45938 r . VlKlSiaSlllS Uiuiir „S C H U T T.“ Von Prof. Andreas Seeh.e. Separat-Abdruck aus dem Jahresberichte des k. k. Ober-Gymnasiums in Laibach. v-v$K>jO<$>SoS^ Laibach 1881. Buchdrnekeroi von Ig. v. Kleinmayr & Ped. Bamberg. J Anastasius Gruns „Schutt“. i. Daruber, dass der »Schutt« die bedeutendste poetische Schopfung Griins ist, sind die Literarhistoriker einig. Dagegen gehen die Besprechungen dieser Diehtung, was das Einzelne betriflt, namentlich auch bezuglieh des Gedankens, der dieselbe durchzieht, ziemlich weit auseinander. Im Folgenden soli der Versueh gemacht werden, den Grundgedanken der Diehtung zu erortern, zu welchetn Zwecke es erspriesslich sein diirfte, einige Recensionen des »Schutt« aus grosseren und kleineren literarhistorischen Werken vorauszuschicken; die Anordnung derselben erfolgt in ehronologischer Reihe nach dem Erscheinen des betreffenden Werkes. Heinrich Kurz sagt in seiner »Geschichte der deutschen Literatur« (1859), III., p. 255: »Hatte er in denselben (»Spaziergiingen«) die Idee der Freiheit aus- schliesslich mit Rucksicht. auf Oesterreich poetisch behandelt, so nahm er in dem »Schutt« einen allgemeineren Standpunkt ein, ohne jedoch den realen Boden aufzugeben; vielmehr fusste er auch hier auf der Wirklichkeit, Der »Schutt« besteht aus vier grosseren Diehtungen, die selbst wieder in kleinere, nur durch einen allgemeinen Gedanken zusammengehaltene Lieder zerfallen. In dem »Thurm am Strande« schildert er uns die Leiden eines wegen seiner ti'eien Gesinnung im Gefangnisse schmachtenden Dichters mit einer VVarme und Wahrheit, welche selbst das harteste Herz erschiittern muss. Die zweite Diehtung, »Eine Fensterscheibe«, ist der Schilderung des Klosterlebens ge- widmet; wenn sich im »Thurm« der Geist, aller Leiden ungeachtet doch noch frei bewegte, sehen wir ihn hier in den druckenden Fesseln.gefangen gehalten, jeder menschlichen und edlen Regung unfiihig. In dem »Cincinnatus« stellt der Dichter in lebenswarmen Bildern die alte und neue Welt. einander entgegen, die Versunkenheit jener, die er an den italienischen Verhaltnissen veranschaulicht, und die Hoffnungen, welche Amerika erregt, Am hochsten erhebt er sich in den »Fiinf Ostern«, in denen er, die Sage glticklich benutzend, dass Christus alljiihrlich am Ostermorgen vom Oelberge auf die Welt, nieder- schaue, bedeutende Epochen der Weltgeschichte vor unseren Augen erscheinen lasst: die Zerstorung Jerusalems, die Eroberung der heiligen Stadl durch die Kreuzfahrer, die Herrschaft. der Muhammedaner, die Zeit Napoleons. Zuletzt erblickt er im Geiste das kunftlge Ostern, in welchem Halbmond und Kreuz in Jerusalem verschwunden sind und Gottes ewiger Frieden das Land und die Menschheit begliickt, Krieg und Knechtschaft, Lug und Trug unbekannte Erzahlungen sind.« i* 4 Rudolf Gottsehall aussert sich in seiner Literaturgeschiehte des neun- zehnten Jahrhunderts (3. Auflage, 1872), III., p. 92 fg. folgendermassen: »Der »Schutt« ist von allen grosseren Dichtungen Griins am genialsten componiert; es sind allegorische Fresken von glanzendem Colorit, mit denen der Dichter die Propylaen der freien Zukunft ausschmuckt; es ist eine trau- merisehe Musik des Gedankens, die zu immer volleren Accorden anwachst und alle Dissonanzen in machtig ergreifender Harmonie auflost. Wir stehen auf dem Boden Italiens, in dem triimmerreichen Lande einer grossen Ver- gangenheit. »Der Thurm am Strande« fiihrt uns das Bild eines gefan- genen venetianisehen Dichters vor, in Klangen, \velche zwar an Lord Byrons »Gefangenen von Chillon« erinnern, aber auch mit, seltenem Schmelz und Reiz die Poesie der Sehnsucht, schildern. Der Reichthum der Grun’schen Phantasie offenbart sich in der Fiille von Bildern, mit denen sie diese Si- tuation ausmalt und die nieht bloss durch Neuheit und Schwung anziehen, sondern auch durch den Ausdruck tiefer Empfindung ergreifen.- »Der Thurm am Strande«, der die in Ruinen gefesselte Menschheit sym- bolisiert, ist ohne Frage die gelungenste Partie des »Sehuttes«, da die be- stimmte Situation mit der grossten Klarheit ausgepragt ist und nicht bloss unsere Phantasie, sondern auch unsere Empfindung lebhaft beruhrt wird. Weniger gilt dies von der klosterlichen Elegie: »Eine Fensterscheibe«, in welcher die Einheit der Situation fehlt und der Grundgedanke sich rniih- sam aus einer Fiille von Bildern emporarbeitet. Indess sind auch hier ein- zelne Wendungen von unnachahmlicher Schonheit, und das Bild driickt oft den Gedanken mit schlagender Kraft aus. Die dritte Abtheilung des »Schutt«: »Cineinnatus«, eroffnet uns transatlantische Perspectiven, von den Triim- mern Pompejis, von der verschutteten und ausgegrabenen Vergangenheit hinaus in die Urwalder des fernen Amerikas, in das Asyl jugendlicher Freiheit, in welches alle fliichten sollen, denen die heimatliche Erde vergallt ist. Dort ist die schopferische Kraft der Arbeit, die eine neue Zukunft grundet, vmhrend in Italiens Ruinen nur der Miissiggang und die Genussucht haust. Auch dieser Gegensatz ist poetisch schon erfunden und durchgefuhrt. Doch die Wieder- geburt der Menschheit soli nicht bloss jenseits des Meeres stattfinden; der Dichter sieht in der letzten Vision: » F ii n f 0 s t e r n «, die allgemeine Welt- begluckung, den heit.eren Frieden, in welchem alle religiosen Unterschiede erloschen, Kreuz und Halbmond verschwunden sind. Prachtig ist die Schil- derung der funf Ostern, die der Heiland, der nach einer alten Sage jahrlich zur irdischen Statte seines Wandelns zuriickkehrt, vom Oelberge mit anschauend erlebt: die Zerstorung Jerusalems, die Kreuzziige, die Beduinenherrschaft, Napoleons Kriegszug und das Reich des Friedens, das von Rosen umbluhte Golgatha. Der »Schutt« gehort zu den Perlen unserer modernen Poesie, denen unsere classische Dichtung nichts Aehnliehes an die Seite zu setzen hat.« Die Schrift von E. Sehatzmayer: »Anastasius Griin. Sein Leben und Dichten«, (2. Auflage, 1872) bringt iiber den »Schutt« nur das eben angefuhrte Citat aus Gottschalls Literaturgeschiehte. Die wenigen, nichtssagenden Zeilen iiher den »Schutt« bei Schroer: »Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts« (1875), ubergehend, schliessen wir hier die aus demselben Jahre stammende Besprechung von Karl Kirchner in Westermanns Monatsheften, XXXVII. Band, p. 646 und 647 an: »Mit diesem Werke (»Schutt«) erstieg er seme dichterische Hohe und fiillte auf die wiirdigste Weise eine Lučke unserer classischen Literatur aus. 5 - Es ist das bekannteste von allen Gedichten Griins und darf von keinem ungelesen bleiben, der sein Interesse fiir die deutsche Literatur nicht auf Romane oder Goethe und Schiller beschrankt. - Der Dichter beabsichtigt zu zeigen, wie alle menschlichen Veranstaltungen, welche der Entfaltung der hochsten, ewigen Idee von Recht, Liebe, Menschen- wiirde entgegenstreben, in Schutt zusammensinken und die Menschheit am Ziele ihrer Entwicklung alle Ruinen ihrer friiheren Durchgangsformen mit dem reichen Leben ihrer Geistesfreiheit iiberkleidet. Zu diesem Zweck fiihrt, uns Griin zunachst vor die Triimmer eines Thurmes an Istriens Strand. Die- selben werden seiner Phantasie zu einem Gefangnis, in dem ein Dichter aus Venedig die allzu grosse Kiihnheit seiner Verse gegen die Gewalt.haber seiner Vaterstadt in Ketten und Randen biisst und in den ergreifendsten Klagen seine Refreiung ersehnt.. Dieser Gefangene soli die unter politi s chem D r u c k e schmachtende Menschheit symbolisieren, und die durch einen voriiber- gehenden Wanderer gemachte Mittheilung, dass die Triimmer nicht Reste eines Gefangnisses, sondern eines Leuchtthurmes sind, die Mahnung andeuten, dass die Machthaber dieser Welt anstatt den Geist zu fesseln, lieber weithin sicht- bare Leuchten errichten mochten, um dem Geistesverkehr der Einzelnen und der Volker iiberall die Bahnen zu eroffnen. Im zweiten Theile, »Eine Fenster- scheibe« uberschrieben, ergeht sich der Dichter beim Anblick einer Kloster- ruine in Betrachtungen von theils ernsten, theils ergotzlich spottenden Scenen aus den Zeiten religioser Bedriickung. - Im dritten Theile, der den Tit.el »Gincinnatus« fiihrt, werden wir nach Italien versetzt, dem Lande, welches zugleich durch politischen und religiosen Druck am tiefsten darnieder zu liegen schien. Bilder aus der Triimmerstadt Pom¬ peji beziehen sich auf das italienische Volk, das durch lange Missregierung nur noch eine Ruine seiner friiheren Grosse ist. Abwechselnd mit Gedichten dieses Inhalts und mit ihnen schroff contrastierend beschaftigen andere, an- kniipfend an ein in Neapels Bucbt zur Abreise fertiges amerikanisches Sehiff, welches »Gincinnatus« heisst, unsere Einbildungskraft mit dem Leben der Ame- rikaner, ihren Urvvaldern, der gesunden Kraft ihrer Pflanzer und ihren Frei- heitskampfen. So gross aber auch der Gegensatz zwischen Italien und den Freistaaten der neuen Welt ist, so fehlt doch viel, dass der Dichter in ihnen die Ziele seiner Iioffnungen šahe. Nach seiner Darstellung halt der einseitige Hass gegen die Kronen, die Enttauschung der Eimvanderer, die Sclavenwirt- schaft, die rechtswidrigen Kriege gegen die Indianer den Vorziigen das Gegen- gewicht, und so bahnt er sich den Uebergang zu dem vierten Theile, den »Fiinf Ostern«. Indem er sich an eine Sage des Orients anlehnt,, dass jedes- mal zu Ostern der Herr auf die Statte seines Leidens herabschaue, lasst er ihn hier viermal die gewaltigsten Umwalzungen politischer Natur und die heftigsten Kampfe der drei wicht,igsten R e 1 i g i o n e n, des Ghristenthums, Judenthums