeinschaft mit dem Bischof au dcu Liven übten, verdarb die Sitten. Im Jahre 12<)7 erfolgt eine Theilung zwischen dem Bischof nnd den Rittern, in Folge welcher mm zwei Drittel des eroberten Landes dem Bischof, ein Drittel aber den Rittern gehörte; diese Theilung bestätigte der Papst 1210. Wie zügellos die Ritter warcu, zeigt der Umstand, das; schon dcu ersten Großmeister sein Ordensbruder 120!) cr-nwrdctc. Der folgende Großmeister Folqniu wendete scinc beehrenden Waffen nach der Unterjochung der Liven gegen die Letten, die schneller unterworfen wurden und den Rittern gerne gegen die Esten Hilfe leistc-^eu. Denn Zwischen del, Letten und Esten loderte eine alte Feindschaft, da icnc von diesen als ihren Bcsiegcrn viele Mißhandlungen erlitten hatten. Dafür wurden nun große Orausamtciteu nud Plünderungen an den Esten verübt. Im Jahre 1212 gründeten die Eroberer ein neues Bisthum, das von "cal, das bald nach Dorpat verlegt wnrde. Auch hier theilten sic den eroberen Boden derart, daß zwei Drittel dein Bischof, ein Drittel den, Orden znficl. __ »)^ ^. Nachdem so bereits zwei Bisthümcr bestanden, trachtete Albert nach einem unabhängigen kirchlichen Territorium. Obwohl jedoch der allgemeinen Mcimmg nach Palästina Christus gehörte, das ncnc christliche Ncich am baltischen Meer aber Maria, und der Papst versprochen hatte, für das Ncich dcr Mntter nicht weniger Sorge zn tragen, als für das des Sohnes, so ernannte er Albert doch nicht Znm Erzbischof. — Die Untcrwerfnng der Esten war viel schwieriger als die der Liven und Letten; Albert verlangt daher von dem dänischen Könige Waldcmar II. oder dem Siegreichen Hilfe, der anch im Jahre 1219 an^s Land steigt und eine Stadt bant eben dort, wo heute Rcval steht; darum heißt Ncval cstnisch Tallin ^ Tcm-lin ^ dänische Fcstnng. Waldcmar stiftet anch ein Visthmn zu Neval, welches dem Erzbisthnm von Luud untergeordnet wird. Zur Eriuucrung an seinen Sieg stiftet er den Orden Dancbrog. Jetzt taufen dänische und deutsche Geistliche die Esten nm die Wette; denn die dänische Bekehrung vergrößert die Eroberungen der dänischen, die deutsche die der deutschen Ritter. Die Schwertrittcr werden schwächer, vbwohl die Kuren freiwillig huldigen und in den Jahren 1230 und 1231 das KrcnZ annehmen. Tie benachbarten Litthancr verbinden sich cimgcmalc mit dem Feind nnd siegen im Jahre 1236. Auch der Großmeister Folqnin verliert in der Schlacht sein Leben. Die Schwcrtrittcr wünschen nun mit den deutschen Rittern sich zu vereinigen, die, wie wir wissen, seit 1230 inMasouicn gegen die heidnischen Prcnftcn kämpfen. Endlich, nachdem der Großmeister des deutschen Ordens, Herman von Salzn, wegen des schlechten Nnfes der Schwcrtrittcr nur schwer Zu gewinnen gewesen war, wnrdc die Vereinigung znViterbo im I. 123? vollzogen nnd von Kaiser nnd Papst bestätigt, nnd der preußische Großmeister-Stellvertreter Herman Balk wnrdc der erste livländischc Meister. Dic Ritter tragen nnmnchr das schwarze Kreuz am weißen Mantel und werden hicvon Kreuzritter, nnd seit 1381 Krcnzhcrrcn genannt. Anch lant der Union sollte der Orden die Autorität des Nigacr Bischofs anerkennen; wenn aber der Bischof Albert sammt seinem bischöflichen Collegcn idcnn nach der Eroberung der Insel Oescl entstand ein ösclcr Bisthnm, dessen Residenz aber nicht anf der Inscl, sondern in Hapsal war) nicht im Stande war, gegenüber den Schwcrtrittern unverletzt seine Autorität aufrecht zn erhalten, und wenn bereits im I. 122l> der Bischof Wilhelm von Modcna als päpstlicher Legat fich umsonst bcmnht hatte, eine Einignng Zu Stande zn bringen: so tonnte jetzt nach geschehener Union mit dem deutschen Orden der Bischof nm so weniger Erfolg haben, jc bcdcntendcr die Mittel waren, mit welchen der Orden den Schutz des Papstes sich zn verschaffen wnßtc. 27 Nach dcm Tode des Bischofs Albert im I. 1246 ernannte Papst Innoccnz IV. Albert Sncrbccr zliin livläudischcn und preußischen Erz-bischof, ihm selbst die Wahl seines crzbischöftichen Sitzes überlassend. Aber Albert Sucrbccr schickte von Lübeck, von wo er sich in seine neue Kirchcnprovinz zn gehen gar nicht gctrantc, cine mächtige .Angschrift gegen den Orden. Es erschien hierauf abermals im I. 1281 der päpstliche Legat, der bereits znm Cardinal crnanut'c Wilhelm, und schlichtete den Zwist in der Weise, daß das Nigacr Bisthnm ein Erzbisthnm wurde und hiczn anch zwei Drittel Scmgallicns gehören sollten; ein Drittel sollte dcm Orden bleiben: vom tnrischcn Lande jedoch, welches der Orden nach dem Anfftand der sturen wieder unterworfen hatte, sollte nur ein Drittel dem Erzbischof, zwei Drittel dcm Orden gehören. — Auch diese Anordnung tonnte jedoch den Frieden ans die Dancr nicht sichern, denn die Complicirtheit des Nechtsucrhältnisses war eine stctc Ursache des Zwistes. Das Nigaer Erzbisthnm unifaßte nicht unr die baltischen (das dorpater, ösclcr nnd tnrcr), sondern auch die preußischen Bisthümer (das crmclandcr, sanllaudcr und kulmcr) uud so hätte der Ordcu in jenen die Oberhoheit des ErZbischofs anerkennen müssen, während in diesen, wo nur ein Drittel des eroberten Bandes den Bischöfen, zwei Drittel hingegen dem Orden gehörten, die Oberhoheit ihm znkam. Sowohl der Orden, als anch die Bischöfe schafften sich Vasallen, von denen die jetzigen adeligen Familien stammen. Unter den Eroberern nimmt anch die Stadt Niga eine vornehme Stelle ein, wo neben der großen Gilde (Verein der Kaufleute) und der kleinen Gilde (Verein dcr Handwerker-Zünfte) das Schwarzhäupterhaus entstand, in welches jene unvcrheirathctcn Männer aufgenommen wurden, die sich gegen die Heiden ansgezeichuct hatteu. Von Rcval aus beherrschtcu der Statthalter des däuischcu .stönigs-und der Bischof von 9teual die unterworfene Gegend. Als aber die dänische Macht im Abnehmen war, erwarb der Orden im I. l-^41 nm 13/W Mark Silber auch das Nccht der Dänen nnd so erstreckte sich uun seine Macht von der Narwa bis zur Memel. Das ucue Reich, desseu gewöhnlicher Name Vivlaud war, bestand aus 2 Theile«: ans dcm der Bischöfe nnd dem des Ordens. Jener bestand ans dem Nigaer Erzbisthum mit den Städten Riga, Kockcnhnsen, Lemsal, Nonncbnrg. Alt-Pcrnan; dem Dorpatcr Bisthnm mit den Städten Havsal, Leal, Arcnsbnrg, (anf der Insel Ocscl); dcm Kurischcn Bisthum mit den Städten Pillen, Hascnpoth. — Der Antheil oder Besitz des Ordens übertraf die gesammten Visthümcr nnd bestand ans folgenden wandern: 1) cin Drittel Livlands mit den Städten Wenden, Neu-Pcrnau, - 28 — Wolmar, Fellin, Walk, Maricnburg, Dünaburg, Kreuzlmrg? 2) Zwci Drittel Semgalliens, später das gauze Land mit dcr Stadt Mitau; Z) Zwei Drittel Kurlands, mit den Städten Goldingcu und Windau; (Meinet gehörte schon seit 1328 zu Preußen); 4) ganz Estland uiit den Städten Ncval, )carva, Wcscubcrg und Wcißcustciu. Der Orden erbaute überall Schlösser, in den bedeutenderen befahlen Ritter unter dem Titel Comthuren, in den kleineren Vögte, und die betreffenden kreise mußten mit ihren Vasallen in den Krieg zichcn. Der Marschall des Ordens war Heerführer der Ordcnsarmce, gleichsam Kriegsminister. Der L an dmc ister oder Herr-Meister rcpräsentirte die Obcrmacht; er ließ Geld prägen, er empfing die Gesandten fremder Mächte, er entschied über Krieg und Frieden, und vernahm den Rath des Landcskapitels, zu den: die Comthurcu und Vögte berufen wurdcu. Herren des Landes sind als» der Herr-Meister und die Bischöfe, die iu einem Vündniß zn ciuaudcr stcheu. Aber sowohl die Bischöfe, als auch der Orden verleihen Grundbesitz, nud so entstehen die adeligen Grundbesitzer, deren Nachkommen die heutigen adeligen Familien bilden. Diese Vasallen verschaffen sich zuerst in den estnischcn Provinzen, später in den übrigen Einfluß auf den Provinzial-Vandtagen. Der Bund selbst hält Landtage, an welchen nicht nur die Vasallen, sondern auch die Städte Theil nehmen. Unter den Städten zeichnen sich besonders Niga, Reval und Dorpat aus, welche auch Glieder der deutschen Hansa werden und in welchen die Schwarzhäuptcr die Kriegsmacht rcpräsentiren. Am mächtigsten wird der Orden, da im I. 145>1 das rigacr erzbischöflichc Capitel genöthigt ist das Ordcnstlcid anZuuchmcn. Seinen Glanzpunkt erreicht er unter dem Herr-Meister Walter Plettcnbcrg (1494—1535). Plettenbcrg kämpfte siegreich gegen die Russen; im I. 1513 crkanftc er von dem preußischen Großmeister, Albrecht von Brandenburg, die Unabhängigkeit des livländischcn Ordens, worauf ihn Kaiser Karl V. zum deutschen Reichsfürst ernannte, und ihm den Titel „prin!^)^ et pi-otsotnr I^vlmias" verlieh. Aber gleich unter Plettcnberg beginnt anch der Zerfall des Bundes. Die Reformation verbreitete sich rasch nicht nur in den Städten, sondern auch unter den besitzenden Adeligen; Plcttcnbcrg feindet die Um-gcstaltuug nicht an; aber der rigacr Erzbischof, Iohanu Blantcnfcld, belästigt deshalb die Rigacr, die sich nun nach der Herrschaft des Herr-Meisters sehnen. Auf dcm Landtage zu Wolmar im I. 152ss bittcu die Adcligcn »nd Stände, sowie dic liibischcn Gesandten Plcttcnbcrg, er möge sich zum Herrn des Landes machen; doch der Herr-Meister thut — 29 - das nicht. Ja auf einem spätern Landtage im I. 1546 einigen sich der Meister und die Bischöfe dahin, daß sie ihre Verhältnisse nicht umgestalten wollen. Der Landtag von 1554 erhebt jedoch die Freiheit des Glaubens Zum Gesetz. Auf dem Landtage d. I. 1546 hattcu sich die Herren anch das Versprechen gegeben, sie wollten weder zum crzbischöflichcn Coadjutor, noch znm Herr-Meister einen Ausländer'wählen: trotzdem ernannte dcr Markgraf Wilhelm von Brandenburg als rigaer Erzbischof, del« Herzog Christoph von Mecklenburg znm Coadjutor nnd Nachfolger im I. I554, der nun mit bewaffneter Macht ins Land einfällt. Es entsteht hieraus ein Bürgerkrieg, 1556—1557, in welchen sich dcr polnische König einmischt, dcr den Herr-Meister Fürstcubcrg Zwingt, am 7. Sept. 1557 zu Poswol auf den Knien Frieden zn erbitten. Unterdessen war dcr von Plcttcnbcrg 1531 geschlossene russische Frieden abgelaufen; die livläudischcn Gesandten erneuern denselben im I^ 1554 Zu Moskau auf weitere 1<^) Jahre, müssen sich jedoch zu dcr Bc-dingung verstehen, daß die vom Bcsitzthum des Dorpatcr Kapitels an-gcblich seit 1503 ausgebliebene Stcncr erlegt werde. Der russische Gesandte erlangt im I. 1555 die Äcstätignng dcs Friedensschlusses sowohl vom Herr-Meister als vom rigacr Erzbischof; doch der Dorpater Bischof beschwört dcn Fricdcn uur mit dem Vorbehalt,»daß er denselben durch den dentschcn Kaiser auflöseu lasfcu werde, uud sendet darnm auch nicht^ die Steuer. Iwan Wafsiljewitsch II. kommt mit cincm Heere, sie einzutreiben; im ersten Monate 1.558 eröffnet er seinen Kriegszug mit einer furchtbaren Verwüstung; schon am 19. Inli erobert er Dorpat, nnd führt den Bischof gefangen nach Moskau. Ucbcrall ist Uneinigkeit, nnd darum nirgends Vorbereitung. Neben dem alten Herr-Meister wird Gotthard Kcttlcr znm Gehilfen ernannt, später znm Meister, und dieser bcgiuut alsbald Ulttcrhaudluugcn mit dem polnischen Könige. ^ Nachdem die Nnsscn im ^. 1560 dk Festung Fcllin eingenommen und dcn Herr-Meister gefangen fortgeschleppt hatten, begab sich dcr Adel von Cstland nnd die Stadt Rcval am 4. und 6. Juli 1571 unter dcn Schntz dcs schwedischen Königs; Kcttler aber überließ am 28. November desselben Jahres den: polnischen König Livland; für sich selbst behielt er Knrland als erbliches Hcrzogthnm und Scmgallicn als polnisches Lehen. Als dcr ösclcr Bischof sah, daß Kcttlcr mit den Polen unterhandle, vcrtanftc er schon im September 155!» sein Bisthmu an dcu Herzog Magnus von Holstein. So endete der Bnnd der lwländischcn Bischöfe und Ordensritter, nachdem durch Aufnahme dcr Reformation anch der kirchliche Zustand dcs ganzeil Bandes verändert war. — 30 — Mit Ausnahme der Stadt Riga, die bis 15)82 ihre Selbstäudigt'eit behauptet, ist jetzt das ganze Liolaud in seiner grosicu Ausdehnung uuter fremder Gewalt, ohne jedoch seine hergebrachten Rechte und Eigenthümlichkeiten preiszugeben. Die schwedischen Könige Erich XIV. und Johann III. verletzten die Gesetze und die Autonomie EstlnndZ nicht. Bezüglich des eigentlichen Livlauds sicherte das berühmte „pi'ivil<^'inni Hi^i8niuu<,Ii /VnFN8ti" vom 26, Nov. 1561 den Ständen die Selbstverwaltung, den evangelischen Glauben, die deutsche Sprache und die freie Verfügung über die Bauern. Doch ist jetzt diese Provinz an das Schicksal Polens gcbnndeu und fühlt dessen Waudluugeu schwer mit. Mit dem polnischen Könige Sigumnd II. starb im I. 1572 der Mauncsstamm der Jagclloucu, aus uud uur zwei seiner Schwcstcru, Katharina, Gemahlin des schwedischen Johann, und die noch ledige Anna waren am Lebcu; leider ging mit ihm auch die religiöse Tolerauz zu Grabe, der auch m Polen die Zeit der Gegenreformation folgte. Der polnische Adel aber schränkte mittelst der Wahl der Könige die Macht derselben immer mehr eiu und legte den Gruud zu jener Zügel-losigkeit, welche im I. 1793 der Untergang der Sclbstäudigleit des Reiches wurde. Nach Sigmund bezahlte Heinrich von Frankreich die Uukostcu der Köuigswahl, ergriff aber bald dauach die Flucht, worauf die Wahl auf Stephau Vathory fiel uutcr der Bedingung, daß er die alte Jungfer Auua zur Gemahlin nehme, welche Bedingung er nach seiner Krönuug auch erfüllte. Köuig Stephau (1577—1586) ist einer der bessern und stärkeren Könige Polens. Nach seinem siegreichen russischen Fcldzugc gcwauu er durch dcu Friedensschluß zu Sapoljc (15. Januar 1582) Dorpat zurück, das bis dahiu unter russischer Gewalt seufzte; auch Niga zwaug er zur Unterwerfung. Doch unterstützte er die von dem Erzbischof Hosius ins Laud gerufenen Jesuiten, übergab ihnen die neue Universität Wilna, und ergriff mit allem Eifer die Idee der Gegenreformation, was Polen später, wie wir scheu werden, iu große Gefahr stürzte. Trotz des davor schützenden Privilegiums errichtete er auch in Livlaud lWcudcu) ein wendisches Bisthum, verschaffte den Ic-suitcu in Riga ein Collegium und uahm den Protestanten viele Kirchcu weg. Köuig Stephan veränderte überdies die livläudische Verfassung, welche der Landtag d. I. 1562 unter dem tönigl. Commissär Nikolaus Radzivil am 4. März neuerdings bestätigt uud der Landtag d. I. 1566 ausgearbeitet hatte. Damals nämlich uahmcu die livlaudischcn Stände die Vereinigung 5) mit Litthcmeu an, uud theilten das Laud in 4 Distrikte! ") Polen bestand demnach aus 2 großen Theilen „Polen und das vereinigte Litthancn-Livland". Die Vereinigung beider Theile geschah im I. 1569 <^ma). — :;i ^ ^'ga, Treidcn, Wcudcn, Dnnabnrg. ?ln dcr Spitze jcdcs Distrikts stand ^m Odersenator; jeden Gerichtshof bildeten Z Bczirksräthc und _' rittcr-schaftlichc Commissure; dcr oberste Gerichtshof bestand unter dem Präsidium des tönigl. Statthalters ans dcn 4 Distriktsscnatorcn; dic Städte hatten lant ihren Privilegien eigene Verwaltung nnd Gerichtsbarkeit. Ader schon im Dezember des Jahres 1582 theilte der siegreiche Stephan durch die^nn^tituti^ne^I^ivnni^d" das Land in drei Wojewodschaften, in die wendische, dorpatische nnd pcrnanischc, gab jeder einen eigenen Gerichtshof, nnd errichtete in Wenden einen obersten Gerichtshof, drssm Mitglieder nnter dem Präsidium des lönigl. Statthalters folgende waren: der Bischof von Wenden, die drei Präsidenten der Wojewodschaften, 3 Snbtavcrnikcn nnd 4 städtische Abgeordnete, zwci, aus Niga, nnd jc einer ans Wenden nnd Dorpat. Dieser oberste Gerichtshof hielt zweimal des Jahres seine Sitzungen. Dcr Landtag wird vom König cin-l'ernsen. Vorher werden in dcn Wojewodschaften Wahlversammlungen gehalten. Mitglieder dcs Landtags sind der Bischof von Wenden, die Abgeordneten der Wojewodschaften, die vier Vertreter dcr Städte (wic ücim obersten Gerichtshof) nnd der Dcftntirtc Knrlands. — Die polnische Ncichsvcrsamnllnng vom I. 1598 beschloß, daß der livländischc Landtag 6 Comitcmitglicdcr, 2 livländischc, 2 litthauischc nnd 2 polnische in die Ncichsvcrsammlung schicke; darcms ist auch ersichtlich wie schr Livlal^d Polnisch geworden ivar. Dcnn das Gebiet des früheren Bisthnms Dorpat, welches erst ^582 Zurückgenommen wurde, betrachteten die Polen nun als erobertes ^cbiet und ließen es von polnischen Belehnten ottnpircn. Deshalb nnd wWn der Ncligionsuntcrdrücknngen entstand bald große Unzufriedenheit. Wir erwähnen noch, daß die Landtage von 1566 und 1567 dcn Branern das Recht dcs Mahlens, dcr Spiritnsbrcnncrci nnd Vierbrancrci entzogen, «nd man sieht hieraus, daß ihr Loos unter dcr polnischen Herrschaft nicht gemildert wnrdc. Dcr Gedanke dcr Gegenreformation verschaffte nach dcm Todc König Stephans die Krone Polcns dcm schwedischen Sigumnd (1586^1632), dcr ein Sohn dcs schwedischen Königs Johann, dnrch scinc bigott katholische Mutter, die Polin Katharina, crzogcn worden nnd cin großer Gönner dcr Jesuiten war. So gelang das Geschlecht Wasa anf dcn polnischen Königsthron. Signmnd (als polnischer König der Dritte) wnrdc nach dcm Tode seines Vaters im I. 1592 anch König vou Schweden, wo sein Dhcim, Karl, Statthalter wurdc. Abcr obwohl Siginnnd znm König von Schweden gekrönt war, tonnte cr doch, scincs Glanbens ^vegcn, dic Znncignng dcr Schweden nicht gewinnen, und nachdem dic Un- — 32 — einigkeit zwischen ihm einerseits, und dem Lande uud sciucn: Onkel andererseits zn einem Krieg sich entwickelte, riß letzterer die schwedische Herrschaft an sich, und ward im I. 1600 als Karl IX König von Schweden. Da Livland der Schauplatz dieses Krieges zwischen den beiden Verwandten war, eroberte es Karl IX, der nun die Bewohner des Landes aufreizte, Sigmnnd zu verlassen, von dem dieselben ohnedies durch die Gegenreformation abgeschreckt wurden. Die Ritter verhandelten daher im I. 1601 Zu Rcval und 1602 zu Dorftat mit den schwedischen Commissärcn nud nahmcu die schwedische Herrschaft an. Aber der schwedisch-polnische Krieg danertc noch unter dem Sohne Karls IX, Gustav Adolph II, (1611—1632) fort, bis der Friedensschluß zu Stolbowa im I. 1617 Livland mit Estland vereinigte und zu schwedischem Besitz-thum machte. Dieser Friedensschluß ist auch deshalb bemerkenswert^ da derselbe Carelien nnd Ingcrmanland von Nnßland trennte und an Schweden brachte. Riga widerstand auch diesmal am längsten den schwedischen Waffen; Gustav Adolph tonnte es erst im I. 1621 durch Bc-lagcruug erobern. „Von nun an bleibt mir so treu, wie ihr es dem König von Poleu gewesen", sagte der Sieger, als' er in die Stadt einzog. Endlich fetzte der durch französische Vermittelung zu Stande gekommene Waffenstillstand von Altmark am 26. September 1629 dem polnischen Kriege vorläufig ein Ende, indent Polen im Besitze des südöstlichen Theiles von Livland, ferner der Kreise Düuaburg, Nosittcn, Lutzcu und Maricnhauscu blieb. Das ist das sogcuauute polnische Livland, iu dem die deutsche Sprache uud der Protestantismus untergingen. Aber die Insel Ocscl wurde den Dänen entzogen nnd kam als ein Theil Liulands unter die schwedische Herrschaft. Die schwedische Herrschaft war namentlich Anfangs beliebt; Gnstav Adolph errichtete im I. 1632 für die est- und livländischcnHcrzogthümcr die Universität zu Dorpat uud erhob sie auf dcusclbcn Rang wie die zu Uvsala; die Gerichtsordnung wurde schon 1630 geregelt. Die Constituante wnrde im I. 1643 abgehalten, welche die Verwaltung des Landes ordnete. Die schwedische Okkuftatiou machte natürlich die polnischen Köuigs' bcsitzungcu zu Krougütcru, welchen noch die Besitzungen dcr der polnischen Partei Anhängenden einverleibt wurden. Die Feldherren nnd Staatsmänner, welche sich im siegreichen deutschen Krieg ausgezeichnet hatten, erhielten von Gustav Adolph und seiner Nachfolgerin große Vc-sitzungeu. Im livlandischeuHerzogthnm befanden fich z.B. um 1641 insgesammt 4343 Haken Landes: hiervon wnrdcn 2509 verschenkt. Orcnsticrna besaß 661, Banner 306, Horn 152 u. s. w. Achnlichc Schenkungen hatten Statt in Schweden und anderswo in den Besitzungen der schwc- __ HI __ bischen Krone, wodurch die königlichen Einkünfte sehr abnähme», während die Donatarim Zu übergroßer Macht gelangten. Der schwedische Laudtag beschloß daher im I. 1655, daß dic Krone die seit 1632 verliehenen Vcsitzthümcr wieder einziehen solle, und nannte diese Maßregel Reduction. Auf dem livländischm Landtag im I. 1667 erwähnte zncrst der tönig-lichc Statthalter die Reduction, damit sich auch die livländischcu nnd cstländischcn Stände danach hielten, aber die Ritterschaft protestirtc dagegen. Im I. 1681 wurde sie energischer urgirt. Die schwedischen Commissure erschienen vor dem seit dem 12. Inli versammelten Landtag in Niga und forderten von den Ständen, sich der von dem schwedischen Landtag beschlossenen Reduction zn unterwerfen; sie sollten eine neue Aus-uicssung ihrer Güter und eine Schätzung der Hakcnländcr gestatten; ferner die Leibeigenschaft der Bauern anfhcbcn. Es wnrdcn immer häufiger Landtage abgehalten; die Errichtnng von Schulen, die Erhaltung von Lehrern in den Kirchengemeinden beschlossen; aber auch die, Reduction gmg nnnntcrbrochcn vor sich, denn nachdem Karl XI. hicrzn vom schwedischen Landtag bevollmächtigt worden, führte er dieselbe mit unnachsichtiger Strenge durch. Bis zum I. 1690 waren die durch die schwedischen Regierungen verliehenen Donationcn znrückgezogcn, so daß kein schwedischer Grundbesitzer in den Hcrzogthümcrn »mehr zu finden war; trotzdem forderten die Kommissäre von dem versammelten Landtag, daß alle Eigenthumsbriefe zur Untersuchuug nach Stockholm geschickt werden sollten. In der hierauf dorthin abgesandten Deputation befand sich Johann Rcinhold Patknl, der verständige und unerschütterliche Vertheidiger seines Vaterlandes. Auf Antrag der Dcputirten verfaßte der liu I. i<;<)2 versammelte Landtag eine energische Adresse an den König, der dieselbe mißbilligend, die Verfasser Zur Vcrautwortuug Ziehen wollte. Als anch der Landtag von 1695 nicht nachgeben wollte, löste der schwedische Gnbcrnator denselben auf, die Vcrfasfnng nnd die oberlirchlichcn Inspektoren wurden mittelst königlichen Rescripts vom 20. December 1694 aufgehoben nnd ein neuer Landtag einberufen, defscn Präsident der schwedische Gnbcrnator war. Der neue Laudtag trat am 16. Iannar 1697 zusammen, veranlaßte die Frcigcbuug der Gefangenen, nntcr ihnen Patknl, und unter« hudelte wegen des Zehnten, den der König, als Rechtsnachfolger des Erzbischofs von Riga, forderte. — Im I. 1699 fordern die Stände bereits Hilfe gegen die Polen, oder richtiger gegen das sächsische Heer, "' desscn Lager auch Patkul sich befand, der die Losrcißung von Schwein befürwortete und deshalb später, als Hochvcrräthcr, einen grausamen Tod erlitt, im I. 1707. Denn um diese Zeit war bereits der Hunfllluy. lj __ I^ __ große nordische Krieg entbrannt, welcher tiefgehende Veränderungen in Europa hervorrief. Nachdem nämlich Karl XI im I. 1697 gestorben war, folgte ihm sein 12jährigcr Sohn Karl XII. In Polen war bereits im I. 1609 mit Johann Kasimir das Geschlecht Wasa ausgestorbcn nnd nach Michael Bisznowieczly (1673) und Johann Sobieski (1674—1696) nahm der zum katholischen Glauben übergetretene Kurfürst von Sachsen, Angnst II, den wantcud gewordenen Thron ein; in Nußland herrschte strenge dock) tlng Peter der Große (1689—1725). August und Peter schloßen mit Friedrich IV, König von Dänemark, ein Vündniß, daunt jeder dasjenige Schweden entreiße, was ihm die schwedischen Waffen abgenommen, namentlich Peter der Große Ingcrmanlcmd, August II Liuland. Kart XII kämpfte Anfangs mit wunderbarem Glück, bis er dnrch seinen sinnlosen Trotz bei Pultawa im I. 1709 sein Heer opferte und seiner Macht in Schwcdeu verlustig ward. Währcud Karl in Polen gegen August kämpfte, eroberte Peter der Große nicht nnr Ingerman-land und erbaute dort sciuc ncne Residenz, Petersburg, sondern erwarb auch Est- nnd ^ivland, erst für Angust, dann aber für sich. Die Stadt Riga und die livländischc Ritterschaft untcrhaudclteu am 4. Juli 1710, Reval und die cstläudischc Ritterschaft am 29. September desselben Jahres mit dem Sieger, der ihnen alle ihre Rechte, also anch die Autonomie zusagte und anch das wieder herzustellen versprach, was die schwedische Regierung gegen das Gesetz begangen hatte. Der Friedensschluß Zn Nystädt im I. 1721 brachte die neuen Hcrzogthümcr Est- und Livland an Nußland. Und die russische Negieruug gab nicht nur die durch die schwedische Reduction confiszirten Güter den Betreffenden zurück, sondern vermehrte auch die Rechte des Adels in deu Hcrzogthümern. Im I. 1741 gab sie ihm das ausschließliche Recht Zur Pachtung der Kronsgütcr im Herzog-thmn; im I. 1747 bewilligte sie die Einführung von Matrikclbüchcrn, wodnrch der alte Adel sowohl gegen die Städte, wie auch gegen den neuen, insbesondere den russischen Adel zu einer geschlossenen Körperschaft wurde, anf welche im I. 1763 das 1741 gegebene Privilegium der ausschließlichen Pachtung der Kronsgütcr beschränkt wnrdc; endlich im I. 1780 untersagte ein Beschluß des russischen Rcichsrathcs den städtischen Bürgern den Kauf adeliger Güter und erkannte das Recht des Besitzes allein dem Adel Zu. Die Rechtsverhältnisse der Bauern werden wir sogleich kennen lernen. Große Gefahr bedrohte die Verfassung beider Hcrzogthümcr, als Katharina II im I. 1783 die Verwaltung änderte, nämlich an Stelle — 3b - derselben das sog. Statthaltcrsystcm anordnete, demgemäß das Land durch von der Regierung ernannte Beamte verwaltet werden sollte. Abcr der Czar Paul stellte im I. 1796 die alte Verfassung und die Autonomie wieder, her, die rechtlich noch bis heute besteht. Zur Zeit Peters des Großeu näherte sich auch Kurland dem russischen gleiche. Ein Nachkomme Kcttlcrs, Friedrich Wilhelm, vermahlte sich im I. 1710 mit der Nichte Peters, Anna, und da er bald darauf starb, blieb seine Wittwe im Besitz der Regierung. Als diese darauf im I. 173(1 den Czarenthron bestieg, unterstützte sie den jüngcru Bruder ihres verstorbenen Gemahls, Ferdinand. Nach dessen Tode wurde durch die Gunst Anna's Viron Herzog, dem auch uach vielen Widerwärtigkeiten sein Sohn Peter im I. 1769 folgte. Als abcr ein Aufruhr ausbrach, zwang der kurländischc Adel den Herzog zum Rücktritt uud huldigte im I. 1795 Katharina II. Seitdem sind die drei HcrZogthümer vereinigt, wie zur Zeit der Kreuzhcrrcn. Die drei Hcrzogthümcr betragen 1754 Q.-Mcilcn mit 1,850,000 Einwohnern. Unter dieseu siud 200,000 Deutsche (Adelige, Geistliche, Lehrer, Beamte, städtische Bürger), die übrigen 1,650,000 siud Nicht-deutsche, d. h. Letten, Esten und Liven; denn Russen und Schweden kommen fast nicht in Rechnung und gehören ihrer rechtlichen Stellung nach zu den Deutschen. Der Deutsche bedeutet hier so viel als der Herr; die cbcu gcgcbcuc historische Skizze ist die Geschichte der Herren; wir wollen nun die des Volkes betrachten. ' Bei der Einwanderung der Deutschen bewohnten das Land Liven, Kuren, Esten und Letten. Die Eroberung begann an der untern Düna bei den Liven, deren Nachbarn gegen Süd-Ost die Letten waren; der sogenannte Heinrich der Lcttc, der die Begebenheiten der Erobcnmg als Augenzeuge berichtet, unterscheidet oft Livlaud und Lettland. Das beweist aber zum Miudcstcn, das; die Livcu damals so mächtig waren wie die Letten. — Die Kuren gegen Osten an die Litthaucr und Letten gränzend, erstreckten sich von der Düna oder vielmehr von den Küsten dcs rigaischcn Meerbusens bis Mcmcl. Sie und mit ihnen die Bewohner der der lurischcn Halbiusel gegcuüber liegcuocn Insel Oesel, dcrcn heutiger cstnischcr Name Saar-maa (Inselland) abcr auch Kürc-waa, d. h. Kranichland oder Kurenland, waren vor der dcntschcn Eroberung gcfürchtctc Seeräuber. Livcu und Kuren werden daher zuerst dm Fremden bekannt, die die betreffenden Länder mm nach ihncn Lm- nnd Knrland benennen. Ihre ursprünglichen Namen sind uns unbekannt, denn die Esten nennen das Land blos inaa (Land). Die 3' — 36 — Eroberung minderte die Zahl dcr Kuren und Livcu so sehr, daß jene allmählich gänzlich verschwände«, von diesen aber nur noch Zwci Ucbcr-bleibscl czistiren: das eine und bedeutend kleinere nördlich von der Düua, bei dcr Mündung des Flusses Salis, wo noch im verflossenen Jahrzehnt einige livisch sprechende Familien lebten. Das andere, 3000 au dcr Zahl, an der südlichen Seite dcr Düna, in Kurland, von der Spitze dcr knrischcn Halbinsel, dem Cap Domesnccs, gegen Südwcst uud au dem rigaischcn Mccrbuscu, bewohnt im Gauzcn einen 68 Werst langen Erdgürtcl, auf beiläufig 136 Vaucruausässigkcitcn, welcher dnrch Moräste uud Waldungen von den Wohnsitzen der Letten getrennt ist. Ihre Sprache wurde in dcr ucucrn Zcit von Sjögrcn uud Wicdcmaun studirt und wissenschaftlich beschrieben. Es ist nach ihnen gewiß, daß die limschc Sprache dcr südlichste Zweig der estmschcn Sprache ist. Von der Sprache dcr Kuren blieb uus kciu einziges litcrarischcs Denkmal übrig, doch die Namen jener Ortschaften und Bündnisse, welche wir bei Heinrich dem betten und anderen Chronisten finden, weisen darauf hin, daß sie zur livischen oder estnischcu Sprache gehörte. Mau kann vermuthen, daß die Kuren und Liven sich dcr Sprache uach von ciuaudcr uicht unterschieden. Wenn man annehmen dürfte, daß die Sprache der Kur- oder Ocsel-insulaner zur Sprache dcr altcu sturen gehört, wo für einige Wahr--scheinlichtcit vorhanden ist, so wärc die turischc Sprache nicht untergegangen. So viel ist gewiß, daß auch die Sprache der Oeselbewohncr einen Zweig dcr estuischcu Sprache bildet, uur ist sic noch nicht wissenschaftlich bearbeitet. Die Esten am Ufcr des Meeres waren dcn Livcn nördliche, diejenigen im Innern dcn Letten nordwestliche Nachbarn. Zwischen dcn Estcu und Letten herrschte große Feindschaft, auch zwischcu Esten und Liven, nud dies erleichterte dcn Deutschen die Eroberung. Uebrigcns waren es die Estcu und. die Bewohner von Ocscl, welche am hartnäckigsten Widerstand leisteten. Die Letten gehören zu dcr Nationalität dcr Litthaucr uud Preußen, welche einen cutlcgcucru Zweig des Slavcnthums bilden. Sic bewohnen heute die Plätze dcr alten Kuren uud Liveu; sie verbreiteten sich also aus dem Innern gegen Nord und West. Von den Estcu scheidet sic jcuc Liuic, welche wir uns durch die Stadt Walk vou West gegen Ost gezogcu denkeu können. Der Bauernstand der russisch-baltischcu Proviuzcn besteht daher heute aus Letteu, wenig Liveu, uud Estcu; mcinc Ncisc gilt dcn letzteren. Herr und Kuccht, oder Sachse und Einheimischer, — denn die Estcu nennen die Deutschen bis zum hcutigcu Tage Sachsen, — das waren die zwei Klassen dcr Bewohner dcs ncu crobcrtcu Laubes. — 37 — Der Este nennt den Herrn, sci cr Dcntscher, Russc oder anderer Nationalität, Saks, d. h. Sachse, denn die Eroberer waren, wie wir sahen, aus dem nordwestlichen Deutschland, dessen Name damals Sachsen War. Daher vouo 8ü,1^----russischer Sachse, Russe; u^8g, «alc«, der Sachse des Gntcs--Gutsherr; aber auch i)6o sak», der Sachse der Bude-Kaufmann; «al^ä, die Sachsen^-die Herren, die Herrschaft. ^1« Wis^^^der Sachse kommt, mit diesen: Sprichwort schrickt man bis heutigen Tages die Kinder; mit dein Satze hingegen: tsinni mi ^il^a lilill -^ cr hat sächsisches Fleisch, d. h. er ist wollüstig, bezeichnet man jenes Betragen des Herrcnstandcs, welches in Amerika noch heute den weißen Herrn gegenüber dem Farbigen charattcrisirt. In der Sprache des Gesetzes waren die Besitzer Erbhcrrcn, die Bauern Er bleute. Als man in Petersburg im I. 1739 cinc glaubwürdige Darstellung der Zustände der Erblentc wünschte, wnrdc unter Anderem darin gesagt, daß der Herr das Nccht über Tod und Leben des Sklaven habe; daß cr das unbeschränkte Nccht der körperlichen Züchtigung übe; daß der Sklave kein Eigenthum besitze und keines besitzen könne, daß cr außerhalb des Gebietes der Hcrrcngüter sich nicht vcrheirathen dürfe'"). Dieses Verhältniß bezeichnet auch der Vandtag in Riga 1765) folgendermaßen: „Alles, was der Bauer besitzt, sowie er selbst, ist wahres Eigenthum sciues Herrn, mit dem der Grundherr in jeder Beziehung nach Willkür schalten kann." Der Bauer war entweder Lostreibcr oder AHirth. Der Lostreibcr arbeitete seinem Herrn mindestens zwei Tage in der Woche; wer ihm wehr aufbürdet, sagt Hnpel^), gilt für hartherzig, denn da der Lostreibcr von seinem Herrn kein Feld erhält, so muß er mit seiner Händc Arbeit Nahrung für sich nnd die Seinen zn erwerben suchen. „Den ^ostrcibcr nnd seine Kinder verkauft man auch manchmal oder tanscht ihn gegen Pferde, Hunde, Pfeifen ein. Hier sind die Menschen billiger als die Neger in den amerikanischen Colonien. Einen ledigen Kerl kauft Man zu 30—40 Nubel, wenn cr ein Koch ist od^r ein Handwerk versteht nm 100 Nubcl; nm dasselbe kann man auch ein ganzes Gesinde kaufen; für cinc Magd giebt man selten mehr denn zehn Nubel nnd für cm Kind beiläufig vier Nubcl" (Hupet II, S. 127—128). Man wagt es kaum zu glauben, daß nm 1780 ein derartiger Zustand dort gesetzlich war. *) Livländische Beiträge, ycransgeg. von W. v. Aoct. Neue Folge. Leipzig 1869. I- A. 1. Höft p. 136. "*) Topographische Nachrichten von Liv.- uud Estland, hcrausg. durch A. W. Hupel. Riga, I. Vd. 1774; II. Bd. 1777; III. Bd. 1782. — 38 — Ein Mensch dcr cin Handwert verstand war thcnrcr als ein anderer. War es also cincm Bauern crlanbt ein Handwerk zu erlernen? Hören wir, was Hupcl sagt (I, S. 557): „stein deutscher Meister darf einen Sklaven zum Lehrling nehmen!" So sicherte dcr Städter sich und seinen Erwerb. Diejenigen, die ein Handwerk tonnten, lcnttm also von selbst, was sie wußten. „Man mnß wahrlich das Gcuic dcr Esten bewundern; denn ohne zn lernen und nur dnrch Ablauschen und Nachdenken gelangen manche so weit, daß ihre Erzeugnisse sich von denen dcr Teutschen nur wenig uuterschcidcu." Nachdem wir gesehen, daß dcr Bauer leibeigener Sklave und wahres Eigenthum seines Herrn war, ist es von Interesse zn erfahren, wie man cin solches Eigenthum erwerben konnte. Dcr Leibeigene wurde einmal, wie wir sahen, gekauft. Ferner wenn cin Vcmcr sich irgendwo niederließ und seinen Herd gründete, so fiel er und seine dort gezeugten Kin« dcr in das Eigcnthmn des betreffenden Grundherrn. Wenn Jemand cincn flüchtigen Bauern auf geschehene Anzeige selbst nach Ablauf von drei Monaten nicht vindicirte, so wurde er Eigenthum dessen, in dessen Besitz er sich zur Zeit befand. Selbst wenn ein Bauer cin Kind von der Straße aufnahm und dasselbe cruährtc, wurde es Eigenthum dessen, auf dessen Vcsitzthum cs aufwuchs. Wcun eine Baucrwittwc einen Mann auf einem andern Vcsitzthum hcirathctc und ihre Ander mit sich nehmen wollte, so konnte dcr frühere Herr diese bis zur Wieder-erstattung dcr Ernährungskosteu zurückfordern. Für den Wirth war die Hufe maßgebend. Die schwedische Regierung ließ im Jahre 1688 die Vaucrnansässigkcitcn conscribircn, sowie die „Gehorche" und „Gerechtigkeiten", und bestimmte, daß cin Land für sechszig Tonnen Aussaat (cme Tounc beiläufig 2^ W. Mctzen) cincn Haken oder eine Hufe bilde, für welche dcr Balter dem Herrn scchszig Tonnen Roggen lcistcn soll, odcr statt cincr Tonnc dreißig Tage Arbeit, eine Tonnc Roggen odcr dreißig Tage Arbeit zn cincm Thaler geschätzt. Von cincm Haken odcr cincr Bancrnhufc Pflegte man Zn sagen, cs sci scchszig Thaler Grund, und dafür mußte man 1800 Tage Handarbeit odcr RD Tage mit Gespann leisten. Zu dem Ackerland gehörten aber auch noch Wiese und Garten, doch waren dic hicfür Zn leistenden Gerechtigkeiten durch das schwedische Gesetz nicht bestimmt; übrigens knmcn auch viele Abweichungen vor. So mußte in Livland, wenn auf einem Haken odcr cincr Bancrnhufe vier Bauern wohnten, jeder wöchentlich drci Tage mit Gespann (ein Pferd odcr zwei Ochsen aus cin Gespann gerechnet), außerdem in den scchs Sommermonaten wöchentlich zwei Tage Arbeit und zur Zeit dcs Hcumachcns und der Ernte zehn Tage Hilfsarbeit leisten; — 39 — außerdem zahlte cm solcher Vaucr sechs Touncn Noggcn, drei bis vier Tonnen Gerste, zwei bis drei Touncn Hafer, cincn Rubel iu Geld, zwölf Pfund Flachs, drci Pfund Garn, cin Schaaf, drci Pfund Butter, drei Hühner, fünfzehn bis dreißig Eier, drci bis sechs Pfnnd Honig, cin bis drci Wagen Heu, cincn Sack, drci Stricke. Neben aller dicscr Arbcit und Gcldlcistuug, mnßte cr noch das herrschaftliche Korn auf den Marlt fahren, bei dcn Hof-, Kirchen- nnd Schulbautcn Tagwerk leisten, wahrend dcs Winters das Hosvich füttern, drcschcl,, Branntwein brennen, Wäsche waschen :c. „Man muß sich wundern, sagt Hnpcl, wic sie das bezwingen nnd noch ihre cigcne Feldarbeit verrichten." Das Gcsctz uom Iahrc 1765 soM dcn Vancrn Erleichterung verschaffen; cs bestimmte gcnan dic Pflichten der Vancrn nnd die Grenzen über welche hinans nichts gefordert werden dürfe; ja cs gcstattctc, daß der überbürdete Bancr gcgcn seinen Herrn Klage führe; doch wurde dcr unnütz Klagende strenge bestraft. Es gcstattctc ferner dem Bauern dcn Bcfitz dcs bcwcgUchcn Eigenthums, das cr auch frei verlaufen dürfe, ansgcuommcn jedoch Pfcrdc und Ochscn, in dcrcn Verkauf dcr Hcrr vorerst einwilligen mußte, damit cr nicht wcgcn Abnahme dcr Arbeitskraft Schaden lcide. (Hupcl, II^ 220). Das Elcnd dcr Erblcutc und Stlavcn jcucr Zcit ist sprichwörtlich gcwordcn; kcin Wnnder, daß anch ihr gcistigcs ^cbcu kcin bcncidcns-werthes war. Dcr Este konnte zwar lcscn, dcnn das Lesen crlcrnt cr leicht nnd rasch, wic nns Hnpcl, dcr in cincr cstnifthcn Gemeinde (Obcr-Pahlen) Geistlicher war, bezeugt. Aber im Schreiben licß kcin Hcrr seine Bauern unterrichten, denn cr fürchtete etwaigen Mißbrauch. Die kleinen Kinder nntcrrichtctcn, uud uutcrrichtcu noch hcutc, daheim die Mütter, die erwachsenen gehen in die Gcmcmc-Schnlc. „Für diesen Unterricht mußten die Kinder dcn Geistlichen Holz spalten, dreschen und spinnen, was aber jetzt in dcn livläudischcn Provinzen streng verboten ist." lHupcl II, S. 102). Ucbrigcns wnßte lant dem Zcngniß dcs genannten Schriftstellers nud Geistlichen, nuter zwanzig Esten kaum cincr, daß cr Christ sei! Dies war dcr Zustand nntcr dcn Esten am Ende dcs vorigen Jahrhunderts! Zu Anfang unseres Jahrhunderts nahm man die Sache ctwas ernster und eine von dcr rnssischcn Regierung entsendete Emnmission beantragte im Iahrc 1603, daß gemäß dcn schwedischen Regulativen scchszig Thaler Feld eine Banernansässigkcit bilden sollten; hiczu mußten unbedingt zehn arbeitsfähige Männer uud cbcn so viele Weiber gehören, die zusammen 1028 Tage Spanndienste uud 1028 Frohudetagc zu lcistcu hatten, derart, daß auf eine arbeitsfähige Person jährlich nicht — 40 — mehr als 104 Arbeitstage fielen, d. i. wöchentlich zwei Tage. Sic beantragte ouch, daß die neuen Bestimmungen in der Sprache des Voltes gedruckt werden sollten, was bis dahin noch nie geschehen war. Auf Grund dicscs Elaborates entstand das Gesetz von 1804, welches die von den Bauern benutzten Felder in deren Besitz beließ und nur in wenigen genau bezeichneten Fällen deren Reduction gestattete. Ferner verbot dies Gesetz fürdcrhin jegliche Vcsitzstöruug der Bauern in jenen Ansässigkeiten, welche sie im Jahr 1804 inuc hatten, so lange sie ihren Pflichten entsprachen; der Besitz ging vom Vater auf dcuSohu über.-------- Endlich wurde die Lcibcigcuschaft im Hcrzogthum Kurland im Jahre 1817, in Livlaud utO Estland aber im Jahre 1819 aufgehoben. Die Stadt Niga zcichuetc sich zu verschiedenen Malen aus. Wir müssen, mn unsere Skizze zu vervollständigen, noch einen Augenblick bei ihr verweilen. Zudem wird nns durch die Verfassung Riga's auch diejenige von Rcval und Dorpat veranschanlicht; dcnu ein Geist erbaute, verwaltete nuo erhielt diese Städte. Riga erhielt schou von seinem Grüudcr, dem Bischof Albert, große Privilegien uud Besitzungen, so daß es uuicr den Eroberern einen ansehnlichen Platz behaupten konnte. Es ist also auch l'ciu Wunder, daß seine großartigen Kirchcu iu ein bis zwei Jahren erbaut wurdcu; standen ihm doch die Arbeitskräfte des uutcrjochtcu Volkes zur Vcrfüguug. Als bischöfliche uud spätcrhiu crzbischöflichc Stadt uahm es vielfachen Antheil an dem Zwiste zwischen den Geistlichen nnd dem Rittcrorocu. Als die Stadt im Jahre 1331 in die Gewalt des Großmeisters gelangte, ließ dieser, um sie leichter Zähmeu zu können, eine Festung erbauen, welche die Rigaer im Jahre 1485 niederrissen, der Orden aber zehn Jahre darauf wieder herstellte. Im Jahre 1525 entzog sie sich der bischöf-licheu Herrschaft, nachdem sie schou 1522 sich für die Reformation erklärt hatte. In Riga entstanden die Gilden uud die Schwarzhüuvtcr bereits in der erstcu Periode der Stadt; schon das Privilegium Alberts vom Jahre 1225 erwähnt, daß keine Gilde ohne Guthcißung des Bischofs sich or-gauisiren solle ^nuil^ (^icln. eommuni« ^iuo e^i^oopi liuotoritat«? «tu-tvluwr"). Auch der Verein der Schwarzhäuptcr entstand vielleicht schon um das Jahr 1232, als die Stadt zufolge erlangter Schenkungen sich für immer zur Ausstattung von eimmdsiebzig Bewaffneten verpflichtete. Der Hansa der deutschen Handelsstädte gehörten auch Riga und andere Städte des baltischen Meeres an nach der Conscription vom Jahre 139? bc- — 41 — stand die Hansa aus drei Drittheilcn, dcm wendischen (Lübeck, Wis-mar u. s. w.), dcm wcsiphälisch-preußischcn (Köln, Danzig, Königsberg n. s. w.) nnd dem gothländischcn, welches Wisby, 3tiga, Ncval, Dorpat, Pernau bildeten. Dieser Bund beförderte nicht nnr den Handel der Städte, sondern schützte sie auch und trug so zur Machtucrgrößeruug derselben viel bei. Riga verweigerte von 1562—1581 dcm polnischen Könige die Huldiguug; selbst Gustav Adolph konnte es yur nach langer Belagerung im Jahre 1621 bezwingen. Ebenso schlug es im Jahre 1656 einen starten russischen Angriff zurück, wofür der schwedische Köuig im Jahre 1660 die Mitglieder des rigacr Naths ,in den Adclsstaud erhob nnd die Stadt zur zweiten.des Reichs nach Stockholm machte. Die Gcsammtciuwohncrzahl der Stadt zerfiel in drei Staude, den Nürgerstaud, die Einwohner und die Fremden. Bürger tonnte nnr derjenige werden, der vor dem städtischen Kammcr-gericht zu beweisen vermochte, daß er das gesetzliche Kind freier Eltern sei, daß er den Handel oder ein Gewerbe erlernt, nnd daß er mindestens fünfhundert Thaler Kapital oder Credit besitze; Gelehrte wnrdcn dnrch ihr Amt zn Bürgern; die Künstler wnrdcn den Kanflcntcn gleich geachtet. Die Bürgerschaft hinwieder theilte sich in drei Stufen: den Nath, die große und die kleine Gilde. Der Nath bestand ans vier Bürgermeistern, vierzehn Nä'thcu, ciuem Ober- und fünf Untersecrctären. Zwei Bürgermeister nnd die Hälfte der Räthe waren Kanflcntc, die andere Hälfte (Rechts-) Gelehrte. Der Rath ergänzt sich selbst nnd wählt seine gelehrten Glieder aus den Kauzleicu, sciue commercicllcn ans den Acltcstcn der großen Gilde. Die Bürgermeister führen der Ncihe nach den Vorsitz; den Vorsitzenden nennt man „Wortführer". Dcr Rath, der die höchste Antorität der Stadt bildet, zerfällt, in mehrere Seetioncn und Untergerichtshöfc. Die große Gilde bilden die Kaufleute, die jährlich mindestens zwei Sitzuugcu halten, in der Woche des Aschermittwochs, nnd vor Michaelis. Das Comite der Gilde bilden vierzig Acltestcn. Die Aschcrmittwochs-Sitzung wählt die fehlenden Acltcstcn nud in jedem zweiten Jahre den Vorsitzenden oder Wortführer; die Gewählten bestätigt der Nath. Dieselbe Versammlung beräth auch kaufmännische Angelegenheiten und legt ihre Wünsche und Beschlüsse, welche man Aschermittwochs - Beschwerden nennt, dem Rathe vor. Die Michaelis - Sitznng wählt nnr drn Dockmann, den Präsidenten der Bürgerschaft und zwar derart, daß auch der Nath in dcm Saal der großen Gilde erscheint und gemeinschaftlich mit den Acltcstcn cincn dcr von den Bürgcru vorgeschlagene» drei Candidate» - 42 — wühlt. Die Aeltesten führen gewisse Aemter bei den Kirchen, Spitälern,, der städtischen Wirthschaft :e. unentgeltlich. Die kleine Gilde bilden die Zunftmeister; muh diese besitzt einen ans dreißig Gliedern (Acltestcn) bestehenden Ansschnß. Diese Gilde hält anch in der Aschermittwoche ihre Sitznng und wählt die Nettesten nnd den Wortführer. — Der Rath beschließt in wichtigen Angelegenheiten, bevor er die Ansicht der Gilden vernommen, in welchen zuerst die Aeltcstcu nnd dann die General-Versammlung berathen. Die Schwarzhäupter bilden nicht mehr die Wehrkraft der Stadt. Jeder uuvcrhcirathcte Kaufmann oder Wohlhabende tritt mit einem be-, deutcudcn Beitrag der Gesellschaft bei; hcirathct er, so hört er wohl auf Mitglied zu sein, doch sciuc Wittwe uud Waisen crhaltcu aus der Vereins-kassc, die man für sehr reich hält, bcdcntcudc Unterstützungen. Einwohner der Stadt wurdcu jeue geuauut, die wcgeu ihrer lettischen oder russischen Nationalität u. s. w. iu die Zünfte nicht auf-geuommcu wurden, und also anch an der Verwaltung der Stadt nicht thcilnchmen tonnten, doch Häuser und Grund bcsitzcu durftcu. — Endlich Fremde sind diejenigen Russcu und Ausländer, die blos iu Handclsaugclcgcnhcitcn sich in der Stadt aufhielten, doch in die große Gilde nicht eintreten kouutcn. Es ist selbstverständlich, daß diese straffe Gliederung uud Scheidung längst abgeschwächt wurde. Doch zur Zeit Hupcls gab es dreierlei Lcichcngesäuge, einen für Glieder des Rathes, einen für Glieder der großen, nnd den dritteu für Glieder der llciucn Gilde. Vürgerfrauen fuhren damals auf einen: bottichühulichcu Schlitten in der Stadt auf Besuch, während die Kutsche ein Borrecht der Nathsglicder war. Riga ist demnach, obwohl die Mehrzahl seiner Einwohner nicht Deutsche sind, doch nach seiner Verfassung uud seinen Bürgern bis heutigen Tages eine dcntsche Stadt. Und sie ist stolz auf diese ihre Eigeuthümlichleit. Das Hcrdcrdcutmal freilich entspricht nicht diesem Stolze, — doch Herder war nur eine ganz kurze Zeit Lehrer uud Prediger in Niga <1764—17Ü9). Stolzer darf sie wohl darauf scin, daß die Werke Kant's in ihren Mauern, bei Hartknoch, erschienen, ^n dem östlichsten Winkel des Dcutschthnms (Königsberg, Riga), in dem Lande der einstigen Preußen und Liven, keimte uud trat cm's Licht jcue Erscheinung des deutschen Geistes, welche die Philosophie uud durch sie den vorzüglichste« Theil der Wissenschaft deutsch, und den in derselben wohnenden Geist zum herrschenden machte! — 43 — Von dcm höchst nnschcinbarcn Denkmal Herder's ging ich zu cinem Prediger der St. Iatobskirchc, zu Hcrrn Z., dcr dcr Seelsorger dcr estnischcn Gemeinde ist. Es cristirt wohl in ganz Europa kcin größerer Gegensatz, als der zwischen den: hochvcrdicnstlichcn und noch ansprnchs-vollcrcn Dcntschthum und dcm Estcnthum? Und woher kommt das? Warnm entwickelte sich die cine Nation Zu einer zahlreichen, großen und herrschenden, die andere abcr nicht; da doch bcidc gleich waren in ihrem Anfang?? Doch waren sic auch wirtlich glcjch und konnten sie es gewesen sein? Da der Grnnd und Staunn jeder Nationalität so entstand, daß sie sich eine eigene Sprache bildete, jener Nationalstanun abcr, dcm das arme Estcnuolk angehört — so gut seine eigene Sprache besitzt, wie dcr Deutsche, so mnß ich annehmen, daß die Anfange beider Nationen gleich waren. Denn ich kann keinen Unterschied entdecken Zwischen iencr geistigen Fähigkeit, die den Grundstamm dcr cstuischcn Sprache schuf uud jcucr, welche die deutsche crsprosscu ließ und zu ciucr sclbständigcu Sprache erzog! Odcr sind die Anfänge dcr Nationen, ebenso wie die einzelner Menschen, je nach deu äußern Verhältnissen verschieden? Jener jnngc, hübsche, gebildete, viclstudirtc nud wie es scheint vielgereiste livländischc Baron, dcr vonNirballcn an nnscr Reisegefährte war, und dcr von scincr Ncise im Anstand heimkehrte in dcn Krcis seiner zahlreichen Sippschaft zur Fcicr dcs großväterlichen Geburtstags, ist er von der Mutter Natur mit besonderen Fähigkeiten, mit höheren Zielen ill die Welt gcscyt, als dcr dcutschc Wandrrbnrsch, dcr sein tlcincs Felleisen auf dcm Rücken trägt, der vergnügt ist, wenn er Arbeit und Verdienst findet uuo dcr crst dauu sich scincs Geburtstages erinnert, wenn mau ihn wcgcn dcr Asscntirung nm scin Alter bcfragt? Vcstcht cin andcrcr Unterschied zwischcu Menschen, als dic Verschiedenheit der Wiegen, in wclchc sie gelegt wcrdcn? Ist das Verdienst des reichen Kindes größer, das cbcnso wenig weiß, daß es in einer prächtigen Wiege liegt, als das Kind des Bettlers, das man in Lumpen hüllt? Und wenn sic aufwachsen, und wcnn sic als Männer sich treffen, blickt jener nicht allein deshalb auf dicscn stolz herab, wcil man ihn nach scincr Gcburt iu cine andere Wicgc gclcgt, als dicscn? Vertieft in solche Gedanken suchte und fand ich dic Wohnnng dcs cstnisch prcdigcndcn Scclsorgcrs dcr St. Iatobskirchc. Dcr hochwürdigc Herr kam ans einem andern Zimmer in einem Schlasrockc heraus, dmn er war scit cincr Wochc krank, doch wics cr mich trotzdem nicht ab, sondern erbot sich sogar sehr liebenswürdig, mir jegliche Aufklärung zu gcbcn, dic ich wünschte. Nachdem ich ihm erzählt, daß mich die Sprache und das Volk der Estcu intcrcsfirtcn, begannen wir von dcr Litteratur desselben zu sprechen, was nm so — 44 — mehr am Platze war, als ich das Werk eines seiner Vorgänger erwähnen konnte, dessen dcntschcr Titel, neben dem estnischcn, folgender ist: „Unterredungen Zur Uebung für Ehstcn, welche die Deutsche Sprache, und für Deutsche, welche die Ehstnischc Sprache erlernen wollen. Dritte und verbesserte Auflage, verfaßt von O. A. v. Iannau, Pastor der Ehstnischen Gemeinde Zu St. Jacob in Riga. Mit einem Dcntsch-Ehstnischcn Wörterbuche. Dorpat. 1859. Druck nnd Verlag von H. Laakmann". Ich bezeichnete es als eine erfreuliche Thatsache, daß ein derartiges dem praktischen Gebrauch gewidmetes Buch in dritter Auflage erschienen sei, obwohl es nur auffallend wäre, daß der Verfasser die neue cstnischc Orthographie nicht befolgte. Z. wollte ans seiner eigenen Erfahrung diesen Umstand erklären. „Ich verbrachte — sagte er — ein Jahr bei dem Pastor einer cstnischcn Gemeinde, um mich in der cstnischcn Sprache Zu üben. Ich halte bereits das Evangelium Iohcmuis übersetzt, als ein ncncs cstnisches Druckstück in meine Hände gelangte, dessen Orthographie mir ganz neu war. Was ist das für eine Schreibweise? frug ich meinen geistlichen Prinzipal. — Das ist die nene Orthographie, welche einige unruhige Köpfe in die Mode bringen wollen, wovon mir aber die Ursache unklar ist. — Ich aber hatte einiges in dem Buche gelesen, und antwortete: mir scheint, als ob ich den Grund ahnte. Schon oft kam es meinem Ohre vor, daß die Orthographie der Bücher der cstnischcn Aussprache nicht entspreche nnd ich sehe, dieses Buch befolgt diese Aussprache. — Es ist Schade, sich darüber deu Kopf zu zerbrechen, sagte mein Vorgesetzter: übrigens sehe ich die Nothwendigkeit der Neuerung nicht ciu. — Also, — fnhr Herr Z. fort, — mein Vorgesetzter hat 4O Jahre in eincr cstnischen Gemeinde gepredigt, ohne darauf zu kommen, daß die Orthographie der cstnischcn Bibcl, der Gesang- uuo Gebetbücher die cstuische Aussprache nicht gcuau bezeichnet, ja mit der-sclbeu oft in Widerspruch steht." ^) — Nachdem ich erfahren hatte, daß in den cstnischcn Gemeinden der Gottesdienst ausschließlich cstnisch abgehalten wird, daß daher eine große Zahl der evangelischen Geistlichen in dieser Sprache predigt, so frug ich Herrn Z., ob die Theologen an der Dorpater Universität uicht die estuischc Sprache crlcrncu müßten? — Nein, antwortete er; jcdcr geht, bevor cr Pastor wird, zu einem Prediger, der in eincr estnischcn Gemeinde amlirt, um die Sprache zu erlernen. — Existirt in Riga, frug ich weiter, ein gelernter Este, d. h. ein solcher Mann, der von cstnischcr Abkunft, ein Gymnasium absolvirt hätte? — ") Die biblische oder alte estnische Orthographie schreibt nach dem wr;cn Vota! ti,u'!i Doppelconsouam, wenn man diesen auch nicht doppelt cmssprechcn darf. Sic schreibt also Kü88i, >vo3äi, (Hand, Wasser,) und läßt nur küZi, ^oui aussprechen. — 45 — Ja, antwortete er, der Lehrer der Kronsschulc, Fromm, in der Petersburger Vorstadt, cm sehr gebildeter, wackerer Mann, „dcr sich emporgearbeitet hat" nnd der gleichzeitig ein vollkommen gntcr Este ist. — Den werde ich aufsnchen, sagte ich, und frng ferner, aus was für Renten die hiesige cstnischc Gemeinde bestehe? — Es ist eine fchr eifrige evangelische Gemeinde, gute, fleißige Mcnfchcn, größtcnthcils Taglöhucr, die der städtische Erwerb hicher gcfichrt hat. -7 Gibt es in Niga anch eine estnische Elementarschule? — Der ehrwürdige Herr wiederholte mit etwas Erstaunen die Frage: eine cstnischc Elementarschule? Als ob in dieser Frage etwas Unerwartetes, .Ungewohntes läge, so sah mich der Gefragte an. Nein, war die Antwort. — Wie? Man hält hier keine Elemcntarschnle? frug ich verwundert. — Es sind genug Elementarschulen da und recht gute, doch sind diese alle deutsch. — Wärmn hat denn die cstnischc Gemeinde keine estnischc Schnlc? — Weil man sie nicht braucht, antwortete cr; dcr Estc wünscht cs gar nicht, denn cr will, daß sein Kind deutsch lerne, da cs nur so fortkommen kann. Unter sich sprechen sie wohl cstnisch, auch unterrichten sie die Kinder im Estmsch-lcsen, sic unterlassen das nic, ja sie licbcn ihre Sprache außerordentlich, doch eine cstnischc Schule brauchen sie nicht. — Denken die Esten überall so? — Es cxistirt wohl eine Partei, die sogenannte cstnischc Partei, antwortete dcr Prediger, welche sogar von einem cstnischcn Gymnasium träumt; doch das ist wahrhaftig ein Traum, sagte er, dessen Verwirklichung unmöglich ist. — Ich acccfttirtc die Unmöglichkeit und wendete das Gespräch anf andrc Dinge; ich stellte Fragcn über die rigaischcn kirchlichen Verhältnisse, auf welche cr mit großer Bereitwilligkeit, und wie mir schien, anch mit ganzer Sachkcnntniß antwortete, obwohl cr nicht wußte, warum die Schule» in welcher Fromm lehrte, Kronsschulc genannt wurde. Als ich sah, daß cr wirklich leidend war, nahm ich von ihm Abschied und ging in die Petersburger Vorstadt, die Kronsschule auszusuchen. Denn nachdem ich dcn cstnisch predigenden, deutschen Pfarrer gesprochen, schien cs mir sehr interessant, mit dcr Denkart cincs deutsch gebildeten Esten bekannt zu werden. Dic Petersburger Vorstadt hat geradlinige, regelmäßige Straßen: die Häuser sind rcin, größtcnthcils ebenerdig, aus Holz gebaut. Dic ganze Vorstadt ist reich an Bänmcn und gleicht eher einem Garten. — Hier ist die Kronsschnle. Ein sehr reinliches Haus; ich gehe hincin und klopfe da an, wo man mich hingewiesen. Eine Frauenstimme antwortet, es ist die Gattin des Lehrers. Das rcinc schöne Amcnblcmcnt und die gebildete, deutsche Rede hatte ich bei Küstern bereits gcfuudcn; es überraschte mich also nicht, was ich bei dem Lehrer sah und hörte. Materieller — 46 — Wohlstand blickt aus Allem, besonders aus dem sehr reinlichen einfachen Hausanzug;^die Sprache zeigt allsoglcich die gute Schule und Erziehung. Ihr Gemahl sei nicht Zn Hause, und da er die Stadt verlassen (es waren schon Schulfcrien), so kehrte er auch vor Abend nicht zurück. Doch träfe ich ihn morgen ganz bestimmt. — — Morgen kann ich jedoch nicht wiederkommen, denn morgen früh geht der Dampfer Admiral nach Ncval; ein anderes Schiff geht erst nach vier Tagen ab, und es ist mir nicht möglich, bis dahin Zu warten, da ich Eile habe, nach Dorpat zu lounncu. Ich könnte die Reise wohl per Bahn und zwar bis Pleskau, von da wieder mit dem Dampfschiff auf dem Peipns und Embach bis Dorpat machen. Aber ich finde die Seefahrt interessanter und außerdem auch bequemer. III. Von Riga nach Reoal. (Von Riga nach Rcval. Die Werke Schirrens und SamarinS. Die neuere russische Politik gegenüber den Ostsee-Provinzen; deren Vertheidigung gegen die Angriffe der russischen Politik. Der Hafen von Hapsal. Peter der Große unterwirft die Provinzen seiner Herrschaft nicht als eroberte, sondern als erworbene. Betrachtungen über die polnische und schwedische Politik gegenüber den baltischen Provinzen; ob eö auch Rußland so ergehen wird? Ankunft in Reval.) Am 26. Juni — und erinnern wir uns, dciß wir im russischen Reich sind, welches die alte Zeitrechnung befolgt, und au diesem Tage deu 14. schreibt, also am 26/14. Juni — gegen 6 Uhr eilten wir auf den Dampfer Admiral, um über das Meer nach Neval zu fahren. Das Schiff ist größer als die größten, welche die Donau befahren; Vorrichtungen und Möbel siud eleganter, die Reinlichkeit viel strenger; doch bemerke ich gleich hier, daß auch die Reisegesellschaft viel zurückhaltmder ist, gegeneinander sehr höflich, und die Reiulichlcit nicht nur prätendirt sondern auch liebt. Wenn in dem mittlern Salon eines Donandamftfers, welcher gleichzeitig zum Sftciscsaal dieut, der Tabackrauch in Säcke gefüllt werden könnte: so ist hier in den untern Rä'umlichkciteu, iu dem gemeinschaftlichen Salon, aus welchem mau in die Kajüte tritt, das Naucheu verboten. Es mag sein, daß die Erfahrung die ich anf den Donau^ damftfschisscu gemacht, uicht für alle zutrifft, da ich uur jene kenne, welche Zwischen Pest, Prcßburg und Wien die Tour machen, und auf welchen das reisende Publikum nur seltener übernachtet; doch findet man auf denselben gewiß keine derartigen Schlafkajüten, wie auf den Seeschiffen. Es ist bekannt, daß zur Tageszeit selbst anf 10—12 Stunden sich jeder Reisende mit geringerer Bequemlichkeit bcguügt und daß er, da er uur kürzere Zeit der Gesellschaft angehört, auch weuigcr Rücksicht auf sciue Gefährten nimmt, die gleichfalls nach wenigen Stundcu das Schiff ucr- — 48 — lassen, als sie alle beanspruchen würden, wenn sie längere Zeit mit einander reisen würden. Aber anch das kann nicht gcläugnet werden, daß das Wort ßöns nicht bei uns erfunden worden, und daß der dem entsprechende ungarische Ausdruck (tart/>/,1iuä^ - sich enthalten), vielen der Unserigen nicht convcmrt. Unsere Kajüte ist anf 4 Betten berechnet; in die Zwei unteren muß man mit etwas Vorsicht schlüpfen, wenn man seinen Kopf nicht an die obern anschlagen will; doch das Bettzeug aller ist sehr sauber. Waschbecken und Kruge sind aus feinem Geschirr; Flaschen und Trintgcfäße ans geschliffenem Glas; alles, anch die Leuchter sind derart befestigt, daß sie nicht herabfallen können; das Fenster der Kajüte, aus dickem Glas, ist mit einer starken Schraube geschlossen. Alles weist darauf hin, daß wir uns auf einem Seeschiffe befinden, das vom Stnrm hin- nnd herge-schlcuocrt werden kann. Doch das erschreckt uns nicht — ja wir würden ein bischen Stnrm selbst wünschen, um doch zu sehen, wie ein solcher sich ausnimmt. Die Reisegesellschaft wird theils kürzere, theils längere Zeit beisammen sein, denn Manche verlassen das Schiff in Hapsal, Andere in Rcval, Manche gar erst in Pctcrsbnvg. Da w.ir flnßabwärts gegen Dünamünde zwischen uninteressanten Ufern fahren, so werden die Reisenden, ohnedies nicht in großer Zahl, bald bekannt und als man zur Abendmahlzeit läntct, ist die Bekanntschaft ziemlich allseitig angeknüpft; was noch fehlt wird bei Tisch ergänzt. Im Spcisesaal finden wir Znerst den Imbißtisch. Vor dem eigentlich Mahl nämlich geht man zum Imbiß, welcher dem Gaste geistige Getränke, Butter, Käse, kleine Fische nnd kaltes Fleisch bietet. Anfangs schien dies selbst für ein anständiges Mahl gcnng' nnr mit halber Lust kosteten wir nachher noch etwas. Später gewöhnten wir uns daran und fanden, daß der Gebranch überall Nccht hat. Die Festung Düuamündc unterbricht das Mahl. denn sie ist besonders sehcnswürdig. Doch erblicken wir nur wenig davon. In der Ekcnc liegende Fcstungsmaucrn zeigen dem zu Schiff Fahrenden nicht viel; interessanter wäre es wohl wenn sich das Ende der Dnua und der Anfang des Meeres unterscheiden ließen. Doch ist es sehr schwer die Stelle zn bezeichnen, wo sie sich factisch treffen. Ebenso leicht ließe sich sagen, an welchem Tage der Winter anfhört nnd der Frühling beginnt. Nach dem unterbrochcucn Nachtmahl trifft sich die Gesellschaft wieder auf dem Verdeck. Jetzt schwimmen wir in den rigaischcu Meerbusen; die Küsten treten zurück, endlich verschwinden sie völlig. Der Himmel ist rein; gestern hatten wir Vollmond, nnd so wird die Nacht mondhell sein; anch ist unter der nördlichen Breite von Riga der Sommcrtag viel. — 49 — langer, als in unsrem Vatcrlande; die Nacht wird also nicht gar lange sein. Das Mccr ist ruhig, nur die Räder des Schiffes schlagen Welle». Der Schiffskapitän prophezeit auch für morgen, Sonntag, gutes Wetter; er sagte, es werde dies seine erste ruhige Fahrt in diesem Jahre sein. So bliebe denn das kleine Gewitter aus, das insbesondere die Jugend sich wünscht, die jetzt zum ersten Male auf dem Meere ist; fast bedauern wir es, daß wir keinen Sturm haben sollen. In der Gesellschaft bewegt sich am lebhaftesten ein kräftiger, blonder Jüngling, dessen Kavpc uns schon sagt, daß er ein Univcrsitätsjüngcr ist. Unser blonder Held ist es in der. That. Die Dorpatcr Universität schließt, wie alle im Norden, Mitte Juni ihre Vorlesungen. Der blonde Gefährte war von Dorpat nach Kurland gereist nm Verwandte zu besuchen und fährt jetzt nach Reval,.wo seine Eltern im Katharinenbad den Sommer zubringen. Er ist ganz ocmpirt von einem Ercignisi. das ihn außer Fassnng brachte, doch man sah anch, daß die Acltercn der Gesellschaft ihm deshalb nicht zürnten, wenn sie anch seine Begeisterung nicht theilten. Es mag wohl ein politisches Ereigniß sein, und da ist jedermann unter Fremden vorsichtig, seiner Zeit haben wir das auch Daheim erfahren. Zwei blonde Mädchen unterhalten sich in einem herrlichen Deutsch, an die Politik nicht denkend; anch französisch spreche^ sie recht gut. Sie sind aus dem Innern Rußlands und fahren mit einer Verwandten zu Verwandten nach Rcval. Jene ältliche Fran ist die Baronin Licven, die ihr Sohn gleichfalls nach Rcval begleitet; sie ist eine Russin von Gebnrt und spricht gerne französisch, da sie das Dcntsche nicht gilt erlernen konnte, obwohl ihr Mann ein turländischer Grundbesitzer, also Deutscher, ist. Sie hat selbst ihre Kinder erzogen, und erzieht ictzt die Kinder ihrer Tochter, die an einen Offizier vcrhcirathct ist. „Ich erziehe schon die zweite Generation" sagt sie, und in ihre Augen traten Thränen, als sie erzählte, wie sie ihr daheim gebliebenes Enkelkind der ängstlichsten Fürsorge empfohlen. Die ehrwürdige Matrone muß eine innigstlicbcnde Mutter nnd Großmutter sein. Ihr Sohn ist ein Mann von ruhigen, Naturell, zum Nachdenken geneigt, der den unruhigen, jungen Blondin Wohl nicht abweist, aber ihm auch uicht entgegenkommt. — Zurnckgc» zogen sitzt dort eine Frau; sie liest Racine und blickt träumerisch auf das Sccpanorama, das sich schon in Abcndröthc kleidet. Sie scheint eine Erzieherin oder Inhaberin eines Pensionates zu sein. Auch sie spricht ein gewähltes Dcntsch, wie wir es in Pest oder Wien nicht leicht hören. Ein schmächtiger Herr geht in großen Schritten zumeist wortlos anf und ab und weicht dem Besen aus, mit Hunfalv y, 4 — 50 — welchem die Matrosen jetzt das Verdeck reinigen; denn, hier liegen Vrod-krumeii und Zigarrenstummel, Spuren der Thee- und Kaffcconsumentcn. Der Spazierende scheint ein Beamter zu sein, ob aber Krons- oder Provinzialbeamter, das konnte ich nicht beurtheilen, da ich die Uniformembleme nicht verstand. Nun rollte der blonde Student auf einem Velocipede einher, das er in irgend einem Winkel aufgesucht; doch seinen langen Beinen sind die Räder zu niedrig und er stellt es beiseite. Er faßt cine Schnnr, die in seiner Hand zerreißt; der Kapitän lacht ihm zu und sagt: ihre Hand zuckt, weil sie noch keinen Schaden angerichtet haben? Ich sehe. der Kapitän kcnnt ihn und bemerke auch, daß die Frage dem Jüngling gefällt, der sich freut, seine Stärke zu zeigen. — Ich fürchte mich geradezu, autwortcte er, nach etwas zu greifen, und näherte sich nun mir, um nach wenigen gleichgiltigcn Fragen und Antworten auf das zu kommen, was seine Brust erfüllte und was auch mein Interesse in Ansprnch nahm. Schirren, sagte er, war in Riga. Die kurischc Ritterschaft wollte ihm zahlreich ihre Theilnahme und Achtung bezeigen, doch Schirren wünschte jedes Aufsehen zu vermeiden und fuhr rasch ab. Jetzt ist er gewiß schon in Deutschland. — Doch ich bitte schon, wer ist Schirren? — Er war Professor der Geschichte an der Dorpater Universität nnd Censor. Er schrieb ein Buch und als es von Leipzig nach Dorpat kam, verbot er den Verkanf desselben nicht nnd schrieb an den Grafen Keyserling, den Cnrator der Dorpatcr Universität, beiläufig Folgendes: Schirren, der Censor, tonnte in diesem Bnchc nichts finden, was unsern Gesetzen Zuwider wäre, darum kounte er es uicht verbieten; doch Schirren, der Professor nnd Verfasser des Buches, weiß, daß er vuu nun an weder Professor noch Censor in Dorpat sein kann und tritt von beiden Stellen Zurück. — Ob es so geschah, wie mein junger Reisegefährte erzählte, weiß ich nicht; doch hörte ich später auch in Dorftat, daß Schirren plötzlich von dort wegging. — Ich möchte das Buch gerne sehen, sagte ich, wenn Sie es da haben und ich es sehen kann. — Necht gerne, war seine Antwort. So viel Exemplare als nach Riga kamen, wnrdcn in wenigen Tagen vertauft; als das Verbot dort anlangte, war bereits kein einziges Exemplar in den Buchhandlungen. Hiermit zog er aus seiner Reisetasche das Buch und gab es mir in die Hand.*) — Schirren antwortet, wie ich sehe, auf das Buch Sämanns, haben Sie auch dieses? — Das habe ich nicht; übrigens ist es auch russisch geschrieben und ich lese keine russischen Bücher, obwohl ich etwas russisch verstehe, da man es in unsern Gymnasien furchtbar lernen muß. Auch sieht man aus ") Livländische Antwort an Herrn Juri Samarin, von C. Schirren. Leipzig 1869. __ H^ Schirrcns Buch, was Samarin geschrieben hat. — Ich blätterte sogleich 'cm wenig in dem Buche und sah, daß es in die gegenwärtigen Verhältnisse des Bandes einführe, also mir besonders willkommen war, der ich in der Absicht hicher kam, die hiesigen Verhältnisse kennen zu lernen. Das Buch ist mit der Kraft der Ueberzeugung, der Sicherheit des Rechtsbewußtseins und dem Feuer des Pflichtgefühls gegen das Vaterland geschrieben; der Verfasser ist nicht nur tüchtig, sondern auch geistreich. Später erfuhr ich, daß Schirren ein Matador der baltischen Rechts- und Geschichtswissenschaft sei und durch das vorliegende Vuch cm trefflicher Vertheidiger seines Vaterlandes wurde. — Ich würde es schr bedauern, wenn ich die Livlänoischc Antwort mir nicht verschaffen könnte, dachte ich. — In Dorpat hätte ich es kaufen können und bereits in der Zweiten Auflage. Wenn es auf eine Zeitlang verboten war, durfte es doch später wieder frci verkauft werden; daß seit April eine zweite Auflage nöthig wurde, Zeigt von großem Erfolge, was mir lehr erklärlich ist, da das geistreich geschriebene Buch die vitalsten Interessen der Provinzen betrifft. Schon das kurze Vorwort nimmt den Leser gefangen: „Herr Samarin! Nachdem Sie auf fremdem Boden das Visy- gelüftet nnd Ihren baltischen Gegnern daheim den Vorwurf feiger Anonymität in's Gesicht geschleudert, rufcu Sie Ihre Freunde anonym an Ihre Seite. Es ist billig, daß der herrschenden Race ein Vorrecht bleibe. Ich erkenne es an und crfchcinc ohne Begleitung. Was ich beginne, habe ich allein zu verantworten. Im Ucbrigen bediene ich mich der Freiheiten, die Sie sich genommen. Im Namen des Landes rede ich mit demselben Rechte, wie Sic im Namen der Race. Sie haben weder Vollmacht noch Auftrag: ich »auch nicht. Sie haben es für gut befunden, uus zu beschimpfen. Ich befinde es für gut, das nicht zu dulden. Durch das Geschick sind Sie uutcr den Instinkt Ihres Volkes, ich bm nnter das Recht meines Landes zn stehen gekommen. Volontär gegen Volontär, das macht die Partie nicht zu ungleich. Dorpat, im April 1809. C. Schirren". Doch je anziehender, ich möchte sagen, verlockender das Buch Schirren's ist. desto nothwendiger ist es, mit dem Buche Samarin's bekannt zu werden, t>amit unser Urtheil nicht einseitig werde. Wir können es in der von 4' — 52 — Eckardt veröffentlichten Ucbersctzuug lesen ^) und obwohl mir diese erst gegen Ende des Jahres Zur Hand kam — Eckardt schrieb im August seine Vorrede ^ ist es doch nothwendig, daß ich schon hier den Leser mit dem Inhalte bekannt mache. Samarin ^ so erzählt cr selbst — war zur Zeit der Gouvcrncur-schaft des Generals Golowin (1845—1846) Titulairrath in Riga. Nachdem der Fürst Snworow im März 1848 Golowin gefolgt war und das Negierungssystcm sich dem Geiste der baltischen Provinzen mehr anschmiegte, äußerte Samariu in Briefen feine Anficht über die Angelegenheiten dieser Provinzen, weshalb der Czar Nikolaus ihn persönlich tadelte und auf einige Wochen in Festungshaft setzen ließ. Im I. 1861 veröffentlichte Samarin in dem Blatte Moskwa, welches uutcr der Redaktion des berüchtigten Kattow erschien, einige Leitartikel, in welchen cr unter andcrm den traurigen Zustand der griechisch-orthodoxen Kirche in den Ostsee-Provinzen schilderte und auseinandersetzte, daß die Abnahme des Vertrauens des dortigen Volkes gegen Rußland sehr traurige Folgen haben werde. Das Blatt wurde wegen der Artikel gerügt, und auf drei Monate suspcndirt. Diese zwei Erfahrungen genügten ihm — sagt Samarin, und cr setzte seine wachsame Thätigkeit außerhalb Rußlands fort, denn er spürte Rauch in den Grcnzlandcn, dürfte aber zu Hause nicht Feuer rufen. Er späht also einen solchen Wachposten aus, wohin die russische Behörde uicht reicht und wo wohlwollende Menschen wohnen, die ihn verstehen, d. i. Prag. Für Deutschland, oder das französische uud englische Publikum zu schreibcu, wäre nutzlos, denn diese sind gegen das heilige Rußland voreingenommen und glauben den falschen Anklagen polnischer und baltisch-deutscher Schriftsteller. „Wir sind längst vcr-urtheilt, sagt cr, und zwar in allen vergangenen, gegenwärtigen und zu-tuuftigeu Anklagcvunktcn, so daß Jeder, der gegen uus auftrcteu uu>> Klage führen will, sei cr Pole, Deutscher, Tschcrlcsfe, oder Tartarc, im Voraus Recht behält". Nur die Slaven außerhalb Rußlands (mit Ausnahme der Polen), die durch Europa selbst iu den Bann gethan sind, und die aus eigener Erfahrung wisscu, wie weit der Naccnhaß gehen kaun,, zweifeln schon ihren historischen Instinkten gemäß, an der Wahrheit der ausgestreuten Klagen uud sind bereit, dem Gegenbeweis ihr Ohr zu öffnen. „Die Slaven sind das einzige Voll, zn welchem wir mit unserm Nationalbewußtsein in Beziehung treten können, und dessen öffentliche *) Juri Samarin's Anklage gegen die Ostseeprovinzen Rußlands. Uebersetzt aus dem Russischen. Eingeleitet und commentirt von IulinS Eckardt. Leipzig 186!). Noch erwähne ich folgendes Buch Eckardt's: Tie baltischen Provinzen Rußlands, Politische und kulturgeschichtliche Aufsätze. Leipzig 18«i6. — 53 ^ Meinung in unsern Augen einen Werth hat, — Vor dem Publikum Frankreichs, Englands und Deutschlands sich rechtfertigen zu wollen, hieße ohne allen Nutzen in den Wind reden, und feine Würde opfern". Samariu faßt also die Absicht, gegen die Ostsceprovinzen, dann gegen Finnland, endlich noch gegen die Polen zn schreiben. Er verlangt von Allen Daten, und sichert Anonymität zu. . Im I. 1868 beginnt er in Prag seinen politischen Fcldzug unter dem Titel „die russischen Grenz-inarkcn"; er schreibt in dem ersten Heft über den russisch-baltischen Küstenstrich in der Gegenwart, in dem zweiten veröffentlicht er die Memoiren- des orthodox gewordenen Indrik Strauunt — Schirren hält beide vor Augen, Eckardt theilt nur die Ucbcrsetznng des ersten Heftes mit —. Samarin gibt zu, daß dic unumschränkte Macht der Negierung für Rußland noch eine Wohlthat sei, er ist mit Leib und Seele ihr zugethan; doch hangt alles davon ab, ob dieselbe dem Alt-Russcnthum, das heißt den: eigentlichen russischen Volk, mit Vertrauen entgegenkommt, oder nicht. Denn wenn der Herrscher in das russische Volk Vertrauen setzt, so wird er dessen Neigungen achten; vertraut er ihm nicht, so neigt er sein Ohr jenen Spezialintcressen zu, welche in Polen den letzten Aufstand hervorriefen, und welche anch in den Ostsecproumzcu in voller Blüthe stehen. In diesen ist eine große antirussische Propaganda thätig, welche die deutschen Gruudbcsitzcr, Geistlichen und Professoren leiten, und deren Werkzeuge 'Beamte, Schreiber, Kantoren, Schullchrer, Küster, besonders aber die lettischen nnd estnischen Zeitungen sind. Der Instinkt des russischen Volkes protestirt gegen die Sonderstellung der Ostseeprovinzcn; das russische Volk aber, d. h. die Partei Alt-Rußlands ist Rußland selbst. Ilnd dieses will wissen, ob die Privilegien der Ostseeprovinzcn noch gültig seien ? Ob die von der russischen Regierung publizirteu Gesetze nicht bindend seien auch für jene Provinzen ? Ob die russische Sprache in denselben keine Nechte habe? In welchem Znstande sich dort die russischen Einwohner und die russische Kirche befinden? Samariu will beweisen, daß die Pri vilegk-n der baltischen Provinzen längst verwirkt sind, und daß die russischen Gesetze dort Rechtskraft haben. Die baltischen Bewohner muffelt sich als Russen fühlen und bekennen, denn wenn einmal das große russische Volk zur gesetzgebenden Macht gelaugt, dann werden vor demselben jene Provinzen verstummen. Da aber die baltische Intelligenz deutsch ist und deshalb uach Deutschland gravitirt, so ist sie. obwohl sic nicht revolutionär, wie die Polen, doch für die eigensten Interessen Rußlands gefährlicher, als wenn sie sich in offenem Aufstand erhöbe. Gegen die sugcnauntc baltische Intelligenz müsse man in den Bauern, welche jene immer unttrdrüctt hat und noch fortwahrend unterdrückt, dadurch eine — 54 — Stütze suchen, daß man sic an das Interesse Nußlands kettc. Und m> dieser Beziehung hat nun, nach Samarin, die russische Regierung viel gesündigt. Sie hat dic Gelegenheit nicht gehörig wahrgenommen, da in den vierziger Jahren die lettische und cstnische Vauerschaft massenhaft Zur russischen Kirche übertrat; sie hat anch damals gesündigt, als sie dic Aufhebung der Leibeigenschaft den Provinzial-^andtagen cuwcrtrautc, austatt dieselbe selbst durchzuführen. Aber die Ritterschaft der baltischen Provinzen handelt immer mit so viel Geschicklichkcit, daß sie sich stets ohne Wissen der Rcichsbchördcn Gesetze crcirt, die ihr zusagen. Anch crfähvt sie Alles aus den russischen Ministerialbureaux, wovon die Russen keine Kenntniß erlangen. Die russischen Proviuzial-Statthaltcr, die ihr nicht zu Gefallen handeln, stürzt sie; ja ihre schlaue Gewandtheit geht soweit, daß die Regierung selbst russische Erzbischöfe entfernt hat, dic ihr nicht angenehm waren. Auch der General Golowin, der als Gouverneur der baltischen Provinzen das wahre russische Interesse richtig anffaßte, mußte dem Fürsten Suworolu-Platz machen, dessen Verwaltung (1840—1861) einem unglücklichen Fcldzug zu vergleichen ist. Schon im I. 1850 wollte mau die russische Sprache zur Amtssprache machen, doch schien dies noch im I. 1867 eine Unmöglichkeit. „Dies sind die Folgen der Nachgiebigkeit und jenes Bestrebens, auf Kosten der Popularität im Reiche, nach der Popularität einer Provinz, oder besser nur zweier Stände derselben, der Adeligen und Geistlichen, zu jagen". Wir sehen, daß Samarin eigentlich die russische Regierung anklagt, während er gegen die baltischen Provinzen schreibt und ihre Privilegien,, ihre kirchlichen, communalcn, bäuerlichen und alle anderen Verhältnisse so schildert, als ob sic die Interessen Rußlands schädigten. „Vormals hatte die deutsche Bewohnerschaft jener Provinzen es blos mit der russischen Regierung zu thun, nnd darum paßte sie ihre politischen Kunstgriffe den bnrcaukratischcu Verhältnissen an; doch heute hat sie cs, ob sie will oder nicht, mit der russischen öffentlichen Niciuuug zu thun, und diese kann man weder durch Schmeicheleien einschläfern, noch aber durch Ergcbenheitsbezcugungeu erkaufen". Schon aus dieser kurzen Mittheilung kann ein Fremder sehen, daß cs sich hier nm einen Kampf auf Tod und ^cbcn handelt. Er liest mit Entrüstung, daß Samarin sein Buch deshalb iu Prag drnckcn lasse, weil die Slawen außerhalb des rnssischcn Reiches, die vom übrigen Enropa in die Acht erklärt seien, wüßten, welchen Grad der Unverschämtheit der Nacenhaß zu erreichen vermöge. Samarin stellt also auch die russischen Slawen so dar, als wenn sie unter der Acht seufzten. Wic sehr wir auch unsere Aufmerksamkeit auf das große Rußland richten, so finden wir duck. 55 nirgends eine Möglichkeit, daß dort jemand die Russen verfolgen könne. Dir 10,000 Deutsche der baltischen Provinzen können doch die 60 Millionen Russen nicht in den Bann thnn! Andererseits aber, wenn wir die Starrheit der russischen Kirche in Betracht ziehen, wonach Niemand ans ihrem Schoße austrcten kann, wonach die Kinder gemischter Ehen ohne Ausnahme der russischen Kirche angehören,, so müssen wir sagen, daß wenn Jemand in Rußland nntcr einem Banne seufzt, das nicht das Rnssenthum sei, sondern vielmehr Alles was nichtrnssisch ist. Und dann, sind die nicht-russischen Slawen, etwa die Czcchcn, rechtlos? Oder quälen sich die nugarischen Slovaken, die Serben, Kroaten unter solchen Verhältnissen, wic die Nicht-Russen in Nußland? Und wenn wir endlich auf die Türkei blicken, werden hier nicht bald eher die Türken die Verfolgten sein, als die Serben, Bulgaren, Griechen? Ich gebe zn, daß in der Türkei das Gesetz, das nach der politischen, socialen und kirchlichen Gleichheit der Einwohner verschiedenen Glaubens und verschiedener Zunge strebt, noch oft, oder vorläufig wenigstens wegen der Nohhcit und Un-beugsamkcit cbcu dieser Einwohner ohne Wirkung bleiben wird: doch wann wird Nußland das Beispiel der Türken nachahmen, und wic diese die Gleichheit der verschiedenen Nationen uud Glaubcnsbckcuntuissc verkünden? Und wenn es auch je ein solches Gesetz,gäbe, wann würde es wohl seine straft äußern, wenn das Russenthum Samariu folgte? Nicht weniger Entrüstung vcrnrsacht es, wenn Samarin den Geist der baltischen Provinzen mit demjenigen Polens vergleicht. Das ist sehr gefährlich; es reizt die Wuth von 60 Millionen gegen eine Provinz auf, deren gcsammtc Einwohnerzahl ^ Millionen beträgt, gegen welche kleine Zahl aber schon deshalb die große Zahl alles für crlanbt halten wird, weil sic gcgen die Polen alles versuchen kaun, was nur irgendwann und irgendwo menschliche Tyrannei vollbracht hat. Unglückseliger polnischer 'Aufstand! Er hat in Nußland eine Partei iu's ^cben gerufen, welche m 60 Millionen Wuth träufelt, uicht uur gegen das zerfleischte Polen, sondern gegen Alles, was nichtrussisch ist; welche die russische Regierung m Fanatismus stürzt und mit ihrem Gift auch die außerhalb Rußlauds lebenden Slawen ansteckt. Die Gefahr der baltischen Provinzen kann also nach jener bemessen wcrdcn, mit welcher die rnssischc Propaganda ganz Europa bedroht. So traurige Gcdantcu vermag wahrlich auch der Meeresspiegel m'cht zu besänftigen; er vermehrt sie sogar. Denn wenn auf demselben Sturm entsteht, was kann den so leicht beweglichen Wcllcu widerstehen? Auch die von den Dampfrädcru cmfgcworfmm Wellen theilen sich nach zwei Richtungen in unendliche Fcrne. Rußland ist ein ungeheures Meer; - 56 - wein: der politische Fanatismus einen Sturm hervorruft, was kann dein leicht reizbaren Willen von 60 Millionen widerstehen, welche weder Erfahrung noch Bilduug müßigt, welche aber in den Slawen außerhalb des russischen Reiches Billigung, vielleicht sogar Hilfe finden! Und dock). — als ob die große Stille, welche die Mondnacht über das Meer breitet und welche sich auch den Reisenden anf dem Schiffe mittheilt, die düstern Gedanken in Schlaf Zu hüllen vermochte — wir schlagen das Buch zu, spazieren stumm anf dem leer werdenden Verdeck des Schiffes und nehmen Abschied von der stillen Gegend. Wir möchten gerne morgen früh der aufgehenden Sonne zuvorkommen. — Das Plätschern der Rader verscheucht Anfangs den sich einstellenden Schlaf; später fesselt es ihn durch seine Gleichförmigkeit um so starter. Die Dauer des Schlafs läßt sich an sich selbst nicht messen, selbst der längste scheint um so kürzer, je tiefer er war. — Das Stillstehen der Rüder weckt mich plötzlich, ich eile hinauf, vielleicht landen wir irgendwo? Die Gegend ist hell, doch nur die erste Rothe der anbrechenden Sonne blickt aus dem Dunkel hervor. Einige Gestalten schlafen noch sitzend; nur der promenircndc Beamte von gestern Abend spaziert wieder auf dem Verdeck, in seinen Mantel gehüllt- Er kömmt auf mich Zu und sagt grüßend: „Wir haben längst die Inseln Oesel und Moon versassen, und jetzt schwimmen wir in der Richtung der nicht sichtbaren Insel Dagdcn auf einer Uutiefc, darum blieben die Räder stehen, die sich nun wieder bewegen. Dort gegen Nord-Ost sieht man bereits Haftsal, wo unser Schiff auf kurze Zeit landen wird. Auch vorhin hielt es an der ostlichen Spitze der Insel Ocsel, wo neue Reisende einstiegen. Es brachten sie Esten von Oescl, die ich Ihnen gewünscht hätte zu sehen. Sie haben einen ganz eigenen Anzug, der sich von dem der andern Estrn unterscheidet". Der Beamte setzte seine Beschreibung der Esten fort, machte mich darauf aufmerksam, daß sie sehr schnell sprechen und daß sie daher auch derjenige manchmal schwer versteht, der sonst gut estnisch kann. Uebrigeus ist es cin schmutziges, dummes Volk, sagte er. — Da warf sich etwas im Wasser auf. Was war das, frug ich? Ein See-hnnd, antwortete er, dort schwimmt ein zweiter. Gibt es im baltischen Meere Robben? O ja, und heuer gab es sogar bei Narva eincn sehr reichen Robbenfang. Während wir so sprachen, wurde die ^uft immer kühler und ein dichter Thau senkte sich auf das Verdeck des Schiffes, und netzte Alles, Bänke und Stühle. Die Sonne stieg über dein Fcstlandc empor, auf welchem finstere Wolkenschichtcn lagerten. Nur langsam 57 brach durch dieselben das strahlende Auge des Himmels hervor, welches Gott nach dem Evangelium für Gerechte und Ungerechte schuf, und welches Wer Russen und Nicht-Russen leuchtet. Wir näherten uns unterdessen der Bucht von Hapsal und schon wurden die Thürme der Stadt sichtbar. Kaum noch eine Viertelstunde — und wir landeten an dem Ufer, an welchem Menschen, Wagen, Pferde Wischen aufgestapelten Waaren wogten. Ich betrachtete das Gewimmel;, hier sah ich zuerst Esten. Kaum legte man den Vrückensteg, so eilten estnische Weiber auf das Schiff, in ihren Körben allerlei kleine Waaren hcrbeitragend. Ihr Kopf wird von ciner eigenthümlichen Tracht mehr verunziert, als geziert. Es ist dies eine vorn hochaufstchcndc länglichrunde graue Hülle, mit einem rückwärts rasch abfallenden Tuch, das bis zum Halswirbel reicht und mit weißen schmalen, die Stirne bedeckenden Spitzen versehen ist, welche den obern Theil des Gesichts uahezu beschatten. Die übrige Kleidung ist ein gewöhnliches Frauentleid, wie es die Deutschen tragen; die Fußbekleidung sind blaue Wollcustrümpfc. Dell neben mir stehenden Beamten, der sich gleichsam als Dolmetscher gcrirtc, frug ich, ob alle cstnischcn Granen solche Kopftücher trügen? In der Gegend von Rcval und hier tragen sie solche, war die Autwort. — Mir fiel das Unpassende dieser Tracht, besonders bei den ärmeren Classen sehr auf. Doch diese Haube ist nicht allgemein; in der Dorpater und Fcllincr Gegend sah ich sie nicht; die übrigens schonen Weiber lieben dort sehr die lebhaften Farben. Die Männer, die auf den engen Wagen Reisende oder Gepäck hergebracht hatten oder hier aufnehmen wollten, sind so gekleidet wie die deutschen Bauern; auch der lange Rock und die Tuchmütze siud so allgemciu, wie in Deutschland. Die Wagen sind zumeist einspännig; das Geschirr zeigt ohne Ausnahme Men hohen hölzernen Bogen, den ich schon in Riga gesehen hatte, und den man cstnisch vsininul, finnisch veniiuvl, (vyinpslyu) uennt. Unter den kleineu Waaren, welche die estnischen Weiber anbieten, fallen insbesondere sowohl gestrickte Shawls aus zumeist weißer Wolle, Halstücher und große Tücher, als leicht uud zierlich gemachte Kleidungsstücke auf. „Dieses so wie im Allgemeinen Alles, was die Estinnen verkaufen, verfertigen sie selbst" erklärte mir der freundliche Beamte; „jede estnische Familie, und sei sie noch so arm, hat einige Schafe, deren Wolle so verarbeitet wird. Auch verfertigen sie viel aus Flachs und Hanf. In jedem Hause ist ein Wcbstuhl; das Spinnen von Wolle und Flachs ist die gewöhnliche Winterbeschaftigung." - 58 - Ich lauschte der in der That sehr raschen und dabei leisen Rede der Esten; mein Ohr war, besonders Anfangs, kaum im Stande, einige Laute aufzufangen uud zu verstehen. War der Kauf abgeschlossen, so dankten sie für das erhaltene Geld mit einer kleinen Knicverbcuguug — denn nur so kann ich den eigenthümlichen Kuix benennen. Die Bedentung, des estnischen knmursiamn, und finnischen kurnartug, (sich neigen), was grüßen bezeichnet, verstehe ich erst jetzt recht, nachdem ich sehe, wie sie kumuldavat d. h. grüßen. Daß auch ich etwas kaufte,.— ein nettes boa-artiges Halstuch, — that ich schon meinem Begleiter zu Liebe. Da das Schiff nahezu ,1^ Stunde hier hielt, hatte ich genügend? Gelegenheit, nicht nur mein Fernrohr über die Gegend streifen zu lassen, sondern auch die Aus- und Einsteigenden zn betrachten, unter welch' letzteren auch einige Bürger von Hapfal waren, iu städtischer, ja sonntäglicher Kleidung, mit einem hohen weißen Hut auf dem Kopfe, einen leichten Spazicrstock iu der gclbbehandschuhten Hand, als ob sie etwa nur in die benachbarte Gasse spazieren wollten; und doch fuhren sie bis Reval mit uns. Zu unserer Linken nnd hinter uns schwimmen Inseln auf der Oberfläche des Meeres, dort die Insel Worms (Vurin«i ^ar), dort Nukoe (^ukllt)). Noch weiter hinten gegen Westen ist die Insel Dagö oder Dagdeu (Niian ni^r), dcsseu Küste ich aber nicht mehr erspähen kann. Das vor uus ausgebreitete Uferland ist flach, die nicht weit von hier liegende Stadt Hapsal erglänzt im Morgensonnenschein. Die drei größern Inseln, Dagdcn, Worms und Nukoe und das gegen Nord nud weit nach Süden reichende Uferland, das gegen Ost, wic die Landkarte zrigt. sich tief in's Festland einkeilt, bilden die sogenannte Wiek Estlands. Die Hauptstadt derselben, Hapsal, ist klein (kaum W00 Einwohner), noch kleiner ist die andere Küstcnstadt Leal, die iu dem südlichen Theil des Bezirks liegt. Hapsal szumcist Apsal ausgesprochen) war iu der katholischen Zeit Sitz des Ocselcr Bisthums; und der Thurm, sowie die Kirche, die wir von Ferne sehen, würden auch eine größere Stadt Zieren. Wir wisseu ans der cstmschcu Geschichte, daß hier Wille und Mittel zur Erbauung großer Mrchcu vorhanden waren. Jetzt ist Hapsal durch sein Seebad berühmt, das auch Petersbnrger Gäste besuchen. — Auch Leal war zu allererst eine bischöfliche Rcsidcuz, die danu uach Dorpat verlegt wurde. Dic deutsche Occupation erstarkte zuerst an den Mccrcsnfcrn. Langsam sammelt sich die Reisegesellschaft an, man reicht Caffe und Zucker herum, denn das geht dem Frühstücke voran, welches viel kräftiger zu sciu pflegt. Das Schiff verläßt den Hafen' und wir uer- ^ 59 — folgen seine Richtung, ob es den Snnd zwischen den Inseln Nukoe unk Worms Passiren wird. Doch bald sehen wir, daß es mehr nach Westen hält; es lenkt nicht gegen den Snnd ein, der voll Dünen ist. Die Insel Worms bleibt rechts nnd wir bewegen nns gegen den Harri-Sund; kanm ^ sehen wir noch das Ufer. Man lautet zum Frühstück, was, wie ich bemerke nicht nur mich, der ich schon lange den Morgen genieße, sondern anch die andern Reisenden, die später aufgestanden sind, erfreut. Es scheint als ob der Mensch, wenn er zu Wasser ist, mehr essen müßte, als auf dem Lande. Die Sonne schien viel heißer auf das Verdeck des Schiffes, als wir nach dem Frühstück hinanfgingcn und die Schranken des Meeres, die Ufer, verschwanden; das Panorama ist angenehm, doch bis vor Rcval ohne Abwechselung. Ich werde, dachte ich, noch ein anderes Mal das lachende Antlitz des Meeres genießen; aber Schirrcn's Buch muß ich in Neval zurückgeben, uud wer weiß, ob ich es dort kaufen kann. Nachdem ich also eine schattige Stelle gcfnndcn hatte, vertiefte ich mich aus der Stille der Natur in die Flnth menschlicher Leidenschaften, Politik genannt. Nachdem ich bereits gestern Abend das Bnch durchgeblättert hatte, las ich uun mit ganzer Aufmerksamkeit jene Theile, die Anfklärnng darüber geben, wie die cstländischc und die livländischc Provinz in die Macht Peters des Großen gelangten; ferner wie sich dieser bestrebte, seinen Besitz nicht dnrch die Macht, sondern dnrch das Necht zu sichern, indem er das jenen Ländern eigenthümliche Ncchtslebcn neu erweckte; wie dieses Rechts-leben von den Nachfolgern Peters geachtet wurde bis auf dcu jetzt regierenden Alexander II, der am 17. Februar 1856 die Sondcrrechtsstcllung der Provinzen bestätigte; wk diese trotzdem in jene drückenden Verhältnisse gebethen, in welchen wir sie gegenüber dem Nnssenthmn sehen nnd bezüglich welcher Schirren in wahrhaft prophetischem Geiste spricht, indem er alls der merkwürdigen Geschichte der Provinzen zeigt, daß der Verlust ihrer Sonderstellung wahrscheinlich auch Nußland uicht frnmmeu würde. „Wir sind nicht erobert. Zwar hat die Gewalt der Waffen nnS gründlich heimgesucht und einige Schnß Pulver mehr hätten mit nns vermuthlich ciu Elide gemacht. Indeß, die Eroberung war den Schuß^ Pulver nicht werth, unschätzbar dagegen die Subjection. Der Zar. wußte es nnd accordirtc." Als Peter, Bundesgenosse Augusts II., iu Est- nnd Livland kämpfte, schrieb er seinem Feldherrn, Schcrcmctjew: Verheere, verheere! Und hierauf antwortete am 2. Januar 1702 der Feldherr: — 60 - „Soeben bin ich von meinem Streifzuge zurückgekommen. Der ganze Kreis Dorpat ist wüst und öde gelegt; wir haben erst inne gehalten, als Pferde und Menschen nicht weiter konnten; an Deutschen »habe ich hundert und vierzig gefangen; wie viel Esten weiß ich nicht zu sagen; die Kosaken haben dieses Geschäft unter sich betrieben; ich habe ihnen die Gefangenen nicht nehmen mögen, um ihren Eifer nicht abzukühlen". Im Herbst schrieb der Feldherr abermals: „Vieh und Esten haben wir in Menge gefangen. Kühe sind jetzt um drei Altynen zu haben, Schaafe lim zwei Dengcu, Kinder um eine Denga, größere um eine Griwna, vier Stück kauft man für eine Altyne."*) Einige in dem Moskauer Hauptarchiv aufbewahrteu Blätter aus dem Kricgs-Tagebuch des Feldherrn zählen die Castclle und Kirchen her, die sammt dem hineingetriebenen Volk verbrannt wurden. „Was sich nur fangen und fortschleppen läßt: Offiziere, Trommelschläger, Soldaten, Prediger, Aerzte, Küster, Müller, Schlosser, Schneider, Bürger, Diener, Wittwen, große und kleine Mädchen, Baucrweibcr, Knaben :c. Alles wurde fortgeschleppt." Nach dem ersten Jahre des Feldzugs schrieb der Feldherr folgendermaßen an den Zaren: „Ich habe Dir zu melden, daß der allmächtige Gott und die aller-hciligste Gottesmutter Deinen Wunsch erfüllt haben; in dem feindlichen 5/ande giebt es nichts mehr zu verheeren; von Pstow bis Dorpat, die Wjelikaja herab, die Ufer des Peipus entlang bis an die Mündung der Narwe um Dorpat, hinter Dorpat, über Lais hinaus, bis auf zwei Meilen von der Stadt Narwa, von Lais bis Reval, fünfzig Werst weit gegen Wcsenberg und wieder von Dorpat den Embach aufwärts zum Felliner See, gegen Helmet und Karkus und hinter Karkus bis auf achtunddreißig Werst gegen Pernau und von Riga bis Walk: Alles ist verwüstet. Alle Schlösser sind niedergelegt. Nichts steht aufrecht außer Pernan und Rcval uud hin und wieder eiu Hof am Meere, sonst ist von Reval bis Riga Alles mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Die Orte stehen nur uoch auf der Karte verzeichnet. Wie es aber bei der Verheerung zugegangen, davon wissen die Gefangenen, die Oberen und Vornehmen, die Gutsbesitzer nnd Adeligen zu erzählen: Keiner lebt, der *) Eine Aliyne gleich drei Kopeken; eine Denga cine halbe Kopeke; Gnwna vormals 1) ein Pfund, das in Kiev 72, in Nowgorod W Zolotnit C/,,Loth) hatte; 2) ein längliches nngeprägteö Stück Silber, das in vier Theile (Iludl--geschnittner Theil) thcllbar war. Cin Rubel gleich 100 Kopeken (132 Kreuzer', Jetzt ist eine Griwna gleich zehn Kopeken. - 61 — cs nicht an sich erfahren hätte. Was soll ich mit der Vcutc anfangen? Die Kerker sind gefüllt und alle mit vornehmen Gefangenen; es sind gefährliche Leute, in dcr Verzweiflung zu Allem fähig; Seuchen sind unter ihnen ausgcbrochcn, so dicht sitzen sie bei einander; auch hade ich kein Geld sie zu füttern. Befiehl was mit ihnen zu geschehen habe". In einem andern Brief schreibt Schercmctjcw: „Von den gefangenen Offizieren und Soldaten schicke ich ein Vcr-zeichniß. Wie viel Esten aber und wie viel Weiber gefangen wurden, das habe ich nicht aufschreiben lassen; die Zahl war zu groß. Die Truppen haben sie unter sich vertheilt. An Vieh und Pferden habcu wir doppelt so viel, wie im vergangenen Jahre aufgebracht; an Esten mäunlichcn Geschlechts etwas weniger, weil nicht alle mitgeschleppt werden konnten; auf jeden Mann ist immerhin ein Este gekommen; den Rest haben wir fortgejagt und was nicht fügsam war, niedergehauen." Selbst dcr ausschweifen^ August II. mißbilligte das Vorgehen seines Bundesgenossen nnd beauftragte im September 1704 Patkul, seiner Majestät dem Zaren zu crklürcu, daß diese unter den Christen unerhörte Kricgsführuug bei Freund nnd Feind Abscheu errege; daß dies den Credit des Zaren bei allen christlichen Höfen vernichte; daß das Anerbieten Sr. Majestät des Zaren, dem König'(August II.) nnd dcr Polnischen Republik Livland zu überlassen, „alle Grace und Annehmlichkeit" verloren u. s. w. Peter hatte sich nämlich laut dcr Vcrcinbarnng von Narwa am 19/30 Februar 1704 verpflichtet, dcr polnischen Republik Midland zu übergeben. Und nachdem im Jahre 1706 August II. durch den Altranstädtcr Friedensschluß genöthigt war aus dcr Triple-Allianz uon 1699 (zwischen Augnst II., Friedrich IV. ltönig von Dänemark und Peter) zu scheiden, so bestätigte der Zar in Lembcrg am 30. März 1707 den Comftromiß von 1704 bezüglich Livlands mit dcr polnischen Ncpublik von Neuem. Selbst nach dcr Schlacht von Pultawa, als dcr gcfürchtctc Feind Karl XII. sich in die Türkei flüchtete, und Peter bis an das baltische Meer allein herrschte, fühlte er sich nicht sicher genug und reichte gerne dem nach Polen zurückkehrenden August die Hand uuo erneuerte am 11/22. October 1709 die alte Triplc-Allianz, laut welcher Ingermanland au Nußland, Livlaud aber nnd vielleicht ein Theil von Estland an Polen kommen sollte. Holland und England, Schweden und Polen, Preußen nnd Däuc-wark hielten Wacht am baltischen Mccrc; die Eroberung mit dcm ^chwcrt genügte nicht, cs mnßte das Nccht sic hciligcn. Daher trachyte Pcter von nun an darnach, daß die livlandischen und cstländischcu Stänoc selbst ihn zur Herrschaft übcr sie aufforderten. — 62 — Nach altem Recht und Brauch, sagt Schirren, besaß kein Herrscher dir baltischen Länder ohne Vertrag und Ucbcreinkommen; darum begann Peter alsbald nach Beendigung dcr Verheerungen, zu unterhandeln; er sandte vor seinen Heerschnaren „Universale" ans, in welchen cr Alles versprach. Schon im Jahre 1704 eroberte cr während der Verhandlungen vor Narwa Dorpat, anfangs für polnische Rechnung; als aber von der Erhaltung des Glaubens und der Privilegien die Rede war, wünschte Peter nur, daß man bei ihm darum ansuchen möge. Und nachdem dieses geschehen, erschien cr selbst im September des Jahres anf dem Rathhause zu Dorpat und gelobte als zntünftigcr Herrscher die Privilegien zu bestätigen und zu vermehren. Nachdem sich die veränderte Politik des Zaren also mamfestirt hatte, erklärte dcr Fcldmarschall Schcremctjcw, es sei die Absicht Sr. Majestät, Liv- und Estland von der schwedischen Sklaverei zu befreien und ihre althergebrachte«! Privilegien wicher herzustellen. „Die armen und verlassenen Unterthanen aber, denen gegenüber die früheren Herrscher ihre eidlich bekräftigten Versprechen nicht gehalten, seien dem Naturrechtc gemäß ihrer früheren Untcrthanenpflichten entbunden." Hierauf besetzte Schcremctjcw auch Riga und forderte dic liuländischc Ritterschaft anf, die Huldigung zu leisten, welche nun einmal stattfinden müsse, „nachdem Livland und die Stadt Riga gemäß Uebcreinkommcns Unterthanen des Zaren geworden seien." Am 4. December beruft cr deu Landtag, zur Wiederherstellung der zerfahrenen Verhältnisse des Bandes, und bestätigt hier im Namen des Zaren in einem „(^ontirinatoriuiii generals" dic früheren Privilegien, sowie die bereits geschlossenen Verträge, verlangt im Namen desselben die Vcsitzdocumentc und beauftragt den Landtag, die alten Administrativ- und Gerichtsbehörden mittelst Wahl zu besetzen. Und in dieser Weise hält er noch sechs Landtage bis zum Nystädtcr Friedensschluß. — Nachdem dcr Zar am 30. September 1710 die Aufrechterhaltung des ?rivi1oAiuin 8i^i8rQuuäi H.ußu»ti versprochen, erklärt cr am I. März 1712 feierlichst, daß Livland jenem Privilegium gemäß, feine deutsche Verwaltung beibehalten solle. Noch am 30. September 1710 legen die Stände ihm das berühmte Oorpus ?rivii6-gioruui von 1690 vor, das unter andern folgende Privilegien enthielt: Nr. 1. ?i-ivii6^iuin 8ilve«ti-i, demznfolge kein Krieg ohne Einwilligung des Kapitels und der Ritterschaft geführt werdeu konnte. Marienburg, 1449 u. s. w. Nr. 17. Vereinigung zwischen dem Großherzogthum Lit-thauen und der Ritterschaft, auch Städten in Livland, ?«.otuui — 63 — ^Vßnclßn«« genannt. Wenden, 10. Dec. 1566; welches der Union voranging. (Siehe S. 30). Nr. 18. 8iFi8inunäi ^.UFusti Oonkirin^tio ^rae-äioti ?aeti ^Vkuä^u^i») onm ^i-^umsuto. Grodno, 26. Dec. 1566. Diese konnte Peter unmöglicherweise wörtlich bestätigen, und darum fügte er seiner am 30. September 17U) erlassenen General-Confirmation, in welcher er alle Rechte, Gesetze, Freiheiten, rechtliche Besitzungen des lwländischcn Adels, sowohl jene, in deren faktischen Besitz derselbe war, als auch die ihm mit Unrecht entzogenen, besonders aber das?i-ivil«-8'iutn 8i<,'i«nnniäi ^,UFii«t,i (äs liche Sonntagswcttcr herbeigelockt hat. Das Schiff stößt an's Land; ein kleines Mädchen wird vom Ufer aus in die Höhc gehoben, — di? alte Baronin winkt demselben mit frcudeihräncndcm Auge: es ist ihr Enkelkind. Doch bald beachten wir kaum cincr den andern mehr, denn Alles drängt nnd cilt dem Brückcnstcgc Zu. Bald führt nns eine Rcihe von Wagen dnrch ein enges Thor in das Innere dcr Stadt, wo wir in dem Hütel St. Petersburg Wohnnng nehmen. Ein Blick durch das Fenster unseres Zimmers zeigt uns einen vor uns sich erhebenden, etwas höher gelegenen Stadtthcil, welcher sehr an Ofen erinnert. Es ist dcr sogenannte Dom. Wir benutzten alsbald dic Zeit, die wir noch bis zum Abend hatten, zu cinem Spazicrgangc. Tie Schmicdepfortc durchschreitend, gelangten wir hinter den Dom. von welchem aus sich ein alter Schloßthurm steil erhebt. Wir befinden uns in der Vorstadt, vor nns stcht dic neue Iohanniskirchc uud nicht weit davon zeigt sich einc andere im Bau begriffene Kirche mit zwei projectirten Thürmen, die Karlstirchc. Weiter gehend gelangten wir auf eine kleine Anhöhe, von welcher aus> sich uns ein herrlicher Anblick darbot. Vor uns lag das Meer im Strahle der untergehenden Sonne: rechts erhebt sich dcr Dom von Rcval mit dem alten Schloßthnrm, dcr uns wie ein ergrauter Herold-vergangener Zeiten gemahnt; links eine weithin offene Landschaft, m welcher Feld und Wald in wellenförmigen Contourcn abwechseln. Um nns herum lachen aus dem schönsten nnd sorgfältigst gepflegten Nasen Blumenbeete hervor; alls den Bänken sitzen sonntäglich gekleidete Spaziergänger, Kindcrgruppcn lärmen nud springen nmhcr. Gesprochen wird deutsch und cstnisch. Wir nehmen wahr, daß wir in Mand sind, aber wir fühlen uns von Allem, was wir sehen, angenehm überrascht, denn nichts hatten wir nns so vorgestellt, wie wir es fanden, weder die Natur, noch die Stadt, noch dic Menschen. Das Ncvalcr Publikum crschcint uns viel glcichförmiiicr als das Pester, obwohl hier mehr Sprachen gesprochen werden; dcuu auf^r dem Estnischcn nnd Deutschen berühren noch russische Klänge, wenn auch nur hicr nud da, nnscr Ohr. Aber auch äußerlich unterscheidet sich die Ncoalcr Bevölkerung vorthcil-haft von dcr Pester, aus dcr oft dic Zcrlumpthcit uuaugenchm hervorsticht. — Unser Auge weilt bald wic augchcftct auf dcr schimmernden Mccrcsflächc, bald kehrt es zn den Ttcinwällcn zurück, welche mürrische Zcngen dcr düstern Vergangenheit scheinen, bald wieder irrt es zwischen den Spaziergängern umher und senkt sich dann auf dic lachende Land- — 71 — schuft, um dic Gegenwart zu fühlen und zu genießen. So sitzen wir lange und schauen. Nach und nach zertheilt sich die Menge nnd anch wir kehren ins Hotel zurück, um nach eingenommener Abendmahlzeit uns zur Ruhe zu begeben. Ich nahm noch vor dem Schlafengehen die Revaler Zeitung zur Hand und las gleich auf der ersten Seite, daß in Dorpat am nächsten Mittwoch die fünfzigiährigc Frcihcilsfcicr des estnischcn Volkes stattfinden sollte. — „Wic weit ist Dorpat von hier?" frug ich den Oastwirth. „Mehr als 200 Werst" (was über 30 deutsche Meilen sind). — „Kann man in 24 Stunden dorthin gelangen?" — „Ganz gewiß", war die Antwort, „die Post fährt hiczulandc sehr rasch". Schon in Pcst hatte ich von diesen: Fest Kunde erhalten und hatte fast gefürchtet, zu spät zu kommen, da ich den Termin desselben nicht genau kannte und meine Ncisc bisher mehr Zeit in Anspruch genommen, als ich ursprünglich gerechnet hatte. Um so größer war meine Freude, als ich nun erfuhr, daß ich dem Feste noch beiwohnen konnte. Gleich am folgenden Tage, Montag den 28./16. Juni, eilte ich in das am südöstlichen Ende des Doms gelegene Kastell oder Schloß, wo die Provinzialregicrnng ihren Sitz hat, um meinen Paß vorzuzeigen und die Erlaubniß zur Weiterreise zu erhalten. Dnrch eine steile schmale Gasse, die mit Hulzgiltern abgesperrt ist, ging ich nach dem Dom hinauf, dessen eine Seite, gekrönt von palastähnlichcn Gebäuden, den Hän« scrn der cstländischcn Herren, sich fast senkrecht erhebt. Der Schloßhof, in welchen: der Sitz der Provinzialrcgicrung ist, zeichnet sich durch den erwähnten alten Schloßthurm ans. Im Hofe angelangt, weist man mich auf mein Befragen nach einer Scitcntrcppc. Die Treppe ist finster und besteht aus rohen, großen Steinplatten? sie stammt wahrscheinlich mit dem alten Thurm ans der Dänenzeit. Auch oben öffnen sich rechts und links finstere Gänge, nur Thürfcnstcr zeigen, wohin man Zu gehen hat. Die ^ocalitütcn drinnen sind unendlich groß; man führt mich Zum Direktor der Kanzlei. Nachdem er meinen Namen gehört, empfing er mich sehr liebenswürdig nnd bot nur bereitwillig seine Dienste an. Dies bewirkte wohl weniger mein Name, als die freundliche Empfehlung cincs Gliedes der österreichischen Gesandtschaft in Petersburg, in Folge deren der russische Minister des Znncrn mich wieder den russischen Behörden rcconnnandirt hatte. Nachdem ich den Director von meinem Wnnschc, Zur erwähnten Jubelfeier nach Dorpat zn gehen, unterrichtet hatte, erbot er sich, hieZu die nöthigen Vorkehrungen zu veranlassen. Mittlerweile empfahl er mir, den Generalsupermtcndentcn von Estland, — 72 - Schulz, zu besuchen, dessen Bekanntschaft für mich von Vortheil wäre. — indem er mir Zu diesem Zweck einen Begleiter zur Verfügung stellte. Ich dankte für seine Freundlichkeit und folgte dem Begleiter zu dem Herrn Superintendenten, der eben mit Bauern zu thnn hatte. Nach» dcm wir bekannt geworden, sprach er von dem cstnischcn Fest, zu dem auch er geladen worden wäre: doch könne er leider nicht hingehen, weil in denselben Tagen die fünfhundcrtjährige Feier des Bestehens der Domschule stattfände, bei welcher er Zugcgeu sein müsse; cr sprach von dcm Zustande des Volkes, von den Nussificatiousbcstrebnngcn, nnd von den gegentheiligen Klagen, daß die Deutschen dasselbe gcrmanisircn wollten. Unter Anderm erzählte er, cr habe bei seiner jüngsten Anwesenheit iu Petersburg deu dortigen estnischcn Geistlichen zn sich gebeten, der für die cstnischc Nationalität außerordentlich thätig sei; und als er mit demselben von den vorliegenden Fragen gesprochen, habe der Petersburger Geistliche gemißbilligt, daß man das cstnische Volk gcrmanisircn wölk'. Lieber möge es rnssisch werden, wenn es nicht estnisch bleiben tonne. „Ich", sagte Schulz, „antwortete, daß ick nie für die Gcrmanisirnng der Esten gewesen bin: wenn sie aber ihre Nationalität wechseln sollten, dann ist es doch noch eine große Frage, wobei sie mehr gewinnen, bei dcm Dcntschthum, das ihre Religion bewahrt, oder bei dcm Nusscnthnm, das ihnen auch ihre Religion nimmt." — Dann führte cr mich in seinen Garten, der jenseits der Domtirchc liegt. Als wir über den Platz schritten, überraschten mich die um die Kirche prangenden wilden Kastanicn-büulne, denn ich wnßte nicht, daß sie auch hier gedeihen. Aus seinem Garten hat man eine herrliche Anssicht auf die Umgegend, besonders auf das Meer. — Als ich in das Schloß zurückkehrte, fand ich alles bereit. Ein Wagen war um zehn Rubel für zehn Tage gemiethet; die Poststationcn hattc man ans meine Reise vorbereitet, damit ich überall frische Pferde fände; man gab mir ein Verzeichnis; der Stationen mit den entsprechenden Entfcrmmgcn in die Hand und, nachdem ick) von dcm Subgouvcrneur Abschied genommen, ging ich in den Gasthof, in welchen um 5 Uhr Nachmittags Wagen und Pferde kamen, nm mich wegzuführen. IV. In Dorpat. vErnteaussichtm, Wie mau hier reist. Eine kurze Sommernacht. Estnische Sage von iroit und Amank. Der Küstenstrich des Dorpater Bcznt's der Herd der est-nischen Sagen. Lage der Stadt Dorpat; Geschichte dcr Frciheitsfeier des estnischeu Voltö. Die Wanemuinc-Gesellschaft. Zustand der estnisHen Bauern nach 1819. Ihr ^oos wird durch die Gesetze uon 1849 und 1865 gebessert. Sie erlangen Grundbesitz. Das Fest währt drei Tage. Das Acußcre, die Lernbcgierde des VoM. -Die Lsten hatten früher keine Familiennamen. D<'r Bürgermeister von Dorpat.) Ich fuhr in dem bequemen Wagen dahin, vor welchen zwci kräftige Pferde gespannt waren, die von dcm estnischcn Kutscher immerfort angetrieben wurden, nnd zwar mit Pfeifen, — was ich hier zum ersten Mal hörte; die Pferde laufen gleichmäßig auf ebenem wie hügeligem Boden. Ich betrachtete bald die Gegend, bald zog ich aus dcm Acußern der mir entgegentretenden Dinge Schlüsse auf die hiesigen Zustände. Ick wußte, daß die Ernte im Jahre 1808 außerordentlich gering gewesen war, und nicht allein in den nordöstlichen Theilen Prcußcus uud den nördlichen Theilen Rußlauds, sondern auch in Estland, hier aber derart, daß zur Linderung der Hungcrsnoth die vom eigenen Lande wie von fremder Seite gebotene Unterstützung nicht ausreichte. Auch in Pest hatten wir die niederschlagenden Nachrichten von dcm Elend in Estland zn ^hrcn bekommen, so daß ich überall den abstoßenden Erscheinungen dcr nackten Armuth Zn begegnen erwarten mußte. Aber weder in Riga, noch während meines kurzen Aufenthalts in Ncval, hatte ich eine Spur von Hungersnot!) entdecken können; freilich kannte ich noch nicht das Platte Laud, nnd achtete daher sorgsam auf alles, was nur in den Weg kam. Die eine erfreuliche Erscheinung konnte ich jedoch sogleich überall wahrnehmen, daß die heurige Ernte eine reiche Zu werden versprach, wenu sie von lcincm weiteren Unfall betroffen wurde. Das störn, das __ 74 — kurz vor der Blüthe stand, war dicht und hoch aufgeschossen, wie dies an der mittleren Theiß selten Zu sehen ist; Gerste, Hafer, Kartoffeln waren gleichfalls schön, das Gras auf den Wiesen, so weit das Auge schauen konnte, reich und duftig. So tröstlich diese Wahrnehmung für , Jeden auch sein mußte, — dem augenblicklich vorhandenen Mangel gegenüber bedeutete sie natürlich wenig. Doch traf ich übrigens auf meiner ganzen Reise von Reval bis Dorpat und von hier über Fcllin wieder zurück, nur zwei Bettler. In der Nähe von Rcval breitet sich rechts von der Biegung des Weges, welcher nach der Station Wait abführt, ein recht ansehnlicher See, der Oberscc, ans. Die Entfernungen der einzelnen Stationen von Neval bis Dorpat sind wie folgt: von Reval bis Wait....... 21''. Werst „ Wait bis Kisa........ 26^ ., „ Kisa bisMustlanmu...... 14'. „ „ Mustlanom bis Weißcnstein . . . 30 >, ., „ Wcißenstein bis Maria-Magdalcucn 32 „ „ Maria-Magdalcncn bis Wägewa . . 19 „ „ Wägcwa bis Kuurist ..... 19 „ „ Kuurist bis Moifamaa..... 23'/. „ „ Moisamaa bis Dorftat..... 27 „ im Ganzen 213'/. Werst. Sieben Werst sind gleich einer geographischen oder deutschen Meile, und so beträgt denn mein. Weg bis Dorpat 30'/2 Meilen, welche ich nach der in Ncval erhaltenen Auskunft in 24 Stunden leicht zurücklegen konnte. Mein Wagen jagt auch mit rapider Geschwindigkeit dahin; die Füße der estnischen Pferde scheinen von Eisen zu sein, sie stolpern nicht gleichviel ob es bergauf oder bergab geht. Sobald sie ermüden wollen, werden sic sofort durch das Pfeifen des Kutschers Zu ucuem Feuer angetrieben. Letzterer blickt nie Zurück, als ob gar Niemand hinter ihm im Wagen säße; ich störe ihn bei meiner geringen Kenntniß der Orts-spräche auch nur selten, höchstens frage ich nach den Namen der Gegen^ stände, an denen wir vorübcreilen, worauf er auch ganz gcflisscn antwortet, ohne sich jedoch dabei umzuschauen oder seine Pferde anzuhalten. Der Weg ist in bester Ordnung. Ich erblicke nirgends Dörfer, woh! aber einzelne ärmlich aussehende Häuser. Um so häufiger tauchen große Stcinfclscn auf, welche vereinzelt umherliegen, als ob sie von irgend einer Niesentraft hier ausgestreut wären. Auch für denjenigen, der sich — 75 - nicht gerade speciell mit Geologic beschäftigt, ist es nicht schwer, in diesen die vielgenannten erratischen Blöcke Mxa, erratics) Zu erkennen. Jetzt fährt der Kutscher in ein Gehöft hinein, in welchem ich ein Herrschaftsgcbäudc erblicke. Die Läden an den Fenstern sind geschlossen, was ans die Abwesenheit der Bewohner schließen läßt. Wenn ich mich nicht irre, so liegt die Poststation Wait auf dem Gute des Baron Pahlen. Mein Wagen hält an; der deutsch redende Postbeamte tritt ans mich zu und fragt nach meinem Namen. — Sogleich werden frische Pferde vorgeführt und in wenigen Minuten ist alles wieder zur Abreise bereit. Ich ging in das Postgcbäudc hinein, um Zahlung zu leisten und einige lörtllndigungcn einzuziehen. Auf dem ^andc zahlt man für ein Pferd pro Werst 2'/,. Kopeken, für zwei Pferde also 5 Kopeken. In Städten etwas mehr. Da von Wait bis Kisa 26'/, Werst (oder 3'/. deutsche Meilen) sind, so hatte ich 132'.. Kopeken zn Zahlen, d. i. 1 Rubel 32^ Kopeken, was ungefähr 5 Fraucs W Centimes, oder 2 Gulden 15 Kreuzern gleichkommt, also eigentlich recht billig ist. Dafür hat das Reisen in jenen Gegenden jedoch wieder andere Unzuträglichkcitcn. Jeder nämlich, der mit der Post fahren will, hat sich von der russischen Behörde einen Erlaubnißschcin, eine sogenannte Podoroschna, zn verschaffen; ich hatte, da ich anderweitig empfohlen war, eine solche nicht nöthig gehabt. Die Poststationen werden von den Grundbesitzern unterhalten, deren hicmit verbundene fasten und Vortheile ich nicht kenne. Doch kann ich kaum glanbcu, daß die Einnahmen die Ausgaben decken. Wer keinen Wagen hat, findet solche auf der Poststation, für die er eine Kopeke in<, Werst zu entrichten hat. Auch dem Kutscher gibt der Reisende einige Kopeken. Das Kupfergeld ist in Rußland ebenso häufig, wie es bei mis noch vor kurzer Zeit war, als ein 15-Krcuzcrstück 3 Scheinkrcuzcr und cm 30-Kreuzcrstück 6 Scheinkrcnzer galt"'. Im Ansauge oricntirt sich daher der Reisende in den Geldstücken verschiedenster Größe sehr schwer. Was die Postbeamten mir in Kupfergeld herausgaben, wickelten sie stets m weißes Papier ein; ich zählte auch Anfangs nicht recht nach, wodurch ich jedenfalls versäumte, den Werth der betreffenden Stücke rascher kennen zn lernen. Es fiel mir aber anf, daß, wenn ich manchmal dem Kutscher ") Mancher Lcfer mng es bereits vergessen haben, wenn rr es jc gewußt, baß vordem in Oesterreich-Ungarn ein Silber- oder Convcnüonögnlden 2'/,. Schein-gülden galt; solglich ein Conventionöt'renzcr 2'/^ Ocheintreuzern gleich kam. Die 15. und M-Schemsn'nzerstücke aus der ZeU der französischen Kriege hatten demnach sehr geringen Werih. __ 76 ^ ein kupfernes Zehnkopckenstück gab, derselbe es wohl ohne ein Wort zu sprechen annahm, doch so, als ob es ihn: zu wenig wäre; cin anderes Mal war er mit einem solchen Fünfkopekenstück sehr zufrieden. Erst spater nahm ich den Grund hievon wahr. Diese Zchnkopckenstückc sind nämlich nur 3 Kopeken werth, sie haben also wahrscheinlich eine ähnliche Devalvation durchgemacht, wie bei uns die 15- und 30-Kreuzcrstücke. Ucberall, wohin ich kam, faud ich die Postbeamten von der größten Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit. Auf einer Station hatte sich der Postbcamte um einige Kopeken zu seinem Vortheil verrechnet. Als ich auf der Rückfahrt nach Rcval dieselbe Station passirtc, gab mir der Beamte das mehr Bezahlte zurück. Bis Kisa und von dort bis Mustlanöm wird die Gegend immer waldiger. Die Bäume find fast ausschließlich Fichten uud Birken. Auch hier erblickte ich nirgends Ortschaften, nur hier und dort zerstreute Weiler. Aber auch das befürchtete Elend bekam ich nicht zu schauen. Sehr häufig begegnete ich Landlcuten mit einspännigen kleinen Wagen, welche die Landstraße herausgefahren kamen. Die Pferde waren in der Rege! stark und wohl gehalten, das Geschirr rein und in bester Ordnung. Die Insassen grüßten sehr höflich. Mein Kutscher blickte jedoch kantn auf sie; er schien sich nur mit seinen Pferden zu beschäftigen, die er durch fortwährendes Pfeifen nnd Schnalzen zum Laufen antrieb. Ungestört genoß ich jetzt die herrliche Sommernacht, deren Eintritt in diesen Gegenden kanm wahrnehmbar ist. Die langgestreckten Schatten der untergehenden Sonne scheinen wie festgebannt, so weuig verändern sie sich. Der Mond geht auf, die Gegend ist voll und prächtig beleuchtet. Gegen 11 Uhr scheint es finsterer zu werdcu; um Mitternacht wieder heller, um 1 Uhr nach Mitternacht abermals dunkler, gegen 2 Uhr aber erwacht scholl wieder der neue Tag. Ich eriuncrtc mich der schönen cstnischcn Sage, die ich zuerst iu dem Buch des finnischen Gelehrten Ahlquist „Ueber die neuere cstnische Literatur" gelesen habe;") auch jetzt hatte ich das Buch bei mir. Da sie am besten die cstnischc Mittsommernacht veranschaulicht, so möge die Sage hier Platz fiudcn: Koit uud Ämarik (Morgen- und Abenddämmerung). Es hatte einst eine Mutter zwei Töchter, Widewik uud Ämarik (Abendröthe und Abenddämmerung); beide tlug und schön sowohl nach ihrem Acußcrn als Innern, wie das Lied sagt! *) Viron nykyisenimaatu Kirjallisuudosta. Helsingissä 1855. Weiß ihr Antlitz, roth die Wange, Wie Schwarz-Ääfcr glänzt ihr Auge. Als dic Sonne sich ihrem Untergänge nahte, kehrte die ältcrc Tochter mit ihren beiden Ochsen vom Acker heim und führte sie zuvor noch, wic cs sich für sorgsame Leute ziemt, cm^ den Fluß, um sie zu tränten. Da aber der Mädchen fürnchmstcs Bestreben ist, schmuck auszusehen und die darauf Bedacht nehmen, oft in den Spiegel blicken, so war dies auch die Gewohnheit der klugen Widcwik. Sie ließ Ochsen Ochsen sciu, trat an den Rand des Flnsscs, schaute ill das Wasser und ergötzte ihr Herz. Der Mond, der nach dem Befehl des Schöpfers an Stelle der zur Nuhc gegangenen Sonne die Erde zu beleuchten hat, vergaß aus Liebe sciu Amt und ließ sich schnell wie ein Pfeil verstohlen auf die Erde nieder und tauchte auf den Grund des Flusses, Muud an Mund, Lippe an Lippe legend. Mit einem Kusse vermählte er sich Widcwik zur Braut uud vergaß uutcrdesscn alle, alle seine Sorgen. Doch siehe, undurchdriugliche Finsterniß lagerte sich auf die Erde, während er bei Wiocwik weilte. Und cs erfolgte ein großes Unglück. Das reißende Gethier des ,Waldes, der Wolf, dem nun alles freistand, da ihu nicmaud sah, zerriß einen Ochsen Widcwiks, der in den Wald zu grasen gegangen war. Und ob auch die schmetternde Nachtigall laut rief, und ob auch ihre klingenden Worte durch die Finsterniß aus dein Walde ertönten: I,lÜ8lc Uiäruk, laizk tiiäruk, 06M! kii'iküüt, vauw, v^uie, too i»iit,8, wo P»t8'. tkilli, t^iin, t8:in!