und Islams sehen_Aber erst in ferner Zukunft wird ein Ostern kommen, an dem die Triimmer langst, von Saatenfiille und Rebengewinden bedeckt. sind. Die Flur durchjauchzt ein Volk, an Tugend reich. Aber in ali den Stadten im Thal und den Hausern kennt man das Schwert nicht mehr und nicht das Kreuz, und als man beide auf dem Felde ausgrabt, weiss keiner ihren Gebrauch zu deuten. Dieser Schluss ist dem Dichter ofters verdacht worden, aber mit Un- recht,. Das vollige Vergessensein von Schwert und Kreuz dient selbstverstandlich nur zur grellen Hervorhebung des Gedankens und ist nicht eigentlich zu 6 nehmen, da sich ein idealer Zustand der Menschheit ohne geschichtliches Riickerinnern allerdings nicht vorstellen lasst. Wahrend sodann das Schwert, naturlich den Krieg mit allen seinen Leiden selbst bedeutet, so ist bei dem in Vergessenheit gerathenen Kreuz nur an die ausseren verganglichen Formen des Christenthums zu denken, deren Widerstreit so viel Ungliick und Weh liber die Menschheit gebracht hat. Der Geist des Christenthums soli aber eben in den fiinften Ostern verwirklicht erscheinen, denn so allein hat es einen Sinn, wenn der Dichter sagt: Ob sie’s auch kennen nicht, doch steht das Kreuz voli Segen Aufrecht in ihrer Brust, in ew’gem Reiz. Es bliiht sein Same rings auf allen Wegen. Er fiihrt also nur in einem poetischen Gemalde aus, was die christliche Religion selbst hofft, dass dereinst ein Hirt und eine Herde sein wird.« Karl Griin bemerkt in dem Nekrologe liber Graf Anton Auersperg (Reilage zur »Augsburger allg. Zeitung« vom 19. November 1876) liber den »Schutt« Folgendes: »Galten die »Spaziergilnge« der Aetualitat, dem greif- und nennbaren Elend osterreichiseher Zustande, so fiihrt uns der »Schutt« ins Gebiet idealer und hyperidealer Geschichtsbetrachtung, in die transcendente Welt liber- menschlicher Hoffnungen und rosigster Zukunftstraume. Gewaltige Irisbogen webt der Dichter von den Ruinen Pompejis hin zur transatlantischen Republik, von den Triimmern am Adria-Gestade zum segensreichen Leuchtthurm (?); das Schwert wird ihm zur Sichel, iihnlich wie Jean Paul die Kanonenkugel aufpfliigen liess, und im Geist erschaut er eine Metempsychose des Christen¬ thums zur Religion der reinsten Menschenliebe: Langst sieht vor Rosen man das Kreuz nicht mehr. Wir erinnern uns, dass in einem Kreise hochgespannter Seelen dieser Flug denn doch allzu ikarisch erscheinen wollte, und dass Jiinglingknaben, die selbst das poetische Rosslein schon wacker tummelten, nicht recht wussten, was sie von jener Verrosung (!) des Kreuzes denken und halten sollten. Jedoch hat vermoge wahlverwandter Besaitung des deutschen Charakters der »Schutt« zwolf Auflagen erlebt, wahrend die »Spaziergiinge« soeben erst in siebenter Auflage erscheinen und nur noch die »Gedichte« es hiiher brachten, namlich auf vierzehn«. Walther Bormann kommt in seiner Broschiire: »Anastasius Griin und sein Pfaff vom Kahlenberg« (1877) auch auf den »Schutt« zu sprechen; er schreibt dariiber p. 19—21: »Es folgt »Schutt«, den er im Alter von 29 Jahren veroffentlichte. Das Alterthum mit seiner schonen Sinnlichkeit und rauhen Harte, die neue Welt mit jugendlicher Freiheit. und — Sclaverei, das Mittelalter mit Kreuzfahrern und Klosterwesen, das neue Europa mit seinem verachteten und doch iiber- machtigen Judenthume und dem Ehrgeize des corsischen Eroberers, der vom Geiste des Christenthumes moglichst fern gewesen, ziehen in sinnvollen Bildern voriiber. Von manchen Seiten wird »Schutt« fiir Grlins bedeutendste Dichtung erklart. Obschon ieh gar nicht meine, dass diese reichhaltigen Gedichte schon geniigend verstanden und gewiirdigt seien, stimme ich dem nicht bei. Sprache und Uebersichtlichkeit scheinen mir nicht immer ebenso liehtvoll, wie in den 7 »Spaziergangen«, und mancherlei Ausstellungen wircl nur die eine Ervvagung erheblieh vermindern, dass der Dichter hier eine Schopfung lieferte, wie sie in dieser Art einzig ist.- Einige Worte noch uber den Ausgang der »Fiinf Ostem«. Gleich neben die Erscheinung des Corsen tritt dort. das Bild eines echten »deutschen Ideo- logen«. Ein Paradies auf Erden wird gezeichnet, eine Zeit ohne Siinde, voli ewigen Friedens. Niemand kennt mehr das Schwert, als es im Sehutt ge- funden wird, niemand mehr »das Wappen der Menschheit«, das Kreuz. Das ist ein poetisches Gemalde, unter welchem man Wahrheiten entdeeken kann, an sich Wahrheit ist es nicht. Der Menseh wird auf Erden stets seine Ver- gangenheit beherzigen, immer bewusst der Siinde in das Antlitz schauen miissen, um ihr gewachsen zu sein. Nothigen Falles miissen wir sogar mit dem Schwerte Recht und Sitte vor fremder Barbarei beschtitzen. Was bleibt wahr an dem Gemalde? Eines bleibt unbestreitbar, dass es im Kerne der Seele einen lebendigen Glauben gebe, unabhangig von jedem ausseren Zeichen. Ein zweites ist auch wahr, dass uns das Mass der Zeit, wenn wir alle zusammen vollsten Glauben und vollste Liebe besassen und unbewusst besitzen diirften, selbst bei den einfachsten Beschaftigungen kraftiger und lebendiger ausgefiillt ware, als mit aller unserer Wissensehaft und Kunst; denn das Licht, welche diese uns entziinden sollen, strahlte uns dann bereits. Endlich ein Ziel bleibt die Zeit des ewigen Friedens uns immer, auch wenn wir es nie erreichen. Dies wonnige Bild am Schlusse des »Sehutt« ist ein Merkmal des tiefen Wehes, mit dem der Edle die ganze Schmach dieser Welt empfand, so dass er nach dem Vollkommenen suchte, um sie zu verbergen. Ueberall hat er hoffnungsfrische Kranze gebreitet, und dennoch tauscht uns das nicht, dass darunter nichts als — Triimmer liegen. Der Name des Buehes ist trefflich gewahlt. Nicht aller aussere Sinnenreiz konnte dlesen Mann blenden; es war, als ob er zum Kerne erst durch eine Welt von Triimmern vordringen musste, liber denen er das Hallelujah des Todesengels erlauschte.« Zum Schlusse dieser kurzen Uebersicht moge noch einmal R. Gottschall das Wort gegeben werden. Wir lesen in seiner Poetik (4. Auflage, 1877) II., p. 73 fg: »Von der neueren Reflexionslyrik verdient besonders der »Sehutt« von Anastasius Griin wegen seiner grossartigen Composition Beachtung. Das Gedicht tritt freilich aus dem subj ectiven Rahmen heraus; es schliesst sich nicht an ein inneres oder ausseres Erlebnis des Dichters an. Die Bilder, die es uns vorfuhrt, sind scheinbar losgelost von der personlichen Stimmung des Poeten und mit dem Geschick anderer, erfundener Personlichkeiten verwebt. Doch das Auge des Dichters schaut aus ihnen heraus; es ist. nur eine rasche und fliiehtige Metamorphose, welche die Lebhaftigkeit, der Betrachtung und Schilderung erhoht.« Und nach einer ausfiihrlieheren Inhaltsangabe des »Sehutt« fahrt Gottschall fort: »Dieser ganze kunstvolle Cyclus von Elegien spiegelt, trotz der Ver- schiedenheit der Situationen und des Reichthums der vvechselnden Scenen, einen Grundgedanken, der sich in jeder Elegie in anderem Farbenspiele bricht. Dieser Gedanke ist nicht philosophisch klar und lasst sich in keine bestimmte Formel fassen; er gehort jenem traumerisclien Gebiete der Reflexion an, vvelche, aus der Stimmung des Dichters herausgeboren, tiber eine Ftille von Bildern den eigenthumlichen Hauch dieser Stimmung ausgiesst. Die Grand- 8 stimmung des Dichters ist aber die Wehmuth uber die Triimmer der Welt- geschichte, liber das verfallende Europa und die Sehnsucht aus diesen altern- den Zustanden, aus diesem »Schutt« heraus in eine freie und jugendfrische Welt, deren harmonische Versohnung, deren volle, der ganzen Welt aufgehende Glorie in den Schlussaccorden des fiinften Ostem gefeiert wird. Alle Gestalten der Geschichte hat der Dichter gleichsam in ein elegisches Pantheon versaramelt; das verschuttete Alterthum, das versinkende Mittelalter, Kerker und Kloster, den Monch und den Juden lasst er in seiner magischen Laterne voriibergleiten, und gerade die rasche Flucht der Erscheinungen, die besonders in den »Fiinf Ostern« einen schattenhaften Eindruck macht, dient dazu, die Verganglichkeit des Irdischen um so lebhafter dem Gemiithe vorzufiihren. So schweift die Reflexion von Bild zu Bild, ja sie weicht scheinbar in kiihnen Fugen aus, aber wir werden immer zum Grundtone zuriickgeleitet. So konnen wir, trotz der weiten Ausdehnung des modernen Elegien-Cyclus, trotz der grossen Verschiedenheit des Stoffes und der Weltanschauung, deren Bereiche- rung und Erweiterung zu verkennen nur einer einseitigen Bildung vorbehalten bleibt, in der Rhythmik der Composition, ihrem farbenreichen Scenenwechsel, ihrem hin- und herwogenden Gange die Aehnlichkeit zwischen der antiken und modernen Elegie nicht vermissen.« Die kurzen Notizen, \velche Gottschall in demselben Werke und Bande p. 13, 70 und 90 bringt, konnen hier iibergangen werden. Ausser den hier angefiihrten Stellen sind mir ausfiihrlichere Bespre- chungen des »Schutt« in neueren literarhistorischen Werken nicht bekannt geworden; eine kurze Vergleichung jener fiihrt zu folgenden Bemerkungen: Die citierten Schriftsteller stimmen darin iiberein, dass der »Schutt« die hervorragendste Dichtung Griins ist, mit Ausnahme Bormanns, der fiir den von ihm speciell behandelten »Pfaff vom Kahlenberg« den hoheren poe- tischen Wert in Anspruch nimmt. Kurz und K. Griin widersprechen sich geradezu; wahrend ersterer sagt, A. Griin nehme im »Schutt« einen all- gemeineren Standpunkt als in den »Spaziergangen« ein, »ohne jedoch den realen Boden aufzugeben«, so fiihrt uns nach letzterem »der Schutt ins Gebiet idealer und hyperidealer Geschichtsbetrachtung«. Im ganzen bespricht Kurz die Dichtung in einfacher, aber nicht erschopfender Weise; Gottschall halt, sich mehr in allgemeinen Ausdriicken; Bormanns Worte treffen auch nicht den Kern der Sache, und nur Kirchner scheint mir den Gedankengang des Dichters bestimmt und scharf erfasst und ausgesprochen zu haben. Gleich- wohl wird sich im Folgenden Gelegenheit finden, Kirchners Ausfiihrungen zum Theile zu erganzen, zum Theile eine abweichende Ansicht zu aussern. Wie Kirchner finde ich die Idee der Dichtung darin, dass sich die Menschheit im grossen Ganzen aufwarts bewege, dass sie dem Siege des Rechtes, der Freiheit und Humanitat sich nahere, ja dass ihr in ferner Zukunft, am Ziele ihres Strebens, ein volkerbegliickendes, schonheitverklartes goldenes Zeitalter vrinke, fiir dessen Herauffiihrung die bisherigen Stadien der Menschengeschichte die ersten Grundsteine gelegt haben. Dieser Gedanke findet sich bei Griin nicht vereinzelt, sondern in verschiedenen grbsseren und kleineren Dichtungen zum Ausdrucke gebracht, wie es uns beim Sanger des siegesbewussten Idealismus nicht wundernehmen kann; namentlich sei schon hier, damit wir fiir den »Schutt« einen bestimmten Ausgangspunkt gewinnen, auf eine fiir unseren Zweck \vichtige Stelle hingewiesen. 9 Am Schlusse der »Kirchweihe« (im »Pfaff vom Kahlenberg«) lesen wir: So ragt auch durch die Zeit, die schwanke, Aufrecht ein ewiger Gedanke; Ob ihr ihn Freiheit, Liebe heisst, Ob Ehre, Recht, ob Glauben, Geist, Kein Zei-rbild taumelnder Gesellen Wird sein ureigen Licht entstellen. Nur wer das Ganze kann erfassen, Dem tont die Harmonie der Massen, Und unabwendbar muss er lauschen Des Menschengeistes sel’gem Rauschen. Name ist Schall und Rauch, Umnebelnd Himmelsglut. heisst es im »Faust«; der Gedanke Griins ist klar genug ausgedriickt, wenn er sich auch nicht erschopfend in Worte fassen lasst. Und damit es nicht scheine, dass hier zur Erlauterung des »Schutt« ungerechtfertigter Weise eine Stelle aus einer bedeutend spater (1850) ‘) erschienenen Dichtung Griins herangezogen werde, der vielleicht infolge einer inneren Wandlung des Dichters keine Beweiskraft fiir unseren Zweck zu- komme, so sei hier einer Bemerkung Bauernfelds gedacht, der durch viel- jahrigen Verkehr den Freund genau kannte. * 2 ) Auf p. 139 seines Buches: »Aus Alt- und Neu-Wien« (Gesammelte Schriften, XII. Band) schreibt er: »Ich kenne niemanden. der sich von seinen Junglingsjahren bis in das volle Mannesalter so vollkommen selber gleich geblieben ware, als Anton Alexander Graf' Auersperg.« Der »Schutt« besteht bekanntlich aus vier Liedercyclen, welche durch den Gesammttitel und den Gesammtgedanken zu einem einheitlichen Ganzen verbunden sind. Von diesen vier Liedercyclen soli nun im Folgenden speciell gehandelt werden. II. Der erste Liederkranz fuhrt. die Ueberschrift: »Der Thurm am Strande«; sein Inhalt, ist kurz folgender: Der Dichter erblickt am Strande von Istrien an einem schonen Friih- lingsabende einen alten Thurm, der liber dem Thore einen gefliigelten Lowen tragt., zum Zeichen, dass er einst der Herrschaft der Venetianer unterstanden hat. Der fremdartig als Ruine in der von der Abendsonne verklarten griinenden und bliihenden Natur dastehende Thurm erinnert den Dichter an den Geistes- *) Uebrigens hatte sich Griin schon 15 Jahre vor dem Erscheinen des »Pfaff« mit dem Plane dazu getragen. Vergl. Brief Lenaus an Griin vom 10. Juli 1835 (Schurz, Lenaus Leben, I., p. 308), worin er dem Freunde die erbetene Mittheilung iiber Herzog Otto macht. Grun selbst schreibt an Bauernfeld (Briefwechsel p. 388), dass der »Pfaff« zu sehr unter dem Einflusse unserer voi'marzlichen Zustande geschrieben sei, unter denen ja auch der »Schutt« abgefasst worden ist. 2 ) Im »Album osterr. Dichter« (1850) lesen wir p. 64 (Note) folgende Stelle aus einem Briefe Griins vom 19. Jiinner 1849 an die Verleger: »Der Herausgeber (Bauernfeld) ist ein so vieljahriger lieber Freund von mir, der mein ausseres und inneres Leben seit Jahren genau kennt« etc. 10 druck, den einst die herrschende Oligarchie Venetiens ausiibte, und so halt er diesen Thurm ftir einen ehemaligen Kerker. Dieser Gedanke erfasst ihn so lebhaft, dass er die wahrhaft ergreifenden Klagelieder des ungliicklichen Gefangenen, eines venetianischen Dichters, zu vernehmen meint. »Ich bin«, klagt derselbe, »wegen meiner freiheitlichen Gesinnung, ohne dass ich ein Vergehen oder Verbrechen begangen habe, in diesen Thurm geworfen worden, der einsam am brausenden Meere stehend meine Schmerzensrufe nicht zu den Ohren meiner Verfolger dringen lasst. Die belebte und unbelebte aussere Natur hat Mitleid mit mir, meine Richter aber nicht; dafiir will ich in meinen Gedichten mit meinen Ketten eure Namen durch die Jahrhunderte schleppen. Die Sterne, welche ich durch das vergitterte Fenster erblicke, sind die Glieder der zersprengten goldenen Kette, mit welcher einst ein Riese den Mond zum Stillestehen zwingen wollte. Diese Sterne bewegen mir wie eine Freiheits- hymne das Herz, und wie der Mensch gerne seine Traume in die Sterne verlegt, so mochte auch ich, Gefangener, meine Ketten dahin versetzen. Die erste Kette wand aus Rosen die Liebe, und von der Liebe hat der Hass gelernt, in Erz Ketten nachzubilden. Auch kein Euch liessen sie mir, und so will ich im Buche des Himmels blattern; aber die herrliche Natur sehe ich nur durch das Gitter: so entstellt der Mensch die gottliche Schopfung mit schwarzen Strichen. Wenn ich nur wieder einmal eine Rose sehen konnte! Die Aehre, welche ich aus meinem Strohbette zog, erinnerte mich an das Garbenfeld, die frohlichen Schnitterinnen, die sangesfreudigen Lerchen; wenn ich nach einem Schnitterkranze den Arm erhob, erklirrte die Kette. Ein Voglein setzte sich mit einer Beere im Schnabel an mein eisenvergittertes Fenster; das Beerlein erweckte in mir den Gedanken an den Baum, auf dem es gereift, an den Wald, das Meer, die ganze sehone Natur, die ich nicht geniessen kann. Selbst das Antlitz des alten Kerkermeisters erquickt, mich, da es mir, wenn auch entstellt, das Ebenbild der Gottheit zeigt, und auch den Zuspruch des zu ungewohnter Stunde eintretenden Geistlichen nehme ich mit Buhe entgegen. Endlich bin ich frei, aber meine einstigen Freunde sind todt oder weichen mir, als einem Gebrandmarkten, aus. Ich will mir neue Liebe schaffen und neues Leben erringen; mein Todfeind fuhrt mich zur Quelle und ich sehe, dass ich alt geworden bin — mein Frlihling ist dahin! So kehre ich in den gewohnten Kerker zuriick!« — Die Lieder verklingen leise und lustiges Jauchzen ertont neben dem Dichter: er fragt den Greis, welcher die Jubelrufe erschallen liess, wer einst in diesem Thurme geachzt und wessen Ketten darin erklirrt haben. Und die Antwort, lautet,: »Nur die Wetterfahne hat geachzt und nur die weingef'ullten Becher lustiger Briider haben hier geklirrt; denn der Thurm, iiber den ich die Aufsicht hatte, vvar ein Leuchtthurm, der zur Ruine geworden ist, seit- dem man dort einen neuen gebaut hat.« So hat also der Dichter grundlos von »Finsternissen und verdorrten Lenzen« gesungen. Inzwischen sind Mond und Sterne am Himmel aufgestiegen, das Feuer des Leuchtthurmes strahlt hell auf: Licht! Licht! ihr Losungswort, das grosse, stimmen Jetzt Erd’ und Himmel, Gott und Mensch zusammen. Der Dichter erklart also in dem siebenzehnten, dem Schlussgedichte dieses Cyclus selbst, sich getauscht zu haben: was er fiir einen Kerker hielt, war im Gegentheile ein Leuchtthurm; wo einst nach seiner Meinung ein 11 Dichter, der fiir Erleuchtung auf geistigem Gebiete kampfte, unter dem Klirren seiner Fesseln lange Jahre hindurch achzte, ist, vielmehr Licht angeztindet worden, hellstrahlendes, weithin sichtbares, um Unheil und Verderben abzu- wenden; was hier als Ruine sieh erhalten hat, diente nicht der Klage, son- dern dem Jubel: So war der Hain des Frieclens und der Liebe Mir iiberschattet von dem Baum der Schmerzen! Mich diinkt wohl gar, des dunklen Stammes Triebe, Sie wurzeln nur in meinem eignen Herzen. Grun ist ein viel zu ernster Dichter, als dass er nach der Weise der Romantiker daran Gefallen fa.nde, mit souveraner Willkiir die selbstgeschaffenen dichterischen Gebilde wieder in ein Nichts aufzulosen und so mit unbeschrankter Ironie liber dem gewahlten Štolfe zu schweben. Es kann ihm auch hier nicht daram zu thun gewesen sein, erst den Leser fiir das sehnstichtige Klagen des ge- fangenen Dichters zu interessieren und dann zu er ki aren, es ist alles nicht wahr, wir stehenjavor der Ruine eines Leuchtthurmes! Auch der Umstand, dass »Der Thurm am Strande« nicht ein selbstandiges Ganzes ist, sondern den Theil einer grosseren Dichtung bildet, schliesst eine ironische Auffassung desselben aus. Was mag nun die Absicht des Dichters bei der Ausfiihrung dieses ersten Cyclus gewesen sein? Nur Kirchner spricht dariiber eine bestimmt.e Meinung aus, die mir aber nicht das Richtige zu treffen scheint. Bei Griin, in dessen Diehtungen die Reflexion eine sehr bedeutende Rolle spielt, der den gewablten Štolf hiiufig nicht um seiner selbst willen, sondern als Trager einer bestimmten Idee behandelt, miissen alle Umstande sorglich ernogen werden. Der Thurm war kein Gefangnis, sondern ein Leuchtthurm und ver- breitete Licht, statt das Licht — hier im geistigen Sinne •— zu schadigen; der Dichter gibt ferner selbst an, dass er sich getauscht habe, und so mochte ich den Gedanken, welchen »Der Thurm am Strande« poetisch - symbolisch ausfiihrt, so bezeichnen: Manehe Einrichtung, manche Erscheinung, welche dem oberflachlichen Blicke ein Hemmschuh auf der Bahn der fort- schrittlichen Entwieklung der Menschheit zu sein scheint, ist es bei naherer Untersuchung nicht, ja erweist sich sogar als gunstig fur die Erreichung eines hoheren und freieren Gultur- zustandes, was in der Schlusstrophe auch dadurch angedeutet ist, dass Himmel und Erde in Licht ergluhen. Wenn Gottschall von Klangen spricht, welche an Lord Byrons »Ge- fangenen von Ghillon« erinnern, so trifft dies eigentlich doch nur fur die aussere Situation zu. Hier wie dort haben wir es mit einem Gefangenen zu thun, der sein Schicksal der Liebe zur Freiheit verdankt, in beiden Fallen ist das Gefangnis ein vom Wasser umrauschter Thurm — aber weiterhin ist Grun doch ganz originell. Bei Byron finden wir mehr historische Bezuge, welche bei Grun gar nicht vorkommen, dagegen ist letzterem die tiefweh- muthige Klage uber den Verlust des freien Anblickes der Natur eigen- thiimlich, worin wohl gerade die Hauptschonheit dieser Lieder besteht. Auch stammen die »Erinnerungen an Adria«, die Frucht eines Aufent- haltes im Siiden, aus dem Jahre 1829 3 ), so dass auch die Annahme, dass 3 ) Griin machte iiberhaupt haufig Reisen nach Italien, auch in den ersten dreissiger Jahren. Vergl. Kirchner p. 648. 12 die aussere Situation im »Thurme« der Byron’schen Dichtung nachgebildet. sei, unnothig ist. Beziiglich des poetischen Wertes dieses ersten Theiles des »Schutt« betont. meiner Meinung nach Gottschall mit Recht, dass er im Vergleiehe mit den iibrigen Theilen am hochsten stehe; nur zugunsten der »Fiinf Ostern« liesse sich vielleicht eine kleine Einschrankung machen. Vor allem wird uns die aussere Situation in musterhafter Klarheit vor Augen gefiihrt: der zer- fallene graue Thurm am Meeresstrande, umbluht von siidlicher Vegetation, umspielt vom kraftigen Lichte und Schatten des Siidens, mit seinem in bedeutender Hbhe angebrachten kleinen, vergitterten Fenster, an dem sich Epheu klammernd festgesetzt hat, an dem hie und da ein Voglein, seine Beere verzehrend, Rast halt. So klein ist das Fenster, das nur auf das Meer und den Himmel einen Blick gestattet, dass im Innern des Thurmes, wo ein Strohbett steht, tiefe Finsternis herrscht. Das alles ist mit der grossten Scharfe und Bestimmtheit dargestellt, was gerade nicht von allen Dichtungen Griins geriihrnt werden kann. Die reiche, fast unerschopfliche Phantasie des Dichters, die ihn mit- unter verleitet, iiber die rechten Schranken hinauszuschreiten, aussert sich in unseren Gedichten in der sehonsten und befriedigendsten Weise. Der Stoff ist ja ganz ein Product seiner dichterischen Imagination, und die einzelnen Lieder fuhren uns recht ansehauliche und klare Situationen vor. Die Erzah- lung, wie die Kette entstanden ist, wie die Aehre und der beerenessende Vogel dem Gefangenen die ganze Natur vor das Auge zaubern, geben fur das Gesagte Zeugnis; dazu kommt, dass eine innige Warme, ein tiefes, reiches Gemiithsleben in diesen Klageliedern Ausdruck findet, so dass sie ge\viss auf jedes empfangliche Gemiith einen nachhaltigen Eindruck machen. In dieser Beziehung zeichnen sich namentlich die Gedichte 8 bis inclusive 12 aus, die wohl zu dem Tiefstempfundenen gehbren, was Griin iiberhaupt geschrieben hat. Sie sind zugleich durch die innigste Liebe zur Natur charakterisiert, deren Schonheit im grossen Ganzen wie im einzelnen Gegenstande sie mit prachtigen Wort,en preisen. Die Verse Griins sind im allgemeinen nicht sehr fliissig, »weil ihnen die Elasticitat der Gestaltung fehlt« 4 ); ausserdem ist, wie ich glaube, der allzu haufige Gebrauch der Participien, die iiberwiegende Voranstellung des Genitivs, die mitunter harten Ellisionen, die Vorliebe fiir schwerbetonte, zusammengesetzte Adjectiva und Substantiva, das Auslassen des Artikels an Stellen, wo ihn der Sprachgebrauch verlangt, schuld daran. Endlich darf nicht iibersehen werden, dass der gedankenschwere Inhalt, dessen Verstandnis sich mitunter beim. ersten Lesen nicht gleich erschliesst, auf die geringere Fliissig- keit der Verse Einfluss iibt. Auch riicksichtlich dieser Umstande ist im »Thurm« massgehalten, und die oben speciell hervorgehobenen Lieder diirften zu den fliissigsten gehoren, welche uns die Griin’sche Muse beschert hat, zumal wenigstens ihnen »die Elasticitat der Gestaltung« gewiss nicht fehlt. Bezeichnend erscheint. mir auch der Umst.and, dass der Dichter an dem ur- sprlinglichen Texte dieser Lieder verhaltnismassig wenig geandert hat, sie ihn daher selbst befriedigten. Dariiber wird noch weit.er unter eingehender gehandelt, werden. 4 ) J. Schmidt, Geschichte der deutschen Literatur (4. Aufl.), III., p. 90. 13 III. A. Grun hebt die Dienste, welche die Kloster des Mittelalters der ma- teriellen und geistigen Wohifahrt. der Menschheit geleistet, haben, in seinem »Pfaff vom Kahlenberg« in gebiirender Weise hervor. Wir begleiten mit dem Dichter die beiden Reisenden, Herzog Otto und Wigand, durch das wald- reiche Murzthal, in dessen Abgeschlossenheit der erstere »der Gesittung Licht« zu tragen beschliesst. Zu diesem Zwecke will er in Neuberg ein Kloster grunden: Dann ruf’ ich Monche von Citeaux: Ihr heil’gen Pfliiger in weisser Kutte, Ihr Rebenpflanzer in wiistem Schutte, Eu’r Kleid ist licht, eu’r Thun ist froh; Kommt wie die ersten Taubenscharen, Saatstreuend in dies Thal gefahren, Wahlt Riistzeug aus des Berges Eržen Und rodet Walder, rodet Herzen! Zieht ihr die Furohen, wollet denken, Bis in die Herzen sie zu lenken! So, Pflugermonche, bringt die Strahle Der mildern Sitten diesem Thale. » E i n e F e n s t e r s c h e i b e « — die Lieder, welche den zweiten Theil des »SchuLU bilden — fiihren uns auch ein klosterliehes Leben vor, aber aus einer Zeit, in welcher der Geist der Klosterzucht verfallen, der Sinn fur die geistigen Interessen erloschen, die Riieksichtnahme auf das Wohl der Menschheit in den Hintergrund getreten ist. Die vierzehn unter jenem Titel vereinigten Gedichte fiihren folgende Bilder und Gedanken aus : Aus Fohren blickt ein verfallenes Kloster hervor, zu dessen Bau einst Konige und Koniginnen Kostbarkeiten beisteuerten, aber auch ein Bettler einen Pfennig brachte, von dem der Abt die Kosten einer Fensterscheibe bestritt, wie eine in derselben eingeritzte Inschrift berichtet. Die Zerstorung ist schon weit vorgeschritten, die Kuppel halb zerfallen, der Thurm geneigt, Marmorbilder sind herabgestiirzt. Bei der Fensterscheibe wirft der Dichter einen Blick ins Tnnere des Baues und fuhrt uns nun im weiteren vor, was er geschaut hat. Der Priester am Altare halt die Monstranze in den Handen, andachtig liegt die Menge auf den Knien. Ein greiser Monch im Kreuzgange verw iinscht alle Ideen, fur welche er, der Dichter, ficht,. Im Refectorium sammeln sich an den grossen Tischen nur wenige Monche zum Mahle, denn der Tod hat ihre Anzahl bedeutend vermindert. Ein junger Priester, dessen Herz ein »Eisfeld« schien, wird durch die Beichte eines Madchens in seinen Anschauungen erschiittert,. Im Bildersaal der Aebte fmden wir die verschie- densten Charaktere, schon will der Dichter den Saal verlassen, da erblickt er das Bild eines Abtes, aus dem eine besondere Gutmiithigkeit spricht. Ein Monch, der einst bei Leipzig begeistert mitgefochten hat, wegen der der Be- freiung folgenden Reaction aber ins Kloster getreten ist, vergleicht das Leben des Klosterbruders mit dem des Soldaten. Der Rosenstraueh hat das Marmor- bild des Engels und des Satans im Klosterhof umschlungen; trotzdem im Refectorium auf schwarzer Tafel »Silentium!« stand, schlug in der Nahe 14 eine Nachtigall und girrte ein Taubenpaar; die Ranken der Rebe haben sich an der Gartenwand ausgebreitet und verdeeken jetzt die Worte: O Mensch, du kennest weder Tag noch Stunde! Um die Mitternachtsstunde erheben sich die Geister der hier begrabenen Monche und klagen, dass der Bau zugrunde gehe, ferner die des Bildhauers, Malers und Baumeisters, welche an Kirche und Kloster gearbeitet haben, und jammern, dass ihr Werk in Schutt zerfallen ist; als es im Osten zu grauen beginnt, verschwinden die Geister. Im Klosterkeller halt das grosste an die kleineren Fasser eine Ansprache. Der Anblick des Grabmaies des Stifters erinnert den Dichter daran, dass jener vielleicht einst, im Widerspruche mit der Inschrift des Steines als frohlicher Ritter ein Leben des Genusses gefiihrt habe. Der »strenge Abt« setzt einem jungen Priester, der erst heute eingekleidet, worden ist, auseinander, wie machtig einst die Kirche gewesen ist. Wegen Mangels an Briidern ist ein Munch Bibliothekar, Chronist und Gartner, in Wahrheit aber nur letzteres, da er sich um Biicher und Geschichte nicht kummert. Der Dichter begleitet den letzten Monch auf seinem Todes- gange, das ewige Licht erlischt, die Engelbilder fallen zur Erde, der Dom selbst stiirzt ein; die Zeit wallt voriiber und streut Erde iiber die Ruinen, so dass Saaten und Rosen daraus hervorspriessen; zwischen ihnen sieht er einen Dichter »ferner Tag’« lustwandeln. der heitere Lieder dichtet, wahrend iiber ihm hoch in den Liiften eine Lerche schmettert. Jedes der vierzehn Gedichte fiihrt uns an eine andere Stelle des ver- fallenden Kirchen- und Klosterbaues, und es werden uns sehr verschiedene Gestalten geschildert, ganz im Gegensatze zum »Thurm«, wo uns der Dichter das Gemuthsleben einer einzigen Personlichkeit in einer scharf begrenzten Localitat. darstellt. Das wirkt verwirrend und lasst eine einbeitlich befriedi- gende Stimmung beim Leser schwer aufkommen. Wohlsind die einzelnen Bilder, welche des Dichters Pinsel entworfen hat, bestimmt und geeignet., uns ein verfallenes Leben zu malen, denn nicht von einem Monche horen wir, dass er mit Liebe und Freude an seinem Berufe hangt, und nicht e i n Bestreben kommt zur Geltung, wodurch die Kloster einst so segensreich gewirkt haben. Aber es ist doch auch sehr Fernliegendes, wie et.wa das Grab- mal des Stifters und was der Dichter daran kniipft, herbeigezogen, wodurch die Gomposition dieses Theiles allzu sehr gelockert. wird. Und dazu kommt ein zweites. Auch in Bezug auf die Zeit scheint. ein streng einheitlicher Stand- punkt nicht eingehalten. Gleich im ersten Gedichte wird uns das Kloster als eine Ruine, deren Quadern schon aus dem Zusammenhange gelost sind, geschildert, und trotzdem werden uns in einer Reihe von Gedichten Scenen aus dem Leben der, wenn auch nicht mehr so zahlreich wie einst, hier woh- nenden Monche geboten, ja in dem drittletzten Gedichte erfahren wir, dass heute erst ein neues Mitglied in den Orden aufgenommen worden ist, und im letzten Gedichte endlich erblickt. der Dichter durch ein Fenster des Baues, wie sich der letzte Monch dieses Klosters, von Todesahnung getrieben, in den Dom begibt und hier auch st.irbt. Ebenso scheint es mir zeitlich nicht geniigend zu harmonieren, wenn uns ein Monch berichtet, dass er nicht erfullter Hoffnungen wegen nach der Leipziger Schlacht das Ordenskleid genommen habe, und spater ein anderer meint,, dass er zwar Chronist sei, doch nichts zu berichten wisse, wahrend sein Vorfahr noch an der Chronik 15 geschrieben babe, sowie auch, wenn im letzten Gedichte der Zerfall des Domes, der nach dem ersten bereits eingetreten ist, erst in die Zukunft ver- legt wird. Das hier Erorterte meint wohl auch Gottschall, wenn er diesem Lieder- cyelus »Einheit der Situation« abspricht. Es ist, als ob das kraftigere Licht. des sonnigen Siidens, das deri Thurm am Strande von Istrien umspielt, auch die darauf beziiglichen Gedichte seharfer beleuchtete, wahrend das verfallende Kloster, das sich der Dichter jedenfalls auf deutschem Boden denkt (in das von Fohren umgebene Kloster hat sich ein Kampfer von Leipzig zuriick- gezogen), weniger bestimmt und scharfbegrenzt hervortritt. Doch scheint mir Gottschall zu weit zu gehen, wenn er an derselben Stelle behauptet, dass sich »der Grundgedanke aus einer Fulle von Bildein muhsam emporarbeitet«. Wiederholt wird in dieser Abtheilung des »Schutt« auf das Griinen und Bliihen der Natur hingewiesen, \velche zu der ascetischen Richtung des Klosterlebens einen Gegensatz bilde. Die vvichtigsten hieher gehorigen Stellen sind in der voranstehenden, freilich diirftigen Inhaltsangabe wenigstens beruhrt. Im achten Gedichte dieses Cyclus fordert die Natur geradezu zum heiteren Genusse des Schonen auf: Denn ub’rall hinter dir mit griiner Ruthe Steht Lenz, mein lusfger Eath, im Schellenhute. Und vveiterhin ist fiir die Auffassung der Dichtung von Bedeutung, dass sich aus der Stelle des zu Schutt versunkenen Klosters flotend eine Lerche in die Liifte erhoben hat. Denn die Lerche ist unserem Dichter die Freiheits- sangerin, in welcher Eigenschaft. sie an mehreren Stellen seiner Dichtungen gefeiert. wird. So lesen wir im Gedichte: »Warum?« (in den »Spaziergangen«): Wenn sie mit Kanonen schiessen auf die Lerche, leicht beschwingt, Die, wie ein Gebet der Freiheit. siegend durch die Wolken dringt. »Sieg der Freiheit« (ebenfalls in den »Spaziergangen«) enthalt beim Preise des Friihlings folgende Stelle: Seine Marseillaise pfeifen Lerchen hoch mit lautern Schall. Als Freiheitssangerin erscheint die Lerche auch in dem Sonette: »Poesie der Zukunft«, in dem Abschnitte: »Ein Stiick Exposition etc.« (in den »Nibe- lungen«), und im fiinften Liede des ersten Theiles des »Schutt« nennt sich die Lerche selbst. .... der Freiheitseelen eine. Der Gedanke, welchen der Dichter im zweiten Theile des »Schutt« symbolisch zum Ausdrucke gebracht hat, scheint mir demnach folgender zu sein: Wohl gibt. es Einrichtungen, welche der fortschrittlichen Entwicklung der Mensehheit hinderlich sind (der Dichter schildert uns, um es nochmals zu wiederholen, ein verfallenes Klosterleben), aber die Zeit ist machtiger als sie und schreitet iiber sie hinweg. Mit der Zeit im Bunde steht die Natur, welche auch Ruinen mit Saaten und Bliiten iiberkleidet, dem Menschen die Freude am 16 Schonen ins Herz pflanzt und die Lerehe emporsendet, welche jubelnd das Lied der Freiheit anstimmt. Wenn die Einheitlichkeit in der »Fensterscheibe« manches zu vviinschen iibrig lasst, so fehlt es dagegen auch hier nicht, an schon erfundenen Situa- tionen und praehtigen Gedanken; namentlich das fiinfte, siebente und achte Gedieht der Reihe seheinen mir in dieser Hinsieht hervorragend. IV. Die umfangreichste Abtheilung des »Schutt« ist die dritte, »Gincin- natus« betitelt. Diesen Namen tragt sie nach dem aus Amerika gekommenen, zur Ruckfahrt bereiten Schiffe »Cincinnatus«, das im Golf von Neapel Anker geworfen hat. Diese Gedichte sind einem jungen, deutschen Amerikaner in den Mund gelegt, der am Schiffsmaste lehnend die in Neapel und Pompeji ge- schauten Bilder noch einmal in seinem Geiste voriibergleiten lasst und im Gegensatze dazu Verhiiltnisse und Zustande seines Vaterlandes schildert. So spielt also von zwei unmittelbar aufeinander folgenden Gedichten das eine in Europa, das andere in Amerika: das erste und letzte (vierzehnte) Gedieht handeln verknupfend von beiden Erdtheilen. Zunachst sei so kurz als moglich der Inhalt dieses Theiles angegeben. Der Amerikaner begriisst vom Borde des »Cincinnatus« den Golf von Neapel, die Inseln in demselben, die Stadt auf dem Festlande, welche auf dem Schutte des Vesuv erbaut ist, und Pompeji, das uns ein Stiick Welt- gesehichte erhalten und in dessen Ruinen die Natur triumphierend manchen Baum gepflanzt hat. Auf den Strahlen der im Wasser untersinkenden Sonne wandelt sein Geist nach Amerika; er verherrlicht sein aufstrebendes Heimat- land, den schonen Strand von Baltimore. Ueberall herrscht thateneifriges Streben, selbst auf den Grabeshugeln alter Zeit erhebt sich ragend ein tausendjahriger Wald: so einte sein Geist Tod und Leben. — Burger von Pompeji, ich be- trete dein Haus, das »salve« an der Schwelle gilt auch mir! Ist es auch in Trummern, verschont es doch der siidliche Himmel und die tippig griinende und bluhende Natur. Amor und Bacchustrophaen erbličke ich im Innern des Hauses, die verkohlte Papjrusrolle birgt Schatze der Musen. Der Ring des Daseins umsehliesst alles Organische, und so mochte ich auch den spaten Enkeln mein »salve« zurufen! — Sei mir gegriisst, Ohio, an dessen Ufern mein Vaterhaus emporragt, im Kreise seines Ackerlandes sitzt mein alter Vater wie ein siegreiclier Feldherr. Der Urwald ist gefallt, die Saatenfelder wogen, die Herde schreitet auf der Flur und nur die deutsche Nachtigall fehlt; der Greis neigt sinnend sein Haupt, vielleicht beschleicht ihn Heimweh nach dem verlassenen Lande seiner Geburt. — Einst ward der Geist des Feuer- berges in Liebe zur schonsten Pompejanerin entflammt, die er im Garten lust- wandeln sah. Aus Liebe zu ihr eilte er vom Vesuv herab, sie zu umarmen; allein durch die vorausgesandte Asche, die, vom Sturme vorwarts getrieben, den Garten hatte einhiallen sollen, ist sie getodtet worden. ■— In einem Hause im Thale der Alleghany wohnt meine Braut; einst wand ihr meine Hand Kranze, wahrend ihr Haupt im Schosse des greisen Vaters ruhte. Ich ver- theidigte gegen ihren starr republikanisch gesinnten Vater die Krone, das Sym- bol der Monarchie, als das Erbe der Kraft, den Lohn der Schonheit, das Ge- schenk der Liebe und bekranzte jener das Haupt. Vor dem alten Rebell stand seine Tochter, von mir mit dem Kranze gekront als Konigin, vom 17 treuesten Unterthanen die Huldigung zn empfangen. — Ein bourbonischer Soldat ruft dem Gerippe eines pompejan. Wachters, das vor dem Thore lehnt, hohnend zu, dass er die Stadt vor dem Vesuv nicht. habe retten konnen. Aueh er sei einst im Dienste der Freiheit in den Kampf gezogen, doch habe er aus Liebe zur Nachtigall, die so schon gesehlagen, zu den Rosen, die so herrlieh gebliiht, zu der Traube, die so voli gewunken, es vorgezogen, vor allem auf seine Rettung bedacht zu sein; unbeweglich bleibt das Gerippe. — Wegen des Festtages der Unabhangigkeit wird in Pittsburg Wachtparade ab- gehalten;. der Hauptmann schuttelt den Kopf, weil die Reihen gar so bunt gemischt sind. Von soldatischer Disciplin lindet sich bei ihnen keine Špur, doch sind die Herzen »uniform«, wenn es sich um die Vertheidigung des Vaterlandes handelt. — Neben dem Triumphthore, aus dem einst der Sieges- wagen des Imperators fuhr, liegt im Staube ein Lazzarone, der es als hochste Lust preist, dass er. hier ruhig liegen kbnne. Fiir militarisehe Lorbeern fehlt ihm jedes Verstandnis. Wozu Palaste, die nur den Anblick des Himmels rauben? Ewig mochte er hier liegen, um in die Luft und a.uf das Meer zu schauen. Gut, dass die Fremden nach Neapel kommen, so braucht er ihre Lander nicht zu besuchen; bis zu seinem Tode bleibt er hier und dann tragen ihn gottlob! andere. Nur den einen Wunsch hegt er, es mochten die Maccaroni Schlangen sein, die sich zu ihm hinbewegen, damit er um sie nicht aufstehen diirfe. — Ein Schiff mit Auswanderern fiihrt auf hoher See, die Leute, welche Europa den Rilcken gekehrt haben, holfen in Amerika das Gegentheil von jenen Verhaltnissen zu tinden, um derentwillen sie ihr Vater- land verlassen. Alle Erwachsenen, mahni, der Capitan anlasslich der Taufe eines neugebornen Kindes, sollen sich im Weltmeere auch taufen und tief hinein ihre Fehler und moralischen Gebrechen versenken. Plotzlich erschallt -es: »Land! Land!