^), — Widcwik hörte doch nicht den Ruf der Nachtigall; sie war stumpf für Alles, was uicht Liebe war. Denn die ^iebc ist blind und taub und hat keine Erinnerung; ihr blieb von den fünf Siuucn nur das Gefühl. Als Widcwik aus der Vergessenheit der Liebe erwachte, sah sic die böse That des Wolfes uud wciute so schrecklich, daß aus ihren Thräuen ein ganzer Scc wurde. Aber dic unschuldigen Thränen blieben von dem altcn Allvater nicht uubcmcrtt. (5r ließ sich aus sciucm goldenen Himmel herab auf dic Erde, die böse That zu bestrafen und die Pflichtvergessenen unter Vormundschaft zu stellen. Er bestrafte den bösen Wolf bamit, daß er ihn ucbcu den: Stier ins Joch spannte, Wasser zu schleppen fnr ewige Zeiten, unter dcr Zucht des ciscruen Stockes des Polarsternes. Dcr Mond abcr nahm Widcwit zur Frau. Bis auf ^ » *) Eine schöne Nachahmung; die tstmschcn Worte bedeuten Folgendes: Faule Dirne, faule Dirne, die Nacht ist lang! dcr scheckige Och« zur Furche, zur Furche! hole die Peitsche, hole die Peitsche! zach, zach, zach! — 78 - den heutigen Tag glänzt ihr heiteres Gesicht nebelt demselben und blickt auf den Wasserspiegel hinab, wo sie in einem Kuß zum ersten Male die Liebe ihres Bräutigams genossen. Darauf sprach der alte Vater: damit nie mehr eine solche Sorglosigkeit, durch das Weltlicht hervorgerufen, eintrete, und damit die Finsterniß nicht zur Herrschaft gelange, bestelle ich euch Aufseher, nach deren Befehl ein Jeglicher seines Amtes walten soll. Der Mond und Widewik sollen abwechselnd für das Licht der Nacht sorgen. Koit und Ämarik (Morgen- und Abenddämmerung)! unter eure Fürsorge stelle ich das Licht des Tages; führt mit Gewissenhaftigkeit euer Amt. Du, meine Tochter Ämarik, sollst die untergehende Sonne bewachen; lösche jeden Abend überall das Feuer aus, damit tein Schaden geschehe, uud führe die Sonne Zu ihrem Schöpfer. Du aber, mein Sohn Koit, entzünde an jedem neuen Tage neues Licht, damit niemand der Helle entbehre! Diese beiden Diener der Sonne walteten gehörig ihres Amtes, so daß an keinem einzigen Tage das Licht unter dem Himmel mangelte. Jetzt nahten die kurzen Sommernächte, an welchen Koit und Ämarik sich Mund und Hände berühren konnten, als alle Welt in Freuden schwamm, die Vögel im Walde, jeder in seiner Sprache, schallende Lieder sangen, und als die Blumen blühten und herrlich emporschössen. Da stieg der alte Vater von seinem goldenen Thron ans die Erde herab zur Abhaltung der Lijonfeier. *) Er fand, daß alle feine Anordnungen befolgt waren und freute sich seiner Geschöpfe. Er sagte also zu Koit und Ämarik: Ich bin mit enrer Amtsführnng zufrieden und wünsche euch dauerndes Glück; seid daher Mann und Weib! Aber sie antworteten, wie aus einem Munde: Vater! führe uns nicht in Versuchung, denn wir sind mit nnscrem Zustande zufrieden; wir wollen Braut und Bräutigam bleiben, denn als solche fanden wir unser Glück, das ewig neu und ewig jung ist! Der alte Vater ließ ihnen ihren Willen und tchrte zurück in sein goldenes Himmelreich!" Diese Sage ist in der That schön und so innig, so menschlich empfunden, daß sie dem Volke, das sie hervorbrachte, zur höchsten Ehre gereicht. Fühlmann (1799^850), dcr im I. 1842 „Lector" der estnischen Sprache an der Dorpatcr Universität wurde, theilte sie zuerst aus der Erinnerung seiner Jugendzeit in deutscher Sprache mit, und bald wurde *) „Lijon, der Erdeugott, der mit Donner auftritt!" lSiche: Mythische ,md magische Lieder der Esten, gesammelt und herausgegeben von I)r, ztteuzwald und H. Neus. Seite 10.) Uebrigens eine Gottheit zwcitcr Classe, gewissermaßen ein vermittelndes Element. (Ebend. S, 14.) ^_ ^s) ___ fie in der ganzen europäischen Litteratur bekannt. Aber eben wegen ihrer Schönheit wollten sie Viele nicht dem Genius des estnischen Volkes, sondern dem Dichter Fählmann zuerkennen, bis der Ingenieur Lagus sie im Jahre 1854 von einem estnischcn Bauern in estnischer Sprache erzählen hörte und aufzeichnete, womit aller Zweifel abgeschnitten war. Ich selbst machte nun die Erfahrung, daß in jenen Gegenden wirklich die Abenddämmerung der Morgendämmerung die Hand reicht. Die Station Mustlanöm liegt an der Grenze der Bezirke Harriett und Iärwen; die nächsten Poststrecken bis Wcißenstein lestnisch 1'Mö-Iin ^ Paidstadt, weil sie an dem Flüßchen Paid liegt) uud von dort bis Maria-Magdalcnen führen durch den Iärwer Bezirk. Die letztere Station Passirte ich gegen Mitternacht. Eine großartige Herrschaft <^der Familie Barclay de Tolly gehörig) breitete sich vor meinem Auge aus. Mein Weg führte anfangs durch herrliche Birken-Alleen, dann an nm-fangreichcn Gartenanlagen und gefälligen Wirthschafts- und Wohngebäuden vorüber. Die Birken sind hier, besonders aber in Finnland, nicht so zwerghaft, wie man sie bei uns zu sehen gewohnt ist, sondern schöne hohe Bäume, die eher deu Pappclbäumen gleichen. Die Stadt Wcißenstcin erreichte ich nicht, die Poststation liegt in Anikül (Gänse-borf), neben einem Gasthof oder besser Wirthshaus ^estnisch liörw Ungarisch Koroma) wie sonst anderswo. Der Reisende findet überall bie grüßte Reinlichkeit und Bequemlichkeit. Die Station Wägewa befindet sich an der südwestlichen Spitze des Bezirks Wirland, nahe der Grenze, die Estland von Avland scheidet, und so gelangte ich denn bald in den Bezirk dieses Herzogthums, in welchem Dorpat liegt. Als ich in Kuurist frühstückte, erzählte mir der Postbeamte unter Andcrm, daß das Korn hier gestern geblüht habe. Auf meine Frage, ob hier das Korn in einem Tage blühe? antwortete ". „Wenn das Wetter günstig ist, ja." Der Dorpater Bezirk befindet sich zwischen den größten Seen des livlündischen Hcrzogthums, dem Peipus- und Wirtssee (Uil'tMrv) *). Aus dem Wirtzsee fließt der Embach oder Embcck, estnisch Nmajögi, in ben Peipus, cin Fluß, groß genug, um Dampfschiffe zn tragen. Wer von Dnnaburg nach Plestov die Eisenbahn benutzt, kann uon hier zu Wagen nnd dann auf dem Pleskovcr und Pcipusscc mit dem Dampfschiff nach Dorpat kommen; der kleine oder südliche Thcil des Peipus-secs wird nämlich Pleskoversee genannt. Aus dem Peipus ergießt sich *) Auf der Landkarte Mrtz-järv-See. Aber das Wort Mv bedeutet See, 'also Wirhsee. — 80 — die Narva oder Narova in den finnischen Meerbusen. Die Narva und der Peipus scheiden ganz Estland und einen Theil Livlands von Rußland. Das Uferland des Dorpatcr Bezirks, von Norden bis Pleskov, ist bis auf die neueste Zeit der fruchtbarste Boden der cstnischcn Sagen; oder besser ausgedrückt, auf diesem Gebiet erhielten sick die Bruchstücke der alten Sagen, von denen an anderer Stelle die Rede sein wird. Diese Gegend widerstand auch am längston der deutschen Eroberung, und die Feste am Embach verlieh sowohl dcn Esten als dcn mit ihnen verbündeten Russen nachhaltigen Schutz. Nachdem ich die Station Moisamaa passirt hatte, nahm ich immer mehr und mehr wahr, daß ich mich einer größcrn Stadt näherte. Nachmittags gegen 2 Uhr langte ich in Dorpat an. Dorpat, cstnisch larto, oder lai-w-Iin (die Festung Tarto), wurde um 1030 von Georg Iaroslav gegründet; deshalb nannte man es russisch Iurjcv, oder Iurjcvgorod — Georgs Stadt. Heinrich der Lctte nennt es )M»trum iln-dMim, n.«I twmßn, quoä üiciwr Nater iMuii'um") d. i. I^ma, oder Mutterstrom. Letzterer fließt so, daß der größte Theil der Stadt an seinem rechten Ufer liegt, dessen höherer Theil „Dom" genannt wird. Obwohl die Nüssen Dorpat erbant hatten, war es doch zur Zeit der deutschen Eroberung nicht in ihrer Macht; überhaupt war der Einfluß der russischen, insbesondere der polotzkischen und uowgorodschen Fürsten an dem nntern Lauf der Düna und den westlichen Ufern des Pcipus sehr gering und immer nur vorübergehend; denn auch das Christenthum wurde nicht von ihnen verbreitet. Iurjev oder Dorpat gelangte im I. 1224 in die Macht der deutschen Ritter. Der Bischof Herman verlegte seine Residenz in demselben Jahre hichcr, und erbaute auf dem bei der Stadt gelegenen kleinen befestigten Berge seine bischöfliche Kirche, die berühmte Kirche zum heil. Dionysins. In deren Nähe errichtete er für sich ein Schloß. Darum nennt man noch heutigen Tages diesen höher gelegenen Theil Dom, wie anch in Ncval dcr gauzc Schloß-bcrg diesen Namen trägt. Die Kirche ward in ein bis zwei Jahren erbaut, und gehörte zu dcn Zierden Livlands. Im I. 12l>7 bemächtigten sich auf knrzc Zeit abermals die Russen dcr Stadt. Doch eroberte sie dcr deutsche Orden bald wieder zurück. Aus jcncm alten Bcrhältmß leitete später Iwan Wassiljcwitsch IV. lals Ezar II.) sein Recht dcr Steuererhebung ab, das er im I. 1554 wcgcn der angeblich seit 1503 nicht gezahlten Stcuer von Neuem zur Geltung uud im I. 1558 auch mit dcr Eroberung Dorpats Zur Anerkennung brachte. ^ ^I — ls. S. 29> Stephan Bathori, Konig von Polen, nahm danu dic Stadt, wje wir wissen, iin I. 15,82 den Russen wicdcr ab. Bald darauf, 1596, brannte auch dic herrliche Domkirchc nieder, dcrcn Ruinen noch hcutc die Pracht dcs einstigen Baues zeigen.- Dorpat und Livland huldigten nun der polnischen Krone, bis sie im I. UN 7 durch den Friedensschluß von Stolbowa unter schwedische Herrschaft gelangten. Gustav Adolph gründete hierauf im I. 163« > iu Dorpat ein Gymnasium, im I. 1032 mittelst eines alls Nürnberg datirtcn Dccrctes cinc Universität, und erhob sie zu demselben Rang wie die Universität zu Upsala. Dic in Folge der Wirren dcs russischen Krieges vom I. I656 auseinander gesprengte Universität stellte Karl XI. im I. 1690 wicdcr her; bei dem Ausbruch dcs großen nordischen Krieges im I. 1699 wurde sie nach Pcrnau verlegt; im I. 1710 löste sic sich vollständig auf. Peter der Große nahm Dorpat i,m I. 17« »4 zum ersten Male ein, und bestärkte dessen Privilegien; im I. 1707 ließ er es neuerdings belagern, beinahe bis auf den Grund zerstören und dic Einwohner in das Inncrc Rußlands schleppen, von wo sie erst im ^. 1718 zurückkehren tonnten. Langsam erwuchs die Stadt von Neuem; aber au Stelle der alten Steinhäuser traten nun fast lauter hölzerne. So fam es, daß, als im I. 1775, am 25. Juni, cinc Fcucrsbrunst die Stadt heimsuchte, dieselbe derartig zerstört wurde, daß die Einwohner alle Lust verloren, sie von Neuem aufzubauen. Katharina II. crmnntcrtc sie jedoch auf jegliche Wcisc, bewilligte einen Vorschuß von 100,0<»(> Rubel und erbaute übcr den Embach cinc steinerne Brücke; auch verordnete sie, daß in der mncrn Stadt tcinc hölzernen Häuser gebaut werden sollten. Nach Hupel besaß dic Stadt vor dem Feuer im 1.1774: 3300 Einwohner; es waren ^) Deutsche, oder eigentliche Bürger, bestehend aus dem Rath und den beiden Gilden; zn der großen gehörten die Kaufleute, Bierbrauer und Goldschmiede, zur kleinen, oder zur Gilde dcs hcil. Anton, die Zunftmeister; dic Unvcrhcirathetcn gehörten alle zu der Gesellschaft der Schwarzhäupter. 2) Russen, dic nicht Bürger werden konnten; sie standen unter 'hrcm eigenen Richter und dem Statthalter und trieben Handel mit russischen Waaren oder Gärtnerei. 3) Esten, dic frei, aber der Stadt Zu gewissen Diensten verpflichtet waren. — Da Dorpat auch cinst zur Hansa gehörte, so glich seine Verfassung ganz und gar derjenigen Riga's. Der Ezar Alexander I. errichtete im I. 1802 von Ncncm dic Universität, was bereits im Plane Paul's I. gelegen hattc. Es entstand cin großartiges Gebäude für dieselbe; der Bibliothek verschaffte wan obcn auf dem Dom, in einem Theile der Kirchcnruiucn, dcn man Zu dicscm Pchnfc ausbaute, einen geeigneten Platz; an dic Stelle dcs - 82 - bischöflichen Schlosses trat dic Sternwarte, an welcher später der in Europa allbekannte und berühmte Astronom Mädlcr lange Zeit hindurch lehrte. Das Aenßerc Dorpats ist heutzutage durchaus das einer neuen Stadt; es gleicht in dieser Hinsicht weder Riga noch Reval. In den Vorstädten sind die hölzernen Hänscr meist ebenerdig und mit schönen Gärten versehen-, in der innern Stadt giebt es größtentheils steinerne Häufer, aber anch nutcr diesen viele ebenerdige. Die Universität und das Rathhaus sind die vorzüglichsten Gebäude. Inmitten der Stadt befindet sich eine Promenade, welche die Büste von Barclay de Tolly ziert, der seit 1788 in jedem Kriege, besonders aber im großen russisch-französischen, sich auszeichnete. Nach der letzten Volkszählung beträgt die gegenwärtige Einwohnerschaft Dorpats 21,035 Seelen, darunter 9800 Esten, 9000 Deutsche. 1800 Russen, 100 Letten und 348 vcrschicdcucr Zunge. Die Esten bilden also jetzt die Mehrzahl der Bevölkerung, daher der Fremde auf den Straßen anch zumeist estnisch reden hört. Auch die Deutschen sind dieser Sprache größtcnthcils knudig, ganz so wie z. V. in den deutschen Städtchen des Ziftscr Comitatcs die Bürger alle slovalisch können. — Wie gesagt, langte ich Dienstag Nachmittag gegen 3 Uhr in Dorpat an, das an diesem Tage ein feierliches Ausschu hatte. Von vielen Häusern wehten Fahnen, in den Gassen bewegten sich freudig erregte Volksmassen, welche das am folgenden Tage beginnende Fest herbeigezogen hatte. Ich fand in dem Hotel Stadt London einen bescheidenen Platz und nachdem ich den Reiscstanb abgeschüttelt, suchte ich die Wohnung des Gymnasiallehrers Hurt auf, von dem ich mir die nöthigen In-structionen erbitten wollte. Wicoemaun, Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Petersburg, und der eigentliche Repräsentant der cst-nischcn Sprache daselbst, hatte mir insbesondere Hurt cmpfohlcu, ocr ein geborener Este, seine Muttersprache wissenschaftlich betreibe und es wohl verdiene, so lautete Wicdcmans Brief, daß der für die est-nischc Sprache sich intcressircndc Reisende blos um seinetwillen Dorpat aufsuche. Ich fand Hnrt zn Hause, hörte aber gleichzeitig von ihm zu meinem Bedauern, daß Wicdcmann in Dorpat gewesen und erst gestern abgereist sei. Wenn ich also nur einen Tag früher anlangte, oder Wicdcmann nur uoch einen Tag länger in Dorpat verweilte, so Hütten wir uns hier glücklich begegnet. Doch die Feier der Esten drängt alles Andre in den Hintergrund. Hurt, ein junger blonder, aber feuriger estnischer Lehrer, theilte mir bereitwillig alles Nothwendige, sowie das Programm der Feier mit. — 83 — Als am 27. September (alten Stils) 1805 der cstnischc Gesangverein von der rnssischen Regierung genehmigt worden, war dessen erste Sorge, jenen Wünschen zn begegnen, welche allerseits anläßlich des Heran-nahcns des fünfzigsten Jahrestages der Freiheit des cstnischen Volkes gehegt wurden. Man wollte den Tag würdig feiern: aber wie? Es war sicher, daß derselbe in jeder Kirchengemeinde festlich begangen wer-' den würde. Man wollte aber so zu sagen ein Landcsfcst veranstalten. Doch wie sollte das cstnische Volk ein solches zu Stande dringen? Und wenn Unordnung unter den Versammelten entstand, so konnte daraus leicht ein Unglück entstehen, nnd mit der Fcicr war es dann am Ende. Oder wenn das Fest nicht gelang und das cstnischc Volk sich lächerlich machte, welcher Spott mußte es von Seiten der Mißgünstigen treffen! — Der cstnische Gesangverein führt den Namen Wancmuinc-Gesellschaft; >Vanomuin0 (finnisch: VVimüimmiKm) ist nach dem alten nationalen Glauben der Gott des Gesanges; die Wancmnine-Gcscllschaft schlug für das Zweckmäßigste ein Gesangsfcst vor. Ferner konnte nur Dorpat Ort des Landcsfcstcs sein, denn es ist die Stadt des alten est-Nischen Liedes und wie überhaupt die Pflcgstättc der baltischen, so insbesondere der cstnischen Intelligenz. — Nachdem dies festgesetzt war, veröffentlichte der Präses der Wancmuinc-Gcsellschaft, Johann Wilhelm Iannsen, das Haupt der estnischcn Zcitnngs- und Voltslitcratur, in seinem Blatte 1'05ti motn (Postillon) den von der Gesellschaft gefaßten Beschluß, sowie die für die Fcicr bestimmten Gesänge. Und obwohl die Erlaubniß der Regierung erst 6 Wochen vor der Fcicr einlief, und man also erst dann die gedruckten Gesänge nnd Noten vertheilen konnte: so hatten sich doch innerhalb dieser kurzen Frist vicrnndvicrzig cstnische und ein deutscher Gesangverein znr Theilnahme gemeldet, die auch alle heute mit ihren Fahnen am Orte des Festes eintrafen. Eben kamen sie aus der Marienkirche, wo sie, im Ganzen achthundert Sänger, zum ersten Male die cinstndicrtcn bieder gesungen, und zwar nutcr der Leitung Säbclmanns, Lehrers des Schullchrcrseminars in Walk, der unter dem Namen Kmmileid als cstnischcr Dichter uud Komponist in großem Ansehen steht und Aller Liebe genießt. — Das Noten- und Liederbuch, das die Wancmuine-Gesellschaft für das Fest herausgegeben hat, führt den Titel: Die Lieder und Gesänge für das fünfzigjährige Jubelfest des estnischen Volkes.") Im Vonvort bittet Icmnscn, wenn Fehler in dem Vuche vorkommen sollten, dies mit der Wc zu entschuldigen, mit welcher *.) Keatirahva 50-aastase Jtiubclpido-lauhul. Tarto Vanemuiue-seltsist vaijaautud. Tartas 1869. •4* — 84 — dasselbe verfaßt worden sei, und fügt hinzu: „Mögen diese Gesänge ein Andenken an das gegenwärtige Jubelfest der Esten bleiben, damit dic Nachkommen noch lange sehen, was ihre Vorfahren an demselben gesungen haben. Gebe Gott, daß unser Vorhaben gelinge, nnd daß wir damit gute Hoffnung erwecken und angenehme Erinnerung zurücklassen. Dorpat im Maimonat 1869." Von den Vorbereitungen und der Ordnnng des am folgenden Tage statthabenden Festes unterrichtet, eilte ick nun in mcmc Wohnung, um der Rnhe Zu Pflegen, deren ich nach der letzten schlaflos verbrachten Nacht dringend bedürftig war. Ich erwachte andern Tages ganz in der Frühe. Meine Gedanken beschäftigten sich mit Gegenwart und Vergangenheit des cstnischcn Volkes. Wie war sein Znstand am Ende des vorigen Jahrhunderts und wie gestaltete er sich in der Folge bis heute? Es sei mir gestattet, hier auf diesen Punkt des Näheren einzugehen. Auf Anregung der russischen Regierung entstand das Gesetz vom Februar 1819, welches die Leibeigenschaft aufhob und die persönliche Freiheit des Bauern anerkannte, denselben mit staatsbürgerlichen Rechten bekleidete, gleichzeitig aber auch den großen Fehler beging, keinen Unterschied zwischen bäuerlichen! nnd adeligem Grundbesitz Zu machen, auch den durch das Gesetz von 1804 gesicherten bäuerlichen Grundbesitz aufzuheben, und hierdurch den Grundhcrrcn von nun an das Recht einzuräumen, von dem, was die Bauern in Nutznießung hatten, soviel als sie wollten fich anzueignen. Ferner bestimmte das Gesetz von 181!), daß alles Land Eigenthum der Grundherrcn sei, zwischen den Bauern aber und jenen lediglich das Verhältniß freier Eontracte Platz greifen solle; auch sei es nicht nöthig, durch Gesetz die Höhe des Pachtzinses zu normiren, da die früheren Beschränkungen in dieser Beziehung eben nur Folge der Leibeigenschaft gcwcfcn seien. Dic Befreiung stürzte also thatsächlich die Bauern ins größte Elend, denn jetzt schützte sie lein Gesetz mehr gegen dic Willkür der Grundbesitzer, von denen sic um jeden Preis Felder in Pacht zu nehmen genöthigt warcn. Der einseitige Liberalismus sah zwar cincu großen Fortschritt darin, daß der Bauer dcm Grundbesitzer nur dazu verpflichtet wäre, wozu er sich selbst vertragsmäßig verbunden hätte und daß er nach Ablauf des Contracts gleich dcm Grundherrn vollständige Freiheit hätte, denselben Zu erneuern oder nicht. In Wahrheit aber stellte die Emancipation von 1819, so wie sie ausgeführt wurde, den unvermögenden Bannn schutzlos der Willkür des Gruudhcrrn an- — 85 — heim. Die Verkehrtheit dieser Maßregel wurde so augenscheinlich, das Elend der Haucru so groß, daß man durchaus an die Regulirung des Pachts denken mußte. In Livlaud beschränkte das Gesetz von 184'^ (der sog. 44. Punkt) die Einziehung des bäuerlichen Besitzes dnrch die Grund-Herren und ordnete an, daß der Pachtschilling nicht mit Arbeit, sondern mit Geld zu bezahlen sei; ferner bestimmte es, daß kein Pachtvertrag auf kürzere Zeit als 6 Jahre eingegangen werden dürfe; dagegen konnten sie auch auf 5)0 Jahre sich erstrecken; wenn der Pächter das Feld wegen Erhöhung des Pachtschillings verläßt, so mnß der Grundherr alle Ame« lioration ersetzen. Endlich wurde eine Baucrnbant errichtet, die den Bauern durch die vorschußweise Darlcihung des sechzigsten Theils des Kaufpreises die Erlangung des Eigcnlhumsrcchts erleichtern sollte, nnd zwar -so, daß cin Zwanzigstel unkündbar anf den: gekauften Besitz lasten und nur cin Achtzehntel in baarcm Gelde dnrch den bäucrlichcu Käufer erlegt werdcu sollte. Das Gesetz von ^865 ordnete neue Beschränkungen für die Grundbesitzer an, insbesondere sollten sie gehalten sein, dem alten Pächter vor Eingchnng eines neuen Pachtvertrages die Bedingungen desselben knnd zu geben nnd wenn dieser sie nicht annimmt, ihm beim Abziehen die Differenz zwischen dem alten und dein neuen Pachtzins als Entschädignng zu zahlen, nnd zwar dreifach, wenn er 6—12 Iahrc, zweifach, wenn er 13—24 das Grundstück in Pacht besessen. Beim Verkauf hat der Pächter das Vorkaufsrecht. Endlich erlaubte das Gesch von 1865 dem Grundherrn, zn Gunsten seiner Wirthschaftsknechtc, wenn diese außer ihrer Bezahlung in Geld nnd Naturalien, auch Land an-nchmcn wollten, beiläufig cin Sechstel des bäucrlicheu Besitzes auszusondern, welches man die Quote nannte. Kraft des Gesetzes von 1868 horte mit dem'April desselben Jahres aller Naturalpacht auf nnd war nunmehr blos Gcldpacht möglich. — Auch iu Estland wurden in dieser Zeit ähnliche Gesetze erlassen. Was den Umfang des von den Bauern in ^iuland cultivirwl Bodcus betrifft, so stellt sich derselbe wie folgt. Der gesammte Grund und Boden Livlands beträgt 3.51212!) „ttoofstellen" oder 1.149601 russische Dessatinen, was 1.W3751 Hektaren gleichkommt. Eine ,^oof-stelle" ist also bcilänfig soviel wie bei uns 1100 ^Klafter, oder ein kleines ungarisches Joch. Und 60.24 Prozent dieser 3'/. Millions Loofstcllcn sind bäuerlicher Besitz. Wir sahen auf Seite 38, daß das schwedische Agrar-Gcsetz das Feld nach Thalern berechnete. Ein Thaler Land ist gleich 5 preußischen Jochen; eine Dcssatinc aber 4.27 preußische Joche, oder 3 Loofstellcn; cin Thaler Feld ist also nahezu 3^/,. ^oof^ stellen. Ueber die Höhe des Pachtzinses erfuhr ich, daß in den letzten — 86 — fünf Jahren der Pacht eines Thalcrfcldcs von 3 Rubel 97 Kopeken auf 6 Rubcl 62 Kopckcn gestiegen sei. Wenn man für das Thalerfcld herrschaftlichen Bodens 6 Rubcl gibt. so gibt man für den Thaler Paucrland auch 10 Rubel jährlichen Pacht. Ein glücklicher Zufall brachte die Nummer vom 16./4. März 1869 dcr Neuen Dörpt'schen Zeitung in meine Häudc, welche die bis dahin in Livland erfolgten bäuerlichen Grundablösungcn in officicller Mittheilung enthielt. Zur Belehrung theile ich sie hier mit; die Bruchzahlen lasfe ich weg. Demzufolge wurden verkauft im Dorftatcr Kreise 14687 Thaler um 1.938651 Rubel, 60 „ ohue Angabc des Prciscs; im Riga'schcn Kreise 4499 Thaler um 669583 Rubel. 410 „ ohne Angabe des Prciscs; im Wolmnr'schcn Kreise 24401 Thaler um 3979282 Rubcl, 733 „ ohue Angabe des Preises; im Wendcn'schcn Kreise 6349 Thaler um 875506 Rubcl, 58 „ ohue Angabc des Preises; im Walk'schcn Kreise 7353 Thaler um 1.223634 Rubel, 261 „ ohuc Augabc des Prciscs; im Werro'schcn Kreise 8037 Thaler um 1.007825 Rubel, 10 „ ohuc Augabc des Preises; im Peruau'schen Kreise 10277 Thaler um 1.677323 Rubcl, im Fcllin'schcn Kreise") 17216 Thaler um 3.700452 Rubel, 609 „ ohne Angabe des Prciscs; Im Gauzcn also 94973 Thalcr. Hiervon sind 92822 Thaler um 15,072236 Rubel, uud 2150 Thalcr ohne Augabc des Preises schon von dcn Bauern augckauft. Diese Summe beträgt 24.54 ProZcut dcs überhaupt verkäufliche!! Baucrlandcs, nach Abzng des städtischen Grund- ') Es ist dies eine andere Krclicmthciluna, als wir sie auf S. 22 sahm. — 87 — bcsitzcs, dcr Majorate und Fidcicommifse, dcrcu Verlauf das Gesetz nicht gestattet. Dcr amtliche Bericht gicbt dann noch einen gesonderten summarischen Ucbcrblick über den cstnischcn.und lettischen Kreis. So haben dic Esten im Durpatcr Kreise 20.61, im Wcrro'schcu l6.65, im Pcrnan'schcn 5i7.il,, im Felliu'schcu 41.4, zusammen 28.10 Prozent, — die Lcttcu im Riga'schcn Kreise 10.9, im Wolmarschcu 56.70, im Wcudcn'schcu 9.28, im Walt'schcn 15.15, zusammen 21 Prozent des ablösbaren Landes angekauft. Die Esten Livlands habcn also um 8 Prozent mehr Laud gekauft, als die Letten. Bon den in Estland vollzogenen Ablösungen habe ich keinen amtlichen Ausweis. Es mag sein, daß dort dcr Erwerb des Eigcnthmnsrcchtcs langsamer vor sich geht, aber cr gcht gewiß von Statten. Erfreulich sind auch folgende zwei Datcu. Das Gesammtvcrmögcu dcr livländischcn Baucrngemcindcu betrug im I. 1849: 199583 Rubel, 1867 bereits 997928 Nubcl; was pur Kopf eine Zunahme von 75 Ko-pclcn bis zu 3 Rnbcl 40 Kopeken crgicbt. — Dic Zahl der Schulen in den bäuerlichen Kirchengemeinden betrug im I. 1851: 639; 1866 schon 844. Außerdem giebt cs in Livland noch Dorfschulen, deren Stellung cinc niedrigere ist. Nach einer statistischen Erhcbuug vom I. 1867 kommt in Livland auf 780 protestantische betten und Esten cinc Schule. Die Bedeutung dicscr Thatsache wird erst klar, wenn wir wissen, daß in Sachsen auf 605, in Prcußeu auf 682 Seelen eine Schule kommt; i" Oesterreich smit Ausnahme Ungarns), nnr auf I2<»0, iu Belgien auf 828, iu dcn Niederlanden auf 945 ciuc Schule.") Es ist zu vermuthe,!, daß auch iu Estland in dcn angeführten Beziehungen cin ähnlicher Fortschritt stattfindet. Wenn wir erwägen, welches das Schicksal dcr lettischen und cst-nischcu Baucrn am Ende dcs vorigen Jahrhunderts, za bis 1804 war, und in welchen drückenden Zustand sie durch die einseitige Emancipation von 1819 gcricthcu, wenn wir weiter erwägen, wclchcu Fortschritt sie seit 1849 gemacht habcn, so regt sich in uns unwillkürlich das Gefühl dcr Achtung gegen dies Volk; aber auch dcu Leitern und Erziehern desselben, welche Samariu schilt uud tadelt, können wir unsere Anerkennung nicht versagen. Es wärc wohl bcsscr gcwcscu, wcun dic Emancipation von 1819 dic Baucru uicht dcr frcicu Eoncurrcnz mit dcn Grundbesitzern preisgegeben hätte: aber die Aufhebung dcr persönlichen Leibeigenschaft ist ") In dcn Ändern dcr ungarischen jlrone wird die Staüsti! dcs Vottsschnl-wesms erst jctzt amtlich angefertigt. Da hier die Ortschaften in dcr Regel sehr ^l'Nreich sind, so dürste nicht so sehr dic An;M der schulen, als vielmehr die dcr Schultindcr maßgebend sein. — 85 — schon deshalb denkwürdig, weil hierdurch zum ersten Mal seit der deutschen Eroberung <^2W) die Esten nnd Letten als vollberechtigte Menschet! anerkannt wurden. Am Morgen des 30.'18. Juni um 8 Uhr verkündigten die Glockcn der Marien- und Iohannistirchc den Beginn der Feier. Nachdem das Geläute verstummt war, erklang von beiden Thürmen feierliche Choral-musik, welche von einer Musitgescllschaft vom Lande geblasen wnrde. Hierauf eilte jeder nach dem Hanse der Wancmuine«Gesellschaft, von wo der Festzug sich in Bewegung setzen sollte. Die Gesangvereine wcrd^i aufgestellt; die Sänger und Musiker erhalten Jeder ein Abzeichen, bestehend in einer Lyra ans roth-grün-weißcm (die livländischcn Farbm, Grunde mit dem livländischcn, cstlündischen und dem dorpatischen Stadt-Wappen^); über der Lyra die Sonne nnd 1819, nntcn 1869. Außerdem werden an die verschiedenen Festordner und Aufscher roth-bläulich-gelb-wciße (dorftater), roth-weiß-schwarze (dorftater Bauern) Bänder, und grün-violett-wcißc (estlündischc Farben) und roth-grün-wcißc Eocarden vcr-theilt.' Beinahe jeder Gesangverein hat seine Fahne; fünf kleinere, welche keine besitzen, werden nntcr die anderen 37 Fahnen vertheilt. Um 9 Uhr erschallen wiederum die Glocken nnd der Zug setzt sich in Bewegung. Es erscheinen nach einander, stets von zwei Marschällen geführt: zunächst die Geistlichen in geistlichem Ornate; alsdann die russische Reichs-, die livländischc und estlandische Landes- nnd die dorftater Stadt-Fahne; hierauf das Fcstcomite; die Gäste, d. i. der Stadtrath nnd dic Fremden; der dorftater Gesangverein und die 37 Provinzialvercine mil ihren Fahnen. Die Musiker sind lauter Esten von Dorpat, Fierenhof und Falkenan sestnisch Kürkiumwi«). Auf dcu Fahnen prangen dic Namen der Dörfer und Kirchengemeinden, auf der Fahne von Torma derjenige des Helden der estnischcn Sage, ,^alcw; auf der Fahne von Naugc ist die Aufschrift zu lesen: I<<^ KUx^lat, k^inlütlü^ ^ mn-<>'U8at, n^ut^^d ^ wer Bitteres dnldet, der schmeckt bald Süßes. Vor der Marienkirche hält der Zng. Unter der Begleitnng von Blasinstrnmentcn erschallt das Lied: Herr Gott, dich loben wir. Alsdann geht es auf den Dombcrg, den Ort, wo der Fcstact abgehaltm werden soll. Ein schönerer nnd geeigneterer Platz für eine Feier unter freiem Himmel läßt sich kaum dcnten. ^n ergreifender Majestät erheben ") Das Wappen dcs livläudischcn Hcr;ogthumi< ist ein silberner Greif, d^-cin Schwert hält: das estlandische drei überewanderstebende Löwen; das dorpatev Stadtwappcn sind yvei Kirchen mit Thnriucn, iider diesen eine Krone und unter der Krone, sich kreuzend, cin Schwert und cin Schlüssel. — 69 — sich die Rninen der alten Domkirche, an deren nördlicher Seite sich eine grüne, von Bäumen eingefaßt,.' Thalmulde ausbreitet. An einem Ende bersclbcn, im Schatten von ^ärchenbäumen, sind die Plätze für die Gaste errichtet; in der Nähe die Kanzel nnd der Altar. Am andern Ende stellen sich die Gesangs- nnd Musitdircttüren anf: um sie herum in einem Halbkreis die Gesangvereine, die ihre Fahnen beim Beginne des Gottesdienstes senwi. Zu beiden Seiten erfüllt eine dichtgedrängte Menge den Platz-, anch die alten, ehrwürdigen Rninen sind mit Schaulustigen besetzt. — ,,^w<, Vii^ev .Immü, kiiänine -^^ Herr Gott, dich loben wir," mit diesem Gesang begann die Feier. Einen ergreifenderen Gesang, als diesen, hade ich nie und nirgends gehört; damit verglichen ist selbst die großartigste Oper nnr eine Komödie. Seine Hochwürden der Dorpatcr Probst Willigerode wies in längerer Rede anf die große Bcdentung des Festes hin, und betete dann nach einem kurzen Gesang das Vaterunser, das die ganze ungeheure Ver^ sannnluug kuiecud nachsprach. Jetzt folgte die Liturgie, die uns Protestanten in Ungarn ganz fremd ist. Nach dein Gesang betrat Knüppfer, Pastor zu St. Marieu in Estland, die Kanzel, und uachdem er die wenigen Worte des Apostels Paulus (Brief an die Korinther 10, I3. !4): „Wachet, stehet im Glauben, seid männlich, scid start. Alle enre Dinge lasset in Liebe geschehen," vorgelesen, hielt er eine Rede, die, wie ich sah, bic Zuhörer mächtig ergriff. Auch sprach er, wie mir Sachverständige Mittheilten, das schönste Estnisch. Ein Zuhörer drückte seine Zufriedenheit folgendermaßen aus: das war keine Spreu, alles reiner Weizen.— Nach dem darauf folgenden Gesang erklärte der Petersburger cst' M'schc Pastor Laaland die große Bedeutung des Gesetzes von 181'.j. Der Miner Pastor Hörschelmann uud der Nauge'schc Pastor Hollmanu vollzogeu den liturgische« Theil des Gottesdienstes. Die ganze Feier dauerte bis 2 Uhr Nachmittags. Da ich zum ersten Male estmsche Predigten hörte, verstand ich nur weuig davon; aber den Gesang begleitete ich mit großer Theilnahme; Mein Auge war in der Sprache cbeu gelehrter als mein Ohr. So überließ ich mich deun ganz dem Eindruck der Scene, die auf jeden Wuchtig einwirken mußte. Seitdem dieses Volt unterjocht worden, seit ^'/.> Jahrhunderten halt es nuu zum ersteu Mal eine Volksfcier, fühlt ^ sich zum ersten Mal als solches. Auch der Ort der Fcicr zeugt bvu Vergangcuheit und Gegenwart. Die herrlichen Nuincu aus der Zeit der Erobcruug erinnern au die Opfer, die Sklaverei dcr Unter-Wchtcn, den Geist dcr Eroberer, die mit dem Schwerte das Christenthum verbreiteten. Und unter diesen Rninen singt und betet die un- — W — znhligc Mcngc mit andächtiger Freude; kein unterdrücktes und rachc-schnaubendes, sondern die Gegenwart dankbar hinnehmendes und die Zulunft mit seinem Fleiß sicherndes Volk. ^augröckigc, zumeist blondhaarige und blauäugige Männer, Jünglinge uud Greise; in lebhafte ssarbcu gekleidete, angenehm aussehende, von Gesundheit strahlende cstnischc Frauen und Mädchen; sie alle freuen sich und danken dem Herrn. Ich hörte während des Gesanges herrliche Stimmen; ich möchte beinahe sagen, die Stimme dieses Voltes ist zum Gesang geschaffen, wie seine Sprache dazu besonders geeignet ist, viel geeigneter, als die finnische und ungarische, deren lange Wörter hicbci große Schwierigkeiten bereiten. Der Gottesdienst währte mchrcrc Stunden; ich konnte jedoch in der großcu Versammlung nicht die geringste Abspannung wahrnehmen. Das stets neu angeregte Verlangen, die nach einander auftretenden Redner zu hören, war augenscheinlich. Als ob dies Volk die in seiner Sprache gehaltenen Reden nicht gcnng hören tonnte! Als ich später in einer deutschen Gesellschaft dieser unermüdlichen Aufmerksamkeit des Voltes erwähnte, hicsi es allgemein, der Deutsche könne unmöglich so viele Predigten und Reden nach einander anhören, wie der Este, der schon au dem Wohlklang seiner Sprache sich ergötzt und dabei sehr gesprächig ist. Nach dein Gottesdienst kehrte der Zug zu dem Hause der Wancmninc-Gescllschaft zurück, uud begab sich von hieraus nach kurzem Aufenthalt in den sogeuauuten Ressource-Garten, wo ciu Kirchenconccrt stattfand. Die Sänger und Musiker betraten ein halbkreisförmig errichtetes Podium, vor welchem das Publikum Platz nahm. Auch das Concert eröffnete Se. Chrwürdcn Probst Willigerodc als Präses des leitenden Comite's, und hob nach einer kurzen Bcgrüßuug den Sänger der Psalmen und Luther als Liederdichter hervor; uach ihm schilderte Hörschelmanu in einem humoristischen Vortrag — denn uuu wurde auch dem heitern Worte Raum gestattet — nach einander: Paul Gerhard, als dcn deutschen Kirchenlieder-Componistcn, dcn die Esten so gut kennen, wie die Deutschen; Friedrich Brenner als den dorvatcr deutschen Kirchenlieder-dichter; und Fählmann als dcn cstuischcn Liederdichter. Im Concert wurden drei Chorale von Brenner, sechs Motetten von verschiedenen Componistcn und endlich ein Lied von Beethoven «die Himmel verkünden des Ewigen Ehre) vorgetragen, nntcr großer Aufmerksamkeit dcS Publi^ knms und oftmaligem Applaus. Au dem folgenden Tage wurde in demselben Garten ein weltliches Concert gegeben, aber nicht mehr bei so günstigem Wcttcr, als am Tage vorher; cs regnete. Doch Iaunscn, der populäre Schriftsteller, der eigentliche Anstifter und die Scclc dcr ganzen Fcicr, trat auf und 91 Dßtc den Versammelten mit einem heitern Vortrug Vertrauen ein. ^cmnsm ist uon mittlerer Größe, ein stämmiger, starker Manu, sein Gesicht hat den Ausdruck der Freundlichkeit, die keiner Leidenschaft Raum geben taun. Ich glaube, daß auch die Persönlichkeit Iannscn's auf das cstnischc Volk einen wohlthätigen Einfluß übt, wie cs denn überhaupt unter guten Führern steht. Nachdem Ianuscu gesprochen, brachte Hörschcl-luann einen trefflichen Toast auf ihu aus. Uutcr deu Rednern ist noch Hlirt zlt erwähnen, der drei Wüuschc aussprach: 1) dcnjcuigeu allgemeiner Bildung uutcr den Esten, die durch Schulcu, Zcituugcu, gutc Büchcr und Lesezirkel verbreitet werden müsst; 2) denjenigen, daß, wer aus dem Vaucrustandc emporwachse, nicht nach bisheriger Gewohnheit die cstuischc ^Nationalität aufgeben möge; A) endlich, daß für das cstnischc Volk nicht nur elementare Volksschulen, sondern auch höhere Lehranstalten zn Stande kommen mögen. Das Concert, das derart durch geeignete Reden unterbrochen wurde, nahm trotz des häufig störend dazwischen tretenden Regens -incu heiteren Verlauf. Nach dem Concert begab sich dcr Zug iu das Haus des „Hand-wcrtcrucrcius" uud vou dort in dcu Waucmuiuc-Gartcu, wo das Festmahl, unter dem Schutze von Bäumen und Regenschirmen, fröhlich von statten ging, gewürzt mit Toasten auf den Kaiser, den Thronfolger und b'c weltlichen uud geistlichen Behörden dcs Landes. Am dritten Tage Vormittags fand im Ressource-Garten, Nachmittags im Wancmmne-Gartcn ciu Wcttsiugcu mit Preisvcrthciluug statt, ^en Gesang unterbrachen häufig Telegramme, welche aus Riga der ^encralgouvcrncur Albcdmsky, die Vertrctuug dcr livläudischcn Rittcr-^chaft itnd dcr Rigacr Gesangverein, aus Ncval aber dic das Jubiläum der Domschulc feiernde Gesellschaft einschickten, welch' letztere auch au-sugte, daß die versammelten Gäste znr Grüudung einer estnischcu laud-^N'thschaftlichcn Schiüc 3000 Rubel gczcichuct hättcu. Hier mag cr-^ühnt werden, daß auch bei dcm am Tage vorher stattgcfuudcncu Concert ^nmud zu demselben Zwecke 200 Rubel geschenkt hatte. Bei dcr nach dcm Concert stattfindenden Prcisvcrtheilnng crhiclt ^r cstnischc Gesangverein aus Rcval (cs ist daselbst auch ciu deutscher) ^n crstcn Prcis. Der zweite wurde dcn Talkhofcrn (wn^i-kiliolkmuli), ^r dritte dcr Dorpatcr Maricngescllschaft zu Thcil. Wo ich nur touutc, mcugtc ich mich uutcr das Volk, um seine Art und Sitte kcnucn zu lcrucn; kaum tonnte ich jemals hoffen, eine günstigere Gelegenheit zu finden, so viclc Esten, nnd zwar aus den vcr- — l)2 — schicdcnsten Gegenden — nur die Insel Oescl war nicht vertreten — beisammen zu sehen. Was den Wuchs der Esten anlangt, so sind sie etwas mehr als mittelgroß; ich fand sogar sehr hochgewachsene Leute unter ihnen. Blondes Haar und blane Augen sind vorherrschend. Ihr Acußercs ist ernst, wie im Allgemeinen bei jedem Volle; doch sind sie leicht zum Lachen zu bewegen. Mit dem Ernst steht die schnelle Art zu sprechen einigermaßen im Widerspruch. Die Physiognomien erinnern den Beobachter am meisten an deutsche Bauern, besonders an Gebirgsbewohner. Die Weiber sind in der Dorpater Gegend recht hübsch, noch mehr in der Felliner, und lieben sich in lebhafte Farben zu lleiden. Während des Wcttgcsangcs im Wanemnine-Gartcn spazierte ich eine Zeit lang in demselben allein nnchcr und ergötzte mich an deu mannigfaltigen Bäumen nnd Sträuchern, die ihn schmückten. Ahorn-, Pappel- und wilde Kastanicubäumc sind hier so hoch wie Fichten-, Lärchenbäume u. s. w. Aber auch Acpfcl-, Birnen- und Zwctschgen-bäulnc fand ich in großer Zahl darunter;, auch sie sind sehr hoch. Die Früchte dagegen um so kleiner. Die Sträucher sind zumeist Iohannis-nnd Stachelbeersträucher, welche dicht mit schönen großen Trauben behängen sind; die nördlichen Gegenden produziren, wenn auch nur schlechte Aeftfcl, Birnen nnd Zwetschgen, doch um so mehr und um so bessere Beeren. Auch die Erdbeeren waren bereits reif; ich konnte überall ganze Mengen davon sehen. Mittlerweile hatten sich auch die Sänger und das übrige Publikum zum Lustwandeln allgeschickt nnd die buutc Mcugc wogte unter den Bäumen und in den Landgängen auf und ab. Hier traf ich unerwartet mit Fromm zusammen, den ich seiner Zeit in Riga verfehlt hatte nnd der zur Feier herübergekommen war. Wir sprachen von verschiedenen Dingen mit einander, hauptsächlich von dem um uns wogenden Volke, das bald einen ganzen Ring nm uns bildete. „Als ich die erste Generalprobe hörte" — sagte Fromm unter andern: zu mir ^- „da füllte sich mein Auge mit Thränen, wenn ich bedachte, daß taum mehr als fünf Wochen Zeit zur Vorbereitung geblieben waren; daß viele Sänger mehr als 10 Werst weit von einander wohnen, so daß sie nur selten und mit großer Mühe zusammentommcu tonnten; ich hätte es mir nicht vorgestellt, wessen unsere Esten fähig sind." Eine sehr begreifliche Freude verrieth Fromm, als er erzählte, wie gerne die estnischen Kinder lernten, nnd welche erfreuliche Fortschritte in dieser Beziehung trotz der so manmch-fach ungünstigen Umstände wahrznnehmm seien. In vielen Gegenden nntcrrichtctcn anfangs nur die Eltern, insbesondere die Mütter, ihre Kinder im Lesen, nnd der inspicircnoe Lehrer, welcher die zerstreut umycr wohnen- — 9Z — ten Familien nacheinander besucht, achte nur darauf, daß der Unterricht richtig vor sich gehe. Dann gehe das Kind höchstens zwei Jahre in die Schule, um Schreiben nnd andere Anfangsgrmtde zn lernen. Manchmal nchmc es sich Proviant auf eine Woche in seinem Tornister mit und schlafe bei benachbarten Bauern. In den letzten Nothjahren, als bei Manchem Vancr kaum ein Bissen Brod Zu finden gewesen, hätten manche Grundhcrrcn für die die Schule besuchenden Kinder etwas „in den Tornister" mitgegeben-, denn in neuerer Zeit sei das Bestreben, die Bauern zu unterrichten uud zn heben, allgemein. Fromm wandte sich dann gegen die nns neugierig betrachtenden ^sten. Viele kannte er persönlich und erkundigte sich nach ihrem Befinden; die andern fragte er nach ihrer Wohnnng. Hierauf richtete er an mich auf Estnisch die Frage, ob ich die Esten, wenn sie sprächen, schon verstände, und ich tonnte zur Antwort geben: ein wenig (mn lnoj^tkil,j«> imNukolie). Als er den Zuhöreru sagte, von wo ich sei, frug er einen Burschen von sehr lebhaften Augen, ob er sich noch aus bcr Schule erinnere, was das sei, „lln^'i inlui" lUngarn), und wo es luge? Aber der Bursche wich der Frage geschickt ans, indem er antwortete: „Ich bin sehr wenig in die Schnle gegangen." Alle, auch die Weiter rückwärts Stehenden, hefteten nun ihre Blicke auf mich und ich dachte, es wäre am Platze, meine geringe Kenntniß des Cstmschcn hier anzubringen. Daher sagte ich: „5ln ölen WInu) 6t olcn WImuI 36m, kui 5L luudßli^jlio i>ink^0." (Ich kam, das cstnischc Volk zu besuchen und freue "nch sehr, daß ich eben jetzt gekommen, wo es sein Jubiläum feiert.) ^as gefiel ihucn schr nnd sie hätten jetzt gern noch mehr von mir ge-^N. 'Aber ich wußte, daß ich übel bestehen würde, nnd machte mich ans dem Staube, als sich dic allgemeine Aufmerksamkeit anderswohin wendete. Die Deutschen halten den (5stcn für trotzig nud weniger anhänglich, "!s dcn Nnfscu. Doch cr ist durchaus treu; nnd daß man die cst-nischen Dienstboten gerne hat, da sie sehr verläßlich sind, habe ich selbst ^fahren, oder vielmehr von jenen gehört, mit denen ich bekannt wurde, ^ic Kluft, die noch vor nicht langer Zeit zwischen Deutschen und Cstcn ^stand, hat auch der Fortschritt der Neuzeit uoch nicht ganz auszufüllen vermocht; sociale Porurtheilc lassen sich einmal nicht so leicht ansrotten, wie man etwa neue Gesetze schafft. Da fich das estnischc Volk znm ^'stcu Mal in so großer Anzahl versammelte, zeigte sich dic Dorpatcr ^u'rgcrschafi nur mit einer gewissen Besorgniß znr Aufnahme der länd-"chen Gäste bereit. In so mancher Brust regte sich dic Frage: wie ^- i^ — wird sich der kuule benehmen?^) Doch der spottwcisc I^uui^ genannte Este benahm sich während der gcmZcn Feier und immer derart, daß anch das eingewurzelte Vorurtheil sich davon überzeugen mußte, daß er doch ctwas besser sei, als man sich ihn gedacht hatte. Wegen Ruhestörung mußtc die Wache wohl einen Herrn Nath von dem Unterhaltungsorte entfernen, aber über ruhcstüreudc Esten war keine Klage zu hören. Und wahrlich, noch vor kurzer Zeit hielt man den Esten kaum für cincn Menschen. Ein Brief, der estnisch adrcssirt war, wurde von der Post zurückgewiesen: sie wäre nicht verpflichtet, cincn solchen anzunehmen, so dachte noch damals der betreffende Beamte'. Die cstnifchen Bauern hatten auch außer ihrem Tanfuamcn keinen Familiennamen. Als die Regierung bei der letzten Volkszählung verordnete, daß man die Familien mit den Zunamen aufschreiben solle, entstand überall große Verlegenheit. Die armen Esten wußten nicht, welches ihr Zuname sei und woher sie ihn nehmen sollten. Und es fanden sich elende Menschen lwic man mir glaubwürdig erzählte), die alle möglichen deutschen Spottnamen für sie ersannen und einschrieben. Ich hörte als glaubwürdige Thatsache, daß die Eonfcribenten, als sie cincn Esten frugen, wie er mit dein Zunamen hieße und dieser on inoi8ta --^ ich weiß nicht, antwortete, diesen M)i8w einschrieben. Diesem Umstände, daß die Esten sich um ihre Zunamen sehr wenig kümmerten, ist es auch zuzuschreiben, daß alle, die keine Banern sind, deutsche Namen haben.--------- Da ich mit dem Bürgermeister der Stadt Dorpat, Herrn Kupffcr, bei dem Feste bekannt wurde, so ergriff ich die Gelegenheit ihn zu besuchen um so lieber, als ich von ihn: Aufklärung über die städtischen Grundbaueru zu erhalten hoffte; denn die Städte Riga, Dorftat, Rcval u. s. w. waren stets große Grundbesitzer und sind cs noch heute. Herr Kuftsser empfing mich mit großer Zuvorkommenheit und das Gespräch, an welchem sich anch seine junge — leider wie ich sah, auf Krücken gehende — Gemahlin lebhaft bcthciligte, richtete sich bald auf das, was ich wünschte. ") Das Wort wnil« bezeichnet soviel wie höre; wie wir daö Wori- hören Sic! so oft auf der Ttiaße und in der Redo vernehmen, so of: lann man unter den Esten das Wort kuul« hören. Das Wort Kunl^ ist also riuc Anrede; und daher kommt es, dasi die Deutschen" den EOm spottweisc Icnnie nennen. Die Ancldotc cr^hlt se^ar, daß man cincn Anöländcr damit anführte, daß man ibm sagte, jedev Este habe mir cincn Namen, nämlich kunlo. Wen immer er hiermit anspräche, der würde stehen bleiben, nnd ihn anschauen. Der Fremde tbat anch so und überzeugte sich also in der That, daß alle Esten knu!^ beißen. — Aehnlich ruft man den Letten klau« an, denn im Lettischen bezeichnet KIcmz soviel wie hure. ^- 95 — Vor 5819 war Niemandem erlaubt gewesen, Bauerngüter zu besitzen, als nur den Esten und betten — so unterrichtete mich Herr Kupffcr. Wenn also auch ein deutscher Städter aus dcu Bauern-besitzuugeu, die stellenweise sehr bedeutend waren, mehr hätte „herausschlagen" können, so war es doch gesetzlich verboten, solche in Pacht zu nehmen. Das Gesetz von 1819 hob diese Beschränkung auf; gleichzeitig regelte es einigermaßen die Gehorchstagc (bäuerliche Leistungen), dic man anfangs theils m Geld, theils in Arbeit leisten tonnte. Später traten die Pachtverträge ein, welche die Leistungen in Geld festsetzten. Die Stadt Dorpat schließt gegenwärtig die Pachtverträge mit ihren früheren leibeigenen Grundbaucru auf 6—8 Iahrc (wir wissen schon, daß die Stadt ihre Bauerngüter nicht verkaufen darf). Uebrigens ist sie nahe daran, die sogenannten „Schnurländcrc ien" ganz aufzuheben und sie iu abgesonderte Grundstücke zu zerlegen; sie sollen „strcugclegt werden", demgemäß jeder Gruudbauer seinen ganzen Grund und Boden abgesondert in einem Stück crhaltcu soll. Herr Kuftffcr und seine Frau versicherten, daß die Landwirthschaft sich von Jahr zu Jahr hebe, in Folge dessen auch der Pachtzins iu stetem Wachsen begriffen sei. Auf die Frage: wie viel beiläufig der Pachtzins gegenwärtig betrage, erhielt ich zur Antwort, daß er ie nach der Qualität des Bodens sehr verschieden sei; im Allgemeinen zahle mau in Dorpat für cinc ^oofstcllc, auf welcher man etwas mehr als ciuen deutschen Scheffel*) aussäet, 5—tt Rubel jährlich. Im Hcrzogthum Kurland, wo Herr Kupffer lange als Beamter fungirte, zahlt der Bauer auf den Domaincn 4 Rubel für die Loofstellc, die Privateigentümer bekommen dagegen 6^-8 Rubel. Der Unterschied rührt daher, daß die Pächter der Domamal-Mcr auch Lieferungen für die Armee übernehmen müssen, über ihre Zeit also nicht ganz frei verfügen. Gegenwärtig ist der Grundbesitz ganz frei; der frühere Leibeigene kann nicht nur bäuerliche, sondern adelige uud städtische Güter ankaufen; ebenso kann auch der städtische Bürger alle Arten Güter kaufen uud besitzen. Herr Kuvffer begann dann von den Dorfgemeinden zu sprechen. Die politische Gemeinde ist nicht gleichbedeutend mit der kirchlichen, da bic letztere auch mehrere politische Gemeinden in sich fassen lauu.*") ") Siehe S. «5. '*) Der Begriff der Kirchengemeinde war auch früher nicht identisch mit dem ^ politischen, als noch sozusagen nur evangelische Kirchengemeinden eMnten. Durch die massenhaften Ucbertritte, von welchen im folgenden Kapitel die Rede lein wird, entstanden auch orthodoxe oder griechische Kirchengemeinden, nnd der — 96 — Die Organisation der politischen Gemeinden wurde durch ein neueres Gesetz vom 19. Februar 1866 durchgeführt. Ihre Grundlage und Grenzen bilden dic Güter, deren Verwalter vormals die grundhcrrliche Obrigkeit innehatten und auch jetzt noch einige polizeiliche Rechte und Pflichten besitzen Dutspolizei). Der Vorstand der Gemeinde ldic Richter und Acltcsten)., wird von der Gemeindeversammlung gewählt; derselbe verfügt vollkommen frei in allen Gemciudcangelcgenheitcn und verwaltet das Gemcindcvcrmögcn. Der Gutsvcrwaltnng verbleiben jedoch noch einige Supcriuspectionsrcchtc bezüglich der Gcmcindcbcschlüssc, insofcru diese das Interesse der Krone betreffen oder anderweitig schädlich sein tonnten; in diesem Falle erstattet die Gutsvcrwaltung hicvon Bericht. Auch die Deserteure und Vagabunden zieht der Gcmeindevorstand ein, übergiebt sie aber der Gutsvcrwaltnng zum wcitcrn Verfahren. — Samariu mißbilligt in seinem mehrmals erwähnten Buche die Gcmeindc-ordnung der baltischen Provinzen, weil sie die Bauern von dem Einfluß der früheren Grundherrcn nicht vollkommen befreit. Herr Kupffcr urtheilt anders; er sähe wohl gcruc, daß der Einfluß der uatürlichcn Aristokratie, des Grundherrn, des Geistlichen, des Arztes u. s. w. genau geregelt werde, doch wünscht er ihn weniger beschränkt, denn, sagt er, es ist zu befürchten, daß die Gemeinden ihr Vermögen zersplittern welches vorzüglich durch die sorgfältige Verwaltung der Gcmeindcmagazinc und kleinen Kapitalien erhalten und vermehrt wird. Mir aber fiel auch hier ein, daß überall und immer der Geist des Umsturzes die vollständige Emancipation predigt, darunter aber nicht das ungestörte Zusammenwirken der socialen Klassen, sondern nur deren Gegenüberstellung versteht und bezweckt. Ich bin also eher der Meinung Hllpffers als Samarins, der die nunmehrigen poluischcn Zustände auch in die baltischen Provinzen verpflanzen möchte. Es ist eine sehr falsche und sich selbst vernichtende Politik, die die natürliche Aristokratie zu Grunde richten muß, mn zu siegen! Die Zahl der in den Städten vertheilt lebenden Esten gab Kupffcr als nach der letzten Volkszählung gegen W00 betragend au; sie mag jedoch in Wirklichkeit größer sciu; denn jeder Este, der halbwegs deutsch konnte, hatte sich als Deutscher einschreiben lassen, was übrigens keineswegs befremden darf. Wir haben bei uns Achnlichcs erfahren, wo sich Lrutc als Ungarn einschreiben ließen, die lein Wort ungarisch wußten. Eine andere Erscheinung aber ist nur aus einem eingewurzelten Vor- Vrgnfs dcr Knchrngcmcinde unterscheide: sich min vollständig von dcm der localcn odcr yolitischcu. __ <)? __ urtheil zu erklären, «ämlich dic, daß cs noch Leute giebt, nicht nur ländliche Grundbesitzer, sondern auch Städter, die mit dem Esten blos deshalb nicht deutsch reden, sondern nur estnisch, um damit zu Zeigen, daß cr ein anderer Mensch ist, als sie. /Die gesammte deutsche Bevölkerung hat keinen innigern Wunsch, als daß der Este sich so rasch als möglich gcrmanisire; aber das eingewurzelte Vorurtheil überwältigt den kliigern und wciterblickendcn Egoismus. Obwohl der größte Theil der Bewohner Dorpats Esten sind, so haben diese letzteren doch keine Elementarschule. Als ob man cs für ganz selbstverständlich ansähe, daß das städtische Estenkind nur deutsch lerne. Auch Herr Kupffcr fand die estnischc Elementarschule für überflüssig. Nun dürfte ich mich uicht mehr darüber wuuderu, daß der Herr Pastor in Riga nicinc Frage, ob in Rign eine estnischc Elementarschule sei, nicht begreifen tonnte. Ucbrigcns zeigt die Erfahrung, daß die städtischen Esten, wcuu sie auch deutsch tonnen, doch immer Esten bleiben, und ich nahm gesprächsweise wahr, als od doch mehr und mehr die Ueberzeugung Wurzel fasse, daß die estnischc Elementarschule das Lernen des Deutschen nicht benachthciligen würde. Wenn dies aber auch geschehen sollte, dem Landes-mteressc würde cs unbedingt Vortheil bringcu, und au dieses Interesse lst hier das Deutschthum geknüpft. Schon scheint cs manchen Leuten, als ob auch in der Stadt für eine estnische Schule Platz wäre. — — Die cstnischc Kirche ist ein schönes, großes Gebäude, das auch die Esten vom Lande benutzen; cs sollen darin 5000 Menschen Platz haben. Trotzdem ist sie schon zu klein und man denkt an den Bau einer zweiteu, wozu auch bereits Geld gesammelt wird. Auch die Stadtgcmeindc unter-stützt die Sache eifrig. Denn so groß auch der sociale und rechtliche Unterschied zwischen Deutschen und Esten immcr war> in Hinficht der Religion waren sie von je her eins. In neuerer Zeit entstand nun aber in dieser Beziehung ein Riß, von dem wir im Folgenden eingehen-ber sprechen wollen, da er für Gegenwart wie für Znkunft viel Lehr-niches enthält. H»usn1vy, 7 V. Religion. (Der religiöse Eifer de« Voltes. Der Nystädter Friedensschluß begründet die Parität der religiösen Bekenntnisse in den baltischen Provinzen. Im rnssischcn Reich ist die orthodoxe Kirche die herrschende, die übrigen sind nnr tolerirt. Peter der Große macht sich zmn Oberhaupt dcr orthodoxen Kirche. In den baltischen Provinzen verschwindet die Parität der Bekenntnisse. Die russische Geistlichkeit kommt in's Land. Die Bekehrungen von 1845—1846. Die Bekehrten sehnen sich zurück. Die Rundreise nnd der Bericht des Grafen Nobrinsti. Die Rundreise des Erz-bischofs Platon. Einige Concessionen. Walter, D'öbncr, Platon werden ihres Amtes entsetzt.) Hupel schrieb im I. 1775: „Unter zwanzig Esten weiß kaum Einer, daß er cm Christ ist" (f. S. 39). Seitdem ist auch in dieser Beziehung eine große Veränderung eingetreten. Ob das im I. 1867 veröffentlichte „Chronologische Berzeichniß aller in dcr Bibliothek der gelehrten estnischen Gesellschaft sich befindenden estnischen Druckschriften (zusammengestellt von And. Ioh. Schwabe. Dorpat, Druck vou I. I. Karow, Universitätsbuchhändler, 1867) für die neuere Zeit vollständig ist, ist mir nicht bekannt; aber es zeigt jedenfalls deutlich, was für Bücher in estnischer Sprache zumeist veröffentlicht werden. Aus diesem Vcrzeichmß ersehe ich, daß das in dem dörptischen Dialekte im I. 1816 erschienene Gesang- und Gebetbuch später noch 5 Auflagen, 1848, 1853, 1856, 1859 und 1865, erlebt hat; das Buch hat beiläufig 750 Seiten.^ *) Ich habe die Ausgabe von 1859 ;ur Hand. Der Titel lautet: 'I'in'to M3H kseie kü,8it'3,Hmut. Der Inhalt ist folgender: l. Die gewöhnlichen Evangelien und Episteln; Leben, Leiden, Tod nnd Auferstelnmg Jesu Christi; die Anö-gießung des heiligen Geistes auf die Apostel: Zerstörung Jerusalem^ (134 S.). II. Gesangbuch, enthallend 444 Gesänge (422 S.). III. Gebetbuch (101 S). IV. Kleiner lutherischer Katechismus (24 S.). — 99 — Ein anderes Gesang- und Gebetbuch in demselben dörptischen Dialekt, das sogenannte neue, erschien zweimal, im I. 1842 und 1864, und ist 470 Seiten stark. ^) Das neue Testament aber erschien in diesem Dialekte zuerst in Mitau 1>36, später in Dorpat 1839 und 1857. Zum Verständniß der angeführten Daten muß man aber wissen, daß das ganze Estenvolt aus nur 6 — 700000 Seelen besteht und der bei weitem kleinere, vielleicht nur der sechste Theil, in beiläufig 17 Kirchengemeinden, den dörptischcn Dialekt spricht. Die erwähnten zwei Gesangbücher und das neue Tcstamcut (außerdem aber noch andere Andachts-büchcr) wurden demnach für kaum 125000 Seelen herausgegeben; uud iwch crschieu seit 1840 das eine Gesangbuch in der fünften, das andere in der zweiten Auflage. Man halte gegen diese 125000 Esten die das gesnmnttc Estenoolk übertreffende Scelcnzahl der rcformirtcn Superintcn-dcntur jenseits der Theiß uud sehe dann, wo vcrhältnißmäßig mehr Andachtsbüchcr herausgegeben werden? Der größte Theil der Esten spricht den Rcoalcr Dialekt. Auch das in diesem Dialekt herausgegebene Gesang- und Gebetbuch, beiläufig 750 Seiten start*»), erschien 1830, 1832, 1834, 1835, 1840 u. s. w., also noch häufiger, als das Dorpater, was auch ganz natürlich ist. Auch in diesem Dialekt giebt es ein zweites, sogenanntes neues Gesang-buch oou 518 Sciteu, sowie andere Andachtsbüchcr in größerer Anzahl, s- B. das ^mnaUi,töowuni«w86ä (die Zeugnisse der göttlichen Wahrheiten), das 3 dicke Bünde (652, 866, 836 S.) hat und von 1854—186^ erschien. Die Seitenzahl der genannten Bücher habe ich darum angegeben, damit der Leser daraus ersehe, daß die Herausgabe der letzteren "icht ohne bedeutende Kosten bewerkstelligt werden tonnte, und daß eben dcshalb auch, um diese leichter decken zu tiwucn, die Auflagen sehr groß 5cin mußten. Der religiöse Eifer des cstnischcu Voltes ist also nicht allein daraus ersichtlich, daß es fleißig die Kirche besucht und die Predigte« mit An-dacht anhört, sondern auch aus der Natur der erschicucncn Bücher und bcr Art, wie es seine Lernbcgicrdc befriedigt, was bei ihm oft mit schweren Opfern verbunden ist. In Dorpat siud von 21035 Seelen 1800 russischen oder griechisch- °") Der Titcl lautet: Vaswo 1'artt> maa kools laulu-raamat -^ yicucs Dorpater Gesangbuch. ^) Dcr Titcl lautet: Nezti inäa ralivk kcm übrigen Reiche. Denn trotz dcr relativen Gleichheit, dcr gemäß jenseits des Pcipus dcr größte Theil dcr Bewohner dcr griechisch-orthodoxen, diesseits desselben dagegen, in den baltischen Provinzen, der größte Theil dcr evangelischen Kirche angehörte, blieb doch ciuc große Nechtsvcrschicdenheit Zwischen den beiden Gebieten bestehen. Diesseits des Pcipus, in den baltischen Provinzen, herrschte gemäß jcncr llarcn Bestimmung des Ny-städter Friedensschlusses, religiöse Gleichberechtigung zwischen beiden Kirchen; jenseits aber, im größten Theile des russischen Reiches, war die griechisch-orthodoxe Kirche die herrschende, die übrigen christlichen Kirchen blos gcdnldct. Nach dcm Swod Sakonow ls- S. 64) Vd. XI, XIV, XV, sind alle iu gemischten Ehen geborene Kinder in dem orthodoxen Glauben zu erziehen: ans der griechisch-orthodoxen Kirche auszutretcn ist lücht crlanbt, ja es ist unter strcugcr Strafe (Verlust der Standesrechte, Deportation nach Sibirien, körperliche Züchtigung) verboten, Jemanden Zu überreden, aus dcr Kirche auszntrctcu, oder zu verhindern, daß er iu dieselbe eintrete; cin evangelischer Geistlicher soll bei Strafe des Amts-Verlustes keinen Orthodoxe!, in seine Kirche anfnehmcn oder zum heiliget; Abendmahl zulassen; er darf keine gemischte Ehe einsegnen; weder in der Predigt noch in Schriften darf er zum Anstritt aas dcr orthodoxen Archc aufmuntern. Endlich darf man im russischen Reiche ans andern christlichen Kirchen nnr zur orthodoxen Kirche übertreten.») — Wir sehen also, daß das russische Ncich in Betreff dcr frcicn Rcligionsübung hcutc uoch auf demselben Standpunkt steht, wie das westliche Enropa Zur Zeit dcs französischen Königs Ludwigs XIV. nnd des römischen Kaisers nnd ungarischen Königs Leopolds I.; wir schcn hieraus ferner, baß die Gesetze dcs russische« Reiches ebenso schr mit dcm Geiste europäischer Civilisation im Widerspruch stehen, wie die Ansprüche der römischen Päpste. Unter Peter dem Großen war der Gegensatz Zwischen den baltischen Bändern nud dem übrigen Rnßland in religiöser Beziehung kaum fühlbar. Denn Pcter ließ seine neue Stadt Petersburg und seine Schiffe *) Geschichtsbilde auo der lutherischen Küche Alands vom Jahre 1945 cm. Von Dr. G. C. Adalf u. Harleß. Zweite Auflage. Leipzig 1869. S. 31 u. f. ,__ 1^2 __ durch fremde, meist aus protestantischen Ländern herbeigerufene Handwerker erbauen, denen er freie Ausübung ihrer Religion gestattete, ja, nach der Tradition, ging er selbst manchmal in die Kirche der Holländer und sang mit ihnen. Ucbcrdies löste Peter nach dem im I. I72O erfolgten Tode des russischen Patriarchen Hilarion im I. 1721 das russische Patriarchat auf und machte sich selbst zum Oberhaupt der orthodoxen Kirche, deren Angelegenheiten er dem von ihm ernannten heil. Synod unterstellte. Der russische Czar, seitdem kirchliche Vollgemalt übcnd, kann ferner von geistlichen Uebcrgrisscn nicht mehr beunruhigt werden und wenn er will, so vermag er die nichtgricchischcn Christen vor der nnmc-risch übermächtigen orthodoxen Kirche vollkommen zu schützen. Dieser Schutz aber kann natürlich nur so lange währen, als die Vollgewalt der Ezarcn von einer dem europäischen Geiste huldigenden Regierung gehandhabt und einer öffentlichen Meinung kein Einfluß gestattet wird, die noch nicht gelernt hat, die Rechte Anderer zu achten. Der Nystädtcr Friede öffnete die baltischen Provinzen der russischen Kirche; in diesen sollte vertragsmäßig Gleichberechtigung herrschen zwischen der russisch-orthodoxen und der evangelischen Kirche. Und so war es denn anch bis 1747. Bis dahin tanftcn evangelische Geistliche ganz frei die Kinder griechischer Eltern, die darum ansuchten; jeder, der hiczu Lust hatte, konnte unbehindert aus der orthodoxen Kirche in die evangelische übertreten, und umgekehrt. Aber im I. 1747 begann das evangelisch-lutherische Consistorium Estlands Skrupel darüber zu haben, was mit den Kindern zur griechischen Kirche gehöriger Eltern zu geschehen habe, und sandte dies bezüglich eine Vorstellung au das ReichsjustiZministcrium, welches hinwiederum eine Anfrage an den dirigircndcn Synod richtete. Der heilige Synod antwortete, mit Berufung auf kaiserliche Ukasc, daß ein evangelischer Geistlicher lein Kind griechisch-orthodoxer Eltern taufen dürfe und daß solche Fälle ihm? dem heil. Synod, unterbreitet werden müßten. Das Justizministerium acccptirtc den Beschluß des Synods und verbot mit seinen Verordnungen vom 14. Aug. 1747 und später vom 12. Sept. 1755 den evangelischen Geistlichen die Taufe von Kindern griechischer Eltern. Das Consistorium fügte sich der Verordnung nnd schlug dadurch eine große Bresche in die dnrch den Nystädter Frieden stipulate Parität beider Bekenntnisse. — Dasselbe weise Consistorium wußte im I. 1793 nicht, wie es mit den Kindern gemischter Ehen, solcher, in welchen der eine Theil griechisch, der andere evangelisch, zu halten sei.. Es richtete daher am 20. Juni dies bezüglich eiuc Aufrage an die damalige Statthaltcrschafts-Regierung, die mit Freuden die Gelegenheit — W3 - ergriff, mn dcm Consistorium ain 20. Mai 1794 zur Danachachtung kundzugeben, daß gemäß Verordnung des heil. Synods vom 21. Aug. 1721 alle Kinder aus gemischten Ehen in dcm orthodoxen Glanbcn zu taufen und zu erziehen seien. Sb ward dic zweite Bresche in die Gleichberechtigung der Bekenntnisse geschlagen. Endlich wurde uuter dem Czaren Nicolaus für dic protestantische Kirche des rnssischcn Reichs cinc kirchliche Gesetzsammlung ftromulgirt, in welche die die Privilegien der orthodoxen Kirche sichernden Bestimmungen aufgenommen wurden. Diese Bestimmungen wnrdcn 1832 auch in den baltischen Provinzen eingeführt, in welchen mm hierdurch die evangelische Kirche znr geduldeten, dic orthodoxe Kirche aber zur herrschenden ward, ganz entgegen dcm Nystädtcr Friedensschluß und den bcschworcncn Rechten dcr Provinzen.*) Wegen der geringen Zahl dcr Anhänger dcr rnssischcn Kirche in letzteren wurde dies aber nicht so bald wahrnehmbar; dcun im I. 1832 war noch gar kein russischer Bischof iu dcn baltischen Provinzen, und die dortigen Russen unterstanden dem Bischof von Plcskan. (Die wenigen Katholiken stehen noch hcutc unter dcr Lcituug dcs katholischen Erzbischofs zu Mohilcv.) Schou früher nun, um dic Mitte des 18. Jahrhunderts, hatten dic Herrnhutcr in Livland Eingang gefunden. Dic kirchlichen Behörden sahen dies wohl Anfangs nnr ungcru; aber dic Hcrruhutcr suchten und fanden Tchutz in Petersburg, und dcr Ezar Alexander I. stclltc sie durch ein Dekret vou 1817 unter besondere Fürsorge. Als abcr dcr General-Gouverneur Marqnis Paulucci einst Nachfrage halten licß, wic vicl Hcrruhuter in dcn Hcrzogthümcrn Est- und Livland sich dcun eigentlich aufhielten, erschräke« deren Protektoren in Petersburg nud die 12 Bandes-diatoncn, da sic fürchteten, die große Zahl könnte leicht Anstoß erregen, und so behaupteten sic, daß nnr dic von Deutschland cingcwandcrtcn Vrüdcr Zu dcu Brüdcrgcmcindcn, die Inlander, wic Esten und Letten, die dcn Andachtsübungcn der Brüder bciwohntcu, dagcgcn dcr lutherischen Kirche angchörtcu. Vicle dcr letzteren abcr hattcn sich dcn Brüdergemeinden angeschlossen, da sie einmal hier mehr geistliche Erbauung als in dcm starren ssormcnwcscn dcs damaligen orthodoxen ^uthcrthums fanden; dann kamen aber noch andcrc in damaliger Zcit waltende Verhältnisse hinzn, indem dic zur hcrrschcndcn dcntschcn Elassc gchörcndcn lutherischen (Geistlichen sich mehr als Herren, denn als Scclsorgcr der cstnischcn und lettischen Gläu-bigcu bcwicscu; ja cinc ganzc ^tcihc von Strafen wnrdcn vor dcn Kirchen Angesichts dcr Gemeinde ausgeführt uud von dcr Kirchcnkanzcl dic Gcschc ") Tic cvailgclische Knchc dtt balnschm Provinzen untersteht dcm Peters l'urgor Oencral-Consistorinul, der Oberadnünistmtiouo-Behörde der cv.insseUschen Kirche im Reiche. — 104 — und Befehle verkündet. — Die liuländische Synode vom 1.1854, überzeugt von dcr gefährlichen Wirksamkeit der Hcrrnhutcr, erlangte mm durch das evangelische Oberconsistorium eine ministerielle Verordnung, am 14. April 1834, dahin lautend, daß die Herrnhutcr-Versammlungen fortan nntcr Oberaufsicht dcr evangelischen Geistlichkeit stehen sollten. Die Herrnhnter sahen von da ad in den Geistlichen immer ihre Feinde. Hieraus entstanden viele Unliebsanüeiten; in die evangelische Kirche aber schlich sich ein zerstörendes Element ein. Und als ob sich nun auch die Aufmerksamkeit dcr orthodoxen Kirche auf Vivland richten sollte'. Der Ukas des dirigirendcn Synods ordnete, anf höhere Veranlassung, am 29. Juni 183N die „versuchsweise" Errichtung eines Vicariats der Plcstamr Eparchie in Riga an. Der Pleskaner russische Bischof wurde darauf beauftragt, dem neuen Vicar ill Riga einen geeigneten Aufenthalt zu verschaffen, wozu der livländischc Eivilgouvernenr Charlottenthal empfahl. Es hieß ausdrücklich, daß das Vicariat nicht gegen die lutherische Kircho, sondern gegen den Rigaer Raskol^i errichtet werde; das sei die Absicht des CZarcn. Im November 183<> zog der neue russische Bischof Irinarch in Riga ein. Nach seiner Versetzung im I. 1841 als Bischof nach Podolien wurde der tschernigowcr Erzbischof Philaret sein Nachfolger, und Zwar im I. 1843. Diesem folgte im I. 184!» Platon, nnter dein im I. 1850 auch Kurland, das bis dahin zur poloczlischen Eparchic gehurt hatte, mit dem rigacr Vieariat vereinigt, und dieses dann zu einem selbständigen Bisthnm erhoben wnrdc. Im I. IWC» wllrdc Platon Erzbischof und ihm auch das Bisthnm Estland untergeordnet; die drei baltischen Länder bildeten also jetzt eine neue russische Eparchie. Als Platon im I. 1867 nach Nowo-Tschcrtnst versetzt wurde, ward der frühcrc rcvalcr Bischof und rigacr Viear Benjamin sein Nachfolger. War auf diese Weise die russische Hierarchie in den baltischen Ländern eingeführt, so begann man nun auch bald für Priester zu sorge:?, Mail errichtete zu diesem Behufe in Pleskau im I. 1842 ein Seminar, lockte durch verschiedene Vclohnnngcn cstnische und lettische Schüler in dasselbe und versprach denen, die znr russischen Kirche übertreten wm-den, auch kirchliche Ehrcnstellen und Anszcichnungen. Im I. 1850 errichtete man ein solches Seminar in Riga; die Vchrcr desselben sind gegenwärtig nach dcr ncnesten, im Herbst 180!) erlassenen Verordnung die Censoren dcr gcsammtcn cstnischcn und lettischen Literatur. ^ Na^lol ist die Bezeichnung fur die von dcr orthodoxen Kirche ablriln-nigen griechischen Christen, Dm Raslol verfolgt die orthodoxe Kirche; in Ri^a hatte er ^ber längst Schutz gesncht und gefunden. — Wb — Endlich führten die Ereignisse, welche man gut zu benutzen wußte, i>cr neuen Kirche auch Anhängn' zu. Im I. 1841 entstand nnter den lettischen Bauern die bekannte Bewegung, in Folge deren sic säiaaren-lveisc nach Niga zogen, um sich dort uon den rnssischen Geistlichen an-schreiben zu lassen; denn es uerlautele, daß die Eonseribirtcn irgendwo w Süd. Nußland Vand bekommen sollten. Vom Ucbertreten znr ortho-^ofen Kirche war Anfangs nicht die Rede und die Bauern bereiteten sich vor. ihre evangelischen Geistlichen mitzunehmen, wenn sie das versprochene Land znertheilt erhalten sollten. Die Behörden suchten unter Strafe den Andrang nach Riga zu verhindern; die Banern stahlen sich Uun nächtlicherweile in die Stadt. Bald aber machten die russischen Geistlichen die Erfüllung ihrer Wünsche von der Bedingung abhängig, baß sie Zum Glauben des Ezarcu überträten. Da die Fäden der Bewegung nnd der Verlockung in der Hand des Bischofs Irinarch lagen, so entfernte ihn die Regierung, die damals solches noch nicht billigte, aus Niga. Die Bewegung legte sich, aber in den Köpfen der Bauern setzte sich der Argwohn fest, daß die Grundherrcn Schuld daran trügen, wenn ihre Hoffnungen nicht Zur Wahrheit geworden seien. Im I. 1842 theilte der Vizepräsident des Petersburger Ober- oder Gencralconsisturimns, Paussler, dcm liulündischeu Consistorium in Niga vertraulich mit, wß viele Klagen gegm die evangelische Geistlichkeit zu den Ohren Seiner Majestät gelangt seien. Die matericllc Lagc dcr Geistlichen wäre übermäßig gut und sie kümmerten sich weniger um die Seclsorgc ihrer Gemeindcglieder, als nm ihre eigene Unterhaltung; einige unter ihnen snhrten cm anstößiges ^ebcn; die Kn'chengemewdcu seim schi- groß u. s. w., das alles mußte anders werden, sonst würde '"an russische Geistliche in die Gemeinden schicken. — Auf die Frage, "b Pauffler dic Klagen gegen die Betreffenden auch amtlich eingeben ^'crdc, antwortete er.- nein, er wolle nur das Consistorium ermähnen. — Die Ermahnung wies darauf hin, daß Unglück über dic evangelische Kirche kommen werde. ^) In den Jahren 1844 nnd 1845 war in Livland cinc große Hungers-noth. Schon im Januar 1845 waren die ^ebensmittel der Bauern zur ^'eige gegangen; der Preis eines Loofcs (nahezu cm Wiener Mctzen) "vrn war auf 6 Silbcrrubel gestiegen, ein unerhörter Preis in Livland. ^lid jetzt verbreitete sich neuerdings das Gerücht unter den Bauern, daß ledcr, der nach Dorftat ginge, nm sich anschreiben zu lassen, „Sceleu- ") Ich bade diese Daten a,lle aus d«: ,,Geschich:sdlldertt" voü Harlcß g!> u«"nnen. S. dic Anm. T. W^. — )06 — land" snoi^o m Eine beachtenöwerthe Schlauheit. Was Golowm dilrch die Emissäre hlittt '"ndmachcu lasst» sollen, vcrlcmgt cr von "en Gutobeschcrn. — W8 — Gute entfernt ist, ein Beglaubigungsschreiben vom Grundherrn beibringe; 2) daß jeder an die ihm nächstgelegcnc orthodoxe Kirche sich wende, nämlich die nahe bei Riga wohnenden Bauern an die Rigaer, die in der Nachbarschaft von Lemsal, Pcrnau und Wenden befindlichen an die orthodoxen Geistlichen dieser Städte, so die Dorpater, Werroer und Raftpiner Bauern an einen Popen dieser Kirchen, und endlich die in der Nähe der Maricnburgcr mobilen Kirche wohnenden nach Maricnbnrg. Zngleich werden die Gutsverwaltuugcn verpflichtet, nie mehr als cinem Zehntel der Arbeitsscelen auf einmal Urlaub zu geben; 3) der ganzen Strenge des Strafgesetzes verfällt jedoch der, welcher den Urlaub verweigert; in diesem Falle würde es außerdem den Bauern nicht verwehrt sein, sich eigenmächtig vom Gute zu eutfernen; 4) der Urlaub zur Anschreibung bei der orthodoxen Kirche darf auch dem nicht verweigert werden, der wegen eines Kriminalvcrbrcchcns nnter Anklage steht, oder im Gefängniß gehalten wird, er muß iu diesem Falle vielmehr unter Bewachung zum orthodoxen Geistlichen geleitet werden." Am 10. October publicirt endlich die Regierung, daß der Ezar den Ucbertritt der Bauern nicht befehle, daß er im Gegentheil mit der Deportation nach Sibirien alle bedrohe, die ein derartiges Gerücht verbreiteten. Die Bewegung und Unordnnng währte ungeachtet dessen fort. Darum verlangte die Regierung in der am ^9. Nov. 1845 erlassenen Verordnung Aufklärung darüber, ob die Unruhen nicht etwa dadurch entständen, daß die Gruudhcrrcn die Ucbertrctendcu unterdrückten? — Bezeichnend ist anch, daß man jedes Rescript schon einige Wochen vor dessen Kundgebung durch russische Emissäre in den Wirthshäusern und Dörfern verbreiten ließ, wodnrch das Volk unr noch mehr in dem Glauben bestärkt wurde, daß, was in den Verordnuugcn mißfällig war, dem Einfluß der Grundherrcn zuznschrciben sei, besonders aber, daß den Uebcrtretenden keinerlei Belohnung zu Theil werden würde. Czar Nikolaus, der die Prosclylcumacherei gerade nicht befahl, miß-billigse sie andererseits anch nicht. Denn als er im März 1846 eine Dcpntation des Hcrzogthums Livland empfing, sagte er dem Präsidenten dcs Consistoriums, daß der Streit zwischen den evangelischen Geistlichen uud den Hcrrnhutcrn auch eine Ursache der Volksunruhcn sei, und fügte hinzu: „Ich freue mich, daß die Vcttcn zur griechischen Kirche übertreten; schreiben Sie es Ihren Geistlichen zu, unter denen viele Ausländer sind, die die Sprache dcs Volkes nicht verstehen. Im Allgemeinen raisonniren sie zu viel uud lehren zu wenig. Uebrigcns tritt das Volk auch wohl darum über, weil der griechische Glaube gut ist; für den großen Haufen gewiß der beste." — 109 — Die massenhaften Uebcrtritte kamen zumeist im Hcrzogthum Liv-land vor, in Estland weniger, in Kurland gar nicht. Im ganzen ging ein Achtel, nach Einigen ein Sechstel des Volkes, der Zahl nach 100000 -^150000, der evangelischen Kirche verloren. Bald jedoch Zeigte es sich, daß das Volk irregeleitet worden war. Als die materiellen Vortheile ausblieben und die Vethörten zu sich kamen, folgte alsbald die bitterste Rene. Eitle Wendung zum Bessern bezeichnet das I. 1848, dessen Ereignisse die Sorgen des Czarcn nach einer andern Richtung lenkten und die gewaltsamen Bekehrungen nicht rathsam erscheinen ließen. Anstatt Philarcts ward im I. 1849 der frühere Vicar von Kowno, der geschmeidigere Platon, Bischof von Riga. früher war, wer sich hatte anschreiben lassen, lant seinem Anschrcibc-scheinc zur Firmelung verpflichtet; die Behörden waren gehalten, einen solchen selbst mit Gewalt in die griechische Kirche zu führcu. Jetzt gestattete eine Verordnung des Gcncralgouverncurs vom 4. Mai 1848, daß jeder, der nach Verlauf von 6 Monaten vom Tage der Anschreibung an nicht übertreten wolle, den Anschrcibcschem vernichten könne. Aber die Uebergctretcuen trieb man anch nachher noch mit Geldstrafen (1 Rubel 50 Kopeken) oder 15—40 Rnthcnstrcichcn zu den griechischen Ceremonien, besonders zur Taufe ihrer Kinder. Die Strafen hatten die entgegengesetzte Wirkung; das Volk war bereit, alles zu erdulden, wenn es nur zur evangelischen Kirche zurückkehren dürfte. Dies gestattete aber das Rcichsgcsetz nicht, nach welchem kein evangelischer Geistlicher bei Gefahr der Amtscntsctznng einen Ortho-d°ken aufnehmeu darf. Endlich ermüdete man aber doch mit den Strafn; seit 1854 wurden sie kaum mehr angewendet. Als der Czar Nikolaus am 18. Februar 1855 starb, übernahm scin Sohn Alexander II. die Regierung, wie wir wissen mit den besten Absichten, wenngleich letztere durch den in der Folge im I. 1863 aus-brechenden unglückseligen polnischen Aufstand, welcher den Fanatismus bcs russischen Volts entfesselte, vielfach, vereitelt wurden. — Im Herzog/ thnm Vivland hatten die Convertitcn, hauptsächlich die Esten, nie auf-3c>, ja; doch jetzt gehe, Deine Mama ruft, hörst Du?— Nur so konnte ich sie jedesmal los werden. — Gott ist allmächtig, dachte ich bei mir und dich, mein Kind taun bis dahin noch Vieles treffen! ^ Hier, freundlicher Leser: das Buch, das ich Dir darreiche, hat jenes ätind geschrieben; es ist aber nicht mehr so klein, als es damals war. ^b Dir dieses sein erstes Buch gefallen wird, weiß ich nicht, aber das Kind hat nach Möglichkeit Wort gehalten. Sei so gütig, lieber Leser, und empfange mit Liebe diese erste Gabc; sie kommt von einem Volksgenossen. Gott gebe uns allen Gesundheit, was ja das Beste ist. Pcrnau. im Augnst 1863. Johann Iaunsen." Der eifrigste Beförderer des cstnischcn Festes also hat das mit-gtthciltc Vorwort geschrieben und seine Tochter, mit Namen Lydia, ist 5ic Verfasserin des Wassrrmüllcrs. — Man klopft an die Thüre, zwei juugc Männer treten ein: Swan, bcr Leiter einer Hclsingforser Privatschulc, nud Aspclin, Amauucnfis des finnischcu Ncichsarchivs. Sie warcu zum cstnischcn Fest aus Finnland herüber gekommen uud bei Ianuscn abgestiegen. Bald gingen wir alle drei zu letzterem. *) Unter diesem Titel hat der Verfasser mehrere IatM hindurch ein Untern Haltung- und BelehrungMatt veröffentlicht; 185? erschien der 6. Jahrgang. — 120 — Iannsen wohnt nahe bei der estnischen Kirche in einer Hauptstraße im eigenen ebenerdigen Hause. Auf dem Thürschilde ist zu le^en: N6»ti p08ti M668 (Estnischer Volksbote), der Titel der weitverbreitetsten estnischen Zeitung, die Iannsen rcdigirt und hcransgiebt. Als wir eintraten, empfing uns der eben nach Hause gekommene Hausherr und stellte mich seiner Familie, seiner Frau und seinen beiden Töchtern, vor; da die beiden jungen Finnen Hausgäste waren, so war nur ich unbekannt. Nach einem knrzen Gespräch entfernten sich Fran Iannsen und eine Tochter, die der Mutter sehr ähnlich sieht und ihr, wie es scheint, in den häuslichen Geschäften zur Hand geht, und das Gespräch leitete nun blos der Hausherr und die zurückgebliebene andere Tochter, die, wie aus allem ersichtlich war, eine gewisse geistige Suprematie im Hause ausübte. Es ist Lydia, die Verfasserin des OMmüläer, und beiläufig die erste estnische Schriftstellerin. Ihre Gedichte zeichnet fie NmuM l)<>M (die Nachtigall des Embachs); sie ist also die erste estnischc Nachtigall. Was ist denn so Außerordentliches dabei, höre ich manchen Leser ausrufen, wenn ein unter besserer Erziehung aufgewachsenes Mädchen, deren Vater Schriftsteller ist, ebenfalls Novellen und Verse schreibt. Auch ich sage: An sich liegt wahrhaftig nichts besonderes darin; in der englischen, französischen, deutschen Literatur, sogar schon bei uns in Ungarn verdiente das nur dann Erwähnung, wenn die Schriftstellerin wirklich Hervorragendes leistete. Anders bei den Esten. Hier läßt es jene Entwickelung ahnen, die erfordert wird, um ein Volk überhaupt zu den gebildeten zu zählen; es ist eine Frühlingsblüthc des städtischen Esten-thums, die unter den noch nicht lange verflossenen Znständcn unmöglich war. Wir verstehen allsoglcich die Bedeutung der Erscheinung, wenn wir Herrn Iannsen mit einigeln Stolz sagen hören- „Ich bin schon in der freien Zeit geboren!" — denn alle Esten waren ja bis 1819 leibeigen; und noch hcnte glaubt der städtische Altbürgcr, daß in der Stadt eine estnischc Elementarschule überflüssig seil Vielleicht, vermag ich der Empfindung, die mich in dem Hause Iannscns unwillkürlich überkam, nicht den richtigen Ausdruck zu geben. Ich wähnte mich, wenn ich mir noch eine Anzahl junger Leute gegenwärtig dachte, so zu sagen in dem Kreise des juugcu Estenthums, als dessen geistiger Führer, während meines Besuches, der Hausherr, als dessen besonders anziehendes Mitglied aber Fränlein Vydia erschien. Ihr reiches braunes Haar, das der moderne Kopfputz deutlich sehen läßt, beschattet eine hohe Stirn und ein hübsches, ja schönes Gesicht, auf welchem sich Gemüthstiefe und Gcdantcnreichthum ausprägen. Ihre Stimme klingt angenehm, deutsch spricht sie, wie im allgcmeincu die gebildeten — 121 — Bewohner der baltischen Provinzen, sehr schön; Rede und Bewegungen sind lebhaft, aber nicht heftig. Ihre Gestalt ist etwas über die mittlere Statur hinaus. Man fragte mich viel über Ungarn, und ich nahm wahr, daß sowohl Iannsen als seine Tochter die Individualität Franz Dcäks besonders intcressirte. Ich aber leitete das Gespräch stets wieder auf die Bestrebungen, Hoffnungen und Aussichten der Esten zurück. Iauusens Ueberzeugung ist, daß die Esten allem im Bunde mit den Deutschen leussiren konnten; er wünscht von den Deutschen nur eine Annäherung, bannt jene Kluft verschwinde, die heute noch zwischen diesen beiden Klassen des Landes besteht. Der Este soll sich auch in den Städten zur Geltung bringen können; es soll Rechtsgleichheit auch in der Gesellschaft bestehen; das Ucbrige überläßt er der Entwickelung der Dinge. Er ist tm Feind jeder Ucbercilung und selbst nachgiebig gegen jene Vorurthcile, deren Wurzeln in früher Zeit erstarkten und nicht plötzlich verdorren können, die aber mit Gewalt ausrotten zu wollen thöricht wäre; denn entweder würden sie noch mächtiger werden, oder sie würden auch anderes, gesundes Erdreich aufreißen. Sein Hauptaugenmerk geht dahin, das Volk zu bilden und es betriebsam zu machen. Wir sehen, Iannsen, vielleicht das Hauptwerkzeug der cstnischen Civilisation, ist ein billig denkender, gemäßigter Mann; seine Thätigkeit kann also segensreich sein, denn er baut und zerstört nicht. Ueber die estnische Zciwngsliteratur konutc mir Iannsen die sicherste Ausklärung geben, denn er ist das Centrum dcrselbm, beinahe ihr einiger Redacteur und Herausgeber. Da das deutsche Bürgerthum und d'e Gruudbcsitzer die estnischcn Journale beinahe gar nicht lesen: so bilden deren Leserkreis, mit Ausnahme einiger Geistlicher, nur die Schul-lehrcr, die städtischen Esten und das Volk auf dem Lande. Aber auch d'e städtischcu Esten find nicht zahlreich, selbst wenn wir die größere Hälfte der städtischen Bewohner dazn zählen, da die Zahl der Bewohner ün Ganzen nicht groß ist. Die cstnischeu Zeitungen halten uud lesen demnach zumeist die cstnischen Bauern. Im I. 186!) c^istirten fünf cstnische Zeitungen, und zwar in -Dorpat 4, in Pernau 1. Die in Dorpat erscheinenden redigirt Iannscn "llein, nämlich: , 1- Den cstnischcn Postboten (llo8ti pN'> M668), monatlich einmal, in 1000 Exemplaren. In Pernan erscheint wöchentlich einmal in 750 Exemplaren b. Der Pcrnaucr Postbote (I'orno z)08ti msech. Die diese Ionrnallitcratnr geringschätzen, mögen bedenken, daß das gcfammtc Estenthnm nur auf 000,000 Seelen zn schätzen ist; daß ferner jene Esten, die in den eigentlichen russischen Gonvcrncments, also außerhalb Estlands und Livlands, leben, wohl kanm zu den Abonnenten gehören; endlich erinnere man sich auch dessen, daß der größte Theil der Leser der cstnischcn Blätter nur cstnisch sprechende Bauern nnd Schulmeister in Est- und Liuland find. Iannsens luden mich zu Tische ein und ich nahm die Einladung dankend an. In der Veranda, die gegen den Garten zu Aegt, war der Tisch gedeckt, an dem wir unser Gespräch fortsetzten. Nachmittags verließ ich die interessante Gesellschaft. — Aber ich muß die cstnischc Schriftstellerin als solche, wenn auch nur kurz, mit dein Leser bekannt machen. Ich gebe daher im Folgenden den wesentlichen Inhalt des Wassermüllcrs, denn auch daraus kann man Nnf-fassnng nnd Art der Verfasserin beurtheilen; nnd dann finden wir darin ein kleines Bild des cstnischcn Lebens. „Wenn Glück und Zufriedenheit immer dort wohnen würden, wo volle Beutel und fette Aeckcr find, dann wäre gewiß der alte Andreas Trim, oder Wasscrmüllcr, wie ihn die Leute nach feiner Mühle nannten, dcr glücklichste Mensch in dem Dorf Mäniko gewesen. Schon seine 4!-, Loofstcllen ^) Land und Wiesen, seine Mühle, sein Hans und sein Mcicrhof machten ihn zum reichen Mann; daß aber feine cifcrnc Truhe unter dem Bette im Schlafzimmer nicht mit Ziegelsteinen gefüllt war, darauf möchte ich wetten; der Wasscrmüllcr hatte einen Schatz, das wnßte jedes Lind in Mäniko. „Aber es ist die sonderbare Gewohnheit des Glückes nnd der Zufriedenheit, daß sie, wie die Weisen sagen, lieber nnter einem Strohdach, als in einem großen steinernen Hause wohnen. „Der Wasfermüllcr ist bei allem seinem Vermögen, seinem Geld nnglücklich und unzufrieden. — Wärmn? Nun, einmal deshalb, weil er geizig ist nnd ein Anbeter des Mammon, der nie gcnng hat nnd ^) Tas Loof nennen die Esten vakka, wao schcinbar dnn ungarischen ^^ gleich; cs ist aber em gröncres Mas; (f. S. 105). — 123 — dein nichts nach Wunsch geht; zweitens deshalb, weil seine Kinder ihm große Trauer und Sorge verursachen, wie er zu erzählen Pflegt. „Was wahr ist, ist wahr; in Betreff seiner Tochter hat Andreas vollkommen recht. Das von Kindheit an verwöhnte Mädchen ging in die Stadt zur Schule und endlich — weil sie ein schönes glattes Gesicht, ihr Vater aber einen guten ruubeu Gcldsack hatte — wurde sie bic Frau eines leichtsinnigen städtischen Kaufmanns. Nun tonnten weder bcr Vater, noch die Tochter, den Kopf hoch genug tragen. Das Käth-chcn des Wasscrmüllers die Frau eines Kaufmanns, welche unendlich große Ehre! Dies dauerte auch so ein Jahr lang. Dann hieß es auf einmal, der Kaufmann Lindner sei gefallen! Wie denn so schnell? Das städtische Leben ist ja bekannt: Lindner hat großartig gelebt; auch die ilulgc Frau hat nicht gespart; und als Lindners Finger den Grund des Beutels spürten, dachte der achtuugswerthe Schwiegersohn: besser mit Etwas, als mit Nichts, entfloh zur rechten Zeit und segelte nach Amerika wo er zum zweiten Mal ein Betrüger werden kann. Gern oder ungern, der Vater war gezwungen, Käthchen zu sich zu nehmen und ihr das Gnadenbrot) zu geben. „Aber so leichtsinnig auch Käthchen war, dieser Schlag traf ihr Herz und verwundete es tief. Sie wurde schwach, krant, und als die Engeluno Schlüsselblumen sich wieder öffneten und die Knaben munter auf der Wiese lärmten, ruhte das Käthchcn des Wasscrmüllcrs mit ihrem Säug-lüig schon in der kühlen Erde auf dem Kirchhof. „Jakob, der einzige Sohn nnd Erbe des Müllers, ist ein tüchtiger ^ungc, so sagten die Dorflcnte; außerdem ist er der hübscheste Bursche ün Dorf, das sagten insbesondere die Dirnen, nud wer hätte das besser wissen können als sie? — Das alles wärc ganz gut; damit wäre auch ber Vater zufrieden; aber daß Jakob unter dem ganzen Mädchcnschwarm gerade die Anna des Schullchrcrs zur Gattin anscrtor, wo so viele «ndcrc nach ihm schmachteten, das verursachte dem Wasscrmüllcr so viel ^id, daß er manchmal nichts essen und nichts trinken kounw. Warum? Hm'. Anna ist wohl cm liebes, sittsames Mädchen, überdies schön wie cm Engel; aber sie besitzt einen Fehler, sie hat kein Geld! „Geld, viel Geld! war aber der nächtliche Kummer und die tägliche Sorge des Wasscrmüllcrs; Jakob kann ihm kein größeres Herzeleid verursachen, als wenn er ein armes Mädchen liebt. „Elisabeth, die Frau des Müllers, ist ein kluges, sanftes und frcuud- l'ches Wcseu, die uur mit großer Mühe bisher den Frieden zwischen .Vater und Sohn anfrccht zu erhalten vermochte. Sie sieht aber deutlich. baß dies nicht lange so bleiben taun, denn der Zorn Andreas' gegen — 124 — seinen Sohn wird von Tag zu Tag größer, und erst vor wenigen Tagen drohte er ihm, ihn aus dem Hause zu jagen, wenn er die arme Kirchenmaus nicht verlasse. Und Andreas ist der Mann, der sein Wort hält, denn es giebt 10 Werst in der Runde keinen rauhern und stolzcrn Menschen als den Wassermüllcr. „Das Herz der armen Frau brach beinahe von dem fortwährenden Lärm und Zank, der sich Abends mit dem Hausherrn niederlegte uud mit ihm des Morgens aufwachte. Seine Augenbrauen sind den ganzen Tag in Falten gelegt, er bricht in beleidigende Worte aus, er murrt und brummt fortwährend und lauert innen und außen. Uebcrdies verstaub Elisa> beth das Herzeleid des Sohnes sehr gut; denn auch sie hatte es als Mädchen erfahren. Nicht ihr Herz, sondern der Wille ihres seligen Vaters machte sie znr Frau des Wassermüllers; sie selbst hatte einen Andern gewählt. Mit schwerem Herzen gehorchte sie endlich ihrem Vater. Der rauhe Sinn des Müllers wußte ihr dafür uie Dauk; auch jetzt sieht er scheel auf seine Frau, ob sie Jakob nicht crmuutcre? Daß daher Elisabeth keine goldenen Tage hatte, kann sich wohl jeder denken. „Als die Eltern Anna's plötzlich gestorben waren, nahm Anton Sutlcft die Waise gegen Bezahlung Zur Erziehung an; aber es war ein trauriges Vrod, das sie aß! — Da ihre selige Mutter eine Freuudiu der Müllerin war, so wurden Jakob und Anna bald mit einander bekannt, und aus den spielenden Kindern wurde ein liebendes Paar. -^ „Jede Stadt und jedes Dorf, ja jede Familie hat einen Neuigkcits-krämcr, von dem man jedesmal Zuerst erfährt, was gut wäre, so spät als möglich zu erfahren. Kaum hatten sich Jakob und Anna ihre Liebe gestanden, so hinterbrachte es anch schon dem Müller der Schreiber Nothkopf, denn so hieß ihn das Volk, weil er rothes Haar hatte uud schreiben konnte, ohne den kein Kauf geschah, und der anch ungebeten sich in alles mischte. Auch Elisabeth wünschte Anna zur Schwiegertochter; dies reizte aber Andreas noch mehr, denn der Nothtopf hatte nicht unterlassen, ihn anch daran zu erinnern, daß der Vater des Mädchens einstmals Elisabeths Auscrkorner war. Die Verwickelung wurde dadurch vollkommen, daß Sutleps des Schreibers Rothkopf Schuloucr waren. Andreas wollte die drohende Gcfahi abwenden nnd ging im 1.1811 am ersten Advent-Sonntag, während alle anderen in der Kirche die Andacht verrichteten, im Dorf herum, um seiuem Sohn eine Vraut Zu suchen. Erst spät Abends kam er nach Hause nnd erklärte seiner mit Bc-sorgniß wartenden Gattin, daß binnen kurzem dic Verlobung Jakobs stattfinden werde. — „Um Gottes Willen! Andreas, willst Du Deinen Sohn ebenso ins Verderben stürzen, wie Deine Tochter, die Du nicht dem — 125 — Sohne unseres wackern Nachbarn gegeben hast." Andreas gibt getreu seinem Naturell weder auf den Rath seiner Gattin, noch auf die Weigerung seines Sohnes Acht. So vergeht die Zeit. Samstag vor Ostern schickt Andreas früh Morgens Jakob in die Stadt, Getreide Zu verkaufen. "Der könnte aber auch schon zurück sein. — Es wird ihm doch nichts Zugestoßen sein," sagt Andreas; „die jungen Pferde sind feurig." — "Jakob ist vorsichtig/' sagt die Mutter, „und die Stadt ist weit." Aber siehe, das Geräusch eines eilenden Wagens wird hörbar; die Pferde des Mittlers rasen ohne Kutscher in den Hof, wo man sie mit Mühe zum Stehen bringt; auf dem Vodcu des Wagens liegt Anna ohnmächtig. Nachdem das Mädchen zu sich gekommen war, erzählte sie, daß sie mit einem großeu Bündel nuf dem Rückcu von der Stadt heimwärts gegangen, als Jakob sie ciugeholt und eingeladen, sich auf den Wagen zu setzen. Während nun Jakob das Bündel auf den Wagen gehoben, seien die erschrockenen Pferde ausgcrisscn. — Darüber war nun Andreas noch Mchr aufgebracht, sowohl gegen Anna, obgleich weder an dem Wagen, uoch an den Pferden ein Schaden geschehen war, als auch gegen Jakob, der nicht lauge daranf hinter dem Wagen einher nach Hause gelaufen lam. Als Jakob das Zornentbrannte Gesicht seines Vaters sah. rief ^' hinein: „Mutter, schütze mich vor meinem Vater nnd vor mir selbst!" Aber bevor die arme Frau noch ein einziges Wort reden konnte, schrie 'hm der Vater entgegen: „Bleib stehen, ich schieße Dich nieder wie einen Hund/' und ergriff das geladene Gewehr. — „Fliehe mein Sohn!" rief die Mutter und stürzte sich besinnungslos vor das geladene Gewehr. Jakob flüchtete sich in das benachbarte Dorf zn einem Verwandten; cs geschah also wenigstens nichts, was nicht wieder gut Zu machen gelesen wäre. Aber Andreas wüthet und macht sich sogar mit dem Schreiber Nothkopf zusammen, den er sonst nicht lcideu konnte. Der schlaue Mann benutzt die blinde Leidenschaft zu seinem Vortheil. Wenn Andreas ihm 3M Nnbel Zahlt, so nimmt er selbst Anna zur Frau, "ud alles Uebel hat ein Ende. — „Wcnu Du sie haben könntest!" — "Dh, ich habe ein Mittel, sie dazu zu bewegen," antwortet der Schrci-^'- — Drcihnndcrt ist viel Geld. Endlich vereinigen sie sich auf 280. Anf einmal verbreitete sich das Gerücht, der Schreiber Rothkoftf freie Uln Anna. Auf die Nachricht lacht alles im Dorfe, Weiber und Madien, aber Anna lacht nicht. Der Schreiber verlangt sein Geld zurück; wenn Sutlefts nicht zahlen, so jagt er sie aus dem Hause oder sie wissm ihm Anna zur Frau verschaffen! „Uns willst Du unglücklich Zachen, die wir Dich aufcrzogcu habeu; erbarme Dich unser, Du, bist l" ein gutes Mädchen. Anf Jakob wartest Du vcrgebcus, der Müller — 126 — wird cs nie zugeben, daß Du seme Frau werdest. . . , Müllers sind schon Deinethalben unglücklich, nun willst Du auch uus unglücklich machen!" Solche Reden muß das arme Mädchen fortwährend hören, sie weiß nicht mehr, was sie thun soll. In dem Gebet findet sie noch Trost; sie vertraut auf Gott und bleibt staudhaft. Bald erscholl durchs ganze Land der Ruf: Napoleon kommt! Nachdem er das übrige Europa besiegt, führte er seine Armee gegen Rußland. Wer da konnte, wurdc Soldat; was nicht freiwillig ging, wurde gezwungen. Auch Jakob schlich sich zu seiner Mutter, um Abschied zu nehmen; wohl wußte er, daß er als einziger Sohn des Hauses nicht Soldat zu werden brauchte, aber auch er ging, Kaiser und Vaterland zu vertheidigen, ohnedies duldete ihn sein Vater nicht daheim. — „Was wird Anna sagen?" unterbrach ihn die Mutter. — „Anna ist ein gutes Mädchen, sie wird Dich trösten und lieben; ich vertraue auf sie. Wenn ich zurückkehre, ändert sich vielleicht die Sache; falle ich, so liebe Anna statt meiner." Auch der Müller fängt an besorgt zu werden: wie sollte auch der, der Geld hat, nicht bangen, wenn der Franzose kommt; auch wegen Jakob ist er bekümmert, er bedauert ihn doch. Abrr er verscheucht bald seine Sorgen und erinnert selbst kurz darauf den Schreiber an den geschlossenen Pakt. Eines schönen Morgens spann Anna allein im Zimmer, als dcr Schreiber zn ihr eintrat. Erst fragte er nach Frau Sutlcp, — und doch hatte er alles so geordnet, daß er mit dem Mädchen nutcr vier Augen allein sein tonnte; dann setzte er sich zu ihr und nahm ihr scherzend den Spinnrocken. — „Geben Sie ihn zurück!" — „Umsoust nicht; aber ich begnüge mich fürs erste Mal mit einem Kuß." — In einem Moment ist der Spinnrocken in Anna's Hand und der unverschämte Freier wantt zur Thür hinaus. -- O Himmel! Frau Sutlcp tritt herein; Anna kommt aus dcm Regen in die Traufe. Alle Flüche dounern über ihr Haupt. — „Ich dulde Dich noch bis St. Martin, keinen Augenblick länger, hörst Du?" — Schreiber Nothkopf beruhigt dic Frau, denn wic er sagt, wird Anua doch die scinigc: die Zeit werde cs schon lehren. Wcr zn viel umfaßt, ergreift wenig. Dic Wahrheit dieses goldenen Spruches erfüllte sich auch an Napoleon, nicht nur am Wasscrmüllcr und dem Schreiber. Der französische Kaiser ist gezwungen, aus dem brennenden Moskau sich zurückzuziehen; Kälte nnd Hunger vernichten fein Heer. Er selbst cilt auf 'einem Schlitten nach Hanse; ob seine Soldaten hier mn Leben bleiben oder zu Grunde gehen, darum kümmert er sich nicht; daheim sind noch immer genug. — 12? - Das Dorf Mäniko zieht sich an der Landstraße hin; den Heeren solgt Hunger und Pest nach. Zuerst bricht letztere in der Mühle aus; dcr alte Johann, die rechte Hand Aydrcas', wird trank. — „Hinaus wit dem Kranken aus dem Haus, für Geld pflegt ihn schon ein Andrer." ^ Aber Elisabeth giebt es nicht zu, daß Andreas auch diese Sünde noch begehe. Sie pflegt ihn selbst. Der alte Johann stirbt nnd Elisabeth fährt in die Stadt, um einiges Nothwendige einzukaufen. — Als sie Zurückgekehrt und Andreas fic sieht, ruft er: „Weib, Du bist krank, läugnc es nicht." — „Gottes Wille geschehe," antwortet Elisabeth Zähneklappernd uud legt sich zu Bett. Dieser Schlag beugt Andreas tief darnieder. Er. denkt, wie anders es bei ihm sciu tonnte, wenn er nicht so gehandelt hätte, wie er gethan. Selbst an Anna denkt er jetzt. Bald nkrankt auch er und Niemand ist da, der ihu pflegt. Schreiber Nothkopf ist der Erste, der bei Sutlcps erzählt, daß in ber Mühle die Pest ausgcbrocheu sei. — „Sie wcrdcu sehen, Gevatter, letzt geht's mit dem Geizigen zu Ende!" sagte er. Anna hörte dies; sie wußte, daß Niemand in der Mühle sei, die jetzt alle mieden. Sie ^ht hin, Elisabeth zn pflegen, geschehe, was da wolle'. Die Kranle ^'kcnut Anna: „Jakob hat doch wahr gesprochen," sagte sie. Seitdem lhcilt Anna ihre Sorge zwischen beiden Kranken: Elisabeth erholt sich langsam, nicht so Andreas, der sich seinem Ende nähert. Bald kommt "uch Jakob nach Hause, obwohl verwundet; doch seine Wunde heilt bald, "nd Andreas kann noch ihn und Anna segnen. — „Sei auch Du glücklich, liebe Elisabeth," sagt er, und nach mum Vatcruuser entschläft U' in Frieden." Der lieblichen Novelle entspricht, wie ich glaube, der historische ^ntcrgrnud keineswegs, da in dem cstnischen Dörfchen im I. 1812 nn-Möglich solche sociale Znstände geherrscht haben können, als die Dichterin !>e im I. 1803 schildert, und wie sie dort erst in der neuesten Zeit überhcmpt denkbar sind. Aber diesen Anachronismus können wir il,r, du so innig nnd psychologisch feinfühlig zn erzählen weiß, gerne verzeihen. Dorpats amnuthigstcr Platz sind wohl di- auf dem Dom angelegten 'Und gut gepflegten Promenaden. Da sie sich auf einem höher gelegenen Punkt der Stadt befinden, so erfreut sich der Spaziergänger dort oben "icht allein an den schönen Anlagen, sondern anch an der hcrrlichm Fernsicht, die er über die Stadt hinans genießt. Anch die Ruinen der gewaltigen Domkirchc, welche noch Neste ihrer einstigen Größe aufbrisen, fesseln den Beschauer, dem es zu Muth ist, als sähe er die — 128 — gepanzerte Brust der Kreuzherrcn aus den alten Säulen hcrausschimmcrn. Das ganze Gebäude, soweit es sichtbar, besteht aus rothen Ziegelsteinen, die sehr groß und dick sind, vielleicht zweimal so dick, als wie man sie bei uns sieht. Die dünnen Wölbmaucrn, die Jahrhunderte hindnrch von Regen, Schnee, Hitze und Kälte heimgesucht worden, halten immer noch und geben somit Zeugniß von der Güte des Baumaterials. — Ich wandte mich nach den: Hanse Leo Meyer's, welches in der Vorstadt, hinter dem Dom in einer Seitengasse nnd zwar Zwischen Gärten versteckt, liegt. Leo Meycr wurde von der Göttinger Universität nach Dorpat berufen und hat unter den Philologen einen geachteten Namen.*) Er war unter den Univorsitätsprofcssorcn beinahe der einzige, der Zum estnischcn Freihcitsfest in Dorpat geblieben war, die andern verbrachten die Ferien anderswo; selbst der Lector der cstnischm Sprache und Literatur war nicht anwesend. Ich fand iu Meyer einen mir sehr sympathischen Mann, und schätze seine Bekanntschaft sehr hoch. Seine Frau ist eine liebenswürdige Erscheinung. Trotzdem, daß Beide ganz fremd hierher kamen, fühlen sie sich doch schon recht heimisch. Mcycr hat einen hübschen Garten, in dessen Hintergründe in einem kleinen Häuschen Ernst Karl Vaer den, stillen Abend seines arbeitsamen Lebens zubringt. Da Baer es besonders gewesen, der nnscrn Ncguly ^), in Petersburg unterstützt und protegirt hatte, so hätte ich ihm sehr gern meine Aufwartung gemacht, wäre er nicht zur Feier der Domfchulc, deren Schüler er einst gewesen, nach Reval gegangen. Meyer, als Hanptvcrtrctcr der Philologie au der Universität, ist auch diesjähriger Präsident der Estnischcn Gelehrten Gesellschaft; denn diese Gesellschaft hat nicht nur in der Universität ihrc Sitzungen und ihre Bibliothek, sowie andcrc Sammlungen, sondcru sie stcht auch sonst in enger Verbindung und Wechselwirkung mit derselben. Darnm ersuchte man Meyer um die Annahme der Präsidentschaft, zu der cr sich selbst nicht für fähig hiclt, denn cr hatte bis dahin der cstnischcn Sprache und Literatur nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Abcr die Mitglieder der Gesellschaft dachtcu, daß ein tüchtiger Philologe den Vorsitz der Gesellschaft, deren Verhandlungssprache ohnedies die dcntsche ist, gut *) Ich erwähne hier unter den bedeutenderen Weilen Meyers: Vergleichende Grammatik der griechischen und lateinischen Sprache. I. n. II. Vd. Berlin 1861 — 1865. -— Die gothische Sprache, ihrc Lautgcstaltnng, insbesondere im Verhältniß zum Altindischen, Griechischen nud lateinischen. Berlin 1809. ^) Ncguly, mi ungarischer Reisender und Sprachforscher. — 129 — zu führen vermöchte; und auch ich glaube, daß Meyer selbst die Wissenschaft der cstnischen Sprache besser und wärmer befördern werde, als viele heimischen Gelehrten, die die historischen Forschungen den philologischen vorziehen. Da die Estnischc Gelehrte Gesellschaft, deren Verbindung mit der Universität ich oben andeutete, auch im engsten Verhältniß zu den estnischcn Litcraturcrschcimmgcn steht, so dürfte hier der Ort sein, von bcidcu etwas eingehender zu handeln. Obwohl Peter der Große in einem Punkte seiner am 4. Juli 1710 unterschriebenen Kapitnlation die livländischc Universität aufrechtzuerhalten und deren „Bcncfizicn" und „Privilegien" eher zu vermehren, denn zu vermindern, versprochen: so blieben doch die baltischen Provinzen bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts ohne Universität. Den Mangel derselben — scheint es -^ fühlte man dort lebhafter, als bei uns die ungarischen Protestanten. Die Söhne der Wohlhabenderen gingen Zwar auf deutsche Universitäten hinaus-, doch blieb deshalb das Bedürfniß einer einheimischen nicht weniger fühlbar, denn die außerhalb der vaterländischen Verhältnisse erworbene Wissenschaft war nicht immer auf diese anwendbar. Die Provinzen mußten jenen belebenden und erhebenden Einfluß entbehren, den eine gute Hochschule auf weite Kreise des Landes auszuüben Pflegt; darum wurde auch die baltische Ritterschaft nicht müde, in Petersburg die Wiederherstellung derselben zu betreiben. Endlich nahm der Wiederherstelle:- der Cunstitntion in den baltischen Provinzen, Czar Paul, als er aus politischen Gründen die im Auslande studircnden Est-, Liv- und .Auländer nach Hause rief, im I. 1798 die Wiedererrichtung der Hochschule ernstlich in Angriff. Er berief die Landtage der Provinzen, um Vorschläge für die Neubcgrnndung der Universität zu machen. Der Adel begann hierauf Sammlungen für dieselbe uud erging sich in Bcrathnngcn; doch zog sich der tnrländischc Adel, als die Aussicht, daß Mitau der Sitz der Universität werden würde, sich nicht verwirklichte, größtenthcils im I. 1801 wieder znrück und forderte auch die Rückerstattung der dargebrachten Geldspenden. Als Czar Paul am 23. März 1801 das Leben verlor, bestärkte der Ezar Alexander am 5. Januar 1802 die Schenkungen seines Vaters für die Universität, insbesondere den Dom uud die Marienkirche in Dorpat, und stiftete selbst für das Univcrsitätsgcbäude 125,000 Rubel. Der lwländischc Adel schenkte 45431, der cstländischc 30002 Rubel; auch die Städte trugen viel bei; selbst Viborg, im finnischen Theile des damaligen Rußlands. So konnte die Universität am 21. April 1802 eröffnet werden. Das Curatorium der Universität hätte ans einem Adclscomite bestehen sollen. Dies gefiel aber den Leitern des neuen Instituts nicht, Hunfalvy. y — 130 — und es begab sich daher der Prorcctor Parrot im Herbst 1802 nach Petersburg und erwirkte dort die Autonomie und Unabhängigkeit der Universität vom Adel. Am 12. Dec. 1802 erschien das neue Statut, demgemäß die Dorpatcr Universität unmittelbar dem neu eingesetzten Ministerium der Volksaufklärung untergeordnet wurde. Es wurde ein neues Schuldcftartcmcnt, das Dorpater, gebildet, welches Est-, Knr- und ^ivland uud das russische Finland, oder den Viborgcr Bezirk, in sich begreift. Danach feiert man das offizielle Erinnerungsfcst der Grün-dnng der Universität am 12. December, während die Stndircndcn den 12. April festlich begehen. Viclc bcdancrn es, daß die Universität dadnrch aufhörte eine Anstalt der Provinzen zn sein, und in Folge dessen mit diesen in gar keiner politischen Verbindung stehe. Im Nothfall könnte sie anch nicht auf die Unterstützung der Provinzen rechnen. Bisher hat wohl die russische Regierung die Autonomie der Universität noch nicht verletzt. Wenigstens ist es bis jetzt noch nicht vorgekommen, daß sie die Ernennung eines Professors, den der akademische Senat vorgeschlagen, zurückgewiesen hätte. Man kann aber nicht wissen, was die Zukunft ill ihren, gchcimnißvollcn Schoße birgt und ob nicht eine Zeit kommen wird, in der der Universität das Patrocinimn der Provinzen zu Statten läinc. In den Jahren 1803—1810 hob sich die Hochschule bedeutend; nach einander entstanden die Bibliothek (wie wir wissen, in einem Theile der Domrninc), das Klinikum, das anatomische Institut, der botanische Garten und die großartigen Anlagen am Dom. Der Hauptfouds der Universität bestand von Anfang an in dein von der stronc geschenkten und 204 Haken betragenden Grundbesitz, welchen jene jedoch alsbald uuter ihre direkte Bewirthschaftung nahm und sich dafür zur Zahlung von 126,000 Rubel jährlich verpflichtete. Der Ban des großartigen Uuiversitätsgcbäudes begann in: I. 1829; die Rcichsschatzkammcr trng die kosten desselben. Das Gebäude wird im Winter so geheizt, daß zugleich alle äußeren Lowlitätcn, die Gänge, die Treppen bis unter das Dach hin erwärmt wcrdcu. Meyer behauptete, mau tonne sich in Dcntschland gar keine Vorstellung davon machen, wie sehr man hier die Verfertigung der Heizapparate und das Heizen verstehe, wobei im Ganzen schr wenig Holz verbraucht werde. Die Universität verwaltet ihr Vermögen selbst; sie brancht jährlich 200,000 Nnbcl. Das Honorar jedes ordentlichen Professors beträgt 2400 Nnbcl; nnch für ^unstgegcnständc sind jährlich 600 Nnbel disponibel. Nach fünfnndzwanzigjährigcr Amtsführung kann jeder Professor mit Fortbezng des bisherigen Gehalts sich in den Ruhestand versctzm — 131 — lassen; fühlt er sich aber noch ganz rüstig,'so darf cr noch fünf Jahre unter Erhöhung scincs Gehaltes lehren. Nach dreißigjährigem Lehramtc muß cr abtreten, wenn cr auch sonst seinen amtlichen Pflichten noch nachkommen könnte. Die Dorpatcr Sternwarte wurde schon unter Wilhelm Struwc, dem Entdecker der Doppelstcrne, berühmt; Mädlcr, seit 1839 sein Nachfolger, hat durch seine Untersuchungen uud Hypothesen über dic Central-sonne den Ruf der Dorpatcr Wissenschaft nicht wenig vergrößert, v. Middendorf, Parrot, Fr. Schmidt, v. Eugelhardt zeichneten sich in den geographischen Wissenschaften aus; Karl Schmidt wurde durch sciuc Physiologischen Werte berühmt. In neuerer Zeit machte anch die juristische und historische Wissenschaft der Provinzen in Dorftat große Fortschritte, und hat in dieser Vczichnug der mehrfach erwähnte Professor Carl Schirren hervorragende Verdienste. Die bisherigen Curatoren der Universität waren: Graf Klingcr, der berühmte Dichter der Sturm- und Drangpcriodc, nach ihm Fürst Licvcn, Kraffström, nnter dessen Curatorium das Universitatslcben manche Beschränkung und Maßregelung erlitt. (Unter Anderm wurde die Zahl der Schüler festgesetzt, die verpflichtet waren, in Uniform zu gehen; diese Bestimmung wurde erst im I. 1862 aufgehoben. Unter demselben Kraffström wurde das fünfzigjährige Inbilämn der Universität im I. 1852 gefeiert, bei welcher Gelegenheit Krcutzwald in: Namen der Estnischcn Gelehrten Gesellschaft ein in cstnischer Sprache verfaßtes Gedicht herausgab. Wie ich mich erinnere, wurde es seiner Zeit in dem Berliner „Magazin für die Literatur des Auslandes" mitgetheilt"). Auf Kraffström folgte Bradke, nach dessen Tode im I. 1862 Graf Keyserling, cm in vieler Hinsicht ansgczcichnctcr Mann nnd Frcuud der Wissenschaft, das Amt des Curators übernahm. Die rnssischcn Ultras, wie Samarin, erblicken in ihm einen Hauptfördcrcr des Dcutschthums, der eben darum des russischen Tadels um so würdiger ist. Die Schirren Affaire erschütterte, wie ich hörte, anch die Stellung Keyserling's und ") Den Titcl deö Gedichtes finde ich in dem Bücher-Verzeichnis; der Est-Mfchen Gelehrten Gesellschaft folgendermaßen: 'I'l,rtu ^Ima mawril«' vi«Ml,nu«.> Äk8t,a 1»Miow8« i'üemo-Mninü L(ü 12. toet8igsten Jahres der Dorpatcr ^.Ima mater am 1^. Dec. 1852. Inl Namen der estuisckvn Sprach- n»d Literatur-Gesellschaft Fr. >lr, Dorpat. verursachte noch andere Veränderungen, die aber erst nach meiner Reise eintraten "). Als mir Professor Meyer die Localitäten der Universität zeigte, führte er mich auch in die „Müsse", das Gcsellschaftslocal eines aus Professoren und Studircndcn bestehenden Clubs, wo Zeitschriften und Journale gelesen werden, nnd auch sonst mancherlei Art von Unterhaltung stattfindet. Auch besteht daselbst eine vollständig eingerichtete Spcisewirthschaft. Ich sah hier viele wissenschaftliche und vorzügliche politische Zeitungen, welche die Müsse hält. Sie werden nicht gesammelt, sondern am Ende eines jeden Jahres verkauft. Die Studircndcn der Pester Universität entbehren, meines Wissens, einen solchen Sammelpunkt. Wir besuchten nachher die Räume der Estnischcn Gelehrten Gesellschaft, in denen sie ihre Sitzungen hält und ihre Bibliothek uud sonstigen Sammluugcu hat. Kaum dürften anderswo so viele cstnische Bücher und Handschriften sich finden, als hier, obwohl die Bibliothek an und für sich, wie die gauze Literatur überhaupt, uicht groß ist. Aber der Sammeleifer ist bereits erweckt und so wird dcun, was noch zu retten ist, vor dem Untergang bewahrt. Besonders interessant war für mich ein Buchbinder aus Pcrnau, Michael Jürgens, den man mir einmal in dem Speisezimmer der Wanemuine-Gesellschaft gezeigt hatte und dcr stolz darauf ist, die vollständigste estnische Bibliothek zu besitzen, nämlich 1400 cstnischc Werke und 232 cstnischc Kalender. Er sammelt auch die Bilder berühmter Männer, was freilich in unseren Tagen, wo die Photographie eine solche Ausdehnung gewonnen hat, gerade nichts Außerordentliches, aber immer nicht ohne Interesse ist. Schon hat er 352 Portraits beisammen. Nach seinem Tode, sagte er, solle seine Sammlung iu den Besitz dcr Estuischcn Gelehrten Gesellschaft übergehen. Als wir die Bücher dcr obcngcdachten Bibliothek durchmusterten, unter welchen das älteste aus dem I. 1032 herrührt, fand ich auch eines unter Nr. 5158, das ich mir sogleich zur Vcnntzung erbat. Es ist das Evangelium Matthäi, von G. Popov in die Sprache dcr Konda-wogulcn übersetzt. Ich hatte davou keine Kenntniß, uud vielleicht wäre es mir auch fremd geblieben, da eine andere solche Ucbcrsetznng, von Lucian Bonapartc herrührend, nur iu 250 Exemplaren gedruckt und durch den Buchhandel nicht zu beziehen ist *"). *) Nach dem Sturze Keyserling's wnrde Gervais Curator des Dorpatcr ^chrbczirtö. A. d. C. **) Ich darf wohl hier, wo so oft ethnographische und ähnliche Notizen vor- — 133 — Während ich in den Localitätcn dcr cstnischen Gesellschaft umherging, füllten sich die Ränmc nach und nach mit den cstnischen Gästen vom Lande, welche gekommen waren, zu scheu nnd zu bewundern, was sie noch nie zuvor gesehen hatten. Daß besonders glänzende Gegenstände ihre Aufmerksamkeit reizten, ist natürlich; auf solche richtet sich überall die Ncugicrdc dcr unerfahrenen Landbewohner. Man exftlieirtc ihnen dcr Neihe nach die Antiquitäten nnd ich betrachtete unterdessen ihre Gcsichts-Züge. Ein Portraitmaler hätte gewiß so Manchen unter ihnen gern in sein SliZzcnbnch aufgenommen. Die wahre Mutter jeder Nation ist die Sprache; die in derselben bewahrten und von Muud zu Mund wandernden Sagen nnd Gesänge sind die Erinnerungen, Erfahrungen und Betrachtungen des nationalen Kindcsaltcrs; die Literatur aber ist die Geschichte des nationalen Gcistcs, die sicher nnd bestimmt ist, wie die Wirklichkeit. Erinnerungen, Erfahrungen, Vorstclluugcn uud Reflexionen hat jede Nation, sie sei groß oder klein; zu einer Literatur gelangt aber nicht jedes Volk. In der orientalischen Kirche wurde schou iu frühester Zeit der Gottesdienst in dcr Sprache des Bolks abgehalten, und so erhielten die Slaven, namentlich die Bnlgarcn nnd nach ihnen die Nnssen, gleich mit dcr Anfnahmc des Ehristcnthnms ihre Kirchenbücher in dcr eigenen Sprache. Hier trat also die Möglichkeit des Besitzes einer eigenen Literatur bald ein. Bci dcn Ehristcn des Abendlandes war dagegen die lateinische Sprache die des Gottesdienstes, die Einführnng des Christenthums war hier also an nnd für sich kein Sporn zur Literatur; die kleinen Nationen dcr lateinischen Kirche blieben daher lange oder vielleicht immer ohne eigene Literatur. Uud wen: wäre es eingefallen, auf die cstnische Volkssprache die Aufmerksamkeit zu lenken, da die Kirchen-sprachc dcr Bischöfe und Geistlichen die lateinische, die Sprache des Adels und dcr städtischen Bürger ansschlicßlich die deutsche war? Ncbcrall, wo die Reformation sonst Eingang fand, bemächtigte sie sich zur Verbreitung ihrer Lehren der Volkssprache; man übersetzte vor kommen, dcr großen Verdienste Llicicm Vonapartc'ö um unsere specielle Wissen schaft gedenken. Er wendete seine Ausmcrtsamteit anch den ungarischen und finnischen Sprachen zn nnd gab Ncbcrsetzungeu, namentlich die obenerwähnte des Evangeliums Matthai, unter Aufsicht Wicdemaun's in St. Petersburg bcmuö, dnu es leicht ist, mit Hilfe Solcher, welche die betreffenden Sprachen sprechen, sie durchzusehen nnd gewissermaßen zn corrigircn. Lncicm Bonapanc ließ letztere danu m London in 250 Exemplaren drnÄcn. — 134 — allen Dingen den Katechismus; wcnig später die Vibcl. Das estnische Volk wurde dieser Wohlthat nicht theilhaftig; es merkte kaum, daß es seine Religion verändert hatte. Der Adel kümmerte sich wahrscheinlich auch nicht viel um die religiöse Erziehung des Volkes, wenigstens bc-bewcist die Fortdauer des heidnischen Aberglaubens, daß das Christenthum bis zum Ende des 16. Jahrhunderts und weiter bis in die neuere Zeit in den Herzen des Voltes keine tiefen Wurzeln geschlagen hatte. Nach Ahlqvist war der Prediger Witte der erste, der den Katechismus in's Estnischc übersetzte, welcher letztere dann auf Kostcu des Hcrr-mcistcrs Heinrich Galen (1551 — 1557) im I. 1553 in Lübeck gedruckt wurde. Denn die typographische Kunst war damals im Lande noch unbekannt *); die deutschen Bücher für die Herren kamen alle aus Deutschland. Dieser Katechismus war also das erste in cstnischcr Sprache gedruckte Buch. Der wirkliche Beginn der cstnischcn Literatur datirt jedoch erst seit den Werken von Heinrich Stahl und Joachim Nossim'ns. Stahl war in Reval geboren und bildete sich, nachdem er das Gymnasium daselbst absolvirt hatte, in Deutschland weiter aus; von dort im I. 1623 zurückgekehrt, wurde er erst in Estland Pastor und später im I. 1641 Superintendent von Ingcrmanland. Er begann neben deutschen auch Bücher in cstnischer Sprache herauszugeben, so-. „Hand' und Hausbuch für das Fürstcuthmub Esthcn in Liffland." Der erste Theil dieses Buches, der in Rcval 1632 erschien, cuthält den kleinen Katechismus Lnthcr'Z und einige Gebete in deutscher und estuischcr Sprache; der Zweite Theil, ebendaselbst im I. 1637 gedruckt, ein Gesangbuch, ebenfalls in beiden Sprachen; der im I. 1638 erschienene dritte und vierte Band besteht aus den Evangelien und Episteln, der Passions-gcschichtc, 14 Psalmen, Predigten und Gebeten; alles wieder sowol in deutscher als cstnischcr Sprache. Größcrc Wirkung erzielte Stahl mit seinem auf Kosten der Konigin Christina in den Jahren 1641 und 1649 und zwar diesmal ausschließlich in cstnischcr Sprache herausgegebenen „Lcycn-Spicgcl". Endlich erschien von ihm im I. 1637 cinc Sprachlehre: „Anführung zu der Estnischcn Sprache." Zu derselben Zeit fungirtc Joachim Rossinius in Dorpat als> *) Ahlqvist erwähnt auf der 5. Seite seines oft citntcn Buches, daß die erste Buchdruckern in Riga im I. 1518 errichtet wurde; in Dorpat cxistirte eme solche während des Bestandes der Universität von 1632 — 1656 und später von 16U0—1699. Alsdann erhielt Dorpat erst wieder im I. 1769 eine Druckerei, zu welcher sich 183? eine zweite gesellte. In Mitau entstand die erste Buchdruckern im I. 1667; in Libau eMirt eiue solche erst seit 1623. In Rcval wurde die erste 1632, die zweite 1802 gegründet. — 135 — Geistlicher, und gab daselbst 1632 die Evangelien und die Episteln nnd die Leidensgeschichte Christi heraus. Doch ergänzt sich die Thätigkeit Rvssinius' und Stahl's nicht, denn sie schreiben in zwei verschiedenen Dialekten. Die cstmschc Sprache hat nämlich zwei Hauptdialcktc, den sogenannten Ncvalcr, und den Wcrro-Dorpatcr, welch letzterer aber jetzt nur in 17 Kirchspielen gesprochen wird. Die Werke Stahl's sind in dem Rcvalcr, die von Nossinins in dem Wcrro-Dorpatcr Dialekt geschrieben. Ein Umstand, welcher auf das Aufkeimen der estnischcn Literatur vielfach hemmend wirkte. Der Unterschied zwischen den beiden Dialekten ist übrigens nicht viel größer als der der deutschen Sprach-dialclte, ans welchen doch nur eine Litcratnrsprachc entstaub; ja er ist nicht einmal so groß als der zwischen dein östlichen oder karelischen und dem westlichen oder hämcläischcn finnischen Dialekte, welche gleichfalls zu einer Literatursprache sich verschmelzen. Ist doch die ganze cstmschc Sprache, bei allen ihren Variationen, nur als ein Dialekt der finnischen zu betrachten, so wie die russisch-karelische, die wotischc, wepsischc nnd livische Sprache. So faßt diese Sprachen auch Ahlqvist auf, der im vorigcu Jahre iu Hclsiugfors für seine Univcrsitätszuhörcr „Das Buch der filmischen Dialekte", enthaltend cstnischc «sowohl in Ncvalcr als Dor-patcr Dialekt), russisch-karelische, wotische, wcpstschc uud livischc Lcsestücke herausgegeben hat. Er fügte zwar cm crkläreudcs Wörterbuch in finnischer Sprache bei ^): aber auch zum Verständniß der deutschen Dialekte ist ein Wörterbuch uöthig, wie sehr man auch soust in der deutschen Schriftsprache bewandert sein mag. Wenn der Vauf der Geschichte ein anderer gewesen wäre, so wären vielleicht die finnischen, cstnischcn, russisch-karelischen, wotischcn, wcftsischcn und livischeu Dialekte ebenso zu einer «nächtigen Litcratursprachc verschmolzen, wic die vielen deutschen Dialekte. Dies geschah nicht; im Gegentheil entstanden sogar iu der wenig verbreiteten cstnischcn Sprache die Anfänge zweier Literaturen. Von den Büchcru Stahls, welche alle bloße Ucbcrsctzungcn aus dem Deutschen sind, ließ der iu Ncval tagende Predigcrconvcnt im I. 1056 eine verbesserte Ausgabe veranstalten; ebenso gab die Dorpatcr Pastorcu-vcrsammluug das Dorpatcr Gcsaugbuch zum zweiten Mal heraus: auch wurde der verbesserte Katechismus im I. 1673 im Ncvalcr, 1684 im Dorpatcr Dialekt vcröffeutlicht. Eiu A>B-C-Vuch crschicu erst im I. 1687. Icdcufalls war aber ein Anfang gemacht. Nach Stahl gab *) Suomalainen Murteiskirja, talii lukemisia Yiron, Karjalau, Vatjan, Vepsän ja Livin kielillä, suomalaisten, sanastojen kanssa. Toimittaimt Aug. Ahlqvist. Helsingissii 18G9. — 136 — Johann Gutslaff im I. 1648 „Odkervatione« grammatics L eirca lin-8u,am ^»tlionicÄm", Heinrich Gösckcn im I. 1666 ,^Iainiäuetio aä lingu^m t)o8tk0niciuu" heraus, letzteres Werk vcrbulidcn mit cincm estuisch-dcutscheu Wörterbuchc. Durch diese verschiedenen Vüchcr war die Aufmerksamkeit anf die cstnischc Sprache gelenkt; nicht lange darauf erschien von Johann Hornuug iu Riga in: I.1693: „6i'amwatic^ IMio- : Dorpat. Zum Gottesdienst eilende Wa^en. U:uzäuuunc;eu ber Accker. Die Kirche von Pohja-lüla. Volk auf dem Wege nach Nauuo-kirk. Nobbenspeck und -Fett. Wirtz- oder Wörtö-järv. Der Embach berühmt. Mährchc» vom Emmu- und Wirtz-järv. Hau5wirch in 3ieictüla, seiuc Gebäude und Leistungen. Fellin. Aufenthalt in Wöhma. Amü-küla. Die Leistungen der Äisacr Bauern. Ankunft in Neval.) Der Johannistag ist anch bei den Esten ein Feiertag. In der vorchristlichen Zeit war hier das Sommcrfcst ein Freudenfest; an Stelle des heidnischen Gottes trat dann der christliche Johannes der Täufer, ^tnd das Fest blieb. In den von Krcntzwald nnd NcuS herausgegebenen "Mythischen und magischen Vicdcrn der Esten"''') findet sich darüber aus dcr Fcllincr Gegend folgende Vlitthcilung von Lagus: „Der Johannistag lvar Allen ein Tag der Freude uud des Glücks, nnd auch ein zum Gedächtniß des weisen Johannes (wi-gn ^aui) bestimmter Tag. Nn diesem lnnßtc Alles erleuchtet werdcu, sowohl Thiere als Menschen; anch inußte ein s^oßcs Feucr angezündet werden, damit alle das ganze Jahr hindurch gesund, nnd die Milch so rein bliebe, wie das Silber und die Sterne ^s Himmels, nnd die Butter so gelb wie die Sonne, das Fcncr nnd bas Gold." Die Esten erwähnen darnm auch heute noch oft das ^ohannisfeuer (^mui tul oder .lnlnn^ Uch, sowie cs anderswo und auch bei uns noch vorkommt, wenigstens bei den Zipscr Deutschen, in dcrcn Ortschaften am heil. Iohaunisabcnd die Dorfjugcnd das Iohanuis-fcucr (Gchons-Fcurr) schlviugt'"). Bei den Esten hat wahrscheinlich .Ilwm ") Mvthischc nnd magifche Lieder der Esten. Gesammelt und l'eram,Mcbcn ^" Fr. ^rcutzwald nud H. ^icno. St. Petersburg I854. ''^) Das im Zipser (5onntat gebräuchliche «cliou ist wie dcis altfränkische ^ol,an die alte Form von Iobann. — 144 — (Johann) die Stelle dcr heidnischen Götter ^VanLimiins oder Ilun'a eingenommen, denn anch die nannte man Weise (tai'gasl). Das Dorpatcr städtische Publikum brachte den heil. Iohannisabend in dem Garten des Handwerkcrvcrcins zu, in den mich Herr Professor Dr. Sticda begleitete, welcher mir bei dieser Gelegenheit Mittheilungen über die Entstehung und die Aufgabe des Vereins machte. Wie in Deutschland überall, so war auch in Riga der Gedanke erwacht, die verschiedenen Schichten dcr Gesellschaft einander zu nähern und gewissermaßen zu einigen. Man beschloß zu diesem Zwecke Vereine zu gründen, in welche jeder eintreten und an deren Unterhaltungen jeder thcilnchmcn könne. Nach dem Beispiele Riga's entstand so auch in Dorpat dcr Handwcrkcrvcrcin, dessen Mitglied zu werden so zn sagen die Mode erforderte. Vorlesungen, Concerte, Gesangskränzchcn, daneben mannichfache andere Unterhaltungen, Turn- und Körpcrnbungcn waren die Mittel dcr gegenseitigen Annäherung. Dcr Verein erwarb in Dorpat am Ende der Stadt, schon außerhalb des städtischen Territoriums, ein großes Grundstück, auf dein er nach dcr Straße Zu ein hübsches hölzernes Haus erbaute, mit vielen bequemen Localitätcn; daran stößt ein ausgedehnter Garten mit riesigen, alten Bäumen, einem wasserreichen Teich und bequemen Spazicrgängcn. Leider wird dcr beabsichtigte Zweck nicht recht erreicht; gerade diejenigen, denen zu Liebe der Verein entstand, bleiben demselben fern: die Handwerker zeigen sich nur selten. Trotzdem besteht der Verein fort. Im Winter werden wöchentlich einmal populäre Vortrage gehalten, im Sommer versammelt man sich monatlich einmal. Heute, 5. Juli / 25. Juni, als am Iohannisabcnd, fand ein außerordentlicher Unterhaltungsabcuo statt. Als wir zum Hause kamen, machte mich Herr Professor Sticda darauf aufmerksam, daß die vor demselben Ordnung haltenden Polizci-bcamtcn nicht Bedienstete der Stadt, sondern der Provinzialbchöroe seien, weil wir uns hier nicht mehr anf städtischem Boden befänden. Wir lösten Eintrittskarten und gingen hinein. An dcr dem Garten zn-gcwcndctcn Seite des Hauses dehucu sich Verandas uud wcitc Galerien aus. Am linken Flügel nehmen die Musiker und Sänger Platz, am rechten harren Blumensträuße, zu denen Lose angeboten werden, des glücklichen Gewinners. Man will aus dem Erlös einen Theil der Unterhaltungskosten bestreiten; die Erhaltuug von Haus und Garten,, den nöthigen Möbeln, der Bedienung u. s. w., ist sicher kostspielig. Bei uuscrcm Eintritt sang eine cstnischc Gesellschaft, die dann von deutschen Sängern abgelöst wurde. Es ist zahlreiches Publikum Zu-gcgcu. Die Einen promcmrcn, die Andern fahren Zu Boot; die Kähne — U5 -^ werden mit Nädcrn getrieben, wodurch sie Dampfschiffen ähnlich sehen; noch Andere sitzen in den Veranden bei einem frischen Trunk. Da trotz des Johannistages kühles, regnerisches Wetter ist, so gehen Alle wärmer gekleidet einher. Unter den auf und ab Wandelnden sehe ich auch Jann-sen, von einer großen Gesellschaft nmgcbcn. Auch Professor Meyer mit seiner Frau und seinem Töchtcrlciu ist da. Mein Begleiter redet einen Eanonieus au, und bald entspinnt sich Zwischen uns ciu Gespräch. Der Domherr ist Univcrsitätslcttor für die wenigen katholischen Studi-rcndcn, außerdem erfüllt er Scelsorgcrpflichtcu in der Umgegend. Einmal des Jahres muß er auch die Inseln besuchen; gerade jetzt bereitet cr sich zn diesem ihm unangenehmen Wege vor, denn er fürchtet sich vor dem Meer, da Zwischen den Inseln keine Dampfschiffe verkehren. Er schien mir sehr vereinsamt, dieser freundliche Geistliche, in der lutherische» Umgebung. Aber cr war doch in der Gesellschaft, während ich mich nicht erinnere, einen russischen Geistlichen gesehen zu haben, deren in Dorpat mehrere sind. Zum Schluß der Abeudnuterhaltung sotltc cin Feuerwerk abgebrannt werden; ich wartete es jedoch nicht ab, sondern ging schon vor N Uhr nach Hause, da ich den andern Tag früh Dorpat verlassen wollte. Ich verabschiedete mich von allen meinen Bekannten und kehrte ius Hütel zurück. Am Morgen des 7. Juli / 25. Juni erschien Zur bestimmten Stunde der Este, der mich nach Fcllin bringen sollte; auch meiu Reisegefährte^ der Finne Swan, der mich bis Ncval begleitete, um dauu direkt mit dem Dampfer nach Helsiugfors Zu gehen, fand sich cin. Wir fuhren nicht auf dem kürzesten Wege uach Rcval, soudcru über Fcllin, da ich auch diesen Theil des Landes, den man sowohl seiner Fruchtbarkeit als seiner wackern Bewohner wegen rühmt, kennen lernen wollte. Es ist Sonntag, cm schöner Morgen; wir gelangen sehr bald aus-bcr Stadt zwischen die herrlichen Saatfelder. Mein Kutscher, ein cst-uischcr Stadtbürgcr, ist sehr redselig uud stolz auf seine Nationalität; cr spricht auch gut deutsch. Er fährt selbst, denn er wollte mich nicht, micm seiner Kucchte überlassen. >iaum sind wir eiuc halbe Stunde unterwegs, so bemerkt cr, daß eines seiner Pferde Zu hinken aufäugt, ^r untersucht den Fnß, ob vielleicht ein Sandkörnchcn unter das Huf-cism gekommen sei; da cr aber die Ursache nicht entdecken kann, so lehrt cr uach cinigcm Kopfschüttcln mn, deun mit einem hinkenden Pferde tann cr sich cmf keinen größern Weg machen, ^angc dauert es, bis wir ^inc am entgegengesetzten Ende der Stadt befindliche Wohnung erreichen, ^r ruft seine Lcnte, die das Thor öffnen, und bald ist ciu anderes Wrd angcspauut. Hunsnluy, 10 — 146 — Da wir nun rüstig zufahren können, so geht cs rasch vorwärts. Nicht lange darauf begegnen wir überall einspännigen Wagen, die zur Kirche fahren; nur selten taucht ein Zweispänner auf. Das Volk, sowohl die Männer, als besonders die Frauen, finde ich hübsch, sogar schön. Die Frauen tragen nicht die abscheuliche Revalcr Haube, sondern Tücher wie die ungarischen Frauen; auch die Kleider haben lebhafte Farben: Weiß, Roth und Grün zeigen sich häufig. Der Anzug der Mädchen unterscheidet sich von dein der Fraucu in Nichts. Die Tracht der Männer ist auch hier deutsch. Die Wagen und Pferde sind auffallcud klciu; oft sieht man Tücher und Decken auf Knieen und Füßen der Reisenden; der noble Gebrauch wird auch auf den Dörfern Mode, und weist, wenn auf uichts Anderes, doch auf Wohlstaud hiu. Mau sagt von dcu Esten, daß sie gerne in Dörfern beisammen wohnen, nicht so wie die Letten, die das Wohnen in einsamen Meier-Höfen vorziehen. Was ich aber an cstuischcn Dörfern sah, das würde man bei uns kaum mit diesem Namen bezeichnen, sondern eher Vereinigungen Zerstreuter Gehöfte nennen; in der Mitte der Ortschaften stehende Kirchthürme habe ich nirgends außer in Städten gefunden. Die Dorfkirchcn stehen hier (wie in Finnland) ganz einsam. An vielen Orten, oder vielleicht überall, befinden sich in der Nähe der Kirchen Holzbuden. Es sind dies die Asyle der Kirchcnbesuchcr bei rauhem Wetter. Denn da die Kirchengemeinden (Kirchspiele) sehr ausgedehnt sind, so fährt der größte Theil der Andächtigen zu Wagen zum Gottesdienst; ja, wie wir bereits erwähnten (f. S. IN), sammeln sich die weiter Wohnenden schon Samstag Abend zur Kirche. Auffallend ist cmch, besonders für den, der das uugarischc Alföld (die großeu Ebenen) kennt, die Umzäuuuug der Ackerfelder. Im Allgemeinen, vielleicht nur mit Ausnahme der nächsten Umgebnng der Städte, führen nicht nur die Feldwege, fondcrn auch die Hauptstraßen Zwischen Einzäunungen hin. Die Einzäunungen sind liegende, an Hcckeu oder Holzstämmc gcbuudcne Stangen. Zu diesen Zäunen wird sehr viel Holz verbraucht. Wir nähern uns der Kirche von Pohja-küla, zn welcher überallher umzäunte Wege führen. Die angekommenen Wagcu und Pferde stehen in langen Reihen längs den Zäuucn.' Das Volk bewegt sich in verschiedenen Gruppen; Frauen, Mädchen macheu ihre vom Sitzen Zerdrückten Kleider zurccht; die Männer nehmen die abgelegten Röcke um und stäuben die Stiefeln ab. Das Volk ist im Allgemeinen besser gekleidet als in uugarischcu Dörfern. Aus den Thurmfenstcrn schauen Vursche herab, die wahrscheinlich das Zeichen zum Läuten abpassen. Wir sehen — 147 — «ber noch keinen Schulmeister oder Kantor, ebenso wenig einen Pastor. Um die cstnische Dorftirche, deren Thüre bereits offen stand, anzuschauen, ließ ich dcn Wagen anhalten. Da man heute dcn heil. Johannistag feierte, so war der mit großen Steinplatten belegte Fußboden der Kirche dicht mit Virkenblättcrn bestreut, auch in den langen Bänken steckten Virkcnäste, der Altar und die Kanzel waren mit Blumen geschmückt. Bei uns, in einigen Gegenden des ungarischen Oberlandes, pflegt man zu Pfingsten die Kirchen mit Lärchcnzwcigcn Zu schmücken, die um diese Zeit noch zart und wohlriechend sind und darum auch Vlaizwcige genannt werden. Hier ist, wie ich sehe, das Iohannisfcst zugleich ein Blumcnfcst. Die Kirchcnfitzc sind mit Holzfarbe angestrichen; der Altar ist für eine einfache Dorfkirchc fast zu prächtig; ihm gegenüber befindet sich die Orgel, welche anf einem von Holzfäulen getragenen Chore steht, der drei Seiten des Gebäudes nmgicbt. Die Kirchcnfcnster sind schmal, vielleicht absichtlich mit Rücksicht auf die rauhe Winterszeit so angelegt; in der Sakristei steht ein Thonosen. Mit großem Interesse betrachtete ich die einfache Dorfkirche, in welcher die Andächtigen eifrig sangen nnd beteten. Leider konnten wir den Beginn des Gottesdienstes nicht abwarten, denn wir wollten noch am selben Tage Fellin erreichen. Die Landstraße von Dorpat nach Fcllin läuft auf der Mittagsscite des Embachcs, und macht später sogar ciuc ziemlich starke Biegung gegen Süden. Wir trafen unterwegs viele kleine Einspänner, welche znr Ranno-kirk (zur Kirche Randen) fuhren. Das Volk dieser Gegenden ist, wenn ich nach dem Acußern urtheilen darf, vielleicht das schönste und reichste, das ich in Liv- und Estland überhaupt gesehen. Da das Wetter namentlich gegen Mittag sehr schön wurde, so stiegen wir vom Wagen und gingen anf einem kleinen nebenher laufenden Waldwege zu Fuß. Da wir so etwas langsamer vorwärts kamen, so erreichte uns bald ein einspänniger Wagen, dessen städtisch gekleideter Kutscher gleichfalls neben dem Wagen cinhcrging. An sein kleines Fuhrwerk war noch ein anderes leichteres gebunden, und auf diesem plätscherte etwas in einem offenen Fasse. — Wohin fahren Sie? frug ich ihn.— Nach Fcllin. — Was führen Sie in dem Fasse? — Nobbcnfctt. — Ich sah es an; spcckartigc Stücke schwammen in einer Fettmassc, deren Gcruch sehr unangenehm war. — Wozu wird es verwendet? — Es ist ein Mittel gegen die Bremsen, das man in Fcllin mit Sehnsucht erwartet. In der vorjährigen Dürre vermehrten sich die Bremsen der» art, daß man zur warmen Tageszeit das Vieh vom Feld heim treiben wußte, sie hätten es sonst gctodtct. Mit dem Robbenfctt beschmiert man 10' — 148 — die Pferde und das Hornvieh cm Stellen, wo es die Bremsen selbst nicht wegtreiben kann. Das Insekt kann den Geruch nicht ertragen und belästigt dann auch das Thier nicht. — Und woher gelangt das Robben-fett? — Vom Pciftus, wohin es von der Küste des Meeres gebracht wird. Heuer war ein sehr starker Robbenschlag, und darum ist auch das Fett billig. Der Robbenspcck ist bräunlich; die äußere Haut beinahe schwarz; anch das Fett ist dunkel und wirklich so übelriechend, daß man sich rasch davon abwenden muß. Zwischen den Lichtungen des Waldes hindurch sah ich große Stcin-massen hindurchschimmern; bald hörte ich anch ein Geräusch, gleich einem dumpfen Murmeln; ich wußte im Moment nicht, woher dasselbe rühren könne, bis ich mich auf der Landkarte oricntirtc und fand, daß wir uns dem Wirtzsee näherten. Wir gelangten bald an das Ufer desselben, das wir nun in nördlicher Richtung verfolgten. Ein Südwcstwind schlug die Wellen des Sees kräftig an das Ufer, welches, so weit wir es übersehen können, sich in flacher Ebene ausbreitet; nur ferne in südlicher Richtung scheint es waldig zu werden. Von unserm Standpunkte aus könnte man den See für einen Meerbusen halten. Die Landkarte zeigt ihn iu birnenförmigcr Gestalt, das breite Ende gegen Norden gerichtet. Unser Weg führt um diesen Theil herum. Nach Hupet beträgt seine Länge fünf, seine nördliche Breite zwei deutsche oder geographische Meilen. Viele llcinc Flüsse führen ihm ihr Wasser zu; der Embach von Süden, wo er die Grenze zwischen dem Dorpatcr und Fclliner Kreise bildet, deren Fortsetzung der See ist. An der nordöstlichen Spitze tritt der Embach als mächtiger Fluß heraus, über welchen eine auf Pfühlen und mächtigen Kähnen ruhende lange Holzbrückc führt. Diesen Ausfluß nennt man die Iöc-snu, d. h. Flußmund. In dem jenseits der Brücke gelegenen großen Wirthshause gleichen Namens, das mehrere Gastzimmer hat, nahmen wir unser Mittagsmahl ein. Nach seinem Austritt aus dem Wirtz-järv nimmt der Embach seine Richtung abwärts in den Peipus; zwischen beiden Seen, beinahe in der Mitte, liegt die Stadt Dorpat, von wo schon Dampfschiffe in den Pcipns und bis nach Pleskcm gehen. Aus letzterem See ergießt sich die Narva in nördlicher Richtung in den finnischen Meerbusen; die Nafserkommunikation ist also vom Meere bis zum Wirtzscc ununterbrochen. Auch von hier über Fcllin bis Pcrnau scheint der Wasserweg dnrch die vielen kleinen Flüsse, welche sich in einander ergießen, möglich zu sein. — 143 — Miltcn ailf der Briickc, an der Stelle, wo das Wasser zwischen zwei Kähnen am stärksten dahinströmt, wurde gefischt. Ich blieb stehen und sah eine Weile zn. Man tauchte ein kleines Handnctz ins Wasser und hielt es eine Minute lang gegen den Strom. Alsdann wurde dasselbe wieder herausgezogen, und ich erblickte oft das halbe Netz voll kleiner Fische, die hier 5il<;ul1 ^NK, »il^u), Strömlinge, genannt werden. Man schüttet sie in ein Faß und wirft das Netz von Neuem aus; der Fluß scheint von solchen Fischchen zu wimmeln. Dieses Jahr, erzählte man mir, sei übrigens ein besonders fischreiches. — So sah ich hinter dem Wirthshansc Brennholz aufgeschichtet, und von Weitem schien cs mir, als ob dort ausgespannte Lammfelle an der Sonne getrocknet würden; als ich näher trat, erblickte ich große Fische, welche der ^ängc nach aufgeschnitten waren, anf Holzscheiten braten; das Fett tropfte ordentlich von ihnen herab. — Den Embach oder Muttcrfluß (kma — Mutter) erwähnen die estnischcn Sagen sehr oft; nur wissen bereits, daß ihn auch Heinrich der Vette „mater n was wieder ebensoviel bedentet als euni., oder estuisch «un, d. h. Mutter. Den Stamm dieses Wortes haben wir auch im Ungarischen in den Wörtern om-iö (Muttcrbrust), c^ocs-om-ö (Säugling), 6m»tbt (säugen). Der Wirtz- oder Wörtzsee (1<'6rtö) hieß also in früherer Zeit anch Muttcrsce. Der Pciftussec, in den sich der Fluß Namens Vater (i«u) ergießt, ist um vieles größer. Es ist daher leicht möglich, daß in dem Worte Pciftns, das man anch Peips ausspricht, die Bedeutung Vater verborgen liegt, und daß die dichterische Auffassung des Voltes den kleineren See uud Fluß Mutter, den größern See und Fluß aber Vater nannte. Die Russen nennen den Pcipus Tschndischcs, d. i° Finnisches Meer; die Gegenden des letztcrn, des Embachs nnd Wirtz-sees sind die berühmte Heimath der estuischen Sagen. In Iöe-suu lernte ich nnter Andcrm anch folgendes Sprichwort: I'arem suu-täiz soolast, Kui mau-täiz magedat. d, h. Vcsser ein Bissen vom Salzigen, Als gesättigt vom Süßen. ') Vö mag bemerkt werden, daß früher auch große Seen „Sümpfe" hießen.. Den Neusiedcr-See in Ungarn nennt man ungarisch „rsrtü", Sumpf, oder Schmutziger; der viel größere Platten-See, ungar. „Balaton", hat seinen Namen vom slavischen „dlaw", russisch „doloto" (Sumpf), denn vor den Magyaren waren bcssen Umwohner Slaven. Die Alten nannten sogar das Asow'M Mccr „Mus. ^ooti»", d. h. Mäotischcr Sumpf. — 152 — Ich muß mir nur dieses Sprichwort merke», so oft von cstuischcli Sagen die Ncdc ist, da ich sie doch nicht vermeiden kann, auch durchaus nicht vermeiden will. Nachdem die Pferde gehörig geruht hatten, setzten wir nnscrn Weg fort. Wir begegneten bald darauf den vom Gottesdienst Heimkehrenden nnd ich konnte anf diesem Wege eine förmliche Volts-Nevnc abhalten. Ich hatte wohl in Dorpat Esten aus mehreren Gegenden nnd in größerer Zahl gesehen, aber mit Ansnahmc der Dorvateriunen, waren es lautcr Männer gewesen; jetzt ftassirten Männer, Francn und Mädchen allcr Kirchspiele vorüber, durch welche mein Weg führte. — Man hält das Volt des Fcllincr Kreises für das schönste. Ich fand in demselben ein wackeres Völkchen. Wenn wir einen Blick auf die S. 87 citirtcu Zahlenvcrhältnissc werfen, welche die Anzahl der von den Vanern erstandenen Güter veranschaulichen, so sehen wir hierans auch, daß gleich nach den Esten des Pcrnaucr Greises die Fcllincr vcrhä'ltnißmäßig das meiste angckanft haben. Da in Neic-tüla (Mädchcndorf) der Weg hart an dem Gehöfte cines cstnischcn Bauern vorbeiführt, so ließ ich den Wagen halten, nm dasselbe zn besichtigen. Durch eine kleine Nicgclthür inäl'nv,') nngansch >verö^ch eintretend, gelangten wir in das Innere des Gehöftes lww -- dem nngar. t«1<2^ Grnnd?). Es ist überall von hölzernen und steinernen Zänncn eingefaßt. Seine Theile sind! das Hauptgebäude; diesem gcgcuüber zwei oder drei kanimcrartige Gebäude; auf der einen Seite die Sommerkliche, oder das Sommerhaus, auf der audcrn die Ställe. Die Familie sahen wir anf der Holzsticge nnd der Schwelle der einen Kammer nm ciue große Schüssel geschälter, dampfender Kartoffeln sitzen; wie ich sah, aßen sie die Kartoffeln mit Milch, ^hne Verlegenheit oder Erstaunen standen sie anf, nnd es kamen der Hausherr — mit entblößtem Hanpt, wie er war — nnd seine Gattin — beide schon etwas ältlich, die Frau aber dem Anscheine nach älter als der Mann —, dann zwei jüngere Francn oder Mädchen, deren eine wahrscheinlich eine Magd war, entgegen. Mein estnischrr Kutscher trug mit etwas Wichtigthuerci unsern Wunsch vor, nnd die Mitglieder des Hauses zeigten große Bereitwilligkeit zn Allem, was wir von ihnen begehrten. Zuerst ließ ich mich in das Hauptgebäude führen. Es ist ein ans mehreren Theilen bestehendes hölzernes Haus mit einem hohen Strohdach; die Balken der Wände sind weder von anßcn noch von innen mit ^ehm bcworfcn, nur die Zwischeuräume derselben sind mit solchem und mit Moos ausgefüllt. Auch von Außen unterscheidet man am Gebäude drei Theile. Wir treten in den kleinsten ein, es ist das toa Ldino,. die Vorstube. Der Este nennt das Zimmer tuda (finnisch WM, ungar. 8^od^ vielleicht vom dcntschcu: Stube), im Genitiv toü, also toa ^ain^ -- das vor der Stnbe seiende, 8c. Zimmer. Die Vorstubc ist nicht breit, denn daneben sind nacheinander noch zwei Kammern; diese drei Räume bilden die Breite des Gebäudes. In der Borstube steht der zerlegte Wcbe-stuhl MM). Aus derselben treten wir in die erste Kammer, wo wir die Handmühle finden, die man v68k-1vivi -- ungarisch malom-kö, nennt. Die Achse der Drehscheibe des Steins befindet sich im Balken, den Stein dreht man mit der Hand. So einfach mögen auch die Mühlen gewesen sein, auf welchen nach der ErZühlnug der Odyssee die Mägde im Hause des Ulysses das Getreide mahlten. Die zweite Kammer dient als Schlafgcmach. Jetzt treten wir aus der Vorstubc oder toa Ldiuo in die cigcutliche Stube (wda), die die ganze Breite des Gebäudes einnimmt. Links von der Thüre ist eine große Fcuerstcttc, rechts in der Wand zwei Fenster, die auf den Hof schancu, iu der gegenüber befindlichen Wand ist lein Fester; aber der Thüre gegenüber befindet sich eine größere fcnsterähnliche Oeffnung, durch welche man in die Scheune gelangen kaun. — Die Stube hat weder oben noch uutcu Gebälk; den Fußboden bildet gestampfte Erde, der Plafonds besteht aus dünnen Hölzern (cstuisch Mi'i'6 10I1L aluno — ungarisch knärit/i iiM, d. h. das Untere der Trockcnstubc. Dcr wegen seines Namens interessanteste Theil des estnischcn Bauernhofes ist aber die sogenannte Sommcrtüche. Sie heißt nämlich 1<0(I^ finnisch kow, ungar. ebenfalls w^ denn das k der finuisch-cstuischen Wörter cutspl'icht int Uugarischeu dem Laute 1i^). Dieses Wort kommt nicht nur iu allen verwandten Sprachen vor, sondern es bildet auch überall ähnliche Beziehungswörter (PostPositionen), z. V. ungarisch mLß^ßk Im^ finnisch IN6N6N kotw) ich gehe nach Hanse; ^'»völc Ka/,u1, finnisch tulcu kotoa, ich komme vom Hause; ebcuso auch cstnisch. — Wenn anch das finnische tu^n,^ estnisch tuda, ungarisch 8X0dl^ ein fremdes Wort wäre (deutsch Stube, altschwcdisch 8wt'a, u. s. w.), so ist hingegeu I0i'om«68, über seine übrige Wirthschaft unterrichten. Seine Felder betragen zusammen 16 viüika. Im Estmschcu hcißt valilil», (ähnlich dem ungarischen v610i-l>m«e8 für 16 vlckl^ 61 Rubel 50 Kopckcu oder 81 Fl. 18 Kr. zahlt, so cntfallcu auf eine vaklca jährlich 3 Rubel 84 Kopclcu oder b Fl. I'/- Kr. — Vom Wirthe erfuhr ich ferner, daß das Gut zwei Pferde, drei Kühe, zwei Ochscu (manchmal auch etwas mehr) uuo ciuigc Schafe und Schweine besäße. Ich fragte ihn darauf, wo er das Brennholz kaufe? — N^ o8w,i ^!<8k 1l6rrü8t ^ ich taufe es vom Sachscnhcrrn, d. i. vom Grundherrn, und arbeite ihm dafür. ^- — Ich daukte dem cstuischcn Manne für seiuc Frcuudlichkeit, nahm von 'hm Abschied und setzte meinen Weg fort. Bald tauchte Ielliu auf. ^»r stiegen nach unserer Ankunft in einen, Gasthause ab, in welchem auch die Post einquartiert ist. Ich bezahlte dcu Dorpatcr Kutscher, der mich für 12 Rubel hichcr gcfahrcu hatte, uud trug ihm uoch einige ^rüßc au Bckauntc auf. Dann begann ich mit mciucm Reisegefährten mich zu berathen, ob wir in Fellin übernachten, oder weiter reisen sollten? Fcllin, estnisch >ViI1lmä, ist eine sehr kleine, aber hübsche Stadt; bic Häuser sind znmcist aus Holz erbaut; die Einwohnerzahl beträgt 3lM. Trotzdem befinden sich hier zwei evangelische Kirchen, eine deutsche und eine estnischc. Zur cstuischcn Gemeinde (der Oastwirth nannte sie — 156 — „finnische Gemeinde") gehören auch die in der Umgegend wohnenden Esten; fic ist daher anch viel größer als die deutsche. Auch eine russische Kirche ist da, obwohl nur wenige Orthodoxe in Fellin wohnen. Diese und dic dazu gehörigen Gebäude sind vom Staat erbaut, der sie auch erhält; ob auch gleich tciuc Gemeinde vorhanden ist, ein Pope ist dennoch da, den gleichfalls der Staat besoldet. Der Wirth, zugleich PostHalter, ist ein freundlicher, gesprächiger Mann; seine Wohuuug ist sehr schön meublirt, auch für sciue Gäste hat er cbcuso schöne Zimmer bereit. Es ist kaum zu begreifen, wie in einer so kleinen Stadt ein solches Gasthans sich erhalten kann. Aus allem ist ersichtlich, daß auch der Verkehr in Fclliu nicht groß sciu kann. Heinrich der Lette nennt Fcllin Wilikmlk. Es war schon im heidnischen Alterthum eine bedeutende Festung, welche die Deutschen mit Hilfe der uuterworfencn und nuu mit ihnen verbündeten Liven und Letten im I. 1210 eiuuahmcn und von Ncncm befestigten. Die Festuug lag nahe bri der Stadt gegen Nordcu auf einem Hügel, und iu derselben befehligte zur Zeit des Ordcus ein Contthur (s. S. 28). Da es die stärkste Festung war, so bezog sie der Herrmeister Fürstcnbcrg; aber das russische Vclagenmgshccr nahm sie im I. 1560 ein uud führte Fürstcn-berg gefangen uach Moskau (s. S. 2'.>). Während ich mich mit meinem Reisegefährten in der Stadt umsah, bereitete der Gastwirth für uns ein gutes Abendessen; dann cutstand wieder die Frage, ob wir hier bleiben oder noch in der Nacht weiter reifen sollten. Wir entschlossen uns cudlich zu dem lctztcrn und verlangten von unsern: Wirthe Pferde. Er war auch gleich bereit, uns solche zu verabfolgen, doch behauptete er, vor ciucn Wagen, in welchem 2 Personen säßen, nicht weniger als 3 Pferde vorspannen lassen zu können, für dercu jedes er 4 Kopeken per Werst berechnen müsse, denn bis zur crsteu Station Wöhma seien 30 Werst. Da auf dem Wege, den wir fahren wolltcu. tcin regelmäßiger Postvcrkehr ist, so sind hier natürlich auch andere Preise und wir mußten uns, wenn wir weiter kommen wollten, die Forderung schou gefallen lassen. Dic Pferde des Fclliner Posthaltcrs sind allerdings so schöne Thiere, daß man mit ihnen selbst eine Brautfahrt würde unternehmen können. Es war eine ordentliche Freude, die 3 prächtigen Apfelschimmel, die vor unsern Wagen gespannt waren, anzusehen. Ncberhauftt sind die eft-nischcu Pferde fast durchgehend starke, muskulöse Thiere und von seltener Ausdauer; magere Klepper sah ich auf unserem ganzen Wege, obwohl wir viel Vaucrgcspäuncn begegueteu, uirgcnds. Wir sticgcu iu den Wagcu uud auf einen leisen Pfiff des Kutschers — 157 — trugen uns die Pfcrdc davon. Aus der Stadt heraustretend, gelangten wir auf einen freien Platz, auf dcm hier und da Hütten aufgeschlagen wurden; morgen, sagt der Kutscher, findet hier Markt statt. Mein Reisegefährte hatte wahrscheinlich die vergangene Nacht nur wenig geschlafen; cs fielen ihm bald die Augen zu. Ich fühlte mich wieder so einsam als damals, da ich von Rcval nach Dorpat fuhr. Die Nacht ist dunkel, denn dcr Mond geht erst sehr spät auf und ist noch im ersten Viertel. Die drei Pferde gehen iu gleichem Trabe vorwärts, man braucht ihucn nicht einmal znzupfeifcu. Auf der Mitte des Wegcs läßt sie dcr Kutscher ein wenig sich verschnaufen, dann ging cs wieder gleichmäßig vorwärts. Gegen Mitternacht kamen wir in Wöhma an. Wöhma ist kein allein stehendes kürtx, ungar. koi^ina (Wirthshaus), denn ringsumher zeigen sich Gebäude; auch den Ton einer Geige vernimmt man, doch sehen wir keine Menschen; das ki»it^ ist still, als ob es ausgcstorbcn wäre. Nach langem Klopfen weckt endlich uuscr Kutscher Jemanden, dem er sagt, daß Reisende da seien, denen er Pferde verschaffen solle. Ein Lämftchen schimmert durchs Fenster, es zcigt sich ein Mädchen, dann ein Knabe; bald erfahren wir, daß wir eigentlich nicht auf der Landstraße fahren. Man geht, um Pferde herbeizuschaffen; sie swd aber Zwei Werst von hier auf der Weide. Endlich erscheint auch ber Hauswirth, nach und nach auch einige Gestalten aus der Nachbarschaft; die Einsamkeit erhält Leben. Die Töne der Geige erklingen fort, und verrathen einen geschickten Dilettanten. Ich frage den Hanshcrrn, wer da geige? — KHui>muW NüNe^ dcr Kaufmann Müller, dcr dort ein Haus und eill Geschäft hat. — Dauert cs noch lange, bis wir Pfcrdc erhalten? — Sie sind weit, doch da höre ich sie schon kommen. Dcr Ton eines Pfcrdcglöckchens, dcr immer näher kam, schien anzudeuten, daß wir bald am Ziel uuscrcr Wünsche scin solltcu. Endlich kommt ein Pfcrd gegcn uns hcrangctrabt, aber es ist leider nicht das unseres Wirthes. Die Geige tönt fort: gehen wir also zum Kaufmann Müller, mn nns mittlerweile die Zeit zu vertreiben, dachte ich. Wir machcu uns "uf den Wcg; wie wir uns aber dem Hause nähern, verstummt plötzlich das Spiel. Es herrscht völlige Ruhe; nirgcuds auch zcigt sich ein Licht, gelbst Hundcgcbcll vernimmt man nicht. Wahrscheinlich hat dcr Violin-spielcr, nicht ahnend, daß er noch Bcsnch bekommen werde, in dem Mo-'Ncnt den Schlaf gesucht, da wir mit ihm zu plaudern kamen. Es schien 'nir beinahe grausam, anzuklopfen und dic nächtliche Ruhe in einem Hause zu stören, dessen Bewohner wir nicht kannten, ohne cincn andern, Grund als dcn, uns die Langeweile zu vertreiben. — 158 — Wer bci uns m Ungarn nächtlicher Weile in ein einsames Dorf gekommen ist, weiß, welchen Höllenlärm dort die vierfüßigen Wächter der Gehöfte zn machen Pflegen. Hier fiel es mir außerordentlich anf, daß man nicht das geringste Hnndcgcbcll hörte. So geringfügig die Sache ist, so giebt sie doch zu denken. Fürchten wir uns in Ungarn so sehr vor Nänbern, daß wir weder im Dorf, noch auf der Pußta ohne drei oder vier Hunde zn schlafen wagen: und ist hier in Estland die Sicherheit so groß, daß man selbst an dein einsamsten Orte kein knurrendes Hündchen hält? Zu unserm Wagen zurückgekehrt, fanden wir ihn so, wie wir ihn verlassen hatten; die Pferde waren noch immer nicht da. Endlich, nach zweistündigem Harren bringt man sie. Man spannt ebenfalls drei an. Ich wage nichts dagegen einzuwenden; denn wie ich hörte, sind von yicr bis Anni-tüla, wo wir wieder auf die ordentliche Poststraße kommen, 43 Wcrst, also mehr als l> Meilen. Wenn daher der Fellincr Posthaltcr bereits drei Pferde vor unsern nicht schweren Wagen spannen ließ, so dürfte der Wöhmaer Bauer wohl auch vier einspannen können. Ich war neugierig, wie viel ich zn Zahlen haben würde. Der küi'tH-mtn8 (Wirth) verlangte 6 Nubcl 45 Kopeken. Ich erklärte das für zn viel; erhielt aber zur Antwort: en 8«>iä^w ^ dann lasse ich nicht fahren. Ich sah wohl, daß der Bauer einen höhcrn Preis verlangte, als ich selbst in Dorpat (12 Rubel für 12 Meilen) gezahlt hatte, und wollte darum etwas abdingen. Nach langem Wortwechsel, den unsere Ungeübtheit in der cstnischcn Sprache nicht abzukürzen vermochte, — mein finnischer Kamerad, der sich freilich leichter ausdrücken konnte wie ich, war im Allgemeinen sehr wortkarg —, ließ nnscr Wirth endlich den Kutscher für sechs Nnbel aufsitzen und wir konnten weiterziehen. Da die Nacht schön war, so wurde uns das lange Warten unter freiem Himmel nicht lästig; eine kleine Langeweile ist in solchen Fällen nicht in Anschlag zu bringen. Der Wöhmacr Kutscher war genöthigt, etwas stärker zu pfeifen als der Fcllincr, denn die Pferde kamen von der Weide; trotzdem ging es ziemlich rasch vorwärts. Um l', Uhr Morgens langten wir in Anni-küla an, wo ich mich gewissermaßen heimisch fühlte, da mir der PostHalter bereits bekannt war. Wir ruhten ein wenig aus, nahmen den Kaffee zu uns, und hörten unserem Wirth zn, der uns erzählte, daß während meiner Abwesenheit ein großer Nachtreif gefallen sei; seine alte Mutter, die sich gern um uns bewegte, fügte hinzu, man höre, daß er hie nnd da den Kartoffeln geschadet hätte. — Das ist ein großes Unglück! seufzte mein Reise- — 15»l' —' gcfährtc, denn dann ist zu befürchten, daß in meiner Hcimath der Frost noch bedeutender gcwefcu und den schönen Saaten geschadet hat, welche im ganzen Lande große Hoffnungen erweckten. Wäre ich nicht vor einigen Jahren selbst Zengc von den großen Verheerungen gcwcscn, die spät eintretende Nachtfröste auch bei nns verursacht hatten, so wäre ich für die Nachricht und die Angst meines Reisegefährten vielleicht unempfindlicher gewesen. So konnte ich deren ganze Bedeutung wohl würdigen. Wenn es in Estland Frost gegeben, so war er in Finnland gewiß bedeutender gcwcscn und scinc Folgen konnten furchtbar werden; die gute Ernte von 18s>l-> vermochte die vorangegangenen Mißjahre nur auszugleichen, wenn anch die heurige Ernte gut wurde. Die Nachricht schlug uicincn Kameraden schr nieder und ich war nicht im Stande, ihn zn trösten. Znm (Met hörten wir auf unserm wcitcrn Weg nichts mehr von Frösten, nnd so konnten wir gegründete Hoffnung hegen, daß der Unfall in Anni-tüla vielleicht nur unbedeutend nnd localcr Natur gcwcfen. Zu Mittag waren wir in Kissa oder richtiger Kisa. Während unseres kurzen Anfcnthalts hicselbst erkundigte ich mich, wie viel die Vsacr Vaucru ihren Grnndhcrrcn jährlichen Zins zahlten? — Das können wir ganz zuverlässig erfahren, antwortete der PostHalter, denn es sind gerade einige Bauern draußen. Bald brachte er uns die Nachricht, daß der Preis für 44 vnkkn ssoofstcllcn) Ackerland 75 Nnbel betrage. Da ich dies nach meinen früheren Erfahrungen für wenig hielt, fo frug ich weiter-, ob die Felder hier etwa schlecht seien?— Im Gegentheil, erwiderte der Posthaltcr, man rühmt den hiesigen Boden ganz besonders, denn in demselben gedeihen die besten Kartoffeln. — Was der Grnnd dieses auffälligen Verhältnisses sei, konnte ich leider nicht erfahren, da die betreffenden Bauern schon weggegangen waren, als ich selbst mit ihnen Iprcchcn wollte. Gegen Abend kamen wir in Rcval an. Meine früheren Reisegefährten, die ich seiner Zeit im Hütcl St. Petersburg Zurückgelassen hatte, warcu in ciu anderes Hl'tcl gezogen, das am Hafen nahe bei einem Bade liegt uud bequemer als das in der Stadt ist. Hier fuchte ich sie auf. VIII. Renal. (Rcval und die Kalcv-Sage. Die dänische Eroberung. Dic Geschichte der Stadt. Peier der Grofte in Rcval. Die städtische Vcrwattung und ihre Vcamtcn. Dic städtischen Unterthanen. Die städtischen Einnahmen. Die Bevölkerung dcr Stadt. Ihre Kirchen. Estnische Kirche und cstnischcr Gottesdienst. Statistischer Ausweis der estmschen Gemeinde. Das Hans der großen Gilde. Geschichte dcr Domschulc. Ernst Karl Vaer, ihr einstiger Schüler, riihmt sie. Verschiedene Systeme dnsclben. Die für die militärische Laufbahn sich Vorbereitenden werden russisch unterrichtet. Die Störung dcr Schule im I. 1854. Sie feiert das Jubiläum Vaer's im I. 1864. Baer schreibt im I. 1844 über Regnly. Heutige Verfassung der Domschule. Die russischen Gymnasien. Die Vielsprachigl'cit ist nirgends zu vermeiden. Kathanueulhal. Kosch. Die Nrigittenruine. Eine Art Einsiedler-Wohnung. Kahnfahrt auf bewegter See.) Wenn ich von meinem Gasthofe, dcr am Hafen licgt, dic Richtung nach dcr Stadt einschlage und dcn nach rechts führenden Weg wähle, so gelange ich schnell auf jenen Erdrücken, dcr gleich einem stumpfen Vorgebirge in's Meer hineinragt und das westliche Ufer des Hafens bildet. Die Aussicht von dort ist schön, mag mau sich gcgcn das Mccr oder gcgcn die Stadt wenden. Dcr Bergrücken war vor dem Krim-Kricgc mit Bäumen bepflanzt und erfreute mit seinen angenehmen SpaZicr-gäugcn das Badcpublikum. Aber im Beginne jcncs Krieges, als man einen Augriff dcr englischen Flotte auf St. Petersburg befürchtete und ein Abstecher derselben nach Rcval nicht unwahrscheinlich war, ließen die russischen Vertheidiger der Stadt alle Bänmc.ans strategischen Rücksichten umhauen. Scitdcm ist dcr Hügel baumlos; die Allssicht aufs Mccr aber ist noch heute dieselbe wie damals. Wenn wir hier oben auf der Bcrgspitzc stehen, so richtcu sich unsere Gedanken unwillkürlich auf die Vergangenheit, uud Sage wie Geschichte werden vor unserem inneren Auge lebendig. So scheint es uns, als ob dcr Held dcr cstuischcn Sagc, — 16: — der Sohn des Kalcv, von hier ans in's Meer gcsftrnngcn scin inüfse, als er nach Finnland schwamm, seine Mnttcr zn suchen und Rache zu Men an dcm finnischen Zauberer, der sie geraubt hatte. Ist doch laut dcm Mythus der bergige Theil der Stadt, der sogenannte Dom, das Grab Kalcv's. Und wenn wir die nebelhafte Zeit und die Gestalten dcr Sage verlassen uud uns dcm Boden dcr Geschichte nähern, so ist cs ebenfalls hicr, in dcm vor uns liegenden Hafen, wo die Schiffe Naldcmar's II. im I. 1219 landeten, um die heidnischen Esten zu bekriegen und die dänische Macht auch über diese Gegend auszubreiten. Und zwar geschah dies folgendermaßen. Dcr Rigacr Bischof Albert und seine Schwcrtrittcr hatten die Liven bereits unterworfen; im I. 1211 kam auch die mächtige Festung dcr Esten, Fcllin, in ihre Gewalt, und sie dchutcu ihre Eroberungen untcr lctztercm Volke nun immer mehr aus. Da riefen die Estcu die benachbarten russischen Fürsten gegen die Dcntschcn zu Hilfe, nm ihnen den Preis dcr bisherigen blutigen Siege wieder Zu cutrcißcu. Gcgcn die vereinigten Rnsscn und Estcn war die Kraft dcr dcutschcu Bischöfe uud Ritter zn schwach, das wußte Albert; er suchte daher Hilfe bei dcm Däneukönig Waldemar II., dcr damals der mächtigste Monarch an den Gestaden des ballischen Meeres war. Er beherrschte nicht nur die dänischen Inseln nnd Jutland, sondern auch Hamburg und Lübeck,, ferner die Wenden am baltischen Meere und Deutschland bis zur Elbe. Anch gegen die östlichen Provinzen hegte Waldcmar seit lange feindselige Pläne; anf dcr Insel Oescl kämpfte er schon 1200 tapfer, wenn anch nnr mit vorübergehendem Erfolg; selbst der Papst unterstützte seine Bestrebungen und ernannte den Erzbischof Non Lnnd, Andreas, zum Legaten für jene Provinzen „znr Bekehrung dcr Heiden" (a<1 coiivm-tm^wm circum^taute« p^ano»). Laut den Berichten Heinrich's des betten bcgab sich der Bischof Albert mit einigen anderen Prälaten im I. 1'-i18 zu Waldemar II. und bat ihn flehentlichst, er möge im nächsten Jahre mit seiner Kriegsflotte gcgcn Estland ziehen, damit die Estcn gcdcmnthigt würden uud aufhörten, vereint mit den Russen die livländischc Kirche zn beunruhigen. Als dcr Köuig hörte, daß dic Russen und Estcn einen großen Krieg gcgcn die Liven vorhatten, versprach er, gegen sie zu ziehen zum Nnhm der heil. Jungfrau und zur Sühne seiner Sündeu. Dcn Feldzug selbst beschreibt Heinrich dcr Lettc folgendermaßen: Es erhob sich Waldcmar II. mit einem mächtigen Heere. Mit ihm kamen Andreas, Erzbischof von Luud, dcr Bischof Nikolaus und noch ein dritter Bischof, Kanzler des Königs; ferner dcr in Riga geweihte cst-ländischc Bischof Thcodorich, dcr wegen der Gransamkeitcn dcr Heiden H»„ falv», lV — 162 — „die livländische Kirche verlassen hatte und sich dein König anschloß"? endlich anch der Slavcnfürst Wcnzeslav mit seinen Mannen. Alle diese landeten im I. 1219 in der Revaler Bucht und nahmen Lindanissa, die Festung der Esten, mit Stnrm ein. Letztere wnroc von Grund aus zerstört und an ihrer Stelle eine neue erbaut. Dies der Anfang des hentigcn Neval. Der cstuische Name der Stadt: Tallin oder laN^in, d. i. lau-IiN) dänische Festung oder dänische Stadt, weist deutlich auf ihren düuischcn Ursprung hin. Wie wir jedoch ans dem eben angezogenen Bericht sahen, bestand hier schon vordem eine cstnische Festung Lindanissa oder Lindanisa; dieser Name führt uns abermals in das Reich der Sage. Linda nämlich ist die Mntter des Sohnes Kalev's, und Lindanisa bedeutet so viel als Linda's Brust. Da die dänische Festung, an deren Stelle früher Lindanisa stand, auf dem hcutigeu Schloßbcrg lag (auch der alte Thurm ss. S. 70^ stammt ans der Dänenzeit), so ist dieser Schlohbcrg also die Brust Linda's und der Grabhügel Kalcu's der alten Sage. In der Nähe der Stadt befindet sich ein See, der Obcrsee, der ebenfalls einen sagenhaften Ursftrnng hat. Es heißt, er sei aus Linda's Thränen entstanden, die den Tod ihres Gatten beweinte. — Wie wir sehen, hat Reval und seine Umgebung in der estnischen Sage eine große Bcdcntung. Historisch ist die Existenz der estnischcn Festung Lindanissa oder Lindanisa und der von den Dänen an deren Statt erbauten neuen, welche den Grund zum heutigen Ncval legte. Denn unterhalb der Festung entstand nach und nach (1219—1237) eine Stadt, die schon im I. 1248 vom dänischen König kubisches Recht und lübischc Verfassung erhielt, nachdem sie im I. 1240 zur bischöflichen Residenz erhoben worden war; doch wohute der Bischof in der Festnng, nicht in der Stadt. Uebrigcns war den Dänen die Eroberung nicht leicht geworden: die Esten sammelten sich nnd griffen das Lager des Königs an; sie hätten es ohne Zweifel vernichtet, wenn nicht der von Heinrich dem Letten erwähnte slavische Fürst, dem der Angriff nicht gegolten, den Feind überrascht hätte. Die Größe der Gefahr, in welcher die Dänen schwebten, wird durch das Wunder angedeutet, von dem die christliche Legende erzählt. Der König Waldcmar wendete sich in seiner Noth zn Gott uud flehte um Hilfe, und siehe, eiue rothe Fahne, in welche ein weißes Kreuz gewebt war, licß sich vom Himmel herab; als dies die fliehenden Christen sahen, wendeten sie sich um und errangen einen vollständigen Sieg. Zum Gedächtniß dieser wunderbaren Begebenheit wurde der dänische Danebrogorden gestiftet. Rcval besteht seit seiner Gründung aus zwei Theilen: dem höher — 163 — gelegenen, den man den Don: nennt, und der eigentlichen Stadt; in jenem herrschten in früher Zeit die königlichen Hauptleutc, später die KomMren, in dieser die städtische Behörde. Nachdem die Stadt im I. 1284 dem Hansabundc beigetrcten war, wurde sie durch ihren Handel immer mächtiger, und auch ihr Deutschthum stärkte sich hicdurch zusehends, während die dänische Einwohnerschaft allmälig in die Festung zurückgedrängt wurde. Wir wissen bereits von früher her, daß die dänische Macht in Estland immer schwächer wurde und daß die Kreuzhcrren im I. 1347 das Land von den Dänen kauften (s. S. 27); damit kam auch der Rcvaler Bischof, der früher dem Erzbischof von Lund unterstanden hatte, unter das Rigacr Erzbisthum. Wie in Riga und Dorftat, zerfiel auch in Neval das Vürgcrthum in zwei Gilden, die bis heute cxistircn; ebenso besteht noch heute hier, wie in Riga, das SchwarZhänpter-Corps. Die Stadt nahm im I. 1524 die Reformation an, die auf dem Dom und in der Provinz erst später zur Geltung gelangte. Denn erst im I. 1557 drängte die Ritterschaft den Bischof, daß er auf dem Dom „das reine Wort" Gottes predigen lassen möge. — Mit dem I. 1558 trat die schreckliche Zcit des russischen Krieges (s. S. 29) ein, der die eigenthümliche politische Verfassung der baltischen Provinzen, die Conföderation der Bischöfe und der Ritter, anflöstc. Der letzte katholische Bischof des Rcvaler Doms, Moritz Wrangell, übergab sein Bisthum dem dänischen Herzog Magnus, der, obwohl nicht mehr katholisch, sich doch Bischof von Ocsel uud Kurland und jetzt Administrator des Rcvalcr Bisthmns nannte. In factischcn Besitz desselben gelangte er nie. Dic Stadt Rcval begab sich im I. 1561 unter schwedischen Schutz; der Dom wurde nach einer sechswüchcntlichcn Bclagcrnng und Beschießung durch die Schweden vom Komthnr des Ordens, Gaspar Oldenbocknm, überliefert; damit hörte auch auf demselben der katholische Gottesdienst cmf. Rcval und das cstländischc Hcrzogthum standen somit seit 1561 nntcr schwedischer Herrschaft, dic nicht nnr der Kirche und der Schule, sondern auch der unterdrückten estnischcn Vaucrschaft ihre Sorge zuwandte; die Erinnerung an die sogenannte schwedische Zeit hat sich bis heute im Volke erhalten. Jener Zeit entsprossen cmch die ersten schwachen Keime der cstnischen Literatur. Der große nordische Krieg (s. S. 34) brachte Rcval nnd das estländische Hcrzogthnm nnter russische Herrschaft; Neval unterhandelte am 29. Sept. 1710 mit Peter dem Großen, der die Privilegien nnd dic Verfassung der Stadt bestätigte. Das Rcvalcr SchwarZhäuptcr-Corps ist noch jetzt stolz darauf, daß Peter sich in dasselbe aufnehmen ließ. Ueberhanpt that ii' — 164 — der Zar viel zur Hebung Rcvals, in dessen Haftn er seine Flotte sammelte. Er Pflanzte den nach seiner Gemahlin „Katharincnthal" benannten Park nnd weilte oft in dem für ihn daselbst errichteten Hause, das noch heute steht. __________ Auch in Rcval war es das Verhältniß der Stadt zu ihren cst-nischcn Unterthanen, was mich besonders interessirte. Um hierüber Erkundigungen einzuziehen, suchte ich den Bürgermeister, Namens Luther, auf, obwohl ich ihn nicht kannte, auch seinen Namen erst auf dem Rath-Hause erfuhr. Der Bürgermeister legte seine Arbeit bei Seite, und indem er mich in ein Ncbcngcmach führte, erklärte er mir seine Bereitwilligkeit, mir jede ihm mögliche Auskunft zn geben. Nachdem wir uns auf einem bequemen Kanapee uicdergclasscu hatten, fing ich an, ihn über Verschiedenes zu fragcu, worauf er oft Bücher und Schriften zur Hand nahm, aus denen ich dann die gewünschte Antwort erhielt. — Ich erfuhr Folgendes. Die Stadt hat vier Bürgermeister, davon sind zwei Ncchtsgclchrte, zwei Kaufleute; der Nath besteht aus 14 Gliedern, dem Syndicus und dem Obernotar. Der> Syndicus ist der Vertreter der Bürgerschaft vor dem Rath; seine Pflicht ist, strenge zu achten, daß nichts gegen das Interesse der Bürger geschehe. Außerdem ist er Referent des Gerichtshofes; er verfaßt die Urtheile und konzipirt die Kaufverträge. — Der Obcrnotar protocollirt die Beschlüsse des Rathes und beaufsichtigt deren Vollziehung. Die Wahl der städtischen Beamten, namentlich der Rathsglieder, fällt auf den zweiten Advcutsonntag. Erst vollzieht das „(^ouMium eou5uwm") das aus den vier Bürgermeistern, dem Syndicus und dem Obcrnotar besteht, die Candidatur; dann wählt der Nath; an der Wahl nehmen jedoch auch die vier Bürgermeister theil; der Syndicus.und Obernotar dagegen nicht. Jede Wahl geschieht auf Lebenszeit. Unter den Mitgliedern des Raths müssen auch vier gelehrte sein, d. h. also Juristen. Der Iahresgchalt der Rathsglicder beträgt 120 Rubel; außerdem sind sie von der Soldaten-Einquartierung befreit, deren Ablösung (Quarticrabgaben) auch 70—80 Rubel beträgt. Ehedem hatten sie noch andere Einkünfte, namentlich das Malzrccht, das nahezu 40 Nubcl eintrug, gegenwärtig aber aufgehoben ist. — Die Einkünfte der Stadt bestehen in 1) den städtischen Grund-gcldcrn; 2) den gruudherrlichcn Einkünften der Stadt; 3) den Einnahmen aus den Hafenzöllen; 4) den verschiedenen Steuern der Bürger. — Die Grundgcldcr fließen aus den' Verpachtungen der städtischen — 165 — Grundstücke. Die gruudherrlichcu Einkünfte bestehen aus den Pacht-imnmen, welche die Stadt als Eigenthümer!« zweier größerer Güter genießt, deren Revenue» streng für städtische Zwecke verwendet werden; außerdem besitzt sie drei Hosvitalgütcr, deren Einkünfte in den Gottes-kästen stießen und aus welchen die Unterhaltungskosten der städtischen Kirchen, Schulen, Geistlichen, Lehrer und Spitäler Written werden. Auf den städtischen Grundstücken wirthschaften Bauern, welche der Stadt Pacht zahlen. Wir wisfcn bereits, das' die der Stadt gehörigen Bauerngüter uicht veräußert wcrdcu dürfen; die Bauern derselben bleiben daher immer Pächter. -^ Die Art der Bcwirthschaftnng ist das Dreifeldersystem. — Nach der Aussage des Bürgermeisters hat der städtische Bauer in jeder Gewandung 6 Tonnen Ackerland; eine Tonne ist hier gleich zwei Rigacr Loofcn, alsv gleich einem ungarischen Kübel oder zwei Metzen. Im Ganzcu hat er 18 Tonnen (Kübel) Feld; außerdem noch Wiese, Weide und Strauchland. Für alles zahlt er jährlich 90 Rubel oder 117 Fl. als Pachtzins: oder, nach Abzug vou Wiese, Weide und Strauchland für einen Kübel Feld 6 Rubel 88 Kopeken oder 8 Fl. 93 Kr.; was gewiß uicht wenig ist, wenn wir bedenken, daß das Feld alle drei Jahre brach liegt und daß man es gut düngen muß. Zur Bestimmnng des jährlichen Pachtzinses schätzte man die Ertragsfähigkeit des Bodens ab und nahm dann 5 Proccnt. der so gefundenen Summe als Pachtzins. Auf meine Frage, ob die Schätzung nicht ein wenig zu hoch gegriffen sei, und ob der Vancr im Staude sei, die 90 Rubel zu bezahlen, antwortete der Bürgermeister, daß jener dies ohne alle Schwierigkeit thue, ja unter den obwaltenden Verhältnissen sogar noch etwas Zurücklegen könne. Uebrigeus, fügte er hinzu, der Rcvaler Satz ist „dcr geringste Satz" in Estland, und ich, als Präses der Wirthschafts-Konnnission, bin der Mcinnng, daß man bei Erncueruug des Pachtcs den Zins nicht erhöhen soll, um den Bauern das Fortkommen nicht zu erschweren. Die Stadt schließt die Pachtverträge mit den Baueru auf sechs Jahre ab. Der Hafenzoll oder das Portorimn beträgt jährlich 8700 Rubel, aber die Stadt wird ihu nur uoch 10 Jahre gcnießcu. Als nämlich Reval mit dem Zar capitnlirtc, sicherte die Stadt sich insbesondere den Ertrag des Hafenzolls; natürlich übernahm sie auch die Lasten, welche die Hafenftolizci, die verschiedenen Bauten, dcr Lcuchtthnrm u. s. w. ergaben. Da erkundigte sich nuu eiust Katharina II. bei einem Aufenthalte in Reval, wie viel denn eigentlich das Portorinm abwerfe? Als sie erfnhr. daß dcr Ertrag desselben sich auf 8700 Rubel beliefe, sicherte sie denselben zwar dcr Stadt auch für die Zukunft zn, machte ihn jedoch — 1W — von der jedesmaligen Genehmigung dcr Krone, um die von 5 zu 5 Jahren nachgesucht werden sollte, abhhängig. Gleichzeitig übernahm die Regierung ein- für allemal die oben erwähnten Lasten. Letzthin nun erhielt die Stadt auf ihr Gesuch den Bescheid, daß die 8700 Rubel nur noch 10 Jahre ihr gewährt werden würden. Ob die Krone jenes Privilegium ohne alle Entschädigung aufheben will, wußte mein Gewährsmann nicht zu sagen, ebensowenig, woher die Stadt den Ersatz für den stattfindenden Ausfall zu nehmen gedenkt. ^ Ueber die von den Bürgern Zu leistenden Abgaben nnr so viel, daß der Rath im Einvernehmen mit den beiden Gilden dieselben ausschreibt. Auch die Ausgaben der Stadt werden so bestimmt. Jede Gilde stimmt corporativ. Wenn über den Vorschlag des Raths nur eine Gilde mit Ja stimmt, so wird er Beschluß, stimmen dagegen beide mit Nein, so ist er verworfen. Die vier Bürgermeister lösen sich jährlich im Präsidium ab; jeder führt dcr Reihe uach ein Jahr lang den Vorsitz oder, wie man sagt, „er ist am Wort". Der präsidireude oder wortführende Bürgermeister erhält 500, die anderen 250 Rubel Gehalt. Tic Stadt steht in jnrisdictionellcr Beziehung unmittelbar unter dem Petersburger Ncichsscnat (für Bcrwaltnngsangclegcnhciten ist die nächste Instanz die Gouvcrnemcntsrcgicrung). Sie schickt anf den Landtag zwei Dcvutirte, die jedoch nur bei Landcssteucrfragcn Stimme haben. Rcval hat nach dcr letzten Volkszählung (Ende 1863) 25124 Ein-wohner. Unter diesen sind, nach Luther's 'Angaben, 13000 Esten, 8000 Deutsche, 800 Schweden; die übrigen, im Ganzen also 3300, sind Rnsscn, Letten n. s. w. Da dcr Dom, d. h. die anf dem Schloßbcrge erbaute und mit eigenen Mancrn umgebene Stadt, ihre eigene politische uud kirchliche Verwaltung besitzt, mit dcr die eigentliche Stadt gar nichts gemein hat, so betrifft das, was wir von dcr Vcrwaltuug, den Beamten, dcn Einkünften und Ausgabeu dcr Stadt gesagt haben, einzig und allein diese. Die Stadt, oder vielmehr dcr Rath, ist Patron des städtischen Kirchen-und Erziehnngswcscns-, er wählt nnd bezahlt die Geistlichen, den städtischen Superintendenten, die Lehrer, und sorgt überhaupt für Kirchen und Schulen. Die Einkünfte aus dcu Hospitalgütcru, die in dcn Gottes-kastcu fließen, dienen zur Erhaltung dieser Institute. — In der Sonntagsnummcr dcr Rcvalcr Zeitung vom 28. Iuui /10. Juli tüudigtc dcr „Kirchliche Anzeiger" Gottesdienst in 6 Kirchcu an: in der Olauskirchc, St. Nitolaustirchc, Domtirche, Michaclskirchc, St. Johanns tirche nnd Karlskirchc. Mit Ansnahmc dcr Domlirchc, die in dcr oberen Stadt anf dem Schlosibcrgc liegt, gehören die übrigen fünf Kirchen zmn — 167 — städtischen Vcrwaltuugsgebict. Die St. Dlaus- und Nikolaustirchc sink deutsch; die Et. Michaelstirche schwedisch (ob hier immer nur schwedisch gepredigt wird, weiß ich nicht); die St. Iohaunis- und Karlskirchc cftnisch. Außerdem befinden sich in der Stadt zwei, iu den Vorstädten mehrere kleinere russische Kirchen; auch an cincr katholischen Kirche fehlt es nicht. Die älteste Kirche ist die zum heil. Geist, in deren Hof die Geistlichen der cstnischcn Gemeinde wohnen und wo anch die cstnischc Schule sich befindet. In der Kirche selbst hält man nur selten Gottesdienst, dann zwar in cstnischer Sprache. Nach dem Bericht Luther's hatte der Rath den städtischen Esten zuerst die Kirche zum heil. Geist, oder die sogenannte Rathstapcllc überlassen. Als die cstnischc Gemeinde sich vergrößerte, baute man ihr die St. Iohannistirche unter dem Schmicdcthor, nud jetzt noch die Dom-Karlstirchc, die zwei Thürme erhalten wird (s. S. 70). Die St. Olauskirchc ist die größte, ihr Thurm ist nicht nur der höchste in den baltischen Ländcru, sondern im ganzen russischen Reiche, wobei freilich zu bemerken ist, daß die russischen Kirchen sich nicht durch hohe Thürme auszeichnen. Der Thurm der St. Olauskirche erhebt sich, wie mau sagt, bis Zu ciucr Höhe von 429 Fuß. Der erste Bau der Kirche stammt aus dem I. 1329; der Blitz schlug zu verschiedenen Zeiten neunmal iu dieselbe; uach ihrem letzten Brand von 1820 wurde sie erst 1841 wieder hergestellt. Am Sountag den 29. Juni / 11. Juli ging ich in die estuische St. Iohanniskirche zum Gottesdienst, der hier früher begiuut, als in den anderen Kirchen. Das Gebäude ist neu und groß: auch der Thurm ist stattlich. Es traf sich, daß ich im Versehen durch die Satristcithürc hinciutrat; der Pastor bedeutete mich sehr freundlich uud ließ mir durch den Kirchendiener einen Sessel in die Kirche tragen, da auf den Bänken kcin Platz mehr sein dürfte. Uud fürwahr, ciue derartig gefüllte Kirche bei einem gewöhnlichen Gottesdienst habe ich taum je zu scheu Gelegenheit gehabt. Nicht nur unten die Bänke und oben die Chore waren vollgepfropft, sondern anch die Räume zwischeu dcu Bänken; ja, es saßen sogar Jungen auf dem Steinboden und dem erhöhten Untertheile der Bänke; in den Bänken drängten'sich namentlich Mädchen in zwei Ncihcn, abwechselnd die eine sitzend, die andeic stehend. — Die Kirche besteht, wie fast alle älteren, aus drei Schiffen, von denen das mittlere — 168 — etwas höher als die beiden Seitenschiffe ist, und auf jeder Seite von vier Säulen getragen wird. Der Altar sieht einfach aus, wie es in protestantischen Kirchen Sitte ist, jedoch zierlicher als gewöhnlich bei uns. Das Altarbild ist groß, und soweit ich urtheilen kann, sehr schön gemalt; dem Altar gegenüber über dem Haupteingang befindet sich ein nach mnen gerundeter weiter Chor mit einer sehr großen Orgel. Der Fußboden der Kirche ist mit Quadersteinen ausgelegt; Bänke, Thüren zeigen zierliche Schnitzarbeit, sie sind Holzfarben angestrichen. Das ganze Gebäude weist auf einen geschmacksinnigen Erbauer. Als ich eintrat, sang eben die Gemeinde zur Begleitung der Orgel. Es war ein Gesang, wie ich ihn bei uns in protestantischen Kirchen nie gehört habe. Schon in Dorpat war ich über den schönen Kirchcngesaug erstaunt gewesen; dort ließen jedoch außer den heimischen Esten nahezu AM Sänger vom ^ande mehr oder weniger einstudierte Gesänge hören, hier aber sang die Gemeinde, wie sie eben des Sonntags zum Gottesdienst zusammenkam. Alles ging in größter Regelmäßigkeit znsammcn, nnd dabei hörte ich so wohlklingende, ja geradezu schöne Stimmen, daß ich voll Bewunderung stand und lauschte. Der Kirchendiener trug eine vergoldete Bibel aus der Sakristei und legte sie auf die Kanzel, welche an einer Säule des mittleren Schiffes angebracht ist; nach ihm erschien der Pastor in schwarzem Ornat. Nach einem kurzen Gebet erfolgte die Verlesung des Textes, auf Grund dessen die Predigt gehalten werden sollte. Pastor Luther, ein Verwandter des Bürgermeisters, ist in der großen Kirche vollkommen hörbar, auch für mich, obwohl ich mich etwas seitwärts gesetzt hatte. Mit seiner kräftigen und dabei angenehmen Stimme thut er es den Dorftatcr Rednern zuvor, und doch sprachen dort manche, die ein vorzügliches Organ hatten. Nach der Predigt sang die Gemeinde einen Vers, während dessen der Pastor ans der Kanzel blieb. Hierauf folgte ein langes Gebet, das die ganze große Gemeinde mcistcntheils tniccnd mitsprach. -^ Nach Beendigung des Gottesdienstes folgte die Ausspendung des heil. Abendmahles. Die Ceremonie dabei ist hier viel feierlicher als bei uns. Der Gesang des Pastors vor dem Altar war wahrhaftig ausgezeichnet; — man hörte, daß er kein ungcschnlter Sänger war. Von dem Chore antwortete und begleitete mau die Handlung mit einen: so wunderschönen Gesang, daß ich hinanfging, um mir die Sänger anzuschauen. Die große Orgel spielte ein junger Mann. Sie hat ein Pedal nnd drei Mäuualia über einander. Vorne au der Rundung des Chores saßen die Sänger. Zur Rechten des Dirigenten 7 Männer, darunter 2 Knaben, znr linken 8 Mädchen, alle mit Noten versehen. Die Aus- — 169 — thcilung des heil. Abendmahles begleitete nun ununterbrochener Gesang, aus dem manchmal die Stimme des Pastors hcrvortdnte, wenn er in der einen Hand den Kelch haltend, mit der andern die vom Tisch des Herrn sich Entfernenden segnete. Unter den weiblichen Gliedern der Gemeinde siel wohl da nnd dort der häßliche Revaler Kopfputz auf, der größere Theil aber war nach stadtischer Mode gekleidet. Auch die Sängerinnen auf dem Chor trugen alle moderne Sommcrhütchcn. Die Männer boten einen ähnlichen gemischten Anblick dar; Städter und Landleute saßen bunt durcheinander. Nach dem heil. Abendmahl sollten noch einige Taufen stattfinden; ich verließ jedoch nun das Gotteshaus; draußcu vor der Thür harrte ein Kmdcrsarg mit weißen Spitzen der Einsegnung des Pastors. Ich eilte in die Domkirche, wo, als ich ankam, der Gottesdienst eben beendet war. Das Innere der Kirche betrachtend, erblickte ich dasselbe mit einer großen Anzahl adeliger Wappen geschmückt. Die Kirche ist Eigenthum des Adels und wird von der Ritterschaft des Landes unterhalten, welche auch den General-Superintendenten wählt. Uebrigens sehen sich die Domtirchc und die Olaus-, sowie die Nikolauskirche sehr ähnlich, nur befinden sich in der ersten die meisten Wappen und Grabsteine. Sie sind alle heizbar, was ich in der estnischcn Kirche nicht bemerkte. Auch in die Olauskirchc kam ich gerade, als man eben nach beendigtem Gottesdienste das heil. Abendmahl austheilte. Die Ceremonie ist ganz dieselbe, wie in der Iohanniskirchc. Einen großen Unterschied nahm ich jedoch zwischen der Dom- und der Olauskirchc einerseits, und der estnischcn Iohannistirche andererseits wahr; in dieser fand ich außerordentlich viel andächtige Zuhörer, in jenen schien der Besuch des Gottesdienstes bei weitem schwächer Zu seiu; in der cstnischcn Kirche sah ich ferner nur einen einzigen, in seine Nationaltracht gekleideten, Kirchendiener; in den anderen gingen vier bis sechs in moderner Amtsklcidung einher; auch sie sprachen jedoch untereinander ebenfalls cstuisch. Am andern Tag besuchte ich Herrn Pastor Luther, der in dem Hofe der Kirche zum heil. Geiste wohnt, und fand ihn sehr bereitwillig, nur einige Aufklärungen über die estnische Gemeinde zu geben. Er war eben mit der Herausgabe von Amtsschriftcu beschäftigt. Als er seine Arbeit beendet hatte, machte er auf mei^e Bitte für mich einen kleinen Auszug aus den Kirchenvcrzeichnissen. — Die cstnischc Gemeinde hat Zwei Pastoren (gegenwärtig Luther als ersten ssMwi- primariu^, der "uch die Kirchenbücher führt, und Frcsc, der übrigens mit ihm gleichberechtigt ist). Sie werden vom Rathe der Stadt, nachdem dieser die Zustimmung der Gemeinde eingeholt hat, ernannt und besoldet. — 170 — Wie ich bereits vom Bürgermeister Luther vernommen hatte, war die Kirche zum heil. Geist, welche man auch Rathskapclle nannte, die erste cstnische Kirche gewesen. Als sie für die immer mehr und mehr anwachsende cstnischc Gemeinde zu klein wnrde, ließ die Stadt die St. Iohanniskirchc erbauen, welche nach Angabe des Pastors 75000 Rubel gekostet hat; für die Orgel, die 40 Register hat, bezahlte man 5500 Rubel. Im Ganzen beträgt das in unserm Gelde nicht viel mehr als 104,000 Fl.; man mnß jedoch bedenken, daß der Werth des Geldes in Rcval ver-hältnißmäßig viel größer ist als bei uns. Im I. 1867 wurde die neue Kirche eingeweiht. Jetzt baut man sogar noch eine estnische Kirche, die Karlstirche, oder Dom-Karlskirchc, welche jedoch für das vorhandene Bedürfniß zn groß angelegt scheint. Laut Kirchcnrcgister vom Jahre 1868 wurden während des letzteren in der estnischen Gemeinde 221 Knaben und 160 Mädchen, zusammen 381 Individuen geboren. Im I. 1667 betrug die Zahl der Neugeborenen 460; 1866: 506. Dagegen kamen Stcrbefällc vor im I. 1868: 596, wovon 304 Männer und 292 Frauen; 1867: 344, 1866: 421. Diese Abnahme der Geburten und Zunahme der Todesfälle ist als die traurige Folge der letzten Nothjahre zu betrachten. Confirmirt wurden im I. 1868: 89 Knaben und 140 Mädchen, zusammen 229 Individuen; im I. 1867: 201 Individuen. Getraut wurden 1868: 96 Paare; 1867: 106, vor drei Jahren 147- Commuuicirt haben im I. 1868: 3615 Männer, 6212 Frauen, zusammen 9828; 1867 dagegen nur 9081. Während uuscres Gespräches trat der Kaufmann Wilhelm Meyer, Vorsitzender der großen Gilde, ein. In seiner Bcglcitnng besuchten wir hierauf die Kirche zum heil. Geiste, die noch ganz in ihrem alten Zustande erhalten ist und in welcher noch gegenwärtig hin und wieder cstnischc Beichten, und Sonnabend Nachmittags Gebete gehalten werden. In demselben Hofe befindet sich auch die Schule der cstnischcn Gemeinde. Die Kinder lernen hier estnisch lesen und schreiben; der weitere Unterricht geschieht in deutscher Sprache. Nachdem ich Herrn Pastor Luther für seiue Freundlichkeit gedankt hatte, entfernte ich mich mit Herrn Wilhelm Meyer, und da sich uns unterwegs der Stadtsyndicus anschloß, so gingen wir zusammen auf das Rathhaus, in welchem ich übrigens mit Ansnahmc einiger seltsamen Holzfigurcn nichts Besonderes vorfand. Das alte Gebäude ist größten-theils rcnovirt. Meyer ließ mir auch die Räumlichkeiten in dem Hause der großen Gilde öffnen. Dcr Saal, der auch zur Abhaltung vun Concerten dient. — 171 — ist insofern interessant, als sein großes Gewölbe auf zwei Säulen ruht, von welchen aus nach allen Richtungen Bogen ausstrahlen. — Einst war der heil. Kanut Schutzpatron der großen Gilde, was auf ihren dänischen Ursprung hinweist. Die Gesellschaft der Schwarzhänptcr aber wurde, wenigstens nach Angabc Meyer's, der auf die Chronik Rüssow's sich berief*), vorzüglich von bremischen und lübischen Kaufleuten, deren Handel nach Nowgorod über Rcval führte, gegründet, um ein Gegen« gewicht gegen den Nevalcr Rath zu schaffcu, dessen Beschlüsse ihre Interessen oftmals verletzten. Uebrigeus bildeten auch in Rcval die Schwarz« Häupter die städtische Wehrkraft, uuo da in ihrem Kreise viele sein Mochten, die schon wegen des eigenen Gewinnes die Interessen der fremden Kauflente schützten, so konnte es immerhin scheinen, als ob sie von den bremischen und Wischen Kaufleuten in's Leben gerufen worden wären. Der Dom oder die auf dem Schloßbcrgc erbaute obere Stadt steht, wie bereits erwähnt, unter besonderer Verwaltung. Die felsige Anhöhe ist hie und da so steil, besonders an der südwestlichen Seite, daß die an dem Rande des Abhanges erbaute Fcstuugsmaucr und die darüber liegenden Gcbändc gewissermaßen ohne Fundament zu schweben scheinen. Dazu sind die Felsen schon ein wenig morsch nnd verwittert, uud mußten bereits an mehreren Stellen mit Mancrwcrt unterstützt werden. In einem Hause, das auf solchem Gnmdc steht, kann nur ein gutes Gewissen ruhig schlafen, sagt ein Rcvalcr Sprichwort. In dieser obern Stadt liegt die Feste mit ihrem alten Thurm, das Rittcrhaus, in welchem der Landtag des Hcrzogthnms in jedem dritten Jahre abgehalten wird, die Domkirchc, die Domschnlc; die Privat-Nuscr gehören größtcnthcils cstländischcn Edcllcutcu. Nach dem einstigen Sprichwort war Estland ..das Elysium der Adeligen, der Himmel der Geistlichen, die Goldgrube der Fremden und die Hölle der Bauern". Mehr als je erinnert man sich dieses Sprichworts, wenn man die obere Stadt betrachtet; übrigens hat dasselbe wohl eben so viel Geltung als ienes, womit man Ungarn preisen wollte: „extra, llmiAiriam non 68t vita, 8i 68t. vita non 08t iw!" Während mau in Dorpat das fünfzigjährige Jubiläum der Freiheit des cstnischcn Volkes feierte, ward hier das Fest des 550jährigcn Bestehens der Domschulc begangen. Bei dieser Gelegenheit ward ein Buch *) Rüssow's Livläudische Chronik. Aus dem Plattdeutschen übertragen und "U Anmerkungen versehen von Christ. Eduard Pabst. Reval 1845. — 172 — veröffentlicht: Beiträge zur Geschichte der estländischen Ritter- und Dom-schule. Einladungsschrift zu der 550jährigcn Jubelfeier der Domschule zu Neval am 19. und 20. Juni (alten Stils) 1869. Neva! 1869. — Wahrscheinlich entstanden schon bald nach dcr Stiftung des Bisthums in Rcval Schulen; urkundlich nachgewiesen aber ist die Gründung dcr Domschule im I. 1319. Gerade 100 Jahre nach Erbauung dcr Stadt durch Waldemar begründete scin fünfter Enkel, Mcnvcd Erich, in seiner am achten Tage nach Iohannis des Jahres 1319 erlassenen Urkunde die Rechte und Privilegien der Schule dcr Revaler Hanptkirchc, demzufolge Niemandem gestattet sein sollte, in Rcval eine Schnlc Zu halten und hie-durch „die Rechte nnd Einkünfte der Schule der h. Marienkirche (die Hauptkirche war der heil. Maria geweiht) zu schädigen". Trotzdem erhielt im I. 1424, also schon znr Zeit der Krcuzhcrrcn, die Stadt das Recht, anch in dcr untern Stadt eine Schule zn errichten, welche die Vor-läufcrin des heutigen städtischen Gymnasiums war. In Reval sind demnach gegenwärtig zwei Gymnasien, das städtische, von dcr städtischen Behörde erhalten, und das Domgymnasium, welches die Ritterschaft des Hcrzogthnms als ihre Anstalt betrachtet. Es sei uns gestattet, einige Daten aus der Geschichte des letztern aufzuzeichnen, die nns nicht nur mit dcr Vergangenheit nnd Gegenwart eines ausgezeichneten Institutes bekannt machen, sondern auch Gelegenheit geben werden, einige die Wissenschaft Ungarns betreffende Verhältnisse zu berühren. Während der schwedischen Herrschaft, die übrigens dem Gedeihen der Schulen in Cstland im Allgemeinen sehr günstig war, äscherte eine ungeheure Fcnersbrnnst am 6. Juni 1684 den ganzen Dom (d. h. die ganze obere Stadt) sammt Domkirchc und -Schule ein. Zwar wurde letztere im I. 1691 wiederhergestellt, aber die Verheerungen des alsbald ausbrechcndcn nordischen Krieges, ans welche dann noch die Pest folgte, verödeten das junge Institut derart, daß Christoph Mickwitz, der im I. 1724 Obcrpastor am Dom wnrdc, damals nur noch 6 — 7 Schulknaben in einem kleinen Zimmer dicht zusammengedrängt vorfand, da die übrigen Theile des Gebäudes zum Spital dienen mußten. Als Lehrer fungirtc ein früherer schwedischer Soldat. Den Anstrengungen Mickwitz' gelang cs, das Gebäude allmälig wieder in den gehörigen Stand Zu bringen nnd die Mittel znr Erhaltung dcr Lehrer Zu beschaffen. Schon im I. 1733 waren fünf Lehrer da, zu welchen sich im I. 1750 ein Lehrer der rnssischcn Sprache gesellte. Damals betrng der Gehalt eines Lehrers 150 Thlr. (zu 80 Kopeken gerechnet), eine halbe Last *) *) Eine halbe Last betrug 6 Tonnen; eine Tonne aber 2 Metzen; eine halbe Last Korn ist also so viel wie 12 österreichische Mctzen. — 173 - Korn, ebenso viel Gerste nnd — ein Mantel, damit er vor der Jugend anständig erscheinen könne. Schüler gab es aus allen Ständen; oft lernte mit dem jnngcn Herrn sein persischer oder tartarischcr Diener. Der Unterricht nmfaßte die verschiedensten Gegenstände, so: Religion, deutsche, lateinische, griechische, hebräische, russische und französische Sprache, Geschichte und Geographie, Rhetorik und Poesie, Naturbeschreibung, Anthropologie, Arithmetik, Geometrie, Physik lind Astronomie, Genealogie und Baukunst. Vieles hievon mag jedoch nur ganz oberflächlich betrieben worden sein; auch lernte z. B. Griechisch und Hebräisch nicht Jeder. Nach dem Tode Mickwit/ trat zuerst ein Rückschritt des Institnts "N; aber bald begann die neuere uud glänzendere Epoche. In seiner M I. 1785 den Landtag eröffnenden Predigt empfahl der Obcrpastor am Dom, Christian Harpc, der Ritterschaft eindringlich die zweckmäßige und den Fordcrnngcn der Zeit entsprechende Reform der Schule. Die Ritterschaft nahm die Angelegenheit in die Hand, bewilligte die nothwendigen Auslagen, uud aus der Schule entstand eine akademische Nitterschafts-Schulc oder Ritterschafts-Atademie, mit einem Convict, in Welchem adelige Jünglinge Wohnung, Kost uud Pflege fanden. Die Einkünfte des Instituts bestanden in der durch die Nittcrfchaft auf dein Landtag votirten Summe, den, übrigens geringfügigen, Zahlungen der Zöglinge des Convicts und den Schulgeldern. Auch die Verwaltung ehielt ciuc audcrc Gestalt. Vorhin staud sie in enger Beziehung znr Kirche; jetzt übernahm die Oberaufsicht das Ritterschafts-Curatorimn, dessen Mitglieder Zwei vom Landtag gewählte Abgeordnete nnd dann bu Vertreter der vier Bezirke Estlands sind- Der frühere Titel eines Scholarchcu blieb Harpc zwar, aber seine Fnnctioncn übernahm theils ber Director, theils das Nitterschafts-Curatorium. Bei den Berathungen swd auch die Lehrer zugegen; das Protokoll führt der Director. Der Unterricht der Rittcrschafts-Schule umfaßte zu Eude des ver-gLngcnen uud auch zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts Religion, Schreiben, Rechnen, Weltgeschichte und Geographie, Aesthetik, Mathematik, Physik, Philosophie, Natnrwisscnschaft; die deutsche, russische, fran-3ösischc, lateinische, griechische und hebräische Sprache; Mythologie, Archäo-lvgie und Jurisprudenz. Später schwand die enorme Anzahl von Lchr-3cgenständcn aus dem Stundenplan der Domschnlc, und es griff ein ^deutlicher systematischer Unterricht Platz. In dieser Zeit erhielt auch ^' K. Bacr hier seine Ausbildung. Ernst Karl Baer (geb. 28. Febr. 1792 auf dem Gute Piep im Iärvcr Bezirk) gcuoß bis zu seinem 15. Jahre seine Erziehung im cltcr-llchcn Hanse. Im August 1807 kam er nach Ncval in die Domschulc. — 174 — Nach bestandener Porprüfung hielt man ihn für die Prima reif, nur griechisch sollte er mit den Anfängern in der Tertia lernen. Bacr trat als Primaner in die Schnlc ein und fand gleichzeitig Aufnahme im Convict, das damals 20 adeligen Jünglingen Unterkunft gewährte. Da die Zöglinge gar nichts oder nur wenig bezahlten, so waren die Plätze sehr gesucht und man mußte sich daher schon einige Jahre früher anmelden. Die Jünglinge wohnten iu Zwei Stockwerken; Baer kam in's obere, dessen Inspector der Schuldircctor Wehrmann war. Die Schule zählte die Classen von odcn nach unten, die Prima oder erste Classe war also die oberste. Die Schüler besuchten je nach ihrer Fertigkeit in den einzelnen Wissenschaften zugleich die Prima, Secunda oder gar Tertia, wie Vaer, der alles andere in der Prima lernte, griechisch aber in der Tertia. Baer nennt iu seiner Selbstbiographie die Schule, namentlich die Prima, vorzüglich; die zweiHaupt-professorm dieser Classe waren: der Philologe Konrad Johann Wehrmann, Schüler des Güttinger Professors Hcyne, und der Mathematiker Vlasche. Da Wchrmann Director der ganzen Anstalt war, so unterrichtete er wöchentlich nur 12 Stunden; seine Lchrgcgcnständc waren Griechisch, Lateinisch, Geschichte und Geographie, die er in drei Jahrgängen vortrug. Baer blieb drei Jahre in der Prima. In dein Convict standen 10 Jünglinge unter Wehrmann's Aufsicht, darunter Baer als ciuziger Primaner. Der Inspector hatte die Aufsicht übcr das Be-trageu und das Studium der Zöglinge. Jeden Abend rief er ohne bestimmte Reihenfolge Zwei bis drei zu sich, sah ihre Arbeiten durch und stellte ihnen Fragen aus den gelernten Lcctionen. Bacr nennt den in-spicirendcn Director unermüdlich, er hatte die große Gcschicklichkeit, die Lust zum Lernen in den Schülern anzuregen. — Blasche begann seinen Cnrsus der Algebra und Geometrie jedes Jahr von Neuem; dic Elemente gab er kurz, das Weitere, je mehr er fortschritt, immcr ausführlicher. Ueber Astrouomic hielt er außerordentliche Vorlcsnngen für jene, die sich freiwillig als Zuhörer meldeten. Zum Schluß eincr solchen Vorlesung erwähnte Masche einmal, daß im Rcvaler Kalender schon seit Jahren Sonnenaufgang und -Untergang wiederholt in derselben Weise abgedruckt werde; da aber der Zeitpunkt für beides sich doch langsam verändere, so forderte er seine Schüler auf, während der Ferien einmal eine sorgfältige Vercchmmg anzustellen, das Rcsnltat derselben wcrdc dann im Kalender veröffentlicht werden. Die Schüler, in solchen Berechnungen, soweit sie an der Hand der sphärischcn Trigonometrie möglich sind, geübt, nahmen die Aufforderung mit Freuden an, uud Baer erinnerte sich noch in seinem hohen Alter, wie sehr es ihn schmerzte, daß er beim — 175 — 10. December sich einen Fehler von ein bis zwei Minuten hatte zu Schulden kommen lassen; denn der Lehrer verließ sich natürlich nicht auf seine Schüler, sondern rechnete selbst nach. Wir aber sehen daraus, wie man zur Zeit Baer's die Schüler der Ritterschafts-Schule anspornte. — Der Zar Nikolaus besuchte am 30. Oktober 1827 die Schule und befahl, daß an derselben, wie an anderen Gymnasien, auf Kosten der Krone ein Hauptlchrer für die russische Sprache angestellt werden solle; im Convict aber stiftete er vier neue Plätze für estländischc adelige Jünglinge. Das zu Bacr's Zeit eingeführte System, wonach cm Schüler auch in mehreren Classen, je nach seiner Fertigkeit, in den betreffenden Wissenschaften unterrichtet werden konnte, veränderte sich im I. 1836, als man das Classcnsystcm einführte, dcmznfolge jeder Schüler alle Gegenstände in einer Classe erlernen muß. Für solche, die sich nicht zur sogenannten gelehrten Laufbahn vorbereiten, errichtete man Nebcnclassen, in welchen anstatt der lateinischen nnd griechischen Sprache Mathematik, Französisch und Russisch eingehender gelehrt wurde. Aber schon 1839 wurde neuerdings bestimmt, es solle Niemand vom Studium der lateinischen Sprache befreit werden. — Das heutige Gebäude der Domschule bezog das Institut im Januar 1845. 1851 errichtete die estläudische Ritterschaft zum Krönungsjubiläum des Kaisers eiue Anzahl Ncbeuclasscu für solche Iüuglinge, die sich zur militärischen Laufbahn vorbereiten wollten; iu denselben wurde, Nut Ausschluß der alten Sprachen, namentlich in der Arithmetik, Geometrie und iu der Geschichte und Geographie Rußlauds, uud zwar in russischer Sprache, unterrichtet. So sehr neigte damals die cstländische Ritterschaft, als fie kein äußerer Zwang dazu nöthigte, zum Nussenthum. Im I. 1854, als die Flotten der Wcstmächte Rcval bedrohten, entließ, wie fast alle Schulen, so auch die Domfchulc ihre Zöglinge. Aber trotz der Kriegswirrcn wurde das neue Convictgebäudc schou im darauffolgenden Jahre im Vau vollendet uud alsbald auch bezogen. Am 29. August 1864 feierte dcr alte berühmte Schüler der Rittcr-schaftsschule, Ernst Karl Bacr, geheimer Rath und Mitglied dcr Akademie von St. Petersburg, sein bOjähriges Doctorjubiläum. Die cstläudische Ritterschaft verewigte sein Anocukcu damit, daß sie seine Biographie, um dercn Abfassuug sie ihn gebeten hatte, in einer Prachtausgabc in Petersburg 1865 erscheinen ließ"). Da Vacr, wie bereits erwähnt, cm großer *) Nachrichten über i!cben uud Schriften des Herrn Gch. Raths I>r. Karl ^'Ust v. Vaer, mitgetheilt von ihm selbst. Veröffentlicht bei Gelegenheit seines — 176 — Gönner Ncguly's war und in dem Bnchc auch von ihm mehrfach spricht, so dürfte es hier am Orte sein, diejenigen unserer Leser, die sich für den ungarischen Sprachforscher intcressircn, und denen die genannte Schrift nicht zugänglich sein sollte, mit dem Inhalt derselben bekannt zn machen, da er den Charakter des großen Petersburger Gelehrten wie denjenigen Regulr/s in das hcllstc Licht stellt und gleichzeitig interessante Züge über die Russen mittheilt. An: 17. Mai 1844 war im „Hamburger Correspondent" ein angeblich aus Preßburg datirtcr Bericht erschienen, welcher folgendermaßen lautete: „Die Reise, welche Ncguly auf Anregung der ungarischen Akademie unternommen, um von Petersburg aus die historischeu Spuren der Ungarn anfzusuchcu, hat hier (in Preßburg) großes Aufsehen erregt. In Petersburg bot Herr Bacr Reguly, der ohuc Gcld, von Seiten der kaiserlichen Akademie eine Unterstützung an unter der Bcdiugung, daß er ihr ausführliche Berichte über die Resultate seiner Reisen mittheile. Aber Neguly nahm den Autrag nicht an, weil er von einem Russen ausgegangen. Ebenso schlug er das gleiche Anerbieten einer andern hohen Persönlichkeit aus; er fand trotzdem Mittel, nach dem Ural zu reisen." „Hier ein interessantes Beispiel," sagt Baer, „der nationalen Eifersucht und Prahlerei. Der Bericht sagt kein Wort, das wahr wäre, ja es ist von allcdem das Gegentheil wahr. Ich mußte vor Allem danach trachten, die Wirkung des Artikels, welche derselbe auf jene machen konnte, die Reguly aus humanem uud wisfeuschaftlichcm Interesse unterstützten, zu schwächen. Daß der erwähnte Artikel nicht von Regnly herrührt, der die Unterstützung der Schweden, Russen, Polen und Deutschen dankbar anerkannte, weiß ich nur zu gut." Baer erzählt später, daß Reguly von seinen Reisen in Schweden, Finnland und Estland nach Pctcrsbnrg zurückkehrte und sich dort mit großem Eifer dein vergleichenden Sprachstudium hingab. Insbesondere fiel Baer die cstnische Sprachkcnntniß Negull/s auf. Obwohl letzterer nur kurze Zeit uuter den Esten verweilt hatte, sprach er doch deren Sprache so rein, als ob er dort geboren wäre. Aber nicht nur dieser Umstand, sowie sein angenehmes Acußcre, sciu natürliches und dabei feines Betragen, empfahlen Reguly, sondern insbesondere sein unermüdliches Interesse für das, was er als seine Aufgabe betrachtete. -^ Meines Wissens, sagt Baer, wandte er sich erst von hier ans um Hilfe fünfzigjährigen Doctorjubilämus am W. August 1804, von der Ritterschaft Est-lauds. Gt. Petersburg 1665. — 177 — an die ungarische Akademie; bis dahin bestritten seine Eltern die Kosten. Als aber die Sendungen aus seiner Heimath spärlicher wurden, war Rcguly gezwungen, Schulden zu machen, was ihm an vielen Orten mehr schadete, als er ahnen tonnte. Uud doch brauchte er nur sehr wenig; er war aber nicht im Stande, aus ökonomischen Gründen einein wissenschaftlichen Interesse, das ihn einmal erfaßt hatte, zu entsagen. „Ich wenigstens fand auch nachher keinen Menschen, den das wissenschaftliche Interesse so sehr beherrscht hätte, als Rcguly". Und dabei war er von keinem Vorurthcil befangen; er fand immer Lücken in seinen Kenntnissen, die auszufüllen waren. Obwohl die ungarische Akademie, überzeugt von der Fähigkeit Rcguly's, das Gutachten der in dieser Angelegenheit am 4. Mai 1842 entsandten Siebeucr-Commission angenommen nnd dem akademische« Senat den Reisenden warm empfohlen hatte: so blieb doch dic finauzicllc Unterstützung unter dem längst bekannten Vorwand, daß kein Geld da sei, aus. „Den eigentlichen Grnnd hicvon", fährt Vacr fort, „habe ich nie entdecken können; aber irgend ein Häkchen muß die Sache doch gehabt haben. Wie? das anf den Landtagen so mächtig sich kundgebende ungarische Nationalgefühl wäre nicht im Stande, für nationale wissenschaftliche Zwecke die Mittel zu beschaffen? Hat Ungarn keine Magnaten, welche die Wissenschaft unterstützen? Hat man sie befcitigt oder beleidigt? Wir wissen es nicht, — aber wir hoffen, daß Reguly ebenso sein Ziel erreichen wird, wie dies seinem berühmten Landsmanne Csoma vou Körös gelungen ist. „Reguly hatte kciuc Gelegenheit, irgend welches Anerbieten der kaiserlichen Akademie znrückzuwciscu, deuu diese hatte überhaupt keiu solches gemacht; am wenigsten aber durch mich, der nicht einmal zur Philologischen oder historischen Classe gehörte. Jene hochgestellte Persönlichkeit aber, von welcher der vorhin erwähnte Artikel spricht (ein aus Ungarn gebürtiger russischer Beamter) ricth Reguly geradezu, uach Hause zurückzukehren." Erst spät kamen endlich vou der ungarischen Akademie 200 Gulden für Rcguly an, die aber nicht einmal zur Bezahlung seiner während der Zeit gemachten Schuldcu hinreichten; die Hilfe des österreichischen Kaisers aber, der U)00 Gulden versprochen hatte, konnte Rcguly uicht abwarten. Iu dieser Bcdräuguiß wollte er sich um eine Anstellung im russischcu Staatsdienst bewerben, um vielleicht so seine Reise uach dem Ural auszuführen. „Das aber", sagt Bacr, „fand ich zu gewagt, dcnu ich wußte, baß alle in dieser Vezichnug gehegten Hoffmmgcn ciucrscits und gemachten Versprechungen audcrcrseits zu nichte würden, sobald ein Wechsel der Hunfalvy, l2 — 178 -^ maßgebenden amtlichen Personen stattfände. Diese Beforgniß theilte ich meinem Collcgen Frähn mit. „Wenn Reguly mit unserer Unterstützung nach dcm Ural reisen tonnte", meinte Frähn, „so gäbe ich so und so viel". Bacr zeichnete mm ebenso viel, und auch andere halfen, bis die erforderliche Summe beisammen war. So reiste Rcguly am 9. October 1843 von Petersburg auf Kosten der russischen Akademiker nach dem Ural. Da die Sache sich so verhält — und daß sie in der That sich so verhält, beweisen Reguly's Briefe — so können wir leicht begreifen, daß die Aeußerung des Pretzburger Correspondent«: den Petersburger Gelehrten sehr wehe that, besonders aber Baer, den Reguly wie einen Vater verehrte, uud das mit Recht*). Ich theile noch einen Zug aus dem Artikel „Dichtung und Wahrheit" mit. „Im I. 184ili", erzählt Baer, „hatte sich der ungarische Reisende, der mich öfters zu besuchen pflegte, mehrere Wochen lang nicht gezeigt. Als ich mich nach ihm erkundigte, hörte ich, daß er seine Wohnung verändert habe und daß man ihn krank vermuthe. Ich entschloß mich sogleich, ihn aufzusuchen. Da ich aber nur den Stadttheil erfahren, in welchen er gezogen, aber weder Straße noch Hausnummer kannte: so suchte ich mir nnter den Lohnkutschern einen solchen heraus, dessen Physiognomie einen herzlichen Ausdruck zeigte und sprach zu ihm: „„Höre Freund, ich muß einen jungen Ungarn aufsuchen, der mir empfohlen ist. Wie ich höre, ist er sehr krank und seine Mutter weiß nicht einmal etwas davon. Vielleicht stirbt er gar, und wir können dann nicht einmal sagen, daß wir ihm in seiner .Krankheit beigestandcn haben. Wir müssen ihn also aufsuchen; ich weiß aber nur, daß er in dieser Gegend wohnt, kenne aber das Haus nicht. Willst Du mich fahren und mir ihn suchm helfen? Du kannst besser sprechen und umherfragcn als ich: erkundige Du Dich in jeder Handlung und ich will die Hauswirthe fragen."" Auf die lange Nede antwortete der Kutscher nur: Miäjom — fahren wir! aber in einem Tone, der gewissermaßen zu sagen schien: wir werden ihn schon finden, wozu die lange Rede! — Das Suchen war äußerst schwierig, zumal ich dm Vornamen von Rcguly's Vater nicht kannte, der gewöhnliche Russe sich aber um den Familiennamen gar nicht bekümmert, sondern jeden nach dem Taufnamen seines Vaters benennt. Nach drei Stunden langem vergeblichem Suchen fanden wir endlich Reguly; er war in der That krank. Der Kutfcher blickte zur Thür hinein, und als er den Patienten sich mit Mühe im Bette aufrichten sah, wollte er keine Bezahlung annehmen." *) Siehe „Reguly-Albmn" von Toidy. Pest 1850. — 179 — Schließlich sei erwähnt, daß Neguly durch Vermittelung Vacr's auf den Wsewolowsky'schcn Gütern im Ural wirklich gastfreundlich aufgenommen und lange bewirthet wuvdc. Soviel hierüber. Da ich augenblicklich von der Dom- oder Ritter-schule handle, so wäre cs wahrhaftig Undank gewesen, des Baerjnbilänms sowie jenes Buches, das die cstnische Ritterschaft ihm zu Ehren herausgab, nicht Zn gedenken. Die Biographie, der ich das, was der Leser hier von Reguly und Bacr gehört, entnahm, ist für uns gewiß interessant. — Die heutige Verfassung und Leitung der Domschule ist folgende: Sie besteht aus sechs Classen, uon denen die dritte in Zwei Abtheilungen zerfällt; die Reihenfolge derselben ist, von oben angefangen: Prima, Sccunda, Ober-Tertia, Unter-Tertia, Quarta, Quinta, Sexta. Ordentliche Lehrer sind zehn; außerdem sechs außerordentliche für Zeichnen, Gesang, Gymnastik u. s. w. Das Curatorium der Schule bestand auch im I. 1869 aus jenen sechs Gliedern, die ich bereits erwähnt habe, als den zwei von: Landtag gewählten und den vier Vertretern der einzelnen Kreise. Die Gymnasien der baltischen Provinzen, sowie die finnischen und die russischen im Allgemeinen, bestehen aus sieben Classen. Wenn wir den Lchrplan eines Petersburger Gymnasiums zur Hand uchmeu, so finden wir, daß man die lateinische Sprache schon in der untersten oder ersten, die griechische aber in der dritten Zu lehren anfängt. Im Ganzen werden der lateinischen Sprache 34, der griechischen 24 Stunden wöchentlich gewidmet. Außer diesen beiden Sprachen lehrt man russisch und slavonisch wöchentlich 24, französisch und deutsch wöchentlich je 19 Stunden. In Petersburg lcrueu also die Knaben in der ersten, der unterstell, Classe des russischen Gymnasiums gleich fünf Sprachen- russisch, slavonisch, lateinisch, französisch und deutsch. Ebenso viel Sprachen lernt man m den: deutschen Anncugymnasinm, mit dem Unterschiede, daß dort d^r russischen Sprache noch mehr Stunden gewidmet sind. Es ist für uns Ungarn gut, das zu wissen, die wir geneigt sind, wegen der vielen Sprachen das Griechische fallen zu lassen, was man nirgends in Europa, mit Ausuahme der Türkei, zu thuu wagt. Die vielerlei Sprachen sind gewiß ein Uebel; aber in den französischen Gymnasien wird dies Uebel eher gesucht, denn gemieden; hier sind die französische, lateinische und griechische, die deutsche und englische Sprache obligatorische Lehrgcgcuständc und je nach den Umständen tritt an Stelle der englischen die spanische oder 'talienische Sprache. Wie groß aber auch das Uebel der Sprachen- 12' — 180 — Mannigfaltigkeit fei, wir Ungarn können cs untcr allen Völkern in Europa am wenigsten vermeiden. Von Rcval führt ein interessanter Weg nach Katharinenthal, das von zahlreichen Badegästen heimgesucht wird. Hier liegt das Haus Peters des Großen, das er sich bei seinem Aufenthalt in Neva! bancn ließ; cs ist klein und anspruchslos nnd wird von den es umgebenden Bäumen nahezu bedeckt. Auch einige Denkmale des großen Mannes befinden sich hier; wir konnten sie aber leider nicht sehen, da der Anf-scher des Hauses uicht gegenwärtig war und wir keine Zeit fanden, uns noch einmal deshalb hinzubcmühcn. Ein weitcrgelegencs Ausflugsziel ist Kosch, das jenseits des Katharmcn-thals am nördlichen Theil des Hafens liegt nnd mehrere hübsche Wohnungen nnd Unterhaltungsplätzc dem Rcvalcr Besucher darbietet; der Brigittcnfluß hat sich hier ein tiefes Thal gegraben, das mehrere interessante Landschaftspanoramen zeigt. Das interessanteste nnd gleichzeitig größte Panorama aber ist der Hafen selbst mit den: sich aus-buchtcndcn Meere, an dessen jenseitigem Ufer Relial mit dem Olaus-thurm hervorragt, während diesseits die Brigittenrninc gleichsam die entschwundene» Iahrhuudertc bezeugt. Bei schönem Wetter kann man sich kaum einen angenehmeren uud an Abwechselung reicheren Unterhaltungsort wünschen, als Kosch. Da wir zur Brigittcnrnine gehen wollten, so eilten wir zunächst an dem linken Ufer des Flusses abwärts und ließen uns dann an der dazu bestimmten Stelle übersetzen. Von dem einst zu Ehren der. heil. Brigitta erbauten Kloster haben sich noch die vier Stcinwände der Kirche und der ganze Vordcrtheil mit den bogenförmigen Fenstern erhalten. Der Platz vor der Kirche ist jetzt der Gottesacker der Umgegend; mehrere Wohnhäuser umgeben ihn, darunter ciu größeres hotelartigcs aus Maucrwcrk, in dem man auch spciseu kann. An: Ufer lauern auf den Ausstcigcndcn cstnischc Kinder, welche das Thor zu öffnen eilen, mn einige Kopeken zu bekommen. Auf dem Friedhof bezeichnen einfache Lreuze die Gräber, an denen gewöhnlich Inschriften, manchmal längere Verse, zu lesen sind. Beinahe überall heißt cs: 8iin Itin^ad.lummala raknoAi --- hier ruht im Frieden Gottes, worauf der Name des Todten u. f. w. folgt. Hier ein Beispiel der religiösen Dorfpoesie; ich führe cs mit der Orthographie, in der cs geschrieben, an: — 181 — Oh armas hing, kus oiled läimid? Kus on sind surma-ingel viind? Ta on sind Issa kotta kannud. Ning riust rahho sisse viirid! Meid peab weel mailm siin vangis, Ki mitme patto vörguga: Sa agga laulad paradisis, Kus tuhhat laulvad simioga. (O theure Seel', wohin gingst Du? Wohin trug Dich des Todes Engel? Er führte Dich in Gottes Haus, Zur Nnhe aus dem Kampfe. Wir sind noch im Kerker dieser Welt, Im Netze mancher Sünden: Du aber singst im Paradies Wo tausend mit Dir singen.) Da die Ruine auf einer dem Meere zugewandten Anhöhe liegt, so verspricht sie von weitem viel mehr, als man in der Nähe findet: aber die düstere nnd ernste Masse ist doch nicht ohne Wirkung. Die spitz-bogige Thürc ist niedrig, als ob das Fundament tief in der Erde säße; drinnen herrscht feierliche Ruhe; der Boden ist mit Gras bewachsen, das man abmähen kann; die starken Wände zeigen noch die Fensteröffnungen und die Bogen der verschwundenen Gewölbe; aber innen keine Spur mehr von einem Pfeiler. In einem Winkel ist ein steinerner Treppenaufgang, der vielleicht zu den Klosterzellen führte: von diesen sind aber wenig Ucberbleibscl Zu erblicken. Als wir uns an den Wänden umsahen, fanden wir an einer Stelle eine Oeffnung mit einer Thür; vor der Thür trocknete Gras. Hier wohnt also Jemand, der Futter für den Winter sammelt. Bald erblickten wir eine Frau, die auf dem Kopfe die bekannte Ncvaler Haube trug; sie war mit Wolle-stricken beschäftigt. So gut ich konnte, frug ich estnisch: Wohnst Du hier? (denn das Dutzen ist hier allgemein).— Ja. — Auch im Winter? "^ ^ak, ning taivel — Iah (das spricht man sehr start aus) auch im Winter. — Wo ist Dein Mann? — Er ist vor zwei Jahren gestorben. — Bist Du allein? — I^i, kak» 1^)8 011 mul ^ nein, ich habc zwei Kinder; einen Knaben und ein Mädchen, die im Tagclohn arbeiten. Ich bat sie, uns ihre Wohnung zu zeigen, wozu sie mit Ver-NMgen bereit war. Wir krochen durch die niedrige Oessnnng und gelangten an einen höhlenartigcn Ort, dessen Decke gewölbt und von ^anch geschwärzt war. Wir fanden hier verschiedene Spinnvorrichtungen und andere Werkzeuge, eine Drechslcrbank, ein Stemmeisen u. s. w., — - 182 — denn ihr Mann war ein puu-Zep gewesen. ?uu-86p ^ Holzarbeiter, was Zimmermcister, Drechsler, Tischler, Wagner u. s. w. bedeutet. Anf der Bettstelle lag kaum etwas Bettzeug. — Dieses Local ist also die wa,-6äin6, Vorstube des Zimmers. Von hier führte uns die Frau ins Zimmer (wda, ungarisch 82oda). Die Fenster sind klein und mit Glasscheiben versehen, der Herd steht frei an der Wand, daher auch die Decke des Zimmers so rufsig ist. Auch hier finden wir verschiedene Gefäße. Aus dem Zimmer gingen wir noch in verschiedene Kammern, aus diesen in einen kleinen Stall, woselbst sich ein kleiner eingezäunter Raum, ein Garten, befindet. Zur Zeit des Klosters mag hier ein Wachthans gestanden haben. Ans der niedrigen Höhle hcrvorkricchend, sagte ich zu meinen Begleitern: Jetzt habt ihr eine estnischc Bauernwohmmg gesehen. Darauf rief ich die Frau nochmals heraus und fragte sie, ob sie auch Bücher habe? O ja, sehr viele, war die Antwort. — Und von einem Gestelle im Vorzimmer nahm sie drei Bücher herab und präsentirtc sie uns. Das eine größere, in schwarzes Leder gebunden, war die Bibel; das zweite, in Quartformat, eine Sammlung der an Sonntagen üblichen Evangelien und Episteln mit Betrachtungen, also eine Postille; das dritte, etwas abgenutzte in Octavformat, „LoM inaa, 4'anvg, ^ kiriko raamat ----- das estnische Volks- und Gesangbuch (s. die Anmerkung S. 99), welches die Frau Itmw-Ki'ii -- Gesangbuch nannte. Also selbst ein so einsam Lebender besitzt so viele Bücher zu seiner Erbauung! -— Wer lehrt Deine Kinder lesen? frug ich. — Neio üMamL illM lu^cia — wir selbst lehren die Kinder lesen! Als wir zurückkehrten, erglänzte das Meer goldig im Abendlicht und über den düsteren Ruinen lächelte der nordische Abend. Uns gefiel der Ort so sehr, daß wir noch einmal eine Wasscrparthie dorthin unternahmen. Das Wetter war diesmal wohl etwas windig, das hielt uns jedoch nicht Zurück; da die Bootsleute den Weg oft fahren, so kann man sich ihnen schon anvertrauen. Als wir weiter hinauskamen, wo die Bewegungen des Meeres nicht mehr von den Ufern des Hafens gebrochen werden, schaukelte auch unser Kahn hübsch auf den unter uns dahineilenden Wogen. Wir stiegen am Brigittcnnfcr aus, besuchten noch einmal die interessante Ruine und ihre Umgebung und ergötzten uns an dem Glänze des Meeres. Bald aber begann der Himmel sich zu trüben, der Wind blies stärker und stärker. Wir kamen uns schon als erfahrene und kühne Schiffer vor und eilten deshalb nicht sehr zurück-Kaum aber hatten wir das Ufer verlassen, so mußten wir wahrnehmen, daß immer größere und größere Wogen sich gegen nns wälzten. Die — 183 — Ruderer lenkten geschickt und vorsichtig derart den Kahn, daß er immer den Wellen entgegenfuhr. Diese nahmen ihn dann leicht auf ihren Rücken und setzten ihn ebenso leicht wieder ab. Aber der Mensch fühlt sich in solchen Momenten ohnmächtig und schwach; wir zeigten einander keine Furcht, aber wir saßen still und lautlos und beugten uns jedesmal ein wenig, so oft die krausen Wogen über die Flanken des Kahnes spritzten und den Zornesschaum auf unser Haupt gössen. Doch ärgerte es uns, daß unser Kahn gar nicht vorwärts Zu kommen schien. Der kleine Weg dauerte länger als zwei Stunden. Endlich stieß unser Fahrzeug an's Ufer und wir sprangen freudig an's Land. IX. Der frühere Zustand der Esten. (Das Interesse für die vorhistorische Zeit der Nationen. Heinrich der Lette beschreibt als Augenzeuge die Eroberung der baltischen Provinzen. Nie betrugen sich die unterdrückten Letten gegen die Christen? Die vier Bezirke der Liven. Sie fühlen zuerst die Wirkung der Eroberung; sie empören sich mehrmals. Unter ihnen entsteht die ^ävaoatia, welche bald in Verfall geräth. Die christlichen Liven sind grausam gegen die Esten. Der Live Kaupo ist treu. Die Bezirke dcr Esten; sie vertheidigen sich energisch. Der Este Lembit. Kilcgund. Maja. Maleva. Nagat ^- Häute als Geld. Estnische Städte. Tharapita. Losung. Die Sage. Taara. Utko. Inmal. Wanemuine. Dem Menschengeschlecht gehen Riesen voran. Kalev. Kalev's Sohn ---- Äalevipoeg. Geschichte der Kalevipoeg-Sage. Die Sänge (Betten) des Äalevipoeg. Die Sage ist nnr ein Bruchstück.) Sowie Jugend und Kindheit des Menschen besonders anziehend sind, so erscheint uns auch jene Periode dcr Nationen, welche der historischen Kenntniß vorangeht, in jugendlichem Zauber. Wir wünschen sie kennen zu lernen, selbst wenn wir Grund haben zu zweifeln, daß es uns gelingen wird. Wie sollten also wir Ungarn nicht neugierig sein, die alte Zeit des estnischcn Volkes kennen zu lernen, zumal da dcr sogenannte Heinrich der Lctte die Geschichte dcr Unterwerfung desselben so eingehend und getreu erzählt; da nns ferner die Sagen überall so lebhaft an das Alterthum erinnern und endlich in dcr estnischen Sprache selbst ein solches Verhältniß zur ungarischen sich offenbart, wie wir es in keiner bekannten europäischen Sprache (die finnische und lappische natürlich ausgenommen) finden. Welches war dcr Zustand dcr Letten, insbesondere aber dcr ^ivcn-und Esten vor dcr deutschen Eroberung? Ans diese Frage giebt der bereits erwähnte ss. S. 25) Heinrich dcr Lette die gctrcueste Antwort in dem Buche: Ori^ine^ I,iv0ni3,6 83.«-ao et eivili^). Wer war *) Zuerst herausgegeben von Johann Daniel Grnber in der Sammlung „Lenptoi-LZ rerum I^voniearum", in Frankfurt n. Leipzig 1740. Neuerdings — 185 — bieser Heinrich, den man den Letten nannte? Aus seinem Buch? kann Man so viel erfahren, daß ihn der Bischof Albert, der vorzüglichste Beförderer der Eroberung des Landes nnd der Gründer des Schwcrtrittcr-ordcns ss. S. 24—28) erziehen ließ: er nennt sich wenigstens seinen Schüler; ferner, daß er lettischer Abkunft („IIourieu8 äo I^tti«") und deshalb in einem deutschen Kloster erzogen worden, damit er als Bekehrcr, Geistlicher und Dolmetsch der neuen Kirche diene. „Das Buch Heinrich's", sagt sein letzter Herausgeber, Hansen, „erinnert sowohl nach seiner Schreibweise als seinen. Beziehungen und Citaten so sehr an Arnold von Lübeck, daß die Vermuthung nicht zu gewagt scheint, Heinrich sei Mit Arnold in einer Schule erzogen worden." Nachdem er Geistlicher geworden, schickte ihn der Bischof an die Ufer der Imera (jetzt Scddc), m der Nähe des Burtnceksces, znr Bekehrung der Letten, woselbst er auch seinen Wohnsitz aufschlugt). Dies geschah um das I. 1206. Im folgenden Jahre schickte ihn der Bischof mit Letten nnd Deutschen als Dolmetscher aus, um mit den Gesandten der Esten zu vcrhaudeln; der Krieg brach aber trotzdem aus und die lettische Festung Vcvcrin wurde bon den Esten belagert. Bei dieser Gelegenheit war es, wo Heinrich durch seinen Gesang den Sturm der Feinde abzuschlagen suchte. Im I- 1212 begleitete er den Ratzcburgcr Bischof Heinrich als Dolmetsch Zu den empörerischen Liven, wo er denselben kaum vor der Gefangennahme retten konnte. Als dieser Natzcburgcr Bischof im I. 1214 im ^czirte Torcida eine Festung erbaute, unterrichtete und taufte dort unser Heinrich die Söhne des Tolavaer lettischen Fürsten Thalibald. Im I- 1215 begleitete er denselben Natzeburgcr Bischof auf dessen Seefahrt uach Gothland; aber schon im I. 1216 ist er wieder bei dem Fcldzug, dm man gegen die Esten der Provinz Harricn rüstet. Während des Winters tauft er die Esten in der Provinz Iärvcn; 1218 nnd 1219 nimmt er nnf's neue in einem Kriege gegen dieses Bolk Theil. Dann bekehrt uud tauft er an den Ufern des Emaflusscs, um den Wirtzscc herum, in Dorpat, in Odcnpää, bis nach Wirland hin, wo sein College die Bilder des cstnischcn Hcidcngottes Tharapita Zerschlägt. Wie es scheint, begleitete er auch den Bischof von Modena und päpstlichen Lc« Men Wilhelm zu den Letten, Liven nnd Esten, als dieser das Laud im ^- 1226 bereisend (s. S. 26), überall die Eingeborenen zur Stand- bcsonders von Aug. Hansen „Heinrich's des Letten älteste Chronik von Livlcmd. Aufs neue herausgegeben, mit einer Einleitung und deutschen Uebcrsetznng u. s. w. ^iga 1857. N. Kylmuci's Buchhandlung. *) Ibidem cum eis habitat e et plurimis periculis expositus, futurae eis beatitudinem vitae non desiit demonstrare. XI. 7. — 186 — haftigkeit im christlichen Glauben, die Herren aber Zur Sanftmuth gegen dic neuen Christen ermähnte. Nie er bekennt, schrieb er auf Bitten der Herren und seiner Gefährten die Geschichten, „die ich alle entweder mit meinen eigenen Augen gesehen oder gehört habe von solchen, die gegenwärtig waren s^uae viäi-MU8 0cm1i8 i>0!-;tri8 t'61'6 euuetli, «t siua0 ip8i unn viäiumF prop-I>rÜ8 00UÜ8, ad i1Ü8 int6ii6ximu8) czui viäei'unt 6t interkuLrunt)." Auch läßt sich dem Vuche, wie der Herausgeber desselben bemerkt, entnehmen, daß Heinrich dasselbe wahrscheinlich auf einmal im Zusammenhange verfaßt hat, etwa von 1223, dem 25. Jahre des Bisthums Albert's, bis zum I. 1226, wo der Legat das neue christliche Land bereiste. Die Eroberung der Insel Oescl erfolgte erst nach der Rückkehr .des letzteren, und die Beschreibung derselben wird gleichsam als Nachtrag zu dem bereits fertigen Werke gegeben. Heinrich untersucht weder die Ursachen der Ereignisse, noch beschäftigt er sich mit den Charakteren der handelnden Personen, er erzählt einfach, was er gesehen und gehört hat; aber er behauptet von sich, daß er nur die Wahrheit geschrieben habe; ohne Vorliebe und Haß, Niemandem schmeichelnd, von Niemandem Nutzen erwartend (non aäula-twnik kut Ilici'i lüicuM8 tsm^or^ii« ßratili, noguo in üinoi'Lin au^ oclium alicuM« 8LlI nu" „Die Letten", so sagt Heinrich an einer anderen Stelle, „waren vor Aufnahme des Christenthums unterjocht und verachtet (1iunule3 et äe-8pecti), und litten viel Kränkung von den Liven und Esten." Darum verbündeten sie sich nie mit diesen, welche die christlichen Vckchrcr verjagen wollten, sondern schlössen sich trotz ihres Heidcnthums den letzteren an (Ä(ilmo pkßlini vitam ckriMlUwrum appi'odante8 et sorum 89,1uwm llFeetgnteZ); uud nachdem sie sich unterworfen und Christen geworden, empörten sie sich nie und blieben stets treu. Es erleichterten also die Letten den Deutschen die Eroberung sehr und kämpften anch als deren Bundesgenossen erbittert gegen ihre früheren Unterdrücker. Unter den Letten, welche sich vorzugsweise auszeichneten, erwähnt Heinrich insbesondere Thalibald und seine Söhne, sowie Russinns. Die Liven vertheilten sich zur Zeit der Eroberung in vier Bezirke. )) Ein Theil wohnte an den Ufern der Düna, wo Heinrich speziell die Holmer, Ueksküler, Lennewarder und Ascheradcr Liven erwähnt; 2) die Tore id a er Liven breiteten sich an den Ufern der Goiva Deutsch Aa) aus; Torcida (deutsch Treiden) war die Hauptftrouinz der Liven. 3) die Metze-voler Liven waren den Küstenesten einerseits und den Liven von Toreida uud Idumäa andererseits benachbart. 4) Die Idnmäer Liven wohnten am Flusse Rooft. Da die Livcu dem Angriffe der Eroberer zunächst ausgesetzt waren, und die hinter ihnen wohnenden Letten sich allsogleich und leicht mit den Christen verbündeten, so hatten sie am meisten die Verheerungen des Krieges zu erfahren. Sie unterwarfen sich nur schwer und empörten sich öfters, besonders in Toreida. Immer mehr und mehr schwand in der Folge ihre Zahl; ihre Sitze nahmen später die Letten ein. So lange die Liven Heiden waren, gab es stets Feindseligkeiten unter ihnen, denn Gewalt galt bei ihnen für Recht, wie Heinrich erzählt. (^6N8 emm Livununi qnomllnn ei at peiMi^img,; 6t, unu8Wi8Me, Hum modo kortior 6i^t, proximo 8uo, yuoä widert, mife, elmt vi.) Nach Aufnahme des Christenthums waren sie gezwungen, der Gewaltthätigkeit Zu entsagen, was sie anfangs nur uugeru thaten; wem jetzt etwas gc^ raubt worden, der dürfte sich nicht mehr eigenmächtig Genugthuung verschaffen. Darum forderten sie in der Folge den taufenden Priester auf, unter ihnen uach dcu Gesetzen der christlichen Kaiser Recht zn sprechen. So entstand das Amt der Advocatie, welches ein richterliches Amt war laus dem Worte Advoeat bildete sich später der deutsche Vogt). „So lange dies Amt gerecht geführt wurde", sagt Heinrich, „war das Volk glücklich; aber bald kam dasselbe an parteiische und gcldsnchtigc Menschen, — 188 — . und die Advocatie gcricth nur zu schr bei allen Liven Esten und Letten in Verfall (nimiZ 68t äL^ravatum)." Uebrigens verübten anch dic christlichen Liven im Heere der Eroberer furchtbare Grausamkeiten gegen die heidnischen Esten und wetteiferten hierin mit den Letten. Schr richtig schreibt Heinrich von ihnen, daß Liven und Letten, gransamcr als andere Nationen, nicht nach dem Beispiele des Knechtes im Evangelium Erbarmen hatten mit ihren Mitkncchten; sie mordeten Kinder und Frauen und schonten Niemanden im Dorf und auf dem Felde lp6r eamp08 et villa« nmmiii Mrcoi'L volutii'unt). Unter den Häuptcru der Liven erwähnt Heinrich Ako, Alo, Anno, Asso, Kaupo, Dabrcl und Andere; als besonders hervorragend nennt er Kaupo. Dessen Sitz und Feste war Torcida, an der Goiva, an deren jenseitigem Ufer die Festung Dabrcl's stand. Kanfto war gleichsam der König unter den Liven «M^i i6x ot senior I^ivonum t'uerat). Er wurde gleich Anfangs, zur Zeit des Bischofs Mcinhart, Christ und blieb beinahe bis zum Mürtyrcrthum standhaft im ncnen Glauben. Wenn die Umstände ihn begünstigt hätten, so wäre er vielleicht seinem Volke cin königlicher Prophet geworden: so aber war er nur ein sich aufopfernder Bundesgenosse der christlichen Eroberer. Als der Bischof Albert den Treioaer Bischof Thcooorich, der später Bischof von Estland wurde, zum Papst schickte, nahm Thcodorich Kaupo als Reisegefährten mit und stellte ihn Innoecnz 111. vor. Der Papst empfing ihn gnädig, küßte ihn, befrug ihn viel über die Bekehrung seines Volles und beschenkte ihn reichlich. Kaufto hatte auch die deutsche Sprache erlernt und blieb cin so trcncr Bundesgenosse der Christen, daß er dieselben gegen seine eigene Festung, welche die Liven eingenommen hatte»,, anführte. Sein Sohn Vcrthold und sein Schwiegersohn Wane waren gleichen Sinnes. Beide kämpften an der Imera gegen die heidnischen Esten und fielen in der Schlacht 1210. Kanpo wirkte auch nachher bald als Vermittler zwischen Siegern und Besiegten, bald als Kriegsgcnosse, bis endlich auch er 1217 im Kampfe gegen die Saccalncr Esten fiel. Nach Heinrich starb er als gläubiger Christ, nachdem er alle seine Besitzungen unter die Kirchen Livlands vertheilt hatte. Es beweinten ihn der Graf Albert von Orlamünde, ebenso der Abt des Stiftes und seine anderen Gefährten («t luotum Imduoi'unt, 8u^0i- oum wm cuml^ ^Idm'tu» (beim Dorfe Lcmbit's, wo die Maja war, d. h. die Versammlung derselben). Oder: llä viU^m, ioN6 «takiliunt). Die Todteu wurden verbrannt. Wenn die Heiden irgendwo die Christen vertrieben hatten, so grnbcn sie jene ans und verbrannten sie, denn sie wollten die christliche Weise selbst an den Todten nicht dulden. Soweit Heinrich der Lette über den einstigen Zustand der Liven und Esten. Es zeigt, daß diese Völker längst jenen Zustand verlässt« hatten, der weder Viehzucht noch Ackerbau tennt. Ihre Festungen, Städte und Dörfer, mögen wir uns auch noch so bescheidene Vorstellungen *) Der eine Fuß des Pferdes bedeutete Tod, der andere Leben, und >c nach' dcm dasselbe diesen oder jenen vorsetzte, galt das Schicksal nach dem Willen der Götter entschieden. — 193 ^- von denselben machen, waren derart, daß auch die Sieger sie dieser Bezeichnung würdigten. Auch beweisen dieselben, daß die Liven und Esten seit Jahrhunderten in dcm Besitz des Landes waren, in welchem sie die deutschen Eroberer vorfanden. Ja die Ortsnamen scheinen darauf hinzudeuten, daß sie die ersten Bewohner waren, wenigstens in dem Sinne, daß wir von keinem Volke, das ihnen vorangegangen wäre, eine Spur zu entdecken vermögen. Wenden wir uns nun, zur Sage, welche die vorhistorische Zeit des estuischcu Volkes erfüllt. . Ueberall lebt im Munde des Volkes die Ueberlieferung uud vererbt sich von Generation zu Generation: die bedeutendste und wcrthvollste ist die Sprache selbst. Das cstnische Volk besitzt jedoch außer dieser jedem Volke eigenthümlichen noch ganz spezielle Traditionen, welche selbst dann unsere Aufmerksamkeit verdienen, wenn wir sie einfach an sich, ohne Rücksicht auf die Traditionen der verwandten und benachbarten Völker, betrachten. Erst in. neuester Zeit haben diese Erinnerungen des estnischcn Volkes iibcr seine einstigen Zustände Beachtung gefunden und sind gesammelt worden. — In dcm dunkeln Alterthum der Völker stießen Mythus und Geschichte ineinander; die Objecte des ersteren scheinen historische Wirklichkeit Zu besitzen und auch das wirklich Geschehene bewahrt die Tradition im Gewände der Mythologie. Darum ist es unmöglich, zu bestimmen, wie viel in den cstnischcn Sagen auf historischer Wahrheit beruht und wie viel davon einzig dem dichtenden Mythns angehört. Die oberste Gottheit ist Taara, welcher Name ohne Zweifel in dem von Heinrich dem Letten erwähnten Tharapita steckt. Der Glaube an dieselbe wird in der Ueberlieferung der Glaube der Versöhnung ^pmM-u8k) genannt: „Der Taara-Glaube — so lautet die Sage — war vor dcm Mönchsglanbcn; zur Zeit des letzteren betete und las man w lateinischer Sprache. Die Mönche fürchteten sehr die Weisen des Versühnuugsglaubens, die die alten Gebete uud Segenssprüche kannten. Wenn ein solcher Weiser vor Gericht ging, so erhielt er immer Recht, wenn er auch im Unrecht war" *). Unter dem Glauben der Mönche lwungll. lmonacuS) Mönchs -usk) wird allgemein der christliche verstanden; mungaä - Mönche konnte auch die Kreuzherrcn bezeichnen, bie, wie wir wissen, Ordensritter waren. *) Mythische und magische Lieder der Ehsten, gesammelt und herausgegeben V°" Fr. Krcichwald und H. Ncus. Petersburg 1854. S. II. Hunfaly,), 13 — 194 — Der Gott Taara hatte jährlich 3 Feste, an welchen allein man ihn, weil er der höchste Gott war, unmittelbar anrufen dürfte; zu andern Zeiten übermittelten ihm geringere Götter die Gebete. An diesen Festen opferte man ihm auch; die besondere Ceremonie des Opferns war das Blutlassen aus dem Namenlosen Finger (so heißt in den finnischen und ungarischen Sprachen der Ringfinger), wobei der Opfernde und Blutlasscnde folgende Worte sprach: „Mit meinem Blute nenne und bezeichne ich dich, mit ihm bezeichne ich mein Haus, damit es glücklich sei" u. s. w. Das Blutlasscn ist auch für den ungarischen Leser, der die Chronik des Anonymus kennt, der Aufmerksamkeit werth. Der Taara heißt als höchster Gott vana i8a, ungarisch v6n ktya, deutsch „alter Vater", wie er in den Mährchen immer genannt wird. Wie jede Mythologie, so knüpft die estnischc den Namen des obersten Gottes an gewisse Stellen und Gegenstände, daher i-Mia-mäßi (Taara-VerA ^aaia-kiokenL (Taara-Hain), Inaril-tHwmi (Taara-Eiche). Von dem Dorpater Dombcrg sagt man, daß er ^auiÄ-milgi (Taara-Verg) hieß; es liegt daher die Vermuthung nahe, daß das Wort ^arw -^ Dorpat in seiner ersten Silbe ebenfalls nichts weiter als den Namen jenes obersten Gottes, IluiiN) darstellt. Eine andere bedeutende Gottheit ist Ukko, der Alte. Ukko ist'auch bei den Finnen der Gott des Donners, des Blitzes, überhaupt des Wetters; von ihm also hängt die Fruchtbarkeit ab. Jedes Dorf, ja jede gesondert wohnende Familie hat einen geweihten Stein (uku kivi, ungar-ukko Köv6, Ukko's Stein) auf dem man im Frühling nach der Saat und im Herbst nach der Ernte dem Ukko opfert. Auch Utko wird vana-isa, oder alter Vater genannt; er ist übrigcus auch sonst kaun: von Taara zu unterscheiden. — Der Finne sagt vom Donner: Mko pankaK, der Alte rollt, der Este: köu mürizwb, der Kon murrt. Im Uebrigeu bczcichuct im Estuischen pikei', i>ikn6 oder Mku« den Donner, und M86 oder pitk«s nooli den Blitz (der Pfeil des MIiii6> denn iwoli) im Finnischen mwii, im Ungarischen nM --- Pfeil). Daher auch im Ungarischen ikwn n^ila -- Blitz (Pfeil Gottes). Das Wort i'umlü, finnisch .jumlüa, bezeichnet Gott, uud dieses hat das Christenthum beibehalten. Der Stamm ist Mm, gleichbedeutend mit viw, das in dem alten ungarischen viinma^uk — wir beten, erhalten ist *). ") Daß vinikZZuo, vimllLsanmo ^ ^ z>^ linitigen lmilHuic, imü,ch'unk, wlr bettn), wirklich aus den ;wei Wörtern vim-Mani (vim ^ Gott und MHiii, opfern) entstand, beweist die tscheremissische Sprache, in welcher ^umo ^- Gott und ult, -^ rpfcrn, ,jnm-ulä6m und.jum-oitem, ungarisch iml'lüko^ni -^ beten, ^umMHw»? — 195 — Auch die Esten vergötterten Naturgegcnstände, wie ja überhaupt die erste allgemeinste Religion die Naturrcligion ist. Ich will jedoch diesen Gegenstand hier nicht ausführlicher behandeln und nur zum Schluß der in Vorstehendem gegebenen Skizze noch dreier Gestalten Erwähnung thun, welche zwischen der Gottheit und den Menschen, zwischen Himmel und Erde schweben, und gewissermaßen die Brücke znr nationalen Sage bilden. Diese drei Gestalten sind Vancmume, Ilmarine nud Lämmckune. Vanemuinc (er wird auch Vanamuine geschrieben), heißt im Finnischen ^Vüiimwüinen, und ist der Erfinder und Gott der Weisheit, der Zauberei, des Gesanges u. s. w. Fählmanu (Verhandl. der Gel. Estu. Gesellschaft, I. Bd. 1. Heft) theilt über den Gesang Vanemuiue's folgende schöne Sage mit: „Menschen und Thiere hatten ihre Sprache; gibt es doch heutzutage uoch tlugc Mcnschcu, welche die Sprache der Thiere verstehen. Aber sie war ihnen nur Zum alltäglichen Gebrauch verliehen; darnm wurden einst die Thiere zusammeubcrufen, um auch eine festliche Sprache Zu lcruen, den Gesang, zur Freude und zum Lobe der Götter. In Folge dessen versammelte sich Alles, was Leben und ^dcm hatte, im Hain des Taara-Vcrgcs. Es entstand ein gewaltiges Sausen in der Luft, denn der Gott des Gesanges, Pancmuine, stieg herab in den Hain. Er strich sein lockiges Haar znrück, schüttelte sein Kleid und griff in die Saiten. Zuerst begann er mit einem Vorspiel und sang endlich einen Hymnus, der alle Zuhörer mächtig ergriff, am nicistcn aber ihn selbst. Stille herrschte in der weiten Versammlung, alles lauschte dem Gesänge. Der Emafluß hemmte seinen Lauf und der Wind vergaß seine Eile, der Wald, Thiere und Wgcl horchten aufmerksam Zu, auch das ucckischc Echo guckte zwischen deu Bäumen hervor. Aber nicht alle, die zugegen waren, verstanden und behielten Alles. Die Bäume des Haines merkten sich nur das Rauschen beim Nicdcr-stcigcn des Gottes — uuo wenn ihr im Hain lustwandelt nnd jenes feierliche Säuseln hört, so wisset, Gott ist nahe. — Der Emafluß merttc sich das Rauschen des Kleides, und so oft er im Frühling der Ve:-ilmgung sich erfreut, braust er, wie er das Brausen damals gehört. Der Wind erfaßte die grellsten Töne; einigen Thieren gefiel das Knarren der Wirbel an der Leier, andern das Klimpern der Saiten. Die Singvögel, besonders die Lerche und Nachtigall, horchten aufmerksam auf das Vorspiel. An: schlimmsten ging es den Fischen. Sie steckten wohl ihren Kopf aus dem Wasser, aber nur bis zu den Augen, die Ohren blieben ^ iwMomü.8---mMr. im^IsäF, Gebct; ultLmas-^ ungar. älclomiiz, Opfer, Gebet bedeutet. Budenz, TschcremisMes Wörterbuch. 13' — 19tt — unter demselben; daher konnten sie nur die Bewegung des Mundes nachahmen, blieben aber stumm. Der Mensch allein faßte alles aufs und darum dringt sein Lied tief in das Herz und hoch zu Gottes Thron-Und der Alte sang von der Größe des Himmels, von der Pracht der Erde, vom Schmucke des Emaftusfes, dem Glücke und Unglücke der Menschen. Er war selbst so gerührt, daß er heiße Thränen vergoß. Dann flog er hinauf zur Wohnung des Alten Vaters, auch dort zu singen und zu spielen; und es giebt gottgewcihte Menschen, die manchmal aus der Höhe die fernen Klänge vernehmen. Damit die Menschen den Gesang nicht vergessen, schickt er von Zeit zu Zeit seine Boten auf die Erde. Einst, wenn wieder Glückseligkeit hicnieden herrschen wird, wird auch er wiederkommen." Nach dieser Sage ahmen den Gesang Vanemuine's nach: die tönende Natur, die lautbcgabten Thiere und der fingende Mensch. Nach einem andern Bruchstück, das Krentzwald mittheilt (S. 46 der Mythischen und Magischen Lieder), hat umgekehrt Vancmuine nach den Stimmen der Natur den Gesang erfunden. Möge hier auch dieses Bruchstück Platz finden: Der Erfinder des Liedes, Erfinder und Sänger Vanemuine, der Weise, saß am Berge gebengt, am Fuße der Tanne, lauschend der Lerche Ruf, dem Seufzer der Amsel, dem Schmettern der Nachtigall, dcm Schnarren des Vrntwcibchcns, dem Girren der Taube, dem, Weinen des verwaisten Vogels. Danach fügt er die Worte, ordnet nnd bindet sie, daß sie klingen wie Frcudcnlieder, wie Traucrlieder weinen; Dem Knaben Mr Frende, dem Alten zur Traner, doch allc in liebe- versöhncnder Harmonie. Ilmarinc ist der Gott der Luft, besonders aber des Feuers, und als solcher der Schmicdcgott. Von diesem, so scheint es, wie von dcm dritten, Lämmekune, weiß die estnische Sage nicht viel zu berichten. Auch in der finnischen Sage ist die Rolle Väinämöinen's am bedeutendsten; in zweiter Reihe folgen erst Ilmarinen und Länmnkä'inen. Nach dem übereinstimmenden Mythus beider Völker ging deM — 197 — ictzigcn Menschengeschlechte ein Riescngcschlccht voran. Die Güttcrsöhnc kamen herab aus dem Himmel, vermählten sich mit den Töchtern der Erde und zeugten Riesen. In den Sagen wechseln daher miteinander Götter, Göttcrsöhne, Niesen und menschliche Helden, oft in einer und derselben Person. So bezeichnet das finnische Väinämöiuen wie das estnische Vancmuinc bald Gott, bald Gottessohn, bald einen Riesen, bald einen menschlichen Helden. Zu diesen unbestimmten, an Größe und Kraft gewöhnliche Menschen überragenden Wesen gehört auch der finnische Kalcua, estnisch Kalcv. Schon der Name sagt, daß Kalcva und Kalcv cbeuso identisch sind, wie Vüiuämöincn und Vancmuinc. Die Mythologie der Finnen sowohl wie der Esten verherrlicht aber nicht eigentlich Kaleva oder Kaleu, sondern dcffen Söhne; der Vater verschwindet in unsichtbarem Hintergründe. Die hieraus bezüglichen Sagen find in der finnischen Kalevala (Kalevala heißt so viel wie: die Heimath Kalcva's) und im cstnischcn Kalcvi-ftoeg (Kalev's Sohn) enthalten. Wir haben bereits gesehen, daß das Kalcvi-poeg von Friedrich Krcutzwald herausgegeben worden ist (s. S. 140). Der Gott Kalcv nimmt Linda zur Frau, stirbt aber vor der Geburt seines dritten Sohnes. Linda trägt Steine auf das Grab des Gatten und so entsteht der Ncvaler Schloßberg, wie aus ihren Thränen der Rcvaler Obcrsce. Der dritte Sohn wurde bald nach seiner Gc° l'nrt schr start und herrschte über das Volk der Esten. Ich verzichte auf die Mittheilung feiner einzelnen Abenteuer, welche den Inhalt des Heldengedichtes bilden, da sie dem Leser nicht unbekannt sciu dürften. Sonderbar ist es übrigens, daß die Tradition den eigentlichen Namen des Helden nicht kennt, sondern ihn immer nur schlechtweg 6cu Sohn Kalev'Z' (Kalovi iw0g) nennt; auch die filmische Sage spricht ünmcr nur von den Söhnen K«leva's (Iv^v^n iwM). In den, cnvähutcu Werte Blumbcrg's ls. S. 118) finden wir, wenn wir so sagen dürfen, eine Literaturgeschichtc der Kalcvi-pocg-Sagc. Nvscuftläntcr (s. S. 137) theilte schon 1818 in dein 11. und 14. Heft seiner Beiträge die Salmcgesänge mit, die hernach Neus unter die cstnischcn Volkslieder aufnahm, Kreutzwald aber, sie durch die Lieder der Aeskaucr Esten ergänzend, im ersten Gesang des Kalcvi-ftoeg vortrug: ^'mc Hüterin findet einst auf der Weide ein Hühnchen, eine junge Krähe und das Ei eines Waldhuhncs; sie trägt alle drei Gegenstände nach Hause. Aus dem kleinen Huhn wird Salme, aus dem Ei Linda, die iungc Krähe aber wird cinc Waise. Salme und Linda finden viele Meier, und Linda wählt den starken Kalcv znm Mann. Somit bilden °lso die sogenannten Salmcgcsängc wirklich den Anfang der Kalcvsagc. — — 198 — Außer Rosenplänter haben auch Knüpfftr und Ncus einzelne letztere ergänzende Bruchstücke aus verschiedenen Gegenden mitgetheilt. Blumberg stellt überdies die Spuren des Kalevioen und die Fundorte der Kalevsagc auf eiuer Karte dar, nach welcher die Gegenden des Pcipus und vor allem des südlichen Theiles desselben, des Plcslaucr Sees, dann die Gegend des Embachs, des Wirtzsees und Nevals, die Heimath der Kalevsage sind. Auf dem westlichen Ufer des Pcipus, etwa in der Mitte, liegt das alte Vagia, das auch Heinrich der Lcttc erwähnt. Dort, im nordöstlichen Winkel des hentigcn Livland, auf einem Gebiet von mehreren Quadratmcilcn, sind die XiÜLvi poM »ün^iä, d. i. die Betten oder die Lager des Sohnes Kalev's, in nicht großer Entfernung von einander. Es sind dies fünf große, langgestreckte, zum Thcil künstliche Hügel, welche insbesondere durch ihre zwei erhöhten Endpunkte, sowie durch ihre gutgcwähltcn Staudorte von den gewöhnlichen Hünengräbern sich unterscheiden. Die fünf Hügel bilden eine Ellipse, deren Spitze den Pcipnssce erreicht; der Längcndurchmcsser beträgt 40 Werst. In der Mitte dieser Ellipse befindet sich der Bach Kääpa, der aus dem Icgclsce kommend, sich mit dcm Rojcl« oder Kiava-bach vereinigt und bei Omcdo in den Peipus sich ergießt. In diesem Kääpabach, in der Gegend der Brücke, welche bei Saarenhof hinüberführt, liegt das berühmte Schwert des Sohnes Kalcv's, das in der Sage eine so große Rolle spielt. Das südlichste Lager ist neben ^lats-kivi (Unterstem). Nach der Sage trug der Riese Kalev von den Ufern des Pcipus Sand herbci, um sich ein Bett zu machen. Während des Tragens fiel ein wenig davon aus den Falten seines HMdes herab, und so entstand der Hügel, der jetzt noch 40 Fuß hoch nno obcn K0 Schritte lang und 50 Schritte breit ist. Die zwei Erhebungen ani Ende werden Mit,«« (Haufttcnde, denn Mii. oder usll heißt Kopf) und Mut8 (Fußende, denn ^Ig', M». heißt Fuß) genannt. Die übrigen vier Lager sind von gleicher Form; die Richtung aller zeigt nach Nord-West-Der Ursprung dieser Hügel ist ungewiß; die Sage schreibt sie dem Sohne Kalev's zu. 20 Werst südlich von Dorpat, neben Tcrafcr, am Ufer des Elva-flusses, befindet sich der Stuhl Kalcv's, eine elliptische Erhöhung, gleichsam ein Amphitheater, dcsscn Länge 50, dessen Vrcitc 3«, Schritte beträgt. Der Sage gemäß faß hier einst der Riese Kalcv und badete sich Füße und Angesicht drunten im Fluß. Alles dies hat neuerdings Bertram beschrieben, dessen „Wagien" betiteltem Werke ich diese Daten entnehme *)- *) Magien. Baltische Studien und Erinncrnngcn von I)i. Vcrtram. Mit einer Karte. Dorftat 1868. Im westlichen Theile des Landes scheint man jetzt am wenigsten von der Kalevsage zu wissen; daß man sie aber auch hier kannte, hat cin achtzigjähriger Greis jener Gegenden, Jakob, von dem Kreutzwald in seiner Jugend am meisten gelernt zu haben bekennt, bestätigt. Jakob wußte auch, wie der Sohn Kalcv's nach Finnland geschwommen, und dessen Abenteuer daselbst. „Auch die Einleitung zum Kalevi-poeg ist zumeist aus den Mittheiluugen des alten Jakob entstauben", sagt Blumberg. Viel wurde bereits gesammelt nnd vielleicht läßt sich noch Manches sammeln; vieles ging wohl aber aus der Erinnerung des Voltes für ewig verloren. Das cstnische Lied hat Necht, das da sagt: „Von den alten Liedern sind tausend Stücke in der Luft zerstreut, tausend im Schnee begraben, tausend ius Grab gestiegcu und das vierte tausend hat die Sklaverei vernichtet. Was aber der „munk" (Mönchsriltcr) vergraben, das Gebet der Geistlichen unterdrückt hat, das könnten 1000 Zungen nicht erzählen." Ob etwas und wieviel von der erhalteneu Ueberlieferung auf historischem Grunde ruhe, läßt sich vorläufig, so lange nicht die gcsammte Tradition der verwandten Völker gesammelt uud verglichen ist, nicht be« stimmen. Ohne Zweifel reicht der größte Theil der Sagen in die vorhistorische Zeit hinauf. Die älteste jedoch aller Traditionen ist die Sprache, auf welche wir nun einen vergleichenden Blick werfen wollen. X. Die Verwandtschaft der ungarischen Sprache. (Die eftnische Sprache ist cm Dialekt der finnischen. Die sprachliche Verwandtschaft hat einen bestimmten Charakter. Nnr ursprüngliche Wörter tonnen hierbei entscheiden. Jede Sprache hat eine zwiefache, eine äußere nud eine innere Geschichte. Die Sprachen verändern sich. Die localen Verzweigungen der Grundsprache erzeugen die verwandten Sprachen. Die Verwandtschaft beweisen einzelne Wörter und die grammatischen Formen. Unter den Wörtern fallen die Zahlwörter sehr m's Gewicht. Die ungarische Sprache ist im Allgemeinen mit den finnischen, besonders aber mit den ngrischcn Sprachen verwandt. Die heutigen nnd einstigen Wohnsitze der finnisch-ugrischen Völker. Die Resultate vergleichender Sprachforschung haben histonsche Glaubwürdigkeit.) Schon oft hatte der Leser Gelegenheit wahrzunehmen, daß zwischen der estnischcn und ungarischen Sprache eine Verwandtschaft besteht. Es dürfte nunmehr geboten sein, dieses Verhältniß näher kennen zu lernen Die estnischc Sprache ist, wie wir gesehen, ein Dialekt der finnischen; letztere steht demnach wohl in einem ähnlichen Verhältniß zur ungarischen Sprache wie erstere. Es tritt hier mit einem Worte die finnische Frage ans, bezüglich welcher namentlich das ungarische Publikum nicht genügend orientirt ist, nnd für die es daher anch kein besonders lebhaftes Interesse hat, wie dies für ein gebildetes Publikum wünschenswert!) wäre. Daß man aber auch in Ungarn ein dunkles Bewußtsein von der Bedeutung des Ursftrnngs nnd der Beziehungen der ungarischen Sprache hat, das beweist schon die oft gehörte nnd mit gewissem Stolz sich hervorthuende Aeußerung, daß die Ungarn eine orientalische Nation seien. Jede gute und jede schlechte Eigenschaft Pflegen wir gleich damit zu erklären, daß wir sagen: Ja! der Ungar ist ein Orientale. Wenn uns aber Jemand fragen würde, worin denn eigentlich das Orientalische beim Ungarn bestehe, freilich, da würden wir sehr in Verlegenheit gerathen. Ebenso pflegt man zu sagen, die ungarische Sprache ist — 2(11 . — eine orientalische Sprache; mit welcher unter den orientalischen Sprachen sie aber verwandt sei und worin diese Verwandtschaft bestehe, darauf könnten wir anch nur höchst unbestimmte Antworten geben. Daß aber die ungarische Sprache mit den finnischen verwandt sein soll, wollen viele, selbst gebildete Leute nicht leiden, und trachten, wenn diese unbequeme Verwandtschaft nun einmal nicht weggeschafft werden kann, wenigstens danach, auch die Verwandtschaft mit vielen andern Sprachen Zn beweisen, wie das von der ungarischen Akademie herausgegebene Wörterbuch darthut; darnach müßte die ungarische Sprache mit allen Sprachen der Welt verwandt sein. Es liegt auf der Hand, daß eine derartige ganz allgemein genommene Verwandtschaft eigentlich nichts bedeutet; denn was weiß, und gleichzeitig auch schwarz, grün, roth, gelb u. s. w. sein soll, von dem kann man nicht anders sagen, als daß es im Grunde gar keine Farbe habe. Bevor wir aber die Natur eines so sonderbaren Dinges untersuchten, müßten wir nothgedrnngen erst sein Dasein beweisen. Nur Vorurtheil ist cs, welches die Verwandtschaft der ungarischen Sprache mit der finnischen nicht gelten lassen will. Das Vorurtheil aber hat nichts mit der Wahrheit gemein; es wäre überflüssig, dagegen anzukämpfen. Auch jene Ansicht, daß die ungarische Sprache nicht nur mit der finnischen, sondern in gleicher Weise mit dem Sanskrit, der chinesischen, mongolischen und tnrkisch-tartarischcn Sprache verwandt sei, verdient keine Widerleguug: sie hat keine wissenschaftliche Basis. Zunächst ist zweifellos, daß die Sprachen unter einander verschieden oder einander ähnlich sein können; und wenn dem so ist, so ist anch gewiß, daß dies daher lommt, weil manche Sprachen verwandten Ursprungs sind, manche nicht. Wenn die chinesische Sprache vom Sanskrit sich unterscheidet, und beide von dcr mongolischen und türkisch-tartarischcn lwie fic sich in Wirklichkeit unterscheiden), so rührt das daher, weil die chinesische Sprache und das Sanskrit nicht gleichen Ursprungs sind; sowie auch das Mongolische und Tinkisch-Tartarischc einen andern Ursprung haben. Daß kein Unterschied zwischen den Sprachen bestehe, behauptet wohl Niemand, kann auch Niemand behaupten. Wir müssen also verschiedene Abstammnngcn dcr Sprachen zugeben. Wenn das unzweifelhaft ist, welchen wissenschaftlichen Werth kann dann cinc Ansicht haben, die da glanbt und lehrt, daß die ungarische Sprache wohl mit dcr finnischen, aber zugleich auch mit den, Sanskrit, dcr chinesischen und weiß Gott welchen Sprachen verwandt sei? Diese Ansicht besitzt ebenso wenig wissenschaftliche Begründung, wie jenes blöde Vorurtheil, dem die finnische Verwandtschaft unbequem ist. — 202 — Wem» wir die Sachc mit vorurtheilsfrcicm Auge betrachten, so wird nns, bei einiger Vortcnntniß, welche wir aus der ungarischen Sprache selbst schöpfen können, die Orientirnng in der vorliegenden Frage nicht schwer. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die heutige ungarische Sprache eine Menge fremder Wörter enthält. Zunächst, wie auch alle übrigen modernen Sprachen, lateinische und griechische, vornehmlich zur Bezeichnung von Wissenschaften, deren erste bewußte Träger ja die Griechen und nach ihnen die Römer warcn. So sind denn Wörter wie: (Fi-üininaticn, loßiea, a8trt>nomjH) geo^iapkia u. s. w., auch im Ungarischen Allgemeingut und dieser Sprache so eigenthümlich geworden, wie etwa die Wörter für Vater, Mutter, Bruder u. s. w. Die Berührung mit der Literatur der modernen Culturvölker hat es ferner mit sich gebracht, daß auch aus dem Deutschen, Französischen, Englischen u. s. w. eine Anzahl Wörter im Ungarischen Aufnahme gefunden haben. Aber wie in neuerer Zeit aus diesen Sprachen, so sind in früheren aus anderen, namentlich aus den slavischen Sprachen, selbst aus der türtischen, viele Wörter in's Ungarische eingedrungen. Wenn wir dies vor Augen halten, so wird uns gleich klar, daß, wenn wir uns über den Charakter und Ursprung der ungarischen Sprache oricntiren wollen, die Fremdwörter, mögen sie aus welcher Sprache immer aufgenommen worden sein, zu beseitigen sind, denn in diesen gibt sich nicht der Charakter uud Ursprung der ungarischen Sprache knnd, wenn sie auch gewiß zur äußern Geschichte derselben gchörm. Wir sehen hieraus auch, daß jede Sprache eine doppelte Geschichte besitzt: die, welche deren Abstammung betrifft, und die, welche die äußeren Schicksale der bereits entwickelten und bestehenden Sprache enthält. Die Fremdwörter sind ebenso viele Daten über die äußeren Schicksale der Sprache und des dieselbe redenden Volkes: aber die innere Geschichte, die Entstehung, Verwandtschaft, den Charakter und Genius derselben vermögen sie nicht zu erklären; das können nnr die eigenen ursprünglichen Wörter thun. Aber auch das sehen wir gleich hier ein, daß zum Verständniß dcr äußern und innern Geschichte der ungarischen Sprache eine bedeutende Sprachkenntniß gehört. Die Wissenschaft nimmt es ernst. Es ist ein leichtes Ding zu spaßen, mit änßcrn Aehnlichkcitcn zu spielen, noch leichter, den unbewanderten ^eser zu unterhalten, ihn gar erstaunen zu machen: aber Spiel bleibt Spiel, die Unterhaltnng mag angenehm sein, sie belehrt aber nicht; das Erstaunen mag groß sein, aber es klärt nicht auf- — 203. — Da wir wissen, daß nur die ursprünglichen Wörter der Sftrache zur Erkenntniß der innern Geschichte derselben führen lönncn, so wollen wir mm betrachten, was in dieser Hinsicht bemerkenswert!) ist. Wer auch nur wenig von der Sprache versteht, der muß doch gleich zwei Dinge wahrnehmen: einmal, daß die Wörter sich veränderten, dann, daß viele Wörter außer Gebrauch gekommen und in Vergessenheit gerathen sind. Demzufolge gewinnen wir die Ueberzeugung, daß der heutige Zustand und die heutige Form der ungarischen Sprache selbst in Bezug auf die ihr eigenthümlichen Wörter, nicht unsere alleinige wissenschaftliche Basis sein kann, sondern daß auch die Ucbcrreste dcr alten Sprache mit möglichstem Fleiß gesammelt und durch die in den Dialekten erhaltenen, von dcr Schriftsprache ausgeschlossenen Sprachbruchstückc ergänzt werden müssen. Die Geschichte dcr ungarischen Sprache können wir kaum bis zum XI. Jahrhundert zurückführen; und leider ist aus den ersten ungarisch-christlichen Zeiten nur sehr wenig auf uns gekommen. Aber auch das Wenige enthält für uns viel lehrreiches. Insbesondere finden wir, daß viele ungarische Wörter sich derart verändert haben, daß man an dcn Zusammenhang dcr alten nnd neuen Form kaum glauben würde, wenn dcr Gang und dcr Verlanf dcr Veränderungen nicht unzweifelhaft vor uns läge. So hieß das heutige iktat einst Mwt ^- einsetzen, das heutige ii'^iin^ einst .jor^ot -- barmherzig, das heutige maFtwak einst muAwek --- ihm selbst, das heutige imäch'uk einst vimlulMnuk --- wir beten, das heutige kesxsk einst ke82 — Nest, das heutige uLvot einst ni6vot — er lacht, das heutige I^i einst vep - treten, das heutige wmtlmi einst wuoMiii ^ lehren u. s. w. Ferucr brauchte man in früherer Zeit auch viele Wörter, die heute ganz außer Anwendung gekommen und an deren Stelle andere Ausdrücke getreten sind. So war einst i^L dcr gebräuchliche Ausdruck für das heutige ayli --Vater, kmk (clmrclm) galt für wrok --- Kehle. Bis zum XII. Jahrhundert sagte man allgemein monn6 (beide), heute hicfür minä u kettö --- alle zwei. Noch in dcn Bibelübersetzungen des XVII. Jahrhunderts bedeutet das Wort Im6)> jetzt c^iiw^, Stern; K^in-Inissy, jetzt Ka82a-l^MaZ --- Orion. Heute wird jenes Wort für Stern kaum gebraucht, denn luigv bedeutet auch Urin. Das Wort mou.v iz. B. tilcmuilv, jetzt H'ÜKWM - Hühnerei) ist ebenfalls antiquirt. Und wer nennt heute die Frau n^mdori (weiblicher Mensch), wie dies einst allgemein war. Aber auch die Bedeutung dcr unverändert gebliebenen Wörter ist oft cmc andere geworden. Dcr heutige Sprachgebrauch versteht unter dem Worte äiiat das deutsche Thier, das lateinische animal; einst hatte — 204 — es eine weitere Bedeutung und bezeichnete im Allgemeinen das Wesen. Die alte Sprache redet daher von Gottes kki-öm Maha, d. h. der Dreiwcscnheit Gottes; heute könnte man Wesen, Substanz nicht Mg.t nennen. In der Bibelsprüche findet sich noch der Ausdruck a^on^i äilat, weibliches Wesen. Heute würde er unser Ohr beleidigen (weil die Bedeutung „Thier" zu nahe liegt). Das Wort c^imdoia, bedeutete früher Gesellschaft, und ^imdoi-äs Kameraden, Gesellschafter; heute bezeichnet es Spießgesellen. Der Plural der persönlichen Fürwörter lw, w, ö — ich, du, er, lautet heute: mi lmiv), ti (tM, <"»!< — wir, ihr, fic; vor Zeiten aber sagte man: miv, tiv> iv (daher iv im^clsäguk --- ihr Gebet). — Das jv wurde dabei wie ü ausgesprochen, so daß es fast wie der Singular ö klang. In Folge dessen kam es außer Gebrauch. In der alten Grabrede («eimo super 86Mi0rum), in welcher wir das erwähnte iv (sie) finden, kommt auch das Wort unuttoi vor, welches „ihre Seligen" bedeuten will. Ein ganz unbekanntes Wort, das wahrscheinlich mit dem finnischen onus, cstnisch öiHie) — Seligkeit, Glück i/n Fufanlmc/ch — In Ungarn sind uns die deutsche und dic slavischen Sprachen am geläufigsten; die deutsche Schriftsprache ist allgemein bekannt. Nehmen wir aber den Dialekt der deutschen Dörfer in Zipsen, oder den der Sicbcn-bürgcr Sachsen, so langen wir mit der Kenntniß der Schriftsprache nicht aus. Es wäre selbst nicht schwer, einen deutschen Dialekt Zn finden, der unserm Ohr wohl deutsch klingt, von dem wir aber so gut wie nichts verstehen können. Ebenso unterscheiden sich auch die verschiedenen Dialekte der vielen slavischen Sprachen von einander. Den Ursprnng verwandter Sprachen finden wir in den örtlichen Verzweigungen der Ursprache. Diese Verzweigungen nntcrschcidcn sich wahrscheinlich anfangs nicht mehr von einander, als die Dialekte jeder gegenwärtig lebenden Sprache. In diesen verschiedenen Zweigen entstehen aber allmählich je nach Zeit und Ort so bedeutende Veränderungen, daß sie sich uns nunmehr als selbständige Sprachen darstellen. Der verwandtschaftliche Charakter offenbart sich zwar unverlcunbar an ihnen, ja sie crfcheincn wie die Erben eines gemeinsamen großen urväterlichcn Vesitzthums, die fest an dem gemeinschaftlichen Erbthcil hängen und jede andere Sprache davon ausschließen. Hieraus wird es klar, daß, wenn die ungarische Sprache eine dem Sanskrit, dem Chinesischen oder Mongolischen verwandte Sprache wäre, wie dies das große Wörterbuch der ungarischen Akademie behauptet, sie mit diesen gleichen Ursprungs sein, mit ihnen eine gemeinsame Erbschaft theilen müßte. Das kanu man aber unmöglich von der chinesischen Sprache oder dem Sanskrit behaupten, denn die erstere hat eine ganz andere Form, als alle anderen asiatischen und europäischen Sprachen: die grammatikalische Form des Sanskrit aber ist so verschieden von der der ungarischen, daß bald jeder Schüler diesen Unterschied wird wahrnehmen können. Die grammatikalische Form der mongolischen Sprache ist allerdings der der uugarischcn ähnlich; daß beide Sprachen aber, trotz dieser grammatikalischen Achu-lichkeit, nicht gemeinsamen Ursprungs find, beweist schon genügend die Verschiedenheit der Zahlwörter. Letztere verkünden es vielmehr laut, 5aß die ungarische Sprache zur finnisch-ugrischen Sprachgruppe gehört. Die Sprachcnverwandtschaft wird nämlich durch beide Momente: die Achnlichkcit der einzelnen Wörter wie die der grammatikalischen Formen bewiesen Betrachten wir also die Verwandtschaft der ungarischen Sprache zuerst in Rücksicht auf die einzelnen Wörter, dann in Bezug auf die grammatikalischen Formen. Da es hier nur auf eine allgemeine Oricn-tirung ankommt, so wollen wir uns auf einige Beispiele beschränken. — 206 — I. Wortähnlichleit. Ungarisch. Estnisch. Finnisch. 61 <üö el et cttet em-ni em-ö (csecs) emtet eme (disznö) emse est, estve ad H agg al al-fel ala alöl är är är uj ör öv öt öl ösz eger elä, ela elav elu elat ime-da imav imeta ema öht and oksa ukko al al-pool ala alt arv ora järve uud orja vöö viid süle sügise hiire elä elävä elo elättä ime-ä imävä imettä emä imise ehtoo anta oksa ukko ala, ale ala-puoli alle alta -v arvo ora järve uute orja vyö (tteS vüö) viite syl (fies sül) syys, syyksy hiire — er lebt — lebend 2^- Leben --- er belebt — sauge -- Säugling — er säugt --- Muttcrschwcin -- Abend — er giebt ^ Zweig ^ Greis "^^ nntere Theil — untere Hälfte -- hinunter — von unten -^- Preis — Ahle ^ Fluth --- ncn -- Diener^) -- Gürtel ^ fünf -- Klafter -- Herbst -- Maus") -) Auch das Wort är -- Sklave ist ein veraltetes. Im 3. Decrct deS heil. ^adiölaus heiszt es: „lim äicuutur «vvrek vel 8Lrvi." Das Wort L20I32 ^ Diener ist slavisch und bedeutet so vicl als horchmd, gehorchend; dkseö slavische Wort hat das ursprüngliche ür verdrängt, dem im Estnischcn wie im Finnischen ar^H entspricht. Die Worte 6r, Diener, und üi-, Wächter, sind wahrscheinlich nur dem Klänge, nicht anch dem Ursprung nach gleich. Denn auch im Sndwogulischen ist uri, dri2 -- cr wacht, urii, or ^ Wächter, aber ür, Diener --- «LolFl». hei^t anch dort -- okulap, d. h. Ila!i6 ^ horchend. ") Dem Wort l^ür, Maus, entspricht im Wogntischen tiiuzel-, im Mordwinischen «ejei- und äei«r, im Wotjakischeil ^n-, im Estnisch-Fionischen linr«. Das anlautende wogulischc t verändert sich in den entsprechenden Wörtern in «, k, "N — 207 ' — In den hier mitgetheilten Wörtern fallen verschiedene Lautumände-rungcn auf. Statt des ungarischen Vokals a finden wir in den entsprechenden Wörtern u oder 0, wie: aW> ukko — Greis, iiA, 0l<«a ^ Zweig; so anstatt 0, 6 bald u, bald o^ bald ö; auch 0, i wechseln mit einander. Dergleichen kommt aber auch im Bereiche der ungarischen Sprache selbst vor. Das einstige mu^ lautet jetzt m^a -- er selbst. l^6k und lasok — Topf, da^isk und Il^wk -^ Hacke, ne^ und 1i<^' — Haar, t^r6,j nnd Unaj ^ 5?a»nm u. s. w>, sind heute noch nebeneinander gebräuchlich. Der Wechsel von 0 nnd i ist auch in der heutigen ungarischen Sprache häufig, nicht nur in Wörtern wie i6«/6nt, nnd i'Wöint, theils, K626 und Iv^/i, seine Hand, müß und IMF, bis, süß u. s. w., sondern auch in anderen. Ausfallender ist es, daß vielen ungarischen Wörtern mit anlautendem Vokal im Estnischcn und Finnischen solche entsprechen, die mit Ii, ^j und 8) und in anderen verwandten Sprachen, die mit t, anlauten, was durch die Anmerkung unter dem Worte Maus klar wird. In dem Anlaut der Wörter wechseln also t, «, U, .j ab, ja sie verschwinden auch. Ein vorzügliches Beispiel hicfür ist das Wort enni - essen, dessen Stamm 6v, 6'. Hievon 6-vö --- Esser, dann o-tot oder 6-tc^, er giebt Zu essen, füttert u. f. w. Dem ^v oder o' entspricht das cstmschc ««»ü, das finnische ^>c', das wogulischc t6^ das ostjatische tnv. Also das ungarische s-tet, — füttern lautet im Estnisch-Finnischen « Icuu das Glänzende und hängt mit den! alten ungarischen WF7, Stern, zusammen. Auch im Wogulischen bezeichnet c1m3 nnb Ku8 Stern. **) Mi^o, eigentlich ^ viel, aber mehr mit der Bedeutung eines Hauptworts -- Vielheit. Im Mordwinischen volü Schaar und Dorf; anch der Mordwine ver< steht also Vielheit unter dem Worte talu, velä ^ Dorf. Noch näher steht dem ungarischen tÄu das wogulische paul. ho, hava hiij hal hal hall häly-og härom (harrn) hat haz, häz ho, hoi hova kuu kala kool kuul kale, kalo kolm kuud koda ku, kus kuhu kuu *) kuu kala kuole - kuule kalvo koline kuute koti, koto ku-, kussa kuhun (-ka) --- Mond — Schmeer - Fisch --- er stirbt -- cr hört -- Staar — drei -- sechs --- Haus -- wo - wohin u. s. w. fa fajd sal, falat falu far fazok, fazök fecske fed fe, so, fej fejszc fe'k fel puu püü pala paljo perä, pera pad a pääske (pääsoke) peet pää, pea päitsed poole puu pyy pala paljo (soki**) perä pata pääske peittä pää pääkkä päitse puole -- Holz ^ Waldhuhn --- Bissen --- Dorf -^ Hinterthcil - Topf — Schwalbe -- er deckt zu -- Haupt -- Beil --- Zügel ^- Hälfte — 209 - — Ungarisch. Estnisch. Finnisch. felesčg poole ■ puoliso fei pelg pelkä felliö pilve pilve fesel (feslik) päse pääse fesz-ek pesa pesä fog, megfog püüd _ pyytä fogy puud * puutu son puim puno fei pääl, peal päällä feie pääle päälle felöl päält päältä % fü puhu puhu -^ Gemahlin ^ cr fürchtet sich ^ Wolke --- es trennt ab -- Nest — er fängt ^- es schwindet - er spinnt — oben -- hinauf -- von oben herab - er bläst n. s. w. vaj voi voi ven vana vanha Ter vere vere veres verise verise ves; v^sü vesime veitsi vesni — veistä viläg valge valkea villog vilgu vilkku vi, vinni vii vie-viz ved vete yö väi vävy , ^ Butter ^- alt, Greis --- Blut -^ blutig --- Meißel - schneiden. -- Welt — es glänzt .— er trägt --- Wasser ^-- Schwiegersohn :c. szaz l sada sata szäj suu suu &zäd suud suuta (szädolni) szarv sarve sarve szem silm silmä sziv suäme syöm süäme sydäme — hundert -- Mund — er spundet -- Horn -- Auge -- Herz :c. *% neli neljä nev nime nime -- vier ----- Name 14 Hunfalvy. — 210 Ungarisch. Estnisch. Finnisch. nyal, -ni nyel, -ni nyfl tel teli tölt tev-tenui to, tava toll tö, töve tiidö tetii tiiz szel maj mar-ni men, rnen-ni meny mereg meh mez mezes mi, a mi mit millyen millyes mi, mü niony mos-ni Id, lev legy lei, löl lö, löv, löni nool neel noole talve täud taut tege soo sulg tüve täü täi tule tuule maksa mur-d minemini mtirki mesi-lase med mi-s mida meie muna mösk- leeme lind, lend lei-d löö- nuole niele nuoli talve täyte tayttä teke suo sulka tyve täty täi tule tuule maksa mur-ta mene- miniä myrkky mesi-läise mete mesise mi mitä milline millise ine, ii}'ö muna lieme lintu, lenni-käise löy-tä lyö -- lecken — schlingen -- Pfcil u. s. w. -- Winter ^ voll ^- cr füllt ^ cr thut -- Sec ^ Feder --- Stamm — Lunge -- Laus -- Feuer ^- Wind u. f. w. -- Leber --- beißen — er geht — Himmel — Gift — Biene ^ Honig ^ honiges ^- was ^- was (Accusativ) -- was für ein — was für ein ---- wir -- Ei --- waschen u. s- w- --- Brühe -- Fliege -- er findet --- er schießt u. s. w- — 211 — Wie groß auch in diesen Beispielen die Lautverschiedenheit sein möge, ihre Regelmäßigkeit spricht ebenso für die Verwandtschaft wie der Glcichlaut der betreffenden Wörter. Der Gleichlaut und die regelmäßige Veränderung find nur durch den gemeinschaftlichen Ursprung zu erklären. Vor allem wichtig zur Feststellung der Verwandtschaft sind die Zahlwörter. Im Nachstehenden gcbc ich dieselben in Zwei Grnppcn: 'zuerst im Wogulischcn und Ungarischen, dann im Estnischen nnd Finnischen *) Das 8 in den verwandten Wörtern ist das ungarische 82 -- ß; dagegen «> ungarisch 8 ^ sch; ferner ü, 1', t' -^ u^ (i^), h M v M **) Das ungarische kottü, zwei, ist eine Dualfonn wie das wogulische IcitZ. oder KiwF, daher selbständig und kann nicht attributiv sein; man kann im Ungarischen also nicht sagen: kettö eindor, zwei Menschen, sondern ket Lmdor> wogu-^sch Kit, 1mm, nicht aber kitaZ kumaZ. 14' Wogulisch. Ungarisch. 1 äkve, aku 2 kit, kitä; kit, kitag 3 korom, churum 4 nilä, nil 5 ät7 at 6 kat, cliot 7 sat*) 8 liala-lu, llal-lov 9 antal-lu, ontel-lov ■ 10 lau, lov 20 kus, chus 30 vuat, vät 40 nelimen 50 ätpen, atpen 60 katpen, chotpen 70 sat-lu, sat-lov 80 ilol-sat, liol-šat 90 antelsat, ontel-žat 100 sat, Sat 1000 satcr, šater egy ket, kettö**) haroin, harrn uegy öt liat het nyol-tz kilen-tz tiz hüsz harmin-tz negyven ötven hatvan hetven nyolczvan kilenczven szäz ezer Estnisch. Finnisch. 1 ühd 2 kahd 3 kolme yhte kalite kolme Estnisch. Finnisch. 4 neli 5 viid 6 kuucl 7 scitse 8 kahe-sa 9 iihe-sa 10 kiimme 20 kaks kümmend BO kolmc „ 40 neli „ 50 viis „ 60 kuus „ 70 seitse „ 80 kahesa „ 90 Uhesa „ 100 sada 1000 tuhat ncljä viite kuute seitse *) kahde-ksan ylule-ksiin kymmenen kaksi kymmentä kolme „ nelja „ viisi „ kuiisi „ seitseinän „ kahdeksan „ yhdcksan „ sata tuhante Aus diesen Zahlwörtern ist ersichtlich, daß es von 1 — 7 einfache und trotz dgr Lautverschiedenhcit gleiche Wörter find. Sie müssen sich also während der Zeit gebildet haben, als die wognlische, ungarische, cst-nischc nnd finnische, sowie die andern finnischen und ugrischcn Sprachen sich noch unmittelbar berührten. 8 und 9 sind zusammengesetzte Wörter und bedeuten 8 weniger, 1 weniger, d. h. 10 weniger 2 — 8, 10 weniger 1 — 9. Diese zwei Zahlwörter bildeten die betreffenden Sprachen, als die cstnisch-finnische sich von der wogulisch-ungarischen bereits getrennt hatte. Darum hat das Finnische und Estuischc für 8 nnd 9 gleiche Wörter; das wogulische und das ungarische Wort für 8 sind nur zur Hälfte übereinstimmend. Das nyolt^ - 8 ist Zusammengesetzt aus n^oi und ti/; das letztere sti^ ist bekannt; das n^ol unbekannt. Doch kommt es auch im Wogulischcn vor, wo lau (1u) lov 10 bedeutet, imla-1u oder iwi-Wv ^ 8. Dieses nai, üoi ist augenscheinlich das ungarische «7^ und bedeutet ohne Zweifel 2. Ebenso entstand das uugarischc Kilon-t2 (kilen'tlx) — 9, und das wogulische lmwi-w oder ontßi-WV) in welchen Wörtern unzweifelhaft das kilen und anwi, onto! gleichbedeutend sind. Aber das Zahlwort 10 und dessen Comftosita zeigen noch deutlicher, daß die finnische und estnische Sprache dieselben abgesondert fiir ") Das finnisch-estuifche zeitze heißt eigentlich Lt^omiw und ist insofem dem uilgarischen Iistovün^ (Siebengestirn) ähnlich. — 213 — sich gebildet habcn: während wieder die wogulische und ungarische sic gemeinsam schnfcn. Nur so konnten die Wörter für 20 wogulisch 1vU5, cdu8, ungarisch liü^ für 40, 50 und 60: N6iiiu(m - ile^vvLu, ütpen oder lUi>cu ^ ötvv ist auch im lappischen l, IM n. s. w.) mit dem Worte ven, van (welches 10 bcdcntct) verbunden; das Illn-mmtx ist wahrscheinlich -- imriu-tiL, 30, das 1m^/ aber im-w, 207 wo Im wahrscheinlich 2 bedeutet. Die uugarischc Sprache benützt also zur Bc-Zcichnnng der Multiplen von 10 zweimal das vorhandene Wort für die einfache 10 -- t,^ (Im-ti?, Ilniiu-ti/), sechsmal aber das ihr schon entfremdete von, van. Die wogulischc Sprache bicttt noch größere Mannigfaltigkeit dar. Die ihr eigenthümliche Bezeichnung für das Zahlwort W, wu, lov benutzt sie nur bei 70, so: 5nt'w, oder ^t-iov/7 x 10. Vei 20 ^Ku3, cluiL), 40 ^climon), fünfzig Gti)0n, llti'(?u), 00 ^ltt-poii, — 214 — oli0t-p6n) stimmt sic mit der ungarischen überein; bei 30 (vuat) vat) steht sie ganz vereinzelt da; 80 und 90 endlich bezeichnet sie, wie wir gesehen haben, durch eine Subtraction. Bezüglich des Fahlworts 100 sind die wogulischc, ungarische, finnische und cftnischc, wie überhaupt alle Sprachen der finnischen und ugrischen Gruppe übereinstimmend: 8^?, 8at> 8lUa. Bei 1000 scheiden sich wieder die finnischen Sprachen von den ugrischen; in jenen heißt es tudat, wkants, was germanischen oder vielmehr indo-gcrmanischcn Ursprungs ist; in diesen 626i- (ungarisch), 8lU6i> äawr (wogulisch), tni'03 (ostjakisch), «ur8 (zürjenisch). Die Zahlwörter legen also lautredcndcs Zeugniß dafür ab, daß alle finnisch-ugrischen Sprachen mit einander verwandt sind, d. h. zu einander näher stehen, als zu irgend welchen anderen Sprachen; ferner, daß dieselben in zwei engere Gruppen zerfallen, in die finnische und in die ugrische, Zu welch letzterer auch die ungarische Sprache gehört. II. Achnlichkeit der grammatikalischen Forme». Diese allgemeine und nähere Verwandtschaft wird auch durch die Grammatik dargcthan. Da ich fürchte, durch eine eingehendere Beweisführung auf diesem Gebiete, wenn ich mich auch noch so kurz fasse, den Leser, zu ermüden, so will ich mich hier auf zwei Pnntte beschränken: die Bcsitzsnffiz'e, welche die allgemeine Verwandtschaft der finuisch-iMischen Sprachen darlegen mögen, nnd die gegenständliche (objective) Conjugation der Zeitwörter, welche die ugrischc Gruppe, also die ungarische nnd wogulischc Sprache, charaktcrisircn. Für die BcsitzsnfM sollen die Beispiele aus der lappischen, ungarischen uud wogulischm Sprache gewählt werden; aus der lappischen ms-bcsoudcre deshalb, weil sie gewissermaßen die Mitte einnimmt zwischen den eigentlichen finnischen und ugrischcn Sprachen, wobei sie in vielen Stücken von den finnischen abweicht und sich den ugrischcu nähert, und weil ferner die ungarische Wissenschaft zuerst von ihr Kenntniß nahm: Vaftpisch. Ungarisch. Wognlisch. gictta-m gietta-d gietta-s gietta-mek gietta-tlek gietta-sek kez(e)-m kez(e)-d kez-e kez-nittk(ünk) kez(e)-tok kck-vök(ük) kat(e)-ni kat(e)-n kat-ä kat-u kat-en kat-(a)nl — meine Hand — deine „ — seine „ — unsre „ -^ eure „ -- ihre ,' - 215' — Lappisch. Ungarisch. Wogulisch. gied'aid-am gied'aid-ad giedJaid-es gicd'aid-ämek gied'aid-ädok gied'aid-äsek kezei-m kezei-d ' kezei-(-i) kezei-nk kezei-tek kezei-(i)k katan-em katan-en katan-e katan-u kantan-en kantan-1 — meine Hände ^^ deine „ ^- seine -- unsre - eure „ ^-- ihre Dcm aufmerksamen Leser wird bei Vcrgleichung der einzelnen Suffirc die grammatikalische Verwandtschaft in die Angcn springen und man kann getrost von Jedem, der die Verwandtschaft der ungarischen Sprache - mit einer außerhalb der finnisch-ugrischen Gruppe stehenden Sprache bc-- haufttct, verlangen, er möge auch nur ein so schlagendes grammatikalisches Zeugniß beibringen. Insbesondere die Snffixe der lappischen Sprache kommen denen der ungarischen so nahe, daß uns gleich die Behauptung Sajnovics' verständlich wird, der im I. 1770 ein Buch uutcr folgendem Titel veröffentlichte: „OLmm^tratio, Idiome UiiMi'orum ot I^ppo-num iclem 6386," d. h. Bcwcis, daß die Sprache der Ungarn nnd der Lappen eine und dieselbe ist^). Das andere grammatikalische Zeugniß entnehme ich der Conjugation des Zeitwortes. Die Conjugation ist in allen Sprachen subjectiv, diejenige Conjugation, in welcher das Subject zugleich Object wird, heißt reflexiv und stimmt mit der passiven Form übcrcin. So z. B. in isinoi-^)-/.', i5in(5r-F,:) i«mer; ismer-i,'^/^ i8mer-ie/-, ism6!'-?ie/.! (ich kenne, du kennst, er kennt, wir kennen u. s. w.) haben wir nnr den Stamm des Zeitwortes nnd das Pronomen (ich, du, er), jener bezeichnet den Zustand oder die Thätigkeit, dieses das Subject desselben; deswegen nennen wir diese Conjugation mit einem Worte subjcctiv. In der Form i8M6r-8/'i1i) er kennt sich, ist das Subject (8/) Zugleich Object geworden: das Zeitwort ist reflexiv. Die nngarischen Zeitwörter, in denen die dritte Person auf ik endigt, warcu anfänglich alle reflexiv, obwohl einige jetzt transitive Bedeutung haben. Eine solche reflexive Conjugatiou rxistirt auch im Finnischen; im Lateinischen ist das 1)6p0N6,i8, un Griechischen das N1-6lc — ich kcuue dich, wo beide, die erste Pcrsou, das tcnucudc *) Johann Sajiwvics besuchte 1769—70 mit dcm Wicmr Astronomen Theodor Hell Lappland und wnrdc so mit der lappischen Sprache ix-laimt. — 216 — Subject (k^ und die zweite Person, das gekannte Object (1), in dem conjugirten Zeitwort enthalten sind. Ebenso in den Formen: i8m6iem^ ich kenne ihn, ignored, du kennst ihn, ikinöri, er kennt ihn, Mnei-Mc, wir kennen ihn, ittmeriwii, ihr kennt ihn, i«m6M, sie kennen ihn. Der Kennende ist überall das Subject; aber es ist auch ausgedrückt, wen er kennt, nämlich außer ihm ein anderer, der natürlich immer in der dritten Person gedacht wird. Das i8M6i'6in> ich kenne ihn, ist also eine objective Conjugation, denn sie bezeichnet außer dem Snbject ein von demselben verschiedenes Object. Eine solche Conjugation cz'istirt wedcr im Finnischen (also auch im Estnischcn nicht), noch im Lateinischen, Griechischen u. s. w. Diese objective Conjugation ist der ugrischcu Sftrachgruppc eigenthümlich. Die ungarische Sprache taun bei der Bezeichnung des vom Subject verschiedenen Objects den Unterschied der Zahl, in welcher dasselbe gedacht wird, nicht ausdrücken, denn i8moi'l6lc heißt ebenso: ich kenne dich, wie: ich kcnuc euch, i^moioin cbenso: ich kenne ihn, wie: ich kenne sie u. s. w. Die wogulische Ssirache dagegen vermag diesen Unterschied auszudrücken. Als Beispiel gebe ich im Folgenden die subjective sowohl, wie die objective Conjugation des wogulischcn kiot nnd des ungarischen ki)V6t ^ schicken (daher kövst. — der Gesandte). Subjective Conjngation. Wogulisch. Ungarisch. ich schicke viele :c. kietem kietön kieti kieteu kicteen kietet követek követsz kovet követüLik követtek követnek ^- ich schicke ^ du schickest - -- cr schickt -^- wir schicken - ihr schicket — sie schicken Objective Conjugation. Wogulisch. kietilem kietilni kietitä kietilu kietile(m kietiänl ich schicke einen :c. kietiiium kieti a« i kietiagä kietiäu kietiäon kietiäen ich schicke zwei :c. kiotiäneni kictiän kietiünü kiotiäiiu kietiäu kietiänl — 21? - . Ungarisch. követem követed követi ich schicke ihn oder sie :c. kövctjük kövotitek küvetik wir schicken ihn oder sic :c. Aus dein Vorstehenden wird also der Leser ebenfalls ersehen können, daß die ungarische Sprache im Allgemeinen mit den finnischen Sprachen verwandt ist und mit diesen mehr, als mit irgend einer auf dem ganzen Erdkreis; ferner, daß sie den ugrischeu (wogulischcn, Mjakischcn, mordwinischen n. s. w.) am nächsten steht. Die finnisch-ugrischen Sprachen bilden demnach eine Familie, die fich in zwei Gruppen: die finnische und die ugrischc, spaltet. Die heutigen Wohusitze der finnisch-ugrischen Völker erstrecken sich über ein weites Gebiet. Die Lappcu wohnen in den nördlichen Gegenden der sfaudiuavischeu Halbinsel, theils auf uorwcgischcm, theils auf schwedischem Gruudc. Die Finnen sind die Bewohner des sogcuanntcn Finnlands, der von dem botnischcn nnd finnischen Meerbusen gebildeten Halbinsel. Die Esten erstrecken sich vom finnischen Meerbusen gegen ' Süden bis zur Düna (wenn gleich wohl der größere Theil von Livland von den Letten eingenommen wird). Die Znrjcncn, Permicr, Wotjaken hausen an den Ufern der Dviua uud der nördlichen Kama, ferner an den Westabhängcn des Urals. Die Wognlen, Ostjakcu sind Iägcrvölker am nördlichen Ural, an den Ufern der Sosva, Konda und des nördlichen Obi bis südlich gcgcu Tobolsk und bis zum Flusse Irtis; erst neuerdings verbreitet sich unter ihnen Ackerbau uud griechisch-orthodoxes Christenthum, das sie gleichzeitig russificirt. Die Tschcremisscn und Mordwiucu wohucu an den mittleren Ufern der Wolga, in der Gegend des einstigen Vulgaricu; von hier bis zu dcu comvactcu Wohnsitzen der Finnen nud Estcu fiudcu sich Uebcrrcstc alter oder neuer filmischer An-sicdcluugcu, sowohl uördlich vou Iugermaulaud, in dcu Gcgeuden des Ladoga-, 'Onega- und WeisM-(l!Mru^ilaz868 inäü^ äelss pk cleu Kn8kL. Xodenlikva 1809. Es erschien auch deutsch unter dem Titel: Ueber dm Einfluß dcr germanischen Sprachen auf dic Finnisch-Lappischen. Halle 1870 — 219 — anders bei dcn finnischen Sprachen, indem dic dem Skandinavischen entlehnten Wörter nicht hie und da dieselben waren. Wenn anch bisweilen in dieser Beziehung eine Uebereinstimmung anzutreffen ist, so ist doch dieselbe entweder rein zufälliger Art oder erst durch eine spätere Aufnahme des betreffenden Wortes aus der es bereits rccipirt habcudcn verwandten Sprache entstanden. Ucbrigens entlehnte die lappische Sprache zumeist ans dem Norwegischen, die finnische ans dem Schwedischen, was auch dnrch die historischen Beziehungen sich erklärt. Die vorhistorische Einwirknng der skandinavischen Sprachen zeigt sich uns in einer Gestalt, die so alt ist wie die gothische, ja manchmal noch älter. Die Aneignungen der lappischen Sprache stammen aus jener alten uordischeu Sprache, welche uns die ältesten Nunendcnl'mälcr enthüllen, und welche iu den ersten Jahrhunderten n. Chr. auf der gauzcn skandinavischen Halbinsel, auf den dänischen Inseln und in Jutland bis an die Eider verbreitet war. — Aus dem Einfluß, dcu diese Sprache iu vorhistorischer Zeit auf die finnische geübt hat, läßt sich nach Thomsen der Schluß ziehen, daß zn jener Zeit die fumischcu Völker viel näher bei einander wohnten, als in der Gegenwart. — Bor wenigstens anderthalb oder zwei Jahrtausenden standen sie nuter dem Einfluß der gothischen Sprache, wahrscheinlich mehrere Jahrhunderte hindurch. Während dieser Zeit wohnten sie in dem Innern des heutigen Nußlaud, denn sonst wäre die Berührung mit dcn Gothcn unmöglich gewesen. Und diese gothische Sprache müßte, nach der Behauptung Thomsen's, eine ältere Gestalt gehabt haben, als die Sprache des Ulfilas. Ja nach dem Charakter der hcrübergcnommcucn Wörter zn schließen, stammen dicselbeu theils aus ciuer uordischcn (skandinavischen) Sprache, theils ans einer solchen her, die als eine gemeinsame skandinavisch-gothische angesehen werden kann. Die filmischen Aneignungen erstreckten sich auf allerlei Gegenstände nud Verhältnisse. Beispiele hicfnr aus dem Staats- und Ncchtsgcbict: kunm^l-, König, runtii^ Herzog. vMa Macht, liaUiw herrschen, tuomiw urtheilen u. s. w.; Kleidungsstücke: wunoAnZug, i'm»iia8 weise u. s. w. - 220 — Eine so mannigfaltige Aufnahme kann nicht die Folge vorüber-gehender Vcrühruugcu sein, noch weniger kriegerischer Beziehungen, sondern sie sctzt eine andauernde Nachbarschaft voraus. Iordanis, dessen Großvater „uowriu!''" eines alanischcu Fürsten Namens Kandak war, als nach dem Untergänge der Söhne Attila's die Vasallclwölkcr das Erbthcil des mächtigen Huuucnführcrs unter sich theilten, und der selbst vor seinem Uebel tritt zum Christenthum als Notar fungirtc (o^o ^P50 Wlnuvis li^i'^mmlitu^ ^oidaui^^ ante c!0nvm'5;ionLM insclw uotaiiuL kni), schrieb um bbO, also 1<><> Jahre uach dem Tode Attila's, die Geschichte der Gothcn. Die geographische und ethnographische Kunde Iordanis' ist folgende: Skandinavien nennt er die Insel Ävlun^a; von hier läßt er uutcr Anderen die Gothcu abstammen. Aber unter den vielen skandinavischen Völkern nennt er auch dic Rerefenen (wahrscheinlich Lappen) uud die Finnen, die „Sanftesten der ackerbautreibenden Bewohner" ll<1,mi mi-ti88imi, 8ca,nd?.iiL (mitui'iku« «»ixiii^u» uiitioic,^). An Germanien grenzt Skythicu, das nach Iordauis' Vorstellling das heutige Polen, das ganze europäische Rußland, die Moldau, Walachei, selbst Ungarn und Sicbcnbürgcu in sich begreift, uud im Westen durch die Weichsel vou Gcrmauien gctrcuut wird. In eiucm Theile dieses riesigen Stythicns, au den Ufern der Theiß uud in Dacicu, wohnten die Gepidcu; Dacicn, sagt Iordanis, liegt diesseits der Donau, hohe Berge umgeben es wie eine ilronc, auf deren linkem oder nördlichem AbHange dic Weichsel entspringt. Au den Ufern der letztern, auf wcitcu Strrckeu, wohnt das wendische Volk, das aus mehreren Stämmen besteht, oou dcncu am vcrbrcitetsten die Sklawcnen und Anten siud. — An der Mündung der Weichsel wohnen die Widiwarcn, weiter hinauf am Mccrcsnfer die Esten, ein sehr friedliebendes Volt l^68ti MmL — 22! — liLÜium mui'iuarum venit commorcium: :. Dieser r-^allt (NhotaciomuS) findet sich unter allen türkisch-tatarischen Sprachen aber nur im Tschnwassischcn, als pru (Kalb), 8ir (ohne), 8ir (schreibt), u-dir (wir) u. s. w. statt dc^ tnrt.-tatar. duLagu, 812, ^x, dix ftas tnrk. ^/ (er schreibt), tschnw. 8ii-, ist das ungar, iii. Wir dürfen also den erwähnten Nhotacismns der türkischen Wörter im Ungarischen den alten chazanschen Kabaren zuschreiben, und die heutigen Tschuwasscn für die Ucberbleibsel der einst so mächtigen Chazaren ansehen. (Anmerkung des Verfassers in der Uel'ersetzuug.) ^ 224 — dcr Wolga und Kama innebchiclt und dort das große Bulgarenreich gründete. Auch die Tschcrcmissen und Vtordwincn gehörten zu diesem Reich; wir können sie also als Ucberblcibscl dcr alten Bulgaren betrachten. Nach Iordanis' (574—582) Zeit kommt dcr Name I^or noch mehr zur Bedeutung. Laut Theophilactus Simocatta greifen nämlich die ans dem Maischen Gebirge hervordringenden und siegreichen Türken anch die Ogoren an. „Das ogorischc Volk/' sagt der erwähnte Autor, „ist sowohl durch Zahl als durch Kriegsgeübthcit sehr mächtig. Es wohnt an den Ufern des Til, welchen die Türken den schwarzen nennen (Kama und Wolga trugen den Namen Etil, Edel, Til). Die ältesten Fürsten der Ogoren waren Uar (Var) nnd Cheunni, nach denen auch einige Ogorcnstämme Uar, Var und Chunn genannt werden." Von diesen Varcn und Chunncn trennte sich zur Zeit des Kaisers Justinian ein Theil und nannte sich Avarcn, ihren Fürsten aber Khagan. „Die Sarscltcn, Unnuguncn (wahrscheinlich die Hungurcn Iordanis'), Sabireu und andere hunnische Völker huldigten den Pseudo-Avaren", die unter der Führung Bajan's bald zu hoher Macht gelangen und das Avarenrcich an deu Ufern der Theiß und dcr Donau begründen, das erst Karl dcr Gr. vernichtet. Anch die pannonischcn Avarcn nannten die weströmischen wie die byzantinischen Schriftsteller Hunnen. Wir sehen, es waren Ugurcn, wie sie anch Eginhard kennt, da er die zu Karl dem Gr. abgeordneten Avaren mit diesem Namen bezeichnet (mi«8i huohiie Hunnorum », türk. kn/ik (Pfahl), 87Ürü, türk. MM (Ring), ^m-(m)) tiirk. «<")/ (seihen) u. s. w. In den bekannten türkischen Sprachen klingen die erwähnten Wörter alle mit 8 uud 2; wie kamen sie zu einem r im Ungarischen, das doch 8, 82, 5 durchaus nicht meidet, sondern selbst das t, der finnischen und ugrischen Wörter in ^ verwandelt, wie wir in den Wörtern vix, finnisch vit6, wogulisch vit, -^- Wasser; ^äx^ finnisch «ativ, wogulisch ntt ^^ hundert u. s. w. sehen? Die ungarische Sprache hat gewiß das 5 und 8 dieser Wörter nicht umgeändert, sondern sie empfing sie mit dem i- aus einer Sprache, in der sie schon so lauteten. Und nicht nur mit Wahrscheinlichkeit, sondern mit Gewißheit können wir, wie bereits in der Anmerkung S. 223 ausgeführt, behaupten, daß diese türkischen Wörter mit dem i'-Lant oder Rhotacismus aus der tabarischen Sprache stammen. Die Byzantiner (Leo der Weise, Constantinus Porphyrogcnctus) aber nannten die Ungarn wohl nicht deshalb Türken, weil sich ihnen die Kabarcn anschlössen — die sie nicht so nennen, ebensowenig wie die Chazarcn — sondern gewiß darum, weil sie von jenseits der Wolga kamen, wo, ihres Wissens, die dem Namen nach bereits bekannten Türken hausten. Somit bleibt es als fest bestehen, daß die Ungarn der Sprachverwandtschaft nach zu den finnisch-ugrischen Völkern gehören. Diese Verwandtschaft aber tonnte nur während sehr vieler Jahrhunderte durch fortgesetztes Veisammenwohncn sich entwickeln. 15' XI. In Petersburg. (Schiefncr. Dampfschiff-Vckauntschaft. Ein russischer Oberst, der a,n ungarischen Kriege Theil genommen. Kronstadt. Die Newa. Petersburg, Die Verehrung der heiligen Bilder. Newsti^Prospect. Vazar. Sommcrgarten. 5laiserliche Akademie der Wissenschaften. Knnik. Die Isaakstirche. Das Monument Pctcr's des Gr. Ein Spaziergang auf den Inseln der Newa. Die Confessionsverhältnisse des russischen Reiches. Sekten. Kaiserliche Sammlungen. Das Hans Peter's des Gr. Ausflug auf's Land.) In Reval waren wir mit dcr Familie des Petersburger Gelehrten Schicfner bekannt geworden, welche uns unsern dortigen Aufenthalt sehr angenehm gemacht hatte. Schiefner ist wie Wicdcmann Mitglied dcr Petersburger Akademie, und nntcr Anderem durch die Herausgabe des Nachlasses Castren's auch bei uns schon lange bekannt"). Auch er ist, wie Bacr und Wicdcmann, in Estland geboren und spricht estuisch. Er war mit seiner Familie nach Rcoal in's Bad gekommen, welch' glücklicher Znsall uns von großnn Vortheil wurde. Rußland gehörte eigentlich nicht zu meinem Reiscplau, aber Petersburg konnte ich doch nicht übergehen. Denn wenn es wahr ist, daß Moskau nicht nur iu geographischer, sondern auch in anderer Beziehung das Herz des Russenthums ist.- so liegt hingegen Petersburg auf altem finnischen Grnnd und gehört also, streng genommen, zu den baltischen *) Mathias Castvön, ein sinnischer Gelehrter, hielt sich zu gleicher Zeit mit Rcguly in Petersburg auf nnd traf daselbst Vorbereitungen zu einer großen wissenschaftlichen Reise, die er anch nut Hilfe dcr k. Akademie unter den nördlichen Völkern Asiens von den Ziirjcuen biö sozusagen an die Grenzen des chinesischen Reiches unternahm. Seine Untersuchungen über die Sprache dcr Samojeden eröffneten ein ganz neues Gebiet, Aber auch viele andere feiner Untersuchungen über die ngrischen, tartarischen und mongolischen Sprachen sind sehr werthvoll. Als Castren starb, gab Schicfner im Auftrage der Akademie dessen hinterlassene Schriften heraus. — 229 — Provinzen. Es ist beiläufig, wie Schirren sagt, das Fenster, welches Peter der Gr. sich zn dein Behufe machen ließ, um durch dasselbe nach Europa auszuschauen; ich wünschte meinerseits, durch dasselbe ciucn Blick iu das Innere des russischen NeichZ zu werfen, einen Blick von jedenfalls friedlicherem Charakter als derjenige Peter's des Gr. Der Dampfer Coustantin rauchte bereits, als wir, uns durch die bunte Menge hindurchdrängcnd, ihn betraten. Schiefuer und seine Frau hatten die Liebenswürdigkeit gehabt, uns zu begleiten. Es war ein herrlicher Nachmittag, uuser Auge weilte lange auf der bunten Menge am Ufer, dcu schönen Schissen, der Umgebung des Hafens, besonders aber auf dem Dom nnd dem Olausthurm, welche wir wahrscheinlich für immer verlassen. Nachdem ich eine Cajütc besetzt und das Reisegepäck untergebracht hatte, machte mich Schicfncr mit dem Schiffskapitän bekannt, der aus Finnland stammte nnd geläufig finnisch sprach, Auch die Matrosen waren allc Finnen; das Commando wnrdc jedoch in schwedischer Sprache ertheilt. Der .Kapitän ist ein schöner, starker und dabei freundlich aussehender Mann; der Stcucrmanu ciu von Wind und Wetter gebräunter Finne mit scharfem, stechenden: Auge.— Auch eine anscheinende Kleinigkeit kann oft Dinge von Bedeutung charaktcrisiren. Und es ist gewiß nichts besonders Auffallendes, daß Kapitän und Mannschaft unseres Schiffes weder Deutsche, noch Nüssen, sondern Finnen sind; gehört doch auch das Schiff eiucr finnischen Gesellschaft. Trotzdem beweist es, daß in den baltischen Provinzen weder die Russen, noch die Deutschen für die Zwecke der Schiffahrt uud den Verkehr zur See ausreichen; erstere vielleicht deshalb uicht, weil sie überhaupt keine Neignng hiezu haben, letztere, weil ihrc Zahl Zn gering ist. Die Finnen aber sind im Stande, die Mannschaft zn liefern; sie lieben das Meer, und wir wissen, daß finnisches Geld anch außer dcu finnischen Landcsgrenzcn Arbeit sucht. Doch das Schiffscommaudo ist schwedisch! Dies Zeigt wieder die sociale und geistige Ucbcrlcgcnheit der Schweden; wenigstens so viel, daß auch die finnischen Matrosen das Schwedische verstehen und daß die schwedische Sprache noch heute iu allen Verhältnissen Finnlands eine bedeutende Rolle spielt. Schicfucr, der viele Leute auf dem Schisse kannte, machte mich unter Anderen mit dem Staatsrath Tilcsius („Nr. ^iI68iu8 üs lilenlm, cm>8oilw- ä'Lwt t^wol") bckanut. Die Vorbereitungen, das Aufpacken hat ein Ende, die Glocke verkündet die Abfahrt. Wir nehmen von nnscrcn Begleitern Abschied nnd das Schiff setzt sich in Bcwcguug. Immer stärker wird das Plätschern — 230 — der Räder, schnell gleitet unser Fahrzeug dahin; wir verfolgen mit unsern Augen noch eine Zeit lang unsere uns vom Ufer aus zuwinkenden Freunde; bald sind auch sie unsern Blicken entschwunden. Das Wetter ist schön, doch ein wenig windig und außerhalb des Hafens schlagen die Wellen so heftig, daß unser Schiff bald merklich zu schaukeln beginnt. Je mehr wir uns jedoch vom Ufer entfernen, desto mehr legen sich auch die Wellen: die Reisegesellschaft genießt das günstigste Wetter. Unsere Blicke wenden sich zurück: auf den Olausthurm, der immer kleiner und kleiner wird, bis er cudlich ganz verschwindet. Wir befinden uns auf hoher See im finnischen Meerbusen, auf dem wir nun direkt gegen Petersburg stcucru. Die angenehme Conversation des Schissskaftitäns und des Staats-raths Tilesius läßt uns auf dem Schiffe bald heimisch werden. Der letztere hat auf deutschen Universitäten studiert, viele Nciscu gemacht uud legt großes Interesse für die Knust des Mittelalters an den Tag. Mit Politik scheint er sich weuigcr zu beschäftigen, und doch ist er Censor der französischen und englischen Journale und Zeitschriften in St. Petersburg. Hier darf nämlich keine einzige Nummer der ausländischen Zeitungen dem Publikum übergeben werden, bevor sie nicht die Censur passirt hat. Nichts ist jedoch unterhaltender, als Abends, wenn die untergehende Sonne die Meercsfläche vergoldet, sich schweigend dem freien Gedankcn-spielc hinzugeben. Mit den Bildern des gegenwärtigen Augenblicks mischen sich die Erinnerungen der Vergangenheit, und es scheint, als erhellten sie sich gegenseitig; unsere Gedanken fliegen frei herüber und hinüber, ohne zu fragen, ohne zu antworten, schwelgend allein im Genuß der wechsclrcichcn Bilder. Es ist ein Tränmcn mit offenen Augen, keine sinnige Betrachtung, aber doch genußvoll, beruhigcud uud erquickend. Doch die Zeit steht uie still; bald versinkt auch die Sonne in den Fluthen und am Nachthimmcl ziehen die Sterue auf. Ermüdet schlüpfen wir in unsere Cajütc und sind bald eingeschlafen. Die Sonne stand schon hoch, als wir am Morgen des 1.8. Juli aufs Verdeck träte«, wo sich die Reisegesellschaft allmälig zn sammeln begann. — Tilesius theilte mir mit, daß ein russischer Oberst Namens Karlstedt unsere Bekanntschaft zu machen wünsche und führte ihn Zu uus. Karlstcdt ist in Hclsingfors geboren, also Finne. Dein Acnßern nach ein bescheidener, und so viel sich aus dem Gespräch sehen ließ, ein intelligenter Mann; er ging nach Petersburg, um daselbst einen Urlaub zur Ncise in ein deutsches Bad zu erwirken. Als Qbcrlicutcnant uud Hauptmann hatte er im I. 1849 an dem russischen Fcldzuge in Ungarn — 231 — theil genommen und war von Epcrjcs nach Waitzcn, von da nach Dcbrceziu und über Großwardeiu nach Vilägos gezogen. Er erinnerte sich gerne an Ungarn, dessen Alföld (die südliche Ebene zwischen Donau nnd Theiß) er durchwandert hatte. Wir fanden seine Gesellschaft anf unserer ganzen Reise nnd später in Petersburg höchst unterhaltend. Er erzählte Manches von seinen Erfahrungen in Ungarn, unter Andcrm, wie sehr ihm einmal die finnische Sprache zu Statten gekommen sei. Die Cholera wüthete im russischen Heere. Unser Hanptmann lebte nur von Thee, Vnttcr und Fleisch, und hoffte sich onrch diese Lebensweise vor der schrecklichen Krankheit zu bewahren. Einmal ging ihm aber die frische Butter aus und er trachtete sich solche auf jede Weise wieder zu verschaffen. Als er mit seiner Truppe durch eine Pußta des Alfölos zog (auf deu Namcu der Pußta konutc er sich nicht mehr besinnen), sah er ein cinzclustehcndes Haus von sehr reinlichen: Acnßern vor sich. Er lenkte sein Pferd vor dasselbe. Auf das Gestampfe seines Pferdes trat ein sauber gekleidetes Vaucrnwcib heraus nnd blieb vor der Thüre stehen- Wie soll ich mich diesem Weibe verständlich machen? dachte Karlstcdt. Er versuchte es also mit der russischen Sprache nnd stellte die Frage an sie: ob sie frische Vnttcr hätte? A«m tnäum (ich verstehe nicht), antwortete das Weib. So weit reichte bei Karlstcdt die Kenntniß des Ungarischen, nm diese Antwort sogleich zu verstchcu. Er versuchte mm deutsch Zn fragen. — Mm tuänm! — Er versuchte es im Französischen, denn in seiner Vcdrängniß fiel es ihm gar nicht ein, daß, wenn die Frau schon weder dcntsch noch russisch verstehe, sie französisch oder schwedisch noch viel weniger verstehen werde! — ^6iu wclom! — Was soll ich thuu, dachte KarlMt, uud platzte mit ciucni Male finnisch hcrans: lunm ummlw voikH? Das Weib heftete ihr Auge auf ihn, legte die Hand auf feine Schulter, nickte mit dem Kopf und lief in's Haus. — Was wird daraus wcrdcu? dachte unser Hauptmann. Und siehe, sie bringt eine Schüssel hcrans und auf derselben einen großen Kloß frischer Butter, glänzend wie vom Morgcnthau. Karlstcdt nahm ans seiner Tasche eine Hand voll Zwanziger (das russische Heer wurde in Silber bezahlt) heraus und hielt sie vor das Weib, damit sie sich den Preis der Butter selbst nehme. Die Ungarin nahm zwei Zwanziger davon nnd bezeugte damit, sowie mit der Zufriedenheit, die in ihrem Auge glänzte, daß die Butter bezahlt sei. — „Eine größere Wohlthat hätte man mir damals nicht erweisen können", schloß der Erzähler, „als die Herzlichkeit dieser Fran war", der er anch znm Lobe anrechnete, daß sie nnr zwei Zwanziger genommen hatte, während sie ebenso gnt fünf, selbst zehn hätte nehmen können. Später erfuhr er, #>2 daß das filmische voi (Butter) im Ungarischen v^' heißt; das ungarische Weib hatte also unter voiw glücklicherweise Butter verstanden*). Bei dcm günstigen Wetter und der angenehmen Uutcrhaltnng verging rasch die Zeit und wir rückten nnscrcm Ziele immer näher. Vald konnte cm scharfes Auge im Nebel der Entfernung ein Schimmern wie von Sternen wahrnehmen, das immer deutlicher hervortrat. Es sind die goldeuen Knftftclu uud Thürme St. Pctcrsbnrgs. Karlstcdt und Tilcsius erklärten wetteifernd: das dort ist die Isaatskuppcl, hicr der Thurm der Marienkirche u. s. w. Uuterdcß eilen wir der Festung Kronstadt entgegen und bald erblicken wir auch den Mastcnwald im Kroustädtcr Hafen. Schon fahren wir Zwischen den beiden großen Basteien durch, deren Zahlreiche Kanonen uns aus den Ocffuungen der Steinmauer« cntgegcngähncn. Doch thnn sie uns nichts zu Leide, deun wir sind nicht die englische Flotte, mit der der Admiral Karl Napier im I. 1853 hicher kommen wollte, um Kronstadt zum Frühstück uud Petersburg Zum Mittagsmahl ciuzuuchmcn. Karlstcdt bemerkte mit vielem Humor, er bcdancrc, das; Napier sein Versprechen vergessen habe; er behauptet, es cxistire keine Flotte in der Wclt, die hicr ungestraft pasfircn könnte. — Kronstadt ist der Schlüssel Petersburgs; schon Peter der Gr. begann es 1703 Zu befestigen, und seitdem wurden feine Wälle immer wieder verstärkt, bis sie unter dcm Zaren Nikolaus auf ihren heutigen ausgezeichneten Stand gebracht wurden. Die Stadt zählt, sammt deu 25/»00 Miaun Garnisonssoldatcn, gegen bl),O<><» Einwohner. Ihr Hafen ist nicht nur die Hauptstation der russisch-baltischen Flotte, sondern anch Hauptcmporium des russischen Handels. Die Flotte lag augenblicklich nicht im Hafen, da eben die Marinc-Manocuvrcs zwischen Viborg und Svcaborg stattfanden. Von Kronstadt an zeigt das rechte Mccrcsufcr ciuigc Erhebung. Bald sehen wir Oranicnbaum, das nur 8 Werst von Kronstadt entfernt ist; dann folgt Peterhof, dessen Springbrunueu die von Versailles übertreffen sollen, wie Karlstcdt behauptet. Er fügte hinzu, dasi jeder Fremde, ") ^.nlln, miimllo vuitk heißt: gieb mir Butter. Hicr konnte die ungarische Frau nur die Bedeutung des letzten Wortes ahnen. Tie Aehnlichkcit des Wortes lwng, mit dein nngar. mlj ^ - gieb, ist für deu Laien tauin yerau<<'nn'bar; ant, im Lappischen auch u<1n ssani verschieden, ^liuil, ungarisch on ich, iniinin, ungariiä! on)(:>n - niein, iu!,nl!!l', linear, i^i^m ---> „ür. Die Ntchvzahl ist: nui, !uv«i oder inl!l, un^ar. nn, nnl, i,>ink wir, Die ;wei ersten Fornieiz siud mit d^n Ungarischen identisch; auch die dritte insofern, als im Finnischen der ^haratter der Mehrzahl t, im Ungarischen !< ist. — 233 — der nach Petersburg komme, die kaiserlichen Paläste und Gärten in Oranicnbanm und Peterhof in Augenschein nehmen müsse. Nachdem wir alles, was vom Verdeck aus zu sehen war, betrachtet hatten, gingen wir zum Diner in den nntern Saal. Unterdessen näherten wir uns immer mehr und mehr Petersburg, und als wir nach dem Mittagscsscn ans das Verdeck eilten, waren rechts am Ufer bereits die Gebäude und Gärten Pctcrhofs sichtbar, vor uns aber schimmerte der Thurm der St. Isaakskirchc und viele andere goldene Thürme nnd Kuppeln. Wir laufen bald in die Mündung der Newa ein, deren Wasser so rein ist und dieselbe Farbe hat, wie das Meer. Da Petersburg sich in einer Ebene an den beiden Ufern der Newa ausbreitet, bietet es dein Beschauer außer den goldenen Kuppeln keinen überraschenden Anblick dar. Letztere scheinen, je mehr wir uns ihnen nähern, immer tiefer zu versinken. Die Quais und Häuserreihen an der Newa treten hervor; wir sind in der Stadt. Was man vom Schisse ans sehen kann, die Isaakskuppel, der großartige Flnß, die breiten Qnnis, die in unübersehbarer Länge dahinziehende Häuserreihe, alles bietet das Bild der Größe. Wenn wir es mit dem Bilde der Donau bei Pest vergleichen, so erscheint letzteres in der That klein. Die Ofener Seite mit dem hochstehenden königlichen Schloß würde beide Ncwaufcr übertreffen, wenn sie nicht so unfertig und schmutzig wäre. — Was aber die Ausdehnung betrifft, so verschwindet Pest-Ofen fraglos gcgen Petersburg. Das Schiff hält und stößt an's Land; nicht weit von nns überspannt die herrliche Nikolaibrnckc den schönen Strom. Der Oberst ist so frcnndlich, uns in's Hotel Kayscr Zu führcu, wo auch er absteigt. Wir sind also nun endlich in Petersburg. Der Newafluß ergießt sich aus dem nur 60 Werst (8'/2 Meilen) von hier entfernten Ladogasee, dem größten Europas, der fast einem Meere gleicht, in den finnischen Mecrbnsen. Bei seinem Ausfluß Zertheilt er sich iu mehrere Arme. Der mächtigste, ans dem wir daherkamen, ist die große Newa (Loi^H^H ^lova); diese nnd die kleine Newa MilM Neva) bilden die Wassiljews-Inscl l^,8Ä1i-ft8t,r0v), welche onrch zwei Brücken, die bereits genannte Nikolansbrückc und eine Schiffsbrücke mit der am linken Ufer sich ausbreitenden Stadt verbunden ist. Auch unser Hotel ist in Wassili-ostrow. Verfolgen wir die Newa weiter anfwärts, so scheidet sich von ihr die Ncvka, die wieder in die große und kleine Nevka sich theilt nnd mehrere Inseln bildet. An dein Ufer der Wassili-Insel befindet sich die Börse, — 234 — die Akademie der Wissenschaften, die Universität, die Pauls-Militärakadcmic, die Akademie der schönen Künste n. f. w. Alle diese Gebäude liegen in der Nähe unseres Hotels. Jenseits der kleinen Newa ist die Festung, die durch eine große Schiffbrücke mit dem linken Ufer verbunden ist. Die kaiserlichen Paläste, das Arsenal, die Isaakskirche, die Palais der Ministerien u. s. w. befinden sich am linken Ufer, auf dem der größte Theil der Stadt liegt. Diese am linken Ufer gelegene Stadt umgeben auf einander folgend drei Kanüle: Moita-, Katharincn- und Fontanka-Kanal. Nachdem wir uus in unserm neuen Quartier ein wenig eingerichtet und uns anf der Karte der Stadt orientirt hatten, trat der Oberst zu uns herein und schlug uns vor, wir sollten gegen 6^2 Uhr Abends eine Spazierfahrt über die Nikolausbrücke jenseits der Isaakstirchc den Ncwski-Prospekt entlang und zurück zum Sommergarten machen. „Vor dem Garten steht eine Kapelle, vor der man den Hut abnehmen muß", sagte mir der Oberst. Die Kapelle, deren Heiliger große Vcrehrnng genießt, wurde Zum Andenken an die Bewahrung des Zaren Alexander vor einem Attentat, das an dieser Stelle gegen ihn verübt wurde, errichtet. Im Sommcrgarten wollte der Oberst, der noch mehrfache Besorgungen zu machen hatte, da er am folgenden Morgen Petersburg verlassen mnßte, zn uns stoßen. Ich benutzte die Zwischenzeit bis Zur Spazierfahrt, ciucu Hclsing-forscr Bekannten, mit dein ich korrespondirte, Georg Forsman, mit dem Schriftstellernamcn Kostincn'), zu besuchen. Schon in Dorpat hörte ich, daß Forsman gegenwärtig in Petersburg iu den Staatsarchiven Studien mache und das; er bei der finnischen Kirche wohne. Ich verließ also das Hotel und rief eine Droite ^'), mit den wenigen russischen Worten an, die nur zu Gebote stnndcu. Der Kutscher verstand mich und jagte davon. Auch auf der Nikolausbrückc steht eine Kapelle; hier hatte ich zuerst Gelegenheit, die äußerliche Frömmigkeit der Nnsscn zn beobachten. Mein Kutscher, cm junger Vnrschc, machte mit cincr solchen Verbeugung das Kreuz, daß ich erschrak und glaubte, es fehle ihm vielleicht etwas: es sah ans, als wollte er vom Wagen herabfallen. Als ich mich nach allen Seiten umblickte, bemerkte ich die Kapelle nicht einmal. Die Kutscher verbeugen sich alle, auch der größte Theil dcr Passagiere; die Fußgeher werfeu sich Zu Boden, und selbst wenn sie sich nmwendcn, machen sie das Kreuz und verbeugen sich. Da nun die ^) Das schwedische Wort korZ bedcntet Wasscrfall; Hclsiugfors also ^ Helswg-Wasscrsall; 'i'Äminoi'-t'or« Tauuucr Wafscrfall u. s. w. I'or^mau, ein Manu vom Wasscrfall. Im Finnischen heißt Wassttfall liulcki, knsilwou vom Wasfrrfall. «*) Lohndroschtc. -^235 — Kirchen und Kapellen in der Stadt sehr Zahlreich sind, so bietet sich für diese äußerliche Frömmigkeit fortwährend Gelegenheit. Viele der Vorübergehenden grüßen auch nicht; es sind entweder Fremde oder keine Orthodoxen. Denn in Petersburg leben anch viele Andersgläubige. Schon die finnische Kirchengemeinde ist evangelisch; und ich weiß, daß hier auch eine estnische evangelische Gemeinde eristirt, deren Pastor beim cstnischcn Volksfest in Dorpat zugegen war; auch sind hier deutsch- uuo schwcdisch-cvaugclische, ferner deutsche, holländische und französische reformirte, schließlich eine armenische Kirchengemeinde; auch Juden giebt cs in großer Zahl. Nach mehrfachem Hin- nnd Herfahren führte mich die Droikc zu meinem Ziele. Die zur finuischeu Kirche gehöreuoen Gebäude siuo recht ansehnlich und meist zwei- bis dreistöckig; alle sahen aus, als ob sie erst frisch getüncht worden wären; auch die Kirche ist ein stattliches Gebäude. Ich finde irgendwo, daß die erste finnische Kirche im I. 1734 crbant wurde; das jetzige Gcbände wurde im I. 1804 eingeweiht. Auch eine Schule ist daneben. Wenn ich recht berichtet worden biu, so zählt die Petersburger finnische Gemeinde 15,000 Seelen. Vlber ich glaube, in dieser Zahl sind auch jene evangelischen Finnen inbegriffcn, die außerhalb der Stadt, iu der Umgebung wohnen. Denn viele Dörfer um Petersburg herum sind finnisch, was um so weniger auffällig ist, als die Stadt auf finnischem Boden erbaut wurde. Die jetzt Wassili-ostrov gcuaunte Insel IM finnisch <1lii>6l^0ii 8am'i — Hascninsel. Ich ging in das Haus, in welchem Forsman wohnte, und traf die Familie — mehrere Damen und Herren — beim Kaffee. Sie sprachen sehr gnt deutsch; ihre Kleidung ist nwdcru, und das sehr schöne Ameuble-mcut deutet auf Wohlhabenheit. Da ich Forsman selbst nicht traf, so ließ ich mcinc Karte zurück und verabschiedete mich bald von der Gesellschaft. Anf dem Rückweg, in der Nähe der Newa, wo ich also uicht mehr fehl gchcu tonute, entließ ich meinen Kntscher und ging zu Fuß. Mir fielen die in unabsehbarer Ncihc sich hinziehenden Fähren und Schiffe auf, die alle mit Brennholz beladen waren; das Holz ist zumeist Birken- und Fichtenholz. Anch ill dcn Höfen der finnischen Kirche hatte ich riesige Holzstöße bcmcrtt. Das Straßenpflaster besteht aus kleinen scharfen Kieselsteinen und ist daher für dcu Fußgänger höchst unbequem. Aber die Trottoirs sind breit und mit Quadcrstcmcn ausgelegt. ^Der Newaquai (Newsti-Prosvctt) ist großartig, das Pflaster besteht hier aus Granit. Die Straßen sind meist breit. Im Verhältniß erscheinen daher die zwei- und dreistöckigen Häuser fast uiedrig. — 236 .— In der Nichtllug der Nikolauskirche befindet sich cine kleinere Kirche (Kirche zur Verkündigung Maria) mit einem vergoldeten Thurm, die ich, da sie offen war, auch betrat. Ein Maler koftirte ein Altarbild, ein Geistlicher sang mit einer tiefen Baßstimme uud einige Glänbigc kamen und gingen, knieten und beteten. Ueberall viel Gold, was die Wirkung, wenigstens nach meinem Geschmack, sehr beeinträchtigte. Die Kapelle auf der Nikolausbrückc ist dem heil. Nikolaus gewidmet; sein Vild ist in Mosaik gearbeitet; er war der Schutzpatron des Kaisers Nikolaus und darum wurde die Brücke ihm geweiht. Sie besteht aus Granit-pfcileru nnd gußciserucn Bögen. Es ist eine herrliche Brücke, die unch dem rechten Ufer zu bei der Kapelle sich den durchgehcndeu Schiffen öffnet. Sie liegt sehr niedrig, als ob man die Ucberschwcmmnngcn der Newa nicht fürchte, die doch oft verheerend sind. Als ich iu's Hotel Zurückkehrte, faud ich dort Herrn Tilcfius. Wir wollten uutcr seiner Leitung den mit dem Obersten geplanten Ausflug unternehmen, und er bestellte den Wagen znr Isaakskirchc, wohin wir zu Fuß gingen. Die Isaakskirche steht auf eiucm gegen die Newa zu offenen nnd sehr großen Platz und erscheint im Vergleich zu demselben selbst klein; befindet man sich aber unmittelbar vor ihr, so sieht man erst, wie außerordentlich groß und hoch sie ist. Schon der Unterbau uud die stcincrucu Stufcu der Kirche siud bcwundernswcrih, denn sie sind aus großen Grcmitblöckcn verfertigt. Da das Gebäude ciu griechisches Kreuz bildet, so hat es vier gleiche Fronten; jcdc ruht auf zwei Reihen Pcri« stylen; jede Ncihe besteht ans sechs Säulen. Achtuudvicrzig Säulen zicrcu also das Aeußerc des Gebäudes; und was sind das für Säulcu? Jede ist ein runder geschlissener Monolith, aus rothem finnischen Granit, deren Durchmesser 7 Schuh, die Höhe aber Schuh beträgt! Wenn man die herrlichen kolossalen Säulen betrachtet, dcnkt man unwillkürlich an die Riesenarbeit und Mühe, welche das Aushaucu der gewaltigen Grauitfclsen, der Transport, die Aufstellung uud die artistische Bearbeitung gekostet haben müssen. Ich finde nämlich den Charakter des großartigen nnd herrlichen Gebäudes darin, daß es uns stets an die Arbeit und dic Kosten erinnert, nnd mchr durch die Größe dieser erschreckend wirkt, als daß es durch die liebliche Schönheit uns die kcuchcudc Mühe vergessen ließe, die es hervorgebracht hat. Da die Thüren bereits geschlossen waren — es war schon gegen Abend — so konnten wir nnr das Aens-cre des Baues, soweit er von unten sichtbar ist, betrachten. Die Zciclmungen der großeu BronZe-thürcn, ihre Verzierungen seitwärts uud obcn sind sehr vollkommen, Anf -- 237 — jeder Seite stehen Wachposten, die bei unserm Herannahen aufsprangen und die Figuren zu erklären begannen. Nichts ist für den Beobachter, der den Eindruck des vor ihm befindlichen Gegenstandes empfindet uud frei auf sich wirken lassen möchte, lästiger, als eine solche zudringliche Erklärung, die wir im vorliegenden Falle nicht einmal verstanden. Aber dieser Belästigung kann man nirgend ausweichen. Sie war hier um so unangenehmer, als das Acußcrc nnd die Vagerplätzc der Wachen, so zu sagen, sehr ländlich aussahen nnd zu der ernsten nnd großartigen Würde des Banes in gar keinem Verhältniß standen. Die große Knppel umgeben vier kleinere und niedrigere. Alle sind vergoldet. Die Hauptknppcl ziert noch ein großes vergoldetes Kreuz. Aber trotz des vielen Goldes, das man in der Nähe nud von unten ohnehin nicht sieht, ist die Farbe des Gebäudes düster. Die Bronzcstgurcu find schwarz, die Granittnasscn der Säulen aber nnd der Stufen braunroth, was gleichfalls dunkel erscheint. Und dies steigert vielleicht noch jene Wirkung des Bauwerkes, die eher abstoßend als anziehend genannt werden kann. Wir begnügten uns vorläufig mit dem, was wir von dem Gebäude hatten sehen können, setzten nns in den vor der Rciterstatnc des Zaren Nikolaus stehenden Wagen nnd ließen den Kutscher, mit dem wir nicht sprechen konnten (denn Tilcsius hatte nicht Zeit, uns zn begleiten), dem früher ertheilten Auftrag gemäß über den Ncwski-Prospekt fahren, nm dann zum Sommergartcn zurückzukehren. In Petersburg nennt man die großen Gassen Prospekte; darunter ist der Ncwski der größte, nämlich 4 Werst lang, länger also als eine halbe Meile. Die Pferde (wir saßen in einer zwcispännigen Kutsche) giugcn in langsamem Trabe und wir konnten das Aenßerc der Hänscr und die rnssischcn Aufschriften der Firmen lesen, die nur scltcu französisch, englisch oder deutsch sind. Photographen und Zahnärzte zeigen sich beinahe in jedem zweiten Hause. Zu eiuer audcrn Jahreszeit, besonders im Winter, wenn das elegante Publikum Schlitten fährt, tonnte fich der Fremde von der Schönheit desselben überzeugen; jetzt aber sind die großen Straßcu, wenn auch nicht leblos, so doch von Modcspaziergängcrn entblößt. Die große lange Straße machen aber nicht nur die Häuserreihen bemerkenswert!), sondern auch der Umstand, daß hier jede christliche Gemeinde ihre Kirche hat: die römisch-katholische, holländisch-refornürte, lutherische, armenische. Auf diesem Prospekt ist anch die Kasancrtirchc, nach der Isaakstirchc die prächtigste russische Kirche in Petersburg, mit doppelten Säulenreihen, die einen Halbkreis bilden, wie an der Pcterskirchc in Rom. Den Namen erhielt sie von einem wuuderthätigen Bilde der heil. Jungfrau, das man — 235 — im I. 1579 aus Kasan wegführte und 1821 nach Petersburg brachte. Am Fontanka-Kanal ist die Anitschkof-Brücke, durch vier Kunstgruppen verschönert; eine jede stellt eiu Pferd mit seinem Bändiger vor. Wer in Bertin die zwei sich bäumenden Rosse vor dem königlichen Schloß gesehen hat, deren jedes von einem Manne gehalten wird, kann allsogleich bemerken, daß er es hier mit deren Ebenbildern zu thun hat. Und in Wirklichkeit sind es insgesammt Schöpfungen des Baron Klot, und die zwei Berliner Gruppen hat der Zar Nikolaus dem preußischen Könige Friedrich Nilhelm IV. zum Geschenk gemacht. Am Newski-Prospekt befindet sich auch der O^tinoi änm- (Hof der Gäste), der Vazar. Wir machten bei anderer Gelegenheit die Nundc um denselben und bewunderten seine Größe, denn in demselben befinden sich, wie man sagt, 340 Gewölbe und Magaziuc. Die Benennungen sind übrigens bemerkenswert!), denn sie erzählen uns, woher die Anstalten und deren erste Schöpfer stammen. Das Wort ^tin ist das deutsche Gast, das lateinische 1i0^p68; die ersten Kaufleute in Rußland waren Deutsche aus den Hansestädten, die als Gäste angesehen wurden. Und bis heutigen Tages nennt der Nüsse den Kaufmann Gast --- 8^t,in. Ucbrigens ist auch der Ausdruck kupLt/ für Kaufmann gebräuchlich, ein Wort, das auch in Ungarn bekannt ist und wieder darauf hinweist, daß unter -den Ungarn einst die Slovalcu es waren, die den Kleiuhandel besorgten. Und wer erinnert sich bei dem Worte ^o«tm nicht daran, daß auch die ersten Bewohner der ungarischen Städte, die gleichfalls zumeist Deutsche waren, von den ersten ungarischen Königen Gäste (1w8pit68) genannt wurden? — Das Wort I^lu- ist persisch. Wahrscheinlich haben unter den westasiatischcn Völkern die Perser im Handel einst jene Rolle gespielt, wie die Deutschen im östlichen Europa. Das Wort M^ar kam dann zu den Völkern türkischer Zunge, von diesen zu den Russen und zu den Ungarn. Das türtische da^r giwi, ungarisch va,8äi'-iMp ^' Markttag und gleichzeitig Sonntag, beweist, daß die Märkte an Feiertagen abgehalten wurden. Wohl will die ungarische Sprache schon den vü«är — Markt vom ungarischen vanlr Die Vedinqnugeu der Union sind folgende: Die orientalische Kirche an-erkennt den Primat deo Papstes. Das Dogma von dcr Emanation des heiligen Geistes behalten beide Theile nach ihrer bisherigen Auffassung. Das Fegfeucr nehmen anch die Gnechen an. — In jeuer Union, welche dcr Jesuit Possevin im chcmaligcn Polen und die Jesuiten Hcveucssy und Ba'räny mit Hilfe der Grauer Erzbischöfe Pippau und Kollonich i» Ungarn und Siebenbürgen durchführten, ist außer dcn obi^'n 8 AnUcln für die griechische Kirche noch enthalten: Die Ehe des niedern Klerus dcr Genuß des Kelches durch die Laien und das gesäuerte Brod. — Die Uniontjformel des sNorenzer Concil« siehe: Gieselcr, Lehrbuch der Kirchen-gefchichte. II. Bd. IV. Abch. S. 541 u. s- w. — 248 — annehmen. Der angewandte Zwang erweiterte das Schisma noch mehr. Diejenigen, welche sich wegen der ncnen Bücher von der Mutterkirche loslösten, nannte und nennt man noch heute It^kowilvi (Geschiedene) oder ßwrovoi'tni (Altgläubige). — Später wurde die Trennung noch bedeutender. Wir wissen, daß Peter der Gr. im I. 172I das Moskauer Patriarchat aufhob, sich zum Haupt der Kirche machte und die Besorgung der Kirchenangclcgcnhciteu dem durch ihn ernannten h. Synod ^) anvertraute (s. S. 102). Im I. 1723 wurde das patriarchalische Recht des Synods auch von dem h. Stuhl in Konstantinoftel aucrkauut. Er rcsidirte Zuerst iu Moskau und siedelte dann nach Petersburg über. Diese Veränderung, von Peter dem Gr. durchgeführt, berührte das religiöse Leben weit mehr, als die früheren liturgischen Reformen, und rief daher auch lebhafte Autiftathicu hervor. Hiutcr dem Namcu der Roskolniki und Starovcrtzcn verbergen sich heute auch jene, die gegen den Zarcncftiskoftat sind, und es ist hieraus erklärlich, warnm die russische Regierung die Verfolgung des Raskols mit solchem Eifer betreibt. Es cristirt aber auch iu der russischen 5tirchc eine Sekte, deren Bcstehcu wir kaum begreifen tonnen, nämlich die Scktc der Skopzen. 5kliM5, iu der Mehrzahl 8ks)Mi, bezeichnet soviel wie Verschnittene. Diese sonderbare Scktc gefährdet den Bestand der Gesellschaft und das Gesetz verfolgt sie auf das Strengste. Was noch unverständlicher ist, ist der Umstand, dass die Seltc der SkoftZen auch iu den wohlhabenden Classen AuhäuM zählt, wie der Morschauskcr-Prozcß, der vor dem Criminalgcricht zu Tambow verhandelt wurde, bcwieseu hat. Das Urtheil in diesem Prozesse lautet: 1) Ma^im Kusmin Plotizyu, Kaufmann erster Gilde uud Ehrenbürger iu Morschausk, wird, da er zur Sekte der Skopzen gehörte, dicselbcu beschützte, ihre ketzerischen kehren verbreitete, seines Ranges, seiner Rechte, seiner drei VerdienftZcichen und des St. Unncnordcns verlustig erklärt, und nach dem östlichen Sibirien verbannt, wo er unter strengster Aufsicht zu halten ist. Zu derselben Strafe wird auch dessen Schwester Tatjana Icgorowna Plotizyn vcr-urthcilt. 2) Ickatcriua Zakowlcvua Olintschikoff, und außerdem noch IU namentlich angeführte Männer und Frauen, manche mit einer oder mehreren Töchtern, werden, weil fie znr Scktc der Stopzen gehörten uud die Verstümmler verheimlichten., ihrer Rechte verlustig erklärt und nach dem östlichen Sibirien uutcr strengster Aufsicht verbannt. „Da aber untcr denselben auch bejahrte Leute sich bcsindcu, die vielleicht schon ") Der heilige odcr dingirendc Synod besteht auö 12 höheren Geistlichen und eincm kaiseNichcn Procurcur. — 249 — lange verstümmelt sind, so beantragt der Gerichtshof auf Grund der Klagvcrjährung Straferlaß." 3) Um Erlaß derselben wird auch für zwei besonders genannte SkopZcn angesucht. 4) Ion Iwanow Kusnezow, Bauer, der sich selbst und N Personen, darunter Angehörige seiner Familie, verstümmelte, verliert alle seine Rechte nnd wird zu vier Jahren Zwangsarbeit vcrurthcilt. 5) Einige Personen werden in Verdacht gezogen. 6) Das vorgefundene Geld übergiebt der Gerichtshof den gesetzlichen Erben Plotizyn's. 7) Die,10000 Nubcl, welche Scljapukin dem PolizciMufschcr anbot, fließen in den Staatsschatz. 8) Wegen dcr verschwundenen Kapitalien wird keine weitere Untersuchung eingeleitet. Ans diesem Urtheil ersehen wir einmal, daß znr Sekte dcr SkopZcn sowohl Männer als Frauen gehören; dann, daß die Sekte aus Zahlreichen und wohlhabenden Gliedern besteht, denn Einer derselben lSclja-putiu) wollte die Polizei mit 10000 Rubeln bestechen. Bezüglich der verschwundenen Gelder hörte ich, daß die Smnmc dessen, was bei den SkopZen gcfnnden wurde, eine Million übersteige. Als jedoch der Fiscns seine Hand darauf legcn wollte, fand man das Geld nicht mehr. Die Behörde erschrak, als sie sah, wie groß die Verzweigung dcr Sekte sein müsse, und darnm verzichtete sie auch oaranf, dem Verschwinden des Geldes weiicr nachzuforschen. — Nur dem gründlichen Kenner der russi-scheu Gesellschaft wäre es möglich, die Entstehungsursachen einer so schwärmerischen Sekte zu entdecken. Historisch bedeutsamer ist jener Gegensatz, welcher sich im russischen Polen zwischen der morgenlnndischcn und abendländischen Kirche entwickelte, nnd welcher mit ein Hauptgrund für den Untergang Polens wnrde. Wie wir wissen, wurden die an der Weichsel wohnenden Slaven (Polen) Anhänger dcr abendländischen oder römischen, die am Dnjcpr wohnenden (Nuthcncn, Russen) Anhänger dcr orientalischen oder griechischen Kirche. Dieser Glanbcnsnntcrschicd erstreckt sich von Ätthanen bis zu den nördlichen Comitatcn Ungarns; in Galizicn bildet namentlich der Fluß San die Grenze Zwischen dcr polnischen oder römisch-katholischen und dcr rnthcnischcn oder griechischen Nationalität. Als unter dcn Iagclloncn Litlhancn und Polcu (zu welchem letzteren scit Kasimir III. oder dem Großen ^',:N—1370! anch Klein-Rußland gehörte) vereinigt worden und dic Sicge Stephan Bäthory's und dcr Könige ans dem Hanse Wasa die Grenzen des polnischen Königreichs immer mehr erweitert hatten, gehörte das ursprüngliche Rnthcncnthnm in Klein- und Noth-Rußland und Wolhynicn znr „polnischen Nepnblit". Von Anfang an also berührten sich in Polen die abendländische und orientalische Kirche nnd, wic cs scheint, ohnc großc Rivalität, dcnn auch die russischen - 250 — Fürsten neigten öfters zum Papstthum hin. Dcr größte, auch vom Volt am meisten gefühlte Unterschied beider Kirchen bestand in der Sprache dcr Liturgie, die in den römisch-katholischen Gemeinden die lateinische, in den griechischen die altslavische oder slawonischc war. Unter dem letzten Iagclloncnkönig Sigmund II. (1- 1572) herrschte in Polen völlige Religionsfreiheit; neben der katholischen und orthodoxen Kirche griff auch die Reformatiou Platz. Letztere wurde jedoch durch die von den Jesuiten in Scene gesetzte Gegenreformation, die bald zur Richtschnur dcr polnischen Politik wurde, verdrängt (s. S. 30, 31, 66 u. s. w.) und seitdem Protestanten wie Griechen aufs heftigste verfolgt. Die Wasa's Sigmund III., 1588 — 1632, Wladislaus II., 1633 — 1648, und sein jüngerer Bruder Johann Kasimir (vormals Geistlicher und Cardinal, 1669 in ein französisches Kloster getreten) sind eifrige Werkzeuge der Jesuiten. Ein solcher, Anton Possevin, veranlaßt unter Sigmund III. 1590—1596 die Griechen zur Uuion mit der katholischen Kirche ls. Anmcrk. S.'247); der König verkündigt am 15. Dec. 1506 dieselbe mittelst eines Universales und bedroht gleichzeitig alle, die hartnäckig bei dcr griechischen Kirche verbleiben würden. Man betrachtete aber die Union nur als Uebcrgangsstadium zur vollständigen Rekatholi-sation; darum veränderte man stets die Liturgien und setzte die Unirtcn bei jeder Gelegenheit und immer mehr zurück. So kam es, daß allmählich beinahe dcr ganze Adel zum Katholicismus übertrat und die unirtc Kirche bei den Polen nur noch Vaucrnrcligion genannt wurde, wodurch im Volke begreiflicherweise die heftigste Antipathie gegen die katholische Kirche genährt wurde. Die Kosaken forderten schon bei dcr Wahl Wladislaus' IV. gleiches Nccht mit den Adeligen und die Unterlassung der Kirchenverfolgungm. Die Unzufriedenheit unter ihnen war soweit gestiegen, daß sie sich durch Waffengewalt unter Führung Bogdan Chnncluicki's zu helfen suchten. Johann Kasimir war genöthigt, mit ihnen Frieden zu schließen und zu gcstattcu, daß dcr griechische Metropolit Sitz und Stimme im Senat habe. Dagegen sträubte sich dcr polnische Fanatismnö; der Bürgerkrieg brach wieder aus, Chmiclnicki und seine Kosaken schlössen sich den Russen an, und Polen mußte 1654 Klcin-Ruthcuicn Mein-Rußland, Smolensk, Kiew, Czcrnigow, Scvericu n. s. w.) dcn letzteren abtreten. Die Glaubcusvcrfolgungcn in Polen nahmen jedoch jetzt auch noch kein Ende, ja die Landtage vom I. 1717 und 1723 beraubten die Prote-stauten und Gricchcu jeglicher Rechte. Im I. 1766 forderten Rußland, Preußen, England und Dänemark von dem polnischen Landtag die Gleichstellung dcr s.Dissidcntcn" mit den Katholiken, und jcuc vereinigten sich — 251 — in dcr sogenannten General-Confederation Znr Bekämpfung der Gegenpartei. Die thatsächliche Einmischung dcr Nachbarstaaten in die polnischen Angelegenheiten führte zur ersten Thcilnng Polens im I. 1772. In jenem Theile, dcr an Rußland kam, lockte Katharina II. einen großen Theil der unirtcn Griechen (etwa eine Million Seelen) zur russi' schen Kirche hinüber. Dcr Zar Nikolaus setzte im I. 1828 zur Verwaltung dcr Angclegcu-heitcu dcr uuirtcu Kirche ein gricchisch-nnirtes Collegium cm, welches die altcu liturgischen Bücher wieder in die Kirchen einführte, und durch die Erziehung der Geistlichen den Anschluß an die orthodoxe Kirche zu befördern begann. Nach der polnischen Revolution im I. 1830 aber, welche die umrten Griechen den Rusfcn in die Arme trieb, hob die Polozkcr Synode von 1839 die Union auf, worauf sich abermals 2000 Kirchengemeinde« mit 2 Millionen Seelen der russischen Kirche anschlössen. Auf der zum Andenken hieran geprägten Medaille liest man auf dcr einen Seite: Gewalt entriß sie im I. 1596, Liebe vereinigte sie wieder im I. 1839. Seit dem polnischen Aufstand 1863 — 1864 drängt die russische Regierung die katholische Kirche auf ein immer engeres Gebiet. Der Ukas vom 20. Nov. 1864 ordnet die Aufhebung aller römisch-katholischen Mönchs- und Nonnenklöster au, die am Ausstände theilgcnommen habcn, sowie solcher, die weniger als 8 Mitglieder Zählen. Die Ausführung dieser Vcrordnnng erfolgte in dcr Nacht von: 27. auf den 28. November so, daß in jedem aufzulösenden Kloster um Mitternacht ein Offizier in Begleitung einer Anzahl Soldaten erschien, die Kasse versiegelte, und den Insassen befahl, sich auf 4'. Uhr bereit zu halten, entweder in ein anderes Kloster, oder wem es gefiele, ins Ausland abzureisen, zu welch' letzterem Zwecke ein Reisegeld von 150 Nnbcln zur Verfügung gestellt wurde. Von den 12 Klöstcru in Warschau wurdcu 9 aufgehoben; im Ganzen 110 Mönchs- nnd 4 Nonnenklöster. — So tanchcn gegenwärtig im großen russischen Reiche auf dem Gebiete dcr Kirche Erscheinungen anf, wie fic im westlichen Europa seit dcr zweiten Hälfte des vorigcu Jahrhunderts nicht gesehen worden sind. Dcr Leser möge sich auch jener kirchlichen Bewegnngen erinnern, welche sich in den baltischen Ländern in den Jahren 1845 — 1846 zutrugen. — 252 — Am folgenden Tagc erwartete uns Kumt, um lins in die kaiserlichen Museen und zu andern Sehenswürdigkeiten zu führen. Jenseits der Nikolausbrücke, gcgcuüber der Kuustatademic, befinden sich zwei eigenthümliche Sphyuxe, die mnn im I. 1832 aus Egypteu hichcr--brachte. Es ist Schade, daß diesc Altcrthiuncr unter freiem Himmel stehen. — Nebcu der Kunstakademie befindet sich der Ninnjanzow-Platz mit einem Marmorobelitzk zu Ehren RumjauZows Sadunaistoi. Letzterer zeichnete sich als Feldherr Katharina's II. im türkischen Kriege aus; er errang bei Kagul einen großen Sieg uud umzingelte jenseits der Donau das türkische Heer bei Echumla, worauf die Pforte dcu Frieden von Kutschuk-Kainardsche schließen mußte (1774), der in den Ländern des Schwarzen Meeres die Russen zu Herren der Türken machte. Numjauzow aber, als der erste russische Feldherr, der die Tnrlcu jenseits der Donan geschlagen hatte, erhielt dcu Beinamen ßaäunlü^ui (von jenseits der Donau). Wir rudcrtcu über die Newa. Der Wiutcrpalast nnd die Eremitage, in der sich die Musccn nnd kaiserlichen Sammluugcu befinden, ferner die Admiralität, die Isaak'skirchc, und weiter der Palast dcs Senats bilden eine Neihc von Gebäudcu, wie mau sie wohl selten finden dürfte. Obwohl die Paläste hoch siud, so erscheinen sie doch im Vergleich zur Breite der Newa uud deren Ufer vou wcitcm niedrig. Die Eremitage si'i^nmt^c) verdankt ihr Entstehen Katharina II., w'clchc im I. 1768 neben dem Wintcrpalast ein Gebäude errichten ließ, um sich dahin vom Geräusch des Hofes zurückzuziehen und ihre freie Zeit in Gesellschaft von Gelehrten uud Künstlern, die sie außerordentlich begünstigte, Zu verbringen; daher der Namc ^rumjw^, Eiusicdlcrci. — Die Zarin ließ die bereits erworbenen Kuustgegcustäudc einstweilen in der Eremitage unterbringe», und als das Gebäude allmählich für dieselben zu klein wurde, erbaute sie daneben ein zweites (1777), welches durch eine Bogenhalle mit den: ersten vcrbuudcu wurde. Auch der Zar Alexander I. vermehrte die Sammlung außcrordeutlich. Kaiser Nikolaus beschloß später, daß alle Gegenstände, welche in den kaiserlichen Palästen zerstreut angehäuft lägen, iu ciucm Gebäude vereinigt werden sollten und berief dcu bcrühmtcu Müucheucr Architekten Kleuzc, dcu Erbauer der Münchener Glyptothek, der au Stelle der alttu Eremitage ein ncncs Gebäude errichtete, das deu Namen dcs alten beibehielt. Klcnzc erbaute es im griechischen Stylc. Im I. 1840 wurde der Bau bcgouucu, im I. 1850 vollendet. Die Eiuweihuug geschah 18'>2. Das im griechischen Geschmack errichtete Gebäude paßt wohl nicht rccht zum Wiutcr-palast, ucbcu welchem es sich ein wenig zu niedrig ausnimmt. — i^3 — Die Musecu dcr Eremitage sind während der Zwei Sommermonate Juli uud August für das Publikum geschlossen: aber Kunik war als Director in der glücklichen Lage, uns alles zeigen zu können. Doch dieses Wort: „alles"! sagt dem, der größere Sammluugcn kennt, daß wir eigentlich sehr wenig gesehen haben. „Hier eilen wir nur durch, um vom Ganzen einen Begriff zu bekommen, wir werden dann bei den bedeutenderen Gegenständen länger verweilen" — so lautete es oft aus dem Munde nuscres Führers, vor dem die kaiserlichen Diener große Ehrfurcht bezeugten. „Durchstiegen Sie aber die Säle dcr Eremitage, die Bildergalerie, die Statucusannnluug, die griechischcu, römischen, seythischcu, russischen Alterthümer u. s. w., so werden Sie bald müde werden, und weder mehr scheu Wolleu, uoch können." Die russischen Zaren haben viel zusammengekauft uud blieben niemals znrück, wenn irgendwo ein berühmter Gegenstand oder eine Sammlung zu erwerben war. Viele und vortreffliche Gegenstände sind in diescu großeu Sälen angehäuft, deren äußere Ausstattung nicht nur glänzend, sondern auch geschmackvoll ist. — In dcr großeu Münzsammlung zeigte uns Kunik unter Andcrm ein Geldstück Iwan's, ciucs Zcitgcuosseu vou Mathias Corvinus, anf dessen einer Seite das Bild des ungarischen Königs Ladislans des Heiligen, auf der andern dasjenige Iwan's zu scheu war. Iwan hatte nämlich von Mathias ein Ocldmustcr erbeten und erhalten. Dasselbe enthielt auf der einen Seite das Bild des Bönigs Ladislaus, das Iwan nun auch auf seiue russischcu Geldstücke schlageu licsi. Mit vielem Iutcressc betrachtete ich jcuc alten Münzen, die noch ans rohen, uugcvrägtcu Silberbarren bestehen. Von diesen Barren mußte mau jedesmal das gewünschte Stück abschlagen; das russische Wort Iludol stammt daher, deuu rudit, ruIiIWU bedeutet soviel als „abschlagen". Auch die finnische Sprache hat das Andenken an jcuc alte Gestalt des Geldes bewahrt, denn sie nennt auch das Wechseln in kleine Münzen brechen; M'M, rawa, ^ ich breche Geld, d. h. ich wechsele Geld. „Setzen Sie sich und ruhen Sie cm wcuig aus", sagte unser Führer uach einer Weile, und verschwand. Vald darauf kam er in Uniform zurück. „Wir gehen iu die kaiserlichen Gemächer uud ich muß mich dem Reglement fügen." ^ Was sollen aber wir thun? — „Oh, die Reisenden machcu natürlich eine Ausnahme!" — Wir gingen ans dcr Eremitage in dcu Wintcrftalast hinüber, dcr gerade gesäubert wurdc. Auch der Wiutcrftalast wurde uutcr Katharina II. im I. 1762 vollendet. Am 17. December 1837 cutstaud daselbst, wahrschciulich iu Folge unvorsichtigen Hcizeus, Feuer, uud trotz aller Anwendung vou Löschmtttclu verbrannte der größte Thcil des Innern. — 254 — Doch schon im I. 1839 war das Gebäude wieder hergestellt. Die Säle sind großartig und prachtvoll; in dem einen hängen die Bilder der russischen Herrscher, in einem andern die der russischen Generäle. Am fesselndsten ist der Saal der Kaiserin, der sogenannte weiße Saal, mit der herrlichsten Aussicht auf die Newa. Seine Schönheit, sagt man, zeige sich bei Beleuchtung noch besser, als am Tage. In einem Saal des zweiten Stockwerkes werden die Kronjnwclcn bewahrt, die Krone des Kaisers, der Kaiserin, das Scepter u. s. w. Auch das Auge des Laien kann vom strahlenden Glanz der Diamanten und der sanfteren Perlen bezaubert werden; besonders prachtvoll ist die Krone der Kaiserin ans lanter Brillanten. Am Scepter strahlt der berühmte Orlow-Diamant, den man für einen der ersten hält. — Nicht so prachtvoll, aber von größerm historischen Interesse sind die Zimmer, in welchen die Reliquien Peter's des Gr. gesammelt und aufbewahrt werden. Von seinem trcucstcn Contcrfei bis zu seinem Spazierstock ist alles beisammen: sein Hobel, seine Drcchslerbank, sein Wagen, seine Kleider, Fernrohre, Bücher u. s. w. — Aber noch ein anderes interessantes Andenken Peter's des Gr. existirt in Petersburg: uud das ist das erste Haus, das er im I. 1703 erbauen ließ und bewohnte. Es befindet sich am rechten Ufer der Newa auf der zweiten Insel, die von der kleinen und der großen Newa gebildet wird, nicht weit von der Festnng. Vom Winterpalast lenkten wir unsere Schritte dahin. Wie bescheiden nnd klein ist dieses Haus! Es ist 55 Schuh laug und 20 Schuh breit; im Innern befinden sich nur zwei Zimmer und eine Küche. Links das Speise- und Schlafzimmer, rechts das Arbeitszimmer; sie sind so niedrig, daß der Kopf des hohen Mannes die Balken berührt haben muß. Dort sieht man einen Holzscssel, auf dem er, wie man sagt, jeden Abend auszuruheu Pflegte; ein Segelschiff, welches er selbst verfertigt hat it. f. w. Alles wird in dem einstigen ursprünglichen Zustand erhalten; über das kleine Häuscheu hat man ein zweites gebaut, welches jenes wie ein Futteral umgicbt. Im Speise- und Schlafzimmer ist jetzt eine Kapelle errichtet, da hier jenes wundcrthätige Bild sich befindet, das Peter in jeder Schlacht bei sich getragen haben soll. Das Bild genießt große Verehrung nnd lockt von Weitem viele Pilger heran. Darum betet hier beständig ein russischer Geistlicher, und zwar mit einer Baßstimme, wie ich sie bisher nur von russischen Geistlichen vernommen habe. In der einstigen Küche, sowie auch in der Kapelle, sind die Geschenke der Gläubigen aufgehäuft. Zwischen dem kleinen Hänschen nnd der Fcstnng ist eine Kirche ' — 255 — aus Holz, gleichfalls von Peter erbaut, uud im I. 1710 eingeweiht. Auch diese Kirche wird in ihrem frühern Zustand erhalten; alles, was erneuert werden muß, wird nach dem Muster des Alten hergerichtet. Auch die Festung stammt von Peter dem Gr. Der erste Grund wurde im I. 1793 gelegt; zn gleicher Zeit begann er hier eine Kathedrale aus Holz Zu erbauen, an deren Stelle in den Jahren 1712—1733 eine steinerne entstand, in welcher die Kaiser seit Peter I. bestattet werden. Auch diese Kirche ist prachtvoll, wie überhaupt fast alles, was wir bisher in Petersburg gesehen; aber die zierliche Reinheit vermißt man mitunter. — Die Wände der Kirche bedecken Trophäen, als-. Fahucu, Schilder, Waffen n. s. w., die im schwedischen, türkischen, persischen, polnischen und französischen Kriege erbeutet wurden. Auf dem Rückweg bcfnchtcn wir noch die zoologische Sammlung der Universität, in welcher man das Skelett eines Mammuths uud den Schädel eiucs andern noch viel größcrn sehen kann; ja nnter einem Glas befindet sich sogar ein Stückchen behaarte Hant desselben. Diese Uebcrreste einer ausgcstorbencn Thicrgattnng, mit der verglichen uuser heutiger Elephant klein ist, stammen aus den sibirischen Eisgcgcndcn. Wir wollten wenigstens einen Ansflug in die Umgcbuug machen. Kunik rieth uus Zarskojc Sclo au, und versprach nns einen jungen Mann zum Heglcitcr. Derselbe trat auch den andern Tag früh Morgens zu uns ins Zimmer, nnd stellte sich uns als einen Herrn Lcrch vor. Wir lcruteu in ihm bald cincn jungen Gelehrten kennen, der bereits in der Schriftstellerwclt durch eiu Werk über eine Reise durch Vochara uud über die kurdische Sprache bckauut war. Seine Persönlichkeit machte ihn nns zu einem liebenswürdigen Führer, nnd unsere spätere Begegnung mit ihm in Stockholm und Kopenhagen steigerte unser Interesse für ihn. Nach kurzer herzlicher Begrüßung brachen wir von unserm Hotel auf. Lcrch begann gleich mit ein Paar Droitcn zu unterhandeln, in deren einer meine Frau mit einer Nichte Platz nahm, und die auch sogleich davonjagte. In dem Moment trat Europäus zu uns, was uns ciu wenig aufhielt. Auch ich setzte mich darauf mit meiner Zweiten Nichte in ciue Droite, die cbeufalls rasch davonflog. Als ich mich nach Lcrch umblicke, iu der Meinung, er folge uus, ist er verschwunden. Auf der Nikolausbrückc schaue ich abermals aus, doch zeigt sich nichts; auch die vor uns abgefahrene Droikc ist unserem Gesichtskreise cutrückt. Es war eine fatale Situation, da Lcrch der einzige von uns war, der russisch tonnte. Mein Kutscher machte vor der Brücken- — 256 — kapcllc die nothwendigen EhrfnrchtsbcZcuguugcu, doch mit cincr solchm Vehcmcnz, daß die Zügel ihm ans den Händen fielcn. Ich ward dadurch aufmerksam, betrachtete den Mann, sprach ihn, so gut ich tonnte, an und uahm nun wahr, daß er total betrunken war nnd sich kaum noch auf seinem Sitz aufrecht erhalten konnte. Auch mit cincm nüchternen Nüssen hätte ich mich nnr schr schwer verständigen können; was sollte ich vollends mit dem Betrunkenen anfangen? Daß er dem ersten Wagen nachfahren solle, oder direkt zur Bahn, oder warten, bis der nachtommcude uns erreiche, das Alles konnte ich russisch nicht ausdrücken. Ich rief daher nnr: Zarskojc Sclo'. worauf er irgend etwas zurückbrmmntc. Unser Wagen rollte schnell von der Brücke herab in eine Gasse; ob es die richtige sei, vermochte ich nicht zu bestimmen, selbst nicht einmal, ob mein betrunkener Kutscher sich bewußt sei, wohiu er uns fahren solle. So ging es immer weiter uud weiter, bis wir merkten, daß das Wagcu-gcrasscl in den Straßen abnahm. Ich ließ darauf dcu Kutscher au-haltcn, was mir nur mit Mühe gclaug, stieg aus und lief in jedes Geschäft, jedes Wirthshaus hinein. Ich spreche deutsch, französisch; Niemand, der mich versteht. Ich rufe von Neuem: Zarstojc Selo! der Kutscher brummt uud fährt weiter. Wir mußten uns bereits in einer Vorstadt befinden; jedenfalls war mir klar, daß wir nicht Zum Bahnhof führen, denn die Gegend war völlig menschenleer. Endlich hält der Kutscher und steigt ab, als wolle er nicht weiter fahren. Auch wir steigen aus, grhcn Straße auf, Straße ab, sprechen jeden Vorüber-gchcudcu an, kein Meusch, der deutsch oder französisch verstände! Die Zeit drängte, wir mnßten zum Zuge cilcu, denn wcuu wir uns verspäteten, so waren dic Andern ill großer Verlegenheit. Eudlich erblicke ich Jemanden, der einem Juden ähnlich sieht; ich schöpfe Hoffnung, denn ist er es, so versteht er gewiß deutsch. So war es denn auch. Der Fremde war so freundlich, cm gut Stück mit uus zu laufeu, bis wir einen Wagen fanden; wir setzten uns auf uud fuhren rasch zum Bahnhof. Dort hatte mau zum Glück noch nicht zum drittcu Mal geläutet. Unserer Gesellschaft bangte schon um uus. Wir konnteu min doch mit einander unseren projcctirten Ausflug unternehmen. Die Eisenbahn nach Zarskojc Selo ist die erste Nußlands. Dcr Reisende verläßt mif ihr rasch Petersburg, um zwischen Gärtcu aufs Land zu gclaugcu, das wohl flach ist, in dessen Hintergründe sich aber gegen Osten ciu Erdrücken crhcbt, auf welchem Zarskoje Sclo liesst. Dcr Boden scheint nicht nnfruchtbar zu sciu. Iu dcu Dörfern, die wir passirtcn, wohnen Dcntschc, die znmcist Kartoffeln baucn, wofür die nahe Stadt cineu guten und sichern Absatzort bietet. — Zarskojc Sclo __ 25? __ ist nur 25 Werst (3^2 Meilen) von Petersburg entfernt. Es besteht zumeist aus hölzernen Häusern, wie es scheint Sommerwohnungen. Die Straßen sind gerade, sehr breit und staubig. Auch hier zeigt sich an den Bäumen noch die vorjährige Dürre. Uuscr Cicerone Lerch führte uns zunächst zu seinem Onkel, dem Director des Arsenals. Derselbe ist ein liebenswürdiger alter Herr, von deutscher Abstammung und Bildung. Seine Wohnung liegt m einem Garten zwischen rcichbclaubtm Bäumen. Nach einem kurzen Aufenthalt hicselbst gingen wir ins Arsenal, ein neueres, im gothischen Styl erbautes Gebäude, nicht sowohl Waffen-magazin, als vielmehr Museum für Kuustgcgmstände, welche die Kaiser gesammelt haben. Es wurde vom Zaren Nikolaus errichtet. Vor dem Eingänge stehen ein Paar alte schwere Kanonen, welche in den dänischen Gewässern gefunden und vom Könige von Dänemark zum Geschenk dargebracht wurden. Sie stammen aus dem XV. Jahrhundert und gehören, wie man sagt, zu den ältesten Kanonen. Zu ebener Erde befindet sich ein runder Saal, den mittelalterliche Waffenträger hüten. Aus dem Saal, den mehrere kleinere Zimmer umgeben, führt eine Wendeltreppe ins obere Stockwerk, welche mit schönen und seltenen Waffen und Fahnen aller Zeiten und Völker geschmückt ist. Auch aus dem ungarischen Feldzug von 1849 zeigt man Honvcd-Waffen und -Fahnen. Im oberen Saale sieht man acht mittelalterliche Reitergestalten in voller Rüstung. Unter Anderm wird als Curiosum der Schild des deutschen Kaisers Maximilian gezeigt. Auch Geschenke der türkischen Padischahs und persischen Schahs glänzen hier. Während wir die Sehenswürdigkeiten rundum betrachteten, kam nun auch der alte Director im Nniformsfrack und wendete als vorzüglicher Kenner der kostbarsten Gegenstände auf diese unsere Aufmerksamkeit. Er hat auch für den Kaiser die seltensten Stücke, so z. B. den Schild Maximilian's, mit bcwundcrnswerther Genauigkeit gezeichnet und gemalt. Das Arsenal liegt im kaiserlichen Garten, der den Palast umgiebt. Außer jenem befindet sich in demselben noch unter Anderem eine künstliche Ruine, in deren Thnrm der berühmte Christus Dannecker's, eine weiße Marmorstatue, aufgestellt ist. Die kaiserlichen Glas- und Treibhäuser sind so groß, wie vielleicht nirgends sonst in der Welt. Der Zar des ausgedehntesten Reiches kann in seinen Gärten die Früchte der verschiedensten Klimate vereinigen, und die Früchte des eigenen Klimas zu ungewohnter Zeit zur Reife bringen. Der Gärtner liefert schon Erdbeeren für den kaiserlichen Tisch, wenn dic äußere Natur noch unter der Schneedecke starrt; er liefert sie ccntner- HunflllVl). 17 — 258 — weise. Wir sahen die endlose Reihe von Töpfen, in welchen die nenen Erdbcereusctzlingc wuchsen. Der liebenswürdige Gärtner spendete nns Tranken und Pfirsiche (16. Juli), die mit denen in Pest wetteifern können. Die Glasdächer der Treibhäuser, in welchen die Obstbäume stehen, waren herabgenommcn und durch Netze ersetzt, welche die Bäume vor den Vögeln schützen. Den Palast, 700 Schuh lang, ließ Katharina II. im I. 1744 er-baucu. Die Picdcstale mü> Köpfe der Statuen und Säulen, die Vasen, die Schnitzwerke und die übrigen Verzierungen des Palastes sind alle vergoldet. Die Vergoldung kostete mehr als eine Million Rubel. Nach einigen Jahren begann jedoch das Gold unter dcu Witternngsciuflüssen zu leiden. Die Unternehmer der Reparaturen sollen eine halbe Million für die alten Goldblättcr angeboten, Katharina jedoch, wie die Anekdote erzählt, geantwortet haben: „Ich pflege meine alten Kleider nicht für Geld zu verkaufen." — Jetzt sind uur die Kuppeln der Kirche mid der Thurm vergoldet. Das Innere des Palastes, die Kapelle, die Säle sind außerordentlich luxuriös. Die Wände des sogenannten I^ig-Il^iüi-Sales sind mit Lasurstein-Plättchen ausgelegt. Der Fußboden besteht aus Elfenbein mit Pcrlmutterblümchen. Der Saal ist nicht sehr groß, sucht aber vielleicht seines Gleichen. Der Vernsteiusaal gilt als das Wunder des Palastes; sciue Wände bestehen aus lauter Bernstein, den Friedrich der Gr. Katharina zum Gescheut dargebracht hat. Die gelbe, hie und da flcckcnhaftc Farbe macht auf das Auge gerade keinen angenehmen Eindruck; wo aber cxistirt wohl noch ein solcher Saal? Das Schlafzimmer Katharmens hat Porzcllanwände und ruht auf grün-rothen Marmorsäulen. Dcu chinesischen Saal schmücken die schönsten chinesischen Vasen und chinesischen Verzierungen. Mit einem Wort, der Palast, der Garten und alles, was darinnen ist, zeichnen sich durch Großartigkeit, ja durch Pracht aus; diese zwei Eigenschaften charakterisircn den Hof der Zaren. In der Nähe von Zarskoje Sclo liegt Pawlowsk, ein Dorf, welches Katharina II. im I. 1775 ihrem Sohne Paul schenkte. Dieser ließ sodann im I. 1780 daselbst ein Lustschloß baucu. Dasselbe erhielt nach dem Brande von 1803 die heutige Gestalt. Das Innere konnten wir leider nicht sehen. Der Garten und die Lnsthäuscr siud sehr hübsch. Ein schöner Rasen, so scheint es, ist der Tummelplatz der Petersburger Kinder. Hier sah ich zncrst ein sogenanntes Springnctz. Um einen ein-gcgrabenen Mastbaum ist ein dichtes starkes Scilnctz gebreitet. Das Ganze gleicht gewissermaßen einem ausgespannten Regenschirm, dessen Spitze in der Erde steckt und dessen Stock in die Luft ragt. Man kann — 259 — auf dem Scilnetz, das einen großen Umfang hat, springen; je größer das Gewicht, mit welchem der Springer das Netz berührt, desto größer auch die Kraft, mit der er in die Höhe geschnellt wird. Pawlowsk ist überhaupt ein Vergnügungsort der Petersburger. Es besitzt ein „VauxkkII" mit Speisesaal und Garten. Im Sommer ist hier mehrmals die Woche Concert von 7—11 Uhr Abends. Diesen Sommer spielte hier die bekannte Strauß'sche Capelle ihre beliebten Walzer. Bei schönem Wetter fitzen die Gäste im Freien; bei ungünstiger Witterung im Saal. Auch dieser ist außerordentlich groß, mit endlosen Reihen von Stühlen, unter denen man sich beinahe verirren kann. Hier dürfen aber natürlich auch die UnterhaltungsrMime nicht klein sein, da nur so die großen Ausgaben gedeckt werden können. Und gewiß geht die Strauß'sche Capcllc, die ja auch in Wien so außerordentlich beliebt ist, nicht umsonst nach Pawlowsk. Am 5./17. Juli verließen wir auf dem Dampfer Grefoe (lies 8rev6) -Berg Petersburg; vorher aber waren wir uoch mit Kuuik auf die Dächer der Isaakskirche gestiegen, die Stadt uud deren Umgebung Zu besichtigen. Der Horizont war trübe uud uou letzterer eigentlich nicht viel Zu sehen; aber das Panorama der Stadt breitete sich klar vor uuscren Augen aus. Noch im I. 1702 war hier nichts als ein großer Morast gewesen. Peter der Gr. benutzte den ersten Sieg über Karl XII., der seine Zeit und seine Soldaten in Polen vergeudete, um sich hier cm Fenster Zu machen, dnrch das er nach Europa ausschauen könne. Er trieb im Frühlinge des I. 1703 eine Anzahl Finnen, Russen, Kosaken und Tartaren an die Mündung der Newa uud ließ sie hier arbeiten und bauen; anch nachher sammelte er Zu diesem Zweck, nach russischer Manier, d. h. mit Gewalt, jährlich gegen 40000 Arbeiter. Mit riesigem Menschen- und Arbeitsaufwand wurden die ersten Häuser und Paläste, wurde laugsam die Stadt erbaut. Viele Jahre hindurch mußte jedes Schiff uud jeder Wagen, der in die neue Stadt fuhr, eine bestimmte Mcugc Steine Znr Straßcnpflastcrnug anführen. So entstand die Stadt, die nun uuter den ersten Städten Europas nicht den letzten Platz einnimmt. Bei der Betrachtung des gegenwärtigen Zustaudes falleu aus der Vergangenheit besonders zwei große Gegensätze auf; der eine: Karl XII. und Peter der Gr.; der andere: das polnische und russische Volk. Karl XII., ein tapferer Soldat, ein streng sittlicher Mensch, aber trotzig und eigensinnig, wie ein schlecht erzogener Knabe, und knrzsichtiger i?' — 260 — Politiker, richtete die große politische Macht eincs vortrefflichen, gebildeten Volkes zu Grunde. Peter der Gr., tapfer uud leidenschaftlich wic ein Wilder; aber fähig, sich zu beherrschen wie ein Weiser, ein weitschaucnder Politiker wie sonst Keiner zu seiner Zeit, ergriff mit eiserner Hand ein großes ungebildetes Volk, damit es den Boden abgebe für eine entsprechende große politische Macht. Der zahlreiche polnische Adel war stolz auf seine Freiheit, wie sie nach seinem Dafürhalten einzig in Europa, weil er den König wühlen konnte und die Schicksale des Reiches in seinen Händen hielt. Aber seine Frcihcitslicbe war so sehr unvernünftig und negativ, das; er selbst der religiösen Duldung keinen beständigen Raum gewähren konnte oder wollte, noch weniger aber die Fähigkeit befaß, sich zu beherrscheu, d. h. etwas von seiner Freiheit dem Wohl des Landes zum Opfer Zu bringen. Er handelte, als ob seine Freiheit anch ohne Reich bestehen könnte, nnd begrub sich eudlich mit unter den Trümmern desselben. Der russische Adel übte vor Peter dem Gr. kaum irgendwelchen Einfluß auf die Geschicke des Landes; nach Peter dem Gr. aber besaß er nie irgendwelche gesetzliche politische Bcdcntung. Im Allgemeinen kann man sagen, daß seit Iwan dem Schrecklichen (1533 — 1584) bis znr letzten Theilung Polens, kein politischer Factor in Nußland eMirtc, der die Macht des Zaren hätte beschränken können. Nußlaud ward mächtig, obgleich daselbst nicht der kleinste Schatten eines solchen politisch berechtigten Factors cMirte; Polen aber fiel, obwohl der Adel daselbst im eminenten Sinne politische Rechte genoß. Doch seine Wahltönige, was waren sie, diese Auguste und Poniatowskis, gegenüber einem Peter dem Großen uud einer Katharina im autokratisch regierten Rußland? Truck Von Bii'. H Heimcnm in Leipzig, Druck vo« Vär H Hernnuin in ^eivziss