« Man erblickt eine Mauritiapalme, welche die Auswanderer einladt, hier auszusteigen, denn sie bietet. fiir alle Bediirfnisse Befriedigung. — Ueber dem verfallenen Thore einer dunklen Zelle im Circus winkt ein Blutenstrauch, wie das Zeichen der Schenke. Beim Eintritte erblicken wir in der Ecke das Gerippe eines Fechtersclaven; »das hohle Aug’« ist noch zum Worte »libertas« hingewendet, das er wohl selbst einst, um sich daran zu trosten, mit dem Kampfdolch in die Mauer eingeritzt hat. Daraus sog er Kraft., wie einBeeher gutenWeines dieSehnen starkt, »Libertas« gehort zum starksten, besten Weine; kommt, fremde Volker, ein Schliickchen davon wird euch nicht schaden! — Ein Pflanzer, der in den Apalachenbergen im Schatten einer Sycomore sitzt, erfreut sich im Krei.se seiner Familie seines Erntesegens und preist den Thee, der Amerika die Freiheit gebracht hat. Er ermahnt die Kinder, am Rechte festzuhalten, es siiet der Mensch, doch iiber seiner Saat, wacht eine dunkle Machi Hinter ihm taucht aus der Zuckerplantage ein Negerhaupt empor. — Eine in Pompeji ausgegrabene Lampe hat zu ver- schiedenen Zwecken Licht gespendet, auch manchen Weisen, die uber das menschliche Elend nachgedacht haben, freilich ohne es beseitigen zu konnen. Jetzt. steht. die Lampe auf dem Tische eines B^orschers, der die Ziige eines alten Papyrus entziffern will; er vergisst. dabei auf alle Schonheiten des Lebens. Sinne, Mann, iiber das alte Rathsel weiter, noch ist die Erde voli des alten Elendes. — Abgesandte der Weissen sind, um den BTieden zu unterhandeln, zu den Indianern in den Urnald gekommen. Wohl wird die Friedenspfeife geraucht, aber sie sinnen vergebens dariiber nach, wie sie das Schlachtbeil so tief und so sicher verbergen konnten, dass es niemals mehr zum Unheile 2 18 ans Tageslicht trete. Endlieh sagt ein Greis: »Lasst das Beil, aber greift. in euer Herz, darin rubt der Keim zum neuen Kampfe. Und ans dem Herzen wird das Schlachtbeil wieder erstehen, bis es einst eine Handvoll Erde be- deckt;« in der Natur herrschte Friede. — Das Schiff verlasst den Golf von Neapel, der Amerikaner nirnmt Abschied von Europa, dessen Reichthum die Quelle seines Ungliickes ist, und fordert Amerika auf, die Leiden des ersteren moglichst zu mildern. Schlingt Hand in Hand, ihr Sehwestern, die Kronen Europas stehen gut zum griinen Kranze Amerikas! Herrscht doch in der ganzen Natur nur eine, alles erzeugende Lebenskraft, und entstammen doch auch alle Producte des menschlichen Geistes der einheitlichen Kraft desselben! Die Natur erneut sich ewig, der Mensch verschwindet, wie ein Tropfen im Meere. In der Ferne gliiht, klein wie ein Štern, der Gipfel des Vesuv; Nacht ist es inzwischen geworden, die Sterne der Bundesflagge sind nicht mehrzu er- kennen, dafiir funkeln arn Firmamente unzahlige leuchtende Sterne. Griin liebt es, Gegensatze vorzufiihren, was wohl dem Reflexionsdichter iiberhaupt sehr nahe liegt, weil er durch die Hervorhebung des Gegensatzes die Gedichte nicht nur besser abrunden, sondern auch den Gedanken scharfer beleuchten kann. Sehen wir doch auch in Schillers Gedichten, in seinen wissenschaftlichen Erorterungen und im dramatisehen Dialoge die Freude am Gegensatze! In Griins kleineren Gedichten finden sich zahlreiche Beispiele hiefiir; aus dem »Schutt« konnten angefuhrt werden: der Gegensatz zwischen dem Klosterleben in alterer und dem in spaterer Zeit, der Unterschied im Begrabnisse des Monches und des Soldaten (beide Stellen in der »Fenster- scheibe«), der Streit iiber die Krone (im »Cincinnatus«), der ganze »Gincin- natus« selbst, die gegensatzliche Schilderung der Reize der Provence und des Triimmerfeldes von Palastina (in den »Fiinf Ostem«), Im allgemeinen ist der Zweck derjenigen Bilder, welche zum Hintergrunde Pompeji oder das moderne Neapel haben, uns abgestorbene Zustande zu schildern: das alte Pompeji mit seinem heiteren Schonheitscultus ist verschiittet, die Neapolitaner der bour- bonischen Zeit — denn diese schweben dem Dichter vor Augen — sind keines lebenzeugenden Gedankens fahig. Deshalb fiihrt uns der Dichter einen bourbonischen Soldaten vor, der als seine hochste Aufgabe den Genuss der schonen siidlichen Natur und als Vorbedingung dazu die Erhaltung des eigenen Lebens betrachtet, der daher fur die hochsten Giiter der Menschheit keinen Karnpf wagt. Deshalb schildert uns Griin in wahrhaft kostlicher Weise die Lebensphilosophie des Lazzarone, der das Dolce far niente formlich zur Kunst, ausgebildet. hat. Die vollige Bediirfnislosigkeit desselben wurzelt. in seiner un- begrenzten Arbeitsscheu; es gilt ihm daher als vollendete Lebensweisheit, unthatig im Staube zu liegen, stumpfsinnig Regen und Sonnenschein hinzu- nehmen und trotz aller Armseligkeit hochstens den einen, aber sehr bezeich- nenden Wunsch zu hegen, dass sich die Maccaroni selbst zu ihm hinbewegen mochten. Auf dem Boden von Neapel ist demnach ein Heil fiir die fort- schreitende Entwicklung der Menschheit nicht zu erwarten. Anders in Amerika. Es ist ein sehr glucklicher Gedanke Griins gewesen, als gegensatzliches Bild zum Lazzarone uns ein Schiff auf hoher See vor¬ zufiihren, das europamiide Ausvvanderer, die aus verschiedenen Motiven dem Lande ihrer Geburt Lebewohl gesagt haben, nach demWesten tragt. Er zeigt uns an dem Beispiele der Mauritiapalme, die am Schlusse dieses Gedichtes die Auswanderer willkommen heisst, wie derjenige, der Miihen und Gefahren nicht scheut., sich im fernen Amerika eine viel bessere Existenz schaffen kann, 19 als sie der den Tag verlungernde Lazzarone fiihrt. Dnd in iihnlichem Sinne sind auch die ubrigen Bilder gehalten, welche auf dem Boden der neuen Welt spielen. Wer sich ehrlich bemiiht, der kann sich daselbst, eine sorgen- freie Zukunft sichern; unter der Axt des kraftigen Pflanzers sinkt raseh der Urwald, an seiner Stelle breiten sich weite Saatengefilde aus, auf den Flussen herrscht der lebhafteste Schiffsverkehr, volkreiche Stadte entstehen wie uber Nacht. Ueberall erblickt das Auge das eifrigste, riihrigste Leben, ein ganzer Erdtheil ist der Menschheit neu gewonnen. Das »golddurchschossene« Sternen- banner weht schiltzend uber dem Amerikaner auch in der Fremde, daheim erfreut er sich der politischen Freiheit, die eine in der Gesinnung einige Volkswehr gegen jeden Angriff zu vertheidigen bereit ist. Darnach, glaube ich, lasst sich der Gedanke des »Cincinnatus« so bezeichnen: Wohl gibt. es Lander, diefiir das geist.ige Leben der Mensch¬ heit. unfruchtbar, Volker, diefur ideale Zvvecke als abgestorben zu betrachten sind, dafur erwacht in anderen Gegenden ein neues Leben und wird dadurch der Menschheit ein bis dahin verschlossener Bereich der Cultur eroffnet. Grun ist nun weit entfernt, die Zustande in Amerika in allzu rosigem Li<;hte darzustellen, sie geradezu als ideale zu betrachten, oder dem Leser zeigen zu wollen, dass hier die Menschheit dem Endziele ihrer Entwicklung nahe gekommen sei. Von der allzu giinstigen AufTassung, welche man in den dreissiger Jahren in Deutschland unter der Ungunst der heimischen Verhall- nisse liber Amerika hegte, zeigt sich Grun frei. Es sind sehr erhebliche Schatten- seiten, welche er nicht verschweigt. Heimweh nach dem Lande der Geburt beeintrachtigt die heitere Lebensfreude und triibt die Zufriedenheit. liber den errungenen Wohlstand; republikanische Einseitigkeit fiihrt zu ungerechter Be- urtheilung monarchischer Einrichtungen; die Sclaverei vertragt sich nicht mit der Anerkennung des allgeineinen Menschenwertes; der Rassenhass zwischen den Weissen und den Rotbhauten, fur den es keine Versohnung gibt, die Ver- nachlassigung der wissenschaftlichen und kiinstlerischen Bestrebungen 5 ) ge- reichen Amerika nicht zur Ehre und steli en es hinter Europa. Und so sch\vebt auch hier im grossen Ganzen dem Dichter iiber Amerika ein ahnliches Bild vor, wie er es in dem Gedichte: »Einem auswandernden Freunde« (in den »Spaziergangen«) gezeichnet hat,. Wie der Kreuzzugspilger Scharen einst gen Zions Trummerrest, Walzt sich jetzt der Volker Heerzug ins geloble Land gen West; Ach, wohl \vird’s auch euch ergehen, wie sich’s jenen einst begab: Euer Heiland ist erstanden und ihr trefft ein leeres Grab! »Cincinnatus« enthalt sehr hervorragende Schonheiten. Vor allem muss hier des grandiosen Phantasiegemaldes gedacht werden, in welchem Grun den Geist des Vesuv in Liebe zu der schonsten Frau von Pompeji entbrennen lasst,, die er durch den vom Sturmwinde gepeitschten Aschenregen den Blicken der ubrigen Bewohner entziehen will, aber gerade dadurch todtet. Im Purpur- mantel gllihender Lave stiirmt der Feuergeist den Berg herab, Blitze leuchten als seine Diamanten, gliihende Steine funkeln als seine Granaten. Das neunte 6 ) Hieftir ist bezeichnend, dass Griin dem Gedichte, ivelches von den muhsamen Studien der Gelehrten in Europa handelt, ein Gedicht folgen lasst, welches den Rassenhass zwischen den Weissen und Farbigen zum tnlialte hat. 2 * 20 Gedicht ragt besonders dureh seinen Inhalt hervor; classisch ist. die Schil- derung des Lazzarone, ergreifend die mit sonst bei Griin seltener Schlichtheit dargestellte Friedensversammlung derWeissen und Jndianer, an deren Erfolge ein erfahrener Greis ganz und gar zweifelt. Der Gedanke, die Verhaltnisse in Amerika den siiditalienisehen entgegen- zusetzen, auf welchen ein Dichter der Gegemvart kaum verfiele, lag einem Poeten der dreissiger Jahre nahe genug, da damals Amerika als das Eldorado politischer Freiheit und socialen Gliickes galt. Schone Aufschliisse in dieser Beziehung enthalt nach der Anzeige Kapps 6 ) das Budi von Gustav Korner: »Das deutsche Element in den VereinigtenStaaten von Amerika 1818 bis 1848.« Kapp sagt: »Nach der Niederwerfung der freiheitlichen Bestrebungen in Spanien, Italien und Griechenland fiengen die Vereinigten Staaten damals an, von den deutschen Liberalen als das grosse Musterland der Freiheit, als das Asyl aller Unterdriickten und als Vorkampfer alles Fortschrittes, als die Zu- kunft der Menschheit, gefeiert zu werden 7 8 )_Im Gegensatze zum heimischen Drucke und Elende, zur deutschen Diirftigkeit und Noth glaubte die uns vorauf- gegangene Generation an die grossere Jugendfrisehe und edle Natur der Ameri- kaner, an ihren unbeugsamen Freiheitsgeist, und ihre moralische Ueberlegenheit. Was die deutschen Amerikaner in ihrer geschichtlichen Verblendung driiben nicht sahen s ), ja was sie in der europaischen Form dort nicht sahen, das existierte einfach fiir sie nicht, daher dieser Zug des falschen Idealisierens, welchem Sealsfield 9 ) so spannend, so siegesgewiss in seinen grossartig an¬ gel egten Lebensbildern auf halbem Wege begegnete. Und nach der Unter- driickung der Juli-Revolution nahm die Sehnsucht. nach Amerika und das Aus- wanderungsfieber erst recht iiberhand; den jetzt taglich willkurlicher wer- denden Massregelungen gegen alle, welche nur den Wunsch nach deutscher Einheit zu erkennen gegeben hatten, und der dureh sie gesteigerten Polizei- wirtschaft gelang es, im jungen Deutschland einen kosmopolitischen Radi- calismus grosszuziehen, welcher mit B6rne’scher Verbitterung und Byron’schem Weltschmerz versetzt, alles in der lleiinat verachtete und bewundernd seinen Blick liber Frankreich und England hinaus nach Amerika schweifen liess. Sogar in unserer Literatur macbte sich diese selbstgefallige Europamiidigkeit eine Zeitlang als hoherer Standpunkt, als einzig berechtigtes Streben breit... Dass diese krankhafte Stimmung selbst unter Optimisten und ruhigen Biirgern um sich griff, beweist u. a. schlagend der alte Justinus Kerner, der 1832 Europa nicht mehr ansehen mochte, weil es ihm die Polen angethan hatten und weil es ihm die Verfolgung jedes freien Gedankens verleidete.« I0 ) 6 ) Mir ist. nur die erwahnte Anzeige in der »Deutschen Rundschau«, Oktoberheft 1880, nicht aber das Buch selbst bekannt geworden. (Ohige Stelle p. 102 lg.) 7 ) G. Dud.en aus Eberfeld, der 1824 in Amerika eimvanderte, predigte in seinen ver- lockenden Schilderungen fur Deutschland zuerst das Evangelium vom angeblichen Pa- radies des Westens, Kapp p. 96. Vergl. Brief Lenaus an Schurz vom 16. Marž 1832 bei Schurz, Lenaus Leben., I., p. 163. 8 ) Sehr bezeichnend hiefiir ist bei Griin das Gedicht von der Bedeutung der Krone. 8 ) Der nach Kapp p. 105 bei vielen den Gedanken an die Auswanderung hervorrief; »zu Anfang der vierziger Jahre wurden Sealfields Romane formlich verschlungen«. 10 ) Brief Kerners bei Mayer: »N. Lenaus Briefe an einen Freund«, p. 59: »Europa verfault immer mehr in der Gemeinheit und auch mir wird es oft ganz bange in ihm«, und p. 64: »Die Polen legten mir einen solehen Kummer ins Herz, dass ich Europa nicht mehr ansehen mag. 21 Auf diese Auffassung Amerikas, welche damals im Leben und in der Literatur die herrschende war, ist hier deshalb ausftihrlicher eingegangen worden, um im Gegensatze dazu Gruns richtigeres Urtheil und scharferen Blick bezuglich der amerikanischen Verhaltnisse zu zeigen. Lasst sich somit die Hereinziehung Amerikas in den »Schutt« schon aus diesem allgemeinen Gesichtspunkte leicht erklaren, so war dies dem Dichter noch personlieh dadurch nahe gelegt, dass sein schivermiithiger Freund Lenau im August 1832 sich nach Amerika eingeschifft hatte, freilich oline dort die gewiinschte Heilung zu finden. Vielmehr erschien ihm Amerika nach langerem Aufenthalte in der neuen Welt als »das wahre Land des Unter- ganges, der Westen der Menschheit. Das atlantische Meer aber ist der isolie- rende Gtirtel fur den Geist und alles hohere Leben.« 11 ) Ich glaube, Griin nimmt im ersten und dritten Gedichte des »Cineinnatus« ausdriicklich auf den Aufenthalt Lenaus in Amerika Bezug. Wenigstens scheint es mehr als blosser Zufall zu sein, wenn der Junge Amerikaner im »Cineinnatus« gerade Baltimores schonen Strand und die Niederlassung seines Vaters am Ohio begrusst, und vvir liber die Reise Lenaus nach und in Amerika lesen, dass er in Baltimore gelandet ist, sich durch die Urwalder nach Ekonomy in Pennsylvanien am Ohio hegehen hat, 12 ) und dass er auch nach Pittsburg am Ohio gekommen ist, in welcher Stadt. Griin die Wachtparade vor sich gehen lasst,. 13 ) Der enttauschte Lenau, der noch dazu im Winter an einem rheumatischen Leiden krank lag, machte in seinen Gedichten (z. B. »der Ur- wald«) so wenig wie in seinen Briefen und Gesprachen 14 ) daraus ein Hehl, dass er durch den Aufenthalt in der neuen Welt eine bedeutend ungiinstigere Auffassung der amerikanischen Verhaltnisse gewonnen habe, und so mag immerhin auch dieser Theil das »Cineinnatus« durch Lenaus Mittheilungen beeinflusst sein. 15 ) Wie dem auch sei, jedenfalls zeigt uns das Bild, das sich u ) Brief Lenaus an Reinbeck vom 5. Marž 1833 bei Mayer, Lenaus Briefe. (Bei Kapp irrthumlich als Datum der 5. Mai angegeben.) 12 ) Schurz im »Album osterreichischer Dichter«, 1850, p. 12. 13 ) In Pittsburg wohnt,e Lenau im Hause eines Herrn Volz, Vergl. Schurz, Lenaus Leben, I., p. 203: »Schon der Name des Mannes that Niembsch wohl, denn so hiess auch der Hauptmann, bei dem er als Philosoph im Jahre 1820 zu Wien gewohnt hatte.« Und im »Schutt« halt ein Hauptmann die Parade ab. 14 ) Schurz schreibt am 5. Mai 1833 an Mayer (Lenaus Briefe p. 104): »Auch mtind- lich horte ich den Freund jene brieflichen Ansichten meistens bestatigen.« 15 ) Vielleicht besteht ein Zusammenhang zwischen der Bemerkung Lenaus (Schurz, I., p. 199); »Die Naehtigall hat recht, dass sie bei diesen Wichten nicht einkehrt. Das scheint mir von ernster, tiefer Bedeutung zu sein, dass Amerika gar keine Naehtigall hat«, und der Stelle im »Cineinnatus«: Doch diinkt mich, in dem bliitenreichen Ali Fehlt ihr die heinfsehe, deutsche Naehtigall. Ferner behandelt Lenau in den Gedichten »Der Indianerzug« und »Die drei Indianer« den unversohnlichen Hass zwischen den Weissen und den Rothhauten; im letzteren lesen wir: Nichts hat uns die Rauberbrut gelassen, Als im Herzen todlich bittres Hassen. Aehnlich heisst es im »Cineinnatus«: Doch greift in euer Herz! Drin liegt das Schlachtbeil, das vielleicht schon jetzt Von euch manch’ einer frisch zum Kampfe wetzt! 22 Griin von Amerika entworfen hat, dass ihn seine gesunde Natur und der zuversichtliche Glaube an den Sieg der von ihm verherrlichten Ideen auch in Europa trotz der Ungunst der damaligen politischen Verhaltnisse vor einer einseitigen Ueberschatzung der amerikanisehen Zustande bewahrte, die, wie oben erwahnt, durch Sealsfields Romane genahrt, noch in den vierziger Jahren die vorherrsehende war. Bei Griin wenigst.ens ist die Darstellung der amerikanisehen Verhaltnisse frei von »Borne’scher Verbitterung und Byron’schem Weltsehmerz«. Vielmehr diirfen wir als die Ueberzeugung Griins folgende Ansicht Lenaus annehmen, welche dieser erst nach bitteren Erfahrungen in Amerika gevvonnen hat: »Mein Aufenthalt in der neuen Welt hat mich von der Chimare von Freiheit und Unabhangigkeit, fur die ich mit jugendlicher Begeisterung schvvarmte, geheilt. Ich habe mich dort tiberzeugt, dass die wahre Freiheit nur in unserer eigenen Brust, in unserem Wollen und Denken, Fiihlen und Handeln ruht.« 18 ) Suditalien als Schauplatz fiir die Schilderung einer abgestorbenen Cultur, als fur die Menschheit verlorener Boden ist gevviss auch sehr gliicklich gewahlt, da ja der Dichter uns nur das bourbonische Konigreich seiner Zeit vorfiihren konnte. Mit der antiken Cultur ist es auf diesem Boden voriiber, das zeigt uns das verschuttete Pompeji, und bezuglich der Gegenvvart ist fur die Regeneration der Menschheit von der dortigen Bevolkerung nichts zu hoffen, das zeigt uns der feige Soldat und der faule Lazzarone. In Unter- italien ist bis heute jeder Einbrueh gelungen, 17 ) und wie schmahlich das Regiment in Neapel in neuerer Zeit zu wiede’rholten malen zusammengebro- chen ist, davon finden wir seit dem Einfalle der Franzosen am Ende des vorigen Jahrhundertes in der Geschiehte mehr als ein Beispiel. Wenn der Wachter »in der Livrey bourbon’scher Lilien« ohne Schamgefiihl sagt., dass er geflohen sei, als: Durch der Abruzzen griine Thale wanden Wie weisse Mauern sich der Deutschen Glieder, so ist es wohl am nachsten gelegen, an die Ssterreichische Occupation unter Frimont vom Jahre 1821 zu denken, deren Verlauf gevviss auch kein Ruh- mesblatt in der Geschiehte Stiditaliens bildet. 18 ) Rechnen wir noch hinzu, dass unter einigen Konigen in Neapel der Einfluss der Lazzaroni ein hochst bedeutender war, so diirfen wir wohl sagen, dass das scharfe Auge des Dichters in Unter- italien, iiber das seit dem Zusammenbruche des romischen Weltreiches ein verhangnisvolles Geschick gewaltet hat, einen sehr geeigneten Schauplatz fiir die bildliche Darstellung seines Gedankens gefunden hat, Es ware nur viel- leicht wiinschenswert, dass Griin aus dem Neapel seiner Zeit mehr als zwei Bilder gebracht hatte: an reichlichem Štolfe fiir diesen Zvveck hatte es ihm I6 ) Schurz, I., 224. n ) Gregorovius, Gesch. d. Stadt Rom, V., 389 (2. Auf].): »Die praktischenUrsachen seines (Manfreds) so schnellen Unterganges zeigt ausserdem die Geschiehte Stiditaliens, des un- kriegerischen Landes ohne Nationalgefiihl, ohne Treue und Bestand, wo niemals eine Dynastie Dauer gewann und wo bis auf den heutigen Tag jede Invasion und Eroberung gelungen ist.« 18 ) Reuchlein, Gesch. Italiens, bemerkt iiber die fluchtartige Auflosung der Neapoli- taner unter Pepe bei Rieti (7. Marž 1821), I., p. 182: »Bis auf wenige Compagnien lief alles kreuz und quer auseinander, nachriickende Bataillone losten sich auf.« 23 bei dem ganzlichen Verfalle aller Zustande dieses Staatswesens nicht gefehlt. 10 ) Und wie eine Bestatigung der Auffassung der neapolitanischen Verhaltnisse seitens des Dichters klingt es, wenn wir bei Ruth 20 ) lesen: »Der kraftige Norden Italiens wird sich vergebens fiir die Regeneration des neapolitanischen Siidens opfern.« V. Die letzte Abtheilung des »Schutt« — »Fiinf Ostern« — enthalt zwar nur fii nf Gedichte, doch sind dieselben so lang, dass dieser Cyclus den ersten und zweiten an Umfang fast erreicht. Der Dichter kniipft an die schone Sage des Orientes an, dass Christus alljahrlich zn Ostern vom Oelberge herab auf die Statte seines einstigen Wirkens und Leidens schaue, und fuhrt uns sodann fiinf welt.geschichtliche Ostern von hochster Bedeutung fiir Palastina und die ganze Menschheit vor. Das erste mal schaut Christus Jerusalem unmittelbar nach der Zerstorung durch Titus. Allenthalben sieht das Auge Triimmer und Schutt; der Tod hat hier seinen Triumphzug gehalten, keine Špur eines menschlichen Pfades. Kein Laut ertont weit und breit, nur der Kedronbach klagt: »Einst spiegelte ich Tempel und Palaste, jetzt, muss ich das Bild des Todes tragen. Ueber Gestein und Leichen schvvebt der siegreiche romische Aar wie ein Leichen- rabe. Die Stadt mit ihren Herrlichkeiten ist dahin, nur die in Felsen gehauenen Graber sind iibrig geblieben. Beim Falle der Stadt floh das Volk, die Nachti- gallen und die Rosen; alle Farben sind erloschen, alle Tone verklungen, nur ich blieb zuriick als eine Thrftne am Auge der Vernichtung.« Zum zweiten male sieht Christus vom Oelberge herab; trotz des Friih- lings ist. noch alles grau und kahl, der Menseh hat iiber dem Schutte wieder eine Stadt erbaut. Soeben haben die Kreuzfahrer Jerusalem erobert. Feier- licher Glockenklang erschallt in der Stadt, um den Dom. scharen sich waffen- tragende Manner, welche wahrend des Gottesdienstes auf die Knie sinken: alle tragen das Kreuz an der Brust. Zunachst am Al tare kniet ein schoner, kraftiger Mann, Gottfried von Bouillon; er spricht bei sich: »Vollbracht ist es mit Blut! Das Kreuz, einst das Zeichen der Scbmach, erhohten \vir hier als glanzvolles Siegesmal, iiberall schimmert jetzt das Kreuz. Der Konigs- mantel, welchen man mir umgehangt, wird entfarbt, die Krone, welche man mir aufs Haupt gesetzt hat, wird zu Staub zerfallen, nur die Dornenkrone wird hier ewig gelten. Ach, dass die Gemeinde blutige Schwerter tragt! Ware ich jener Pilger dort., den der hohe Glaube hieher gefuhrt, der kein Menschen- blut vergossen hat! Lage mein Haupt wie das seine am Schwellensteine in lichten Traumen ! Der schwache Leib zerfallt, der Glaube tragt zum Sternen- zelte empor!« Zur Zeit der dritten Ostern ist Jerusalem vvieder im Besitze der Mu- hammedaner. Das Kreuz ist gesturzt, iiberall glanzt der Halbmond, nur iiber dem Grabe Christi, das Monche hiiten, ragt schiichtern das Zeichen Christi. Leer sind des Domes Hallen, nirgends ist ein frommer Pilger zu schauen, vier Triimmervvande sind als Ruinen eines Kirchleins stehen geblieben, griine Terebinthen gedeihen innerhalb derselben, und in ihrem Schatten ruht ein Jude. 19 ) Vergl., was bei Ruth, Gesch. von Italien, I., p. 83 uber die allgemeine Corruption, p. 353 iiber die Camorra, p. 356 iiber den ganzlichen Mangel an Volksbildung etc. gesagt ist. 20 ) I., p. 357. 24 Diese Gedanken ziehen ihm dureh die Seele: » Icli wandere nicht gleich der Lerche und dem Hirten, sondern gleich dem verfolgten Hirsche; ich sae zwar nicht, doch leide ich keinen Mangel. Den Norden und den Sliden habe ich kennen gelernt, ich wohne in enger Gasse, ich lerne keine fremde Sprache, ich habe kein Vaterland, sondern bin unstat wie Ahasver, aber uberali bleibe ich mir in Farbe und Bildung gleich. Die Christen stellen mir mit Feuer und Schwert nach. Ihr (die Christen werden angesprochen) strebet nach Reichthum wie wir, wegen meines Reichthumes brauchet ihr mich. Prunke nur wie ein Pfau, Christ; der Pfau scha/mt. sich des hiisslichen Fusses — der Fuss bin ich —, aber er kann ohne Fusse nicht stehen. Wenn ein Jude sich taufen lasst, geschieht es nicht aus Ueberzeugung, sondern aus Eigennutz, niemals werden wir in Frieden miteinander leben. Hier bin ich glucklich, denn hier werden wir beide vom Heiden gedruckt. Es ist genug gerastet, ich will Geschafte machen: kauft Monstranzen, Rosenkranze, Madonnen und Kreuze.« Die vierten Ostern fuhren uns in die jungste Vergangenheit. Noch herrscht. der Halbmond, nur liber der Grabeskirche blinkt das Kreuz. Aber die Ver- treter der verschiedenen christlichen Confessionen sind an heiliger Statte liber die verwickelten Eigenthumsrechte an derselben 21 ) in heftigen Kampf wider einander entbrannt, dem der Pascha' schliesslich ein Ende macht. Dort im Klostergarten kniet ein greiser Monch und betet: »Schon bist du, o Provence 22 ), mein Heimatland, im Schmucke deiner Reben, Oelbaume, Orangen und Gra¬ naten, aber schoner noch sind deine Thale, o Zion, die uberali Schutt und fahles Gefilde zeigen. Freudig wollte ich hier ins Grab sinken, wenn ich nur noch den Sieg des Christenthumes hier erlebte! Zwar erschien mirjungstim Traume der Herr zlirnend, dass unter den Bekennern seiner Lehre Zank und Streit herrsche, doch du hast Hilfe gesendet, o Golt. Frankreichs Sohne haben Aegypten erobert, und du hast ihrem Feldherrn Kraft und Geist gegeben. Aegypten ist ihm nur die Staffel zu Golgatha. Hier wird er den Halbmond sturzen, das Kreuz aufpflanzen, die Kranze alle vom Haupte nehmen und auf das befreite Grab legen.« 23 ) So sprach der Monch; in der Ferne horte man Waff'en drohnen und Adler rauschen: s e i n e Heere, s e i n e Adler sinds! Die Heere ziehen vorbei, die Adler rauschen voriiber. Und die fiinften Ostern? Sie schaut nur der Seherblick des Dichters, der in die Zukunft dringt. Ueberall griint es und blliht es. Ein Saatenmeer hal alle Triimmer iiberdeckt, Reben und Rosen wuchern, alles urnher ist ein sonniger Garten, es lacht ein ewiger Frlihling. Jetzt spiegeln sich wieder Getreidefelder im Kedron, keine Špur von der traurigen Vergangenheit des Landes. Ein gluckliches Volk durchjauchzt die Fiur, Krieg, Knechtsinn und Unvvahrheit sind langst vergessen. Auf Golgatha inmitten eines Gartens wohnt 21 ) Am Condominium iiber die »heiligen Statten« sind sechs Confessionen interes- siert; zu den von Griin angefuhrten vier konimen noch der Abyssinier und der Syrier. Vergl. Rosen, Gesch. d. Turkei, I., 138. 22 ) Dass der Monch aus der Provence stammt, ist in erster Linie gewiss dadurch veranlasst, dass diese Landschaft, so weit, sie geniigend bewassert ist, dureh ihre herrliche Vegetation beruhmt ist und dureh die Pflege der Dichtkunst besonders hervorragte, und zweitens vielleicht auch dadurch, dass Frankreich die traetalenmassige Schutzmacht der katholischen Itircbe in der Levante ist, als welc.be sie sich bei dem beriihmten Streite iiber die heiligen Statten von 1850 — 52 auf den Vertrag von 1740 stutzte. S. Rosen, I., 140. 23 ) Wenn ubrigens Napoleon iiberhaupt jemals solehe Gedanken im Ernste hegte, als er in Syrien war, hatte er sie gewiss nicht mehr. Vergl. Sybel; Geseh. d, Revolutions- zeit, V., p. 543. 25 ein beglucktes Paar. Einst fanden Kinder hier einen eisernen Gegenstand, sie kannten ihn nicht; nicht die Eltern, nicht die Nachbarn, der alteste Greis nicht: es war ein Schwert, das nun als Pflugsehar verwendet wird. Einst stiess ein Ackersmann an ein Steingebilde, niemand kennt es. Wenn sie es auch nicht kennen, es steht voli Segen in ihrer Brust: es war ein Kreuz. Sie salin den Kampf nicht und sein blutig Zeichen, Sie sehn den Sieg allein und seinen Kranz! Das Kreuz stellen sie im Garten auf und Rosen und »Blumen aller Arten« ranken sich daran empor. So steht in Glanz das Kreuz auf Golgatha: Verdeckt ist’s ganz von seiner Rosen Hiille, Langst sieht vor Rosen man das Kreuz nicht mehr. In den vier ersten Gedichten dieses Cyclus fuhrt uns Griin wichtige Ereignisse der Weltgeschichte vor Augen, die in ihren Hauptumrissen all- gemein bekannt sind. Im »Cincinnatus« eroffnete uns der Dichter die trost- liche Perspective, dass, wenn ein Land geistig verodet, sich der Menschheit wie zum Ersatze ein anderes neu erschliesst. Aber kann das geniigen? Kommt damit die Menschheit wirklich vorvvarts ? Der Dichter selbst verneint sich die Prage, und so galt es darzustellen, dass auch auf einem und demselben Boden die Bevolkerung einem schonen Ziele mit Sicherheit entgegenschreitet. Es braucht hier wohl nicht erst betont zu werden, dass es ein fruehtreicher Gedanke des Dichters war, in einem idealen Zukunftsbilde die fortschreitende Entwicklung der Menschheit an einer Statte zu zeigen, liber welche im Laufe der Jahrhunderte viel Unheil hereingebrochen ist und welche noch heute in jeder Beziehung zu den verfallensten unter den Landern gehort., welche schon einmal der Cultur gewonnen waren. Mit welchem Rechte K. Griin von »idealer und hyperidealer Geschichtsbetrachtung« sprechen kann, ist mir ein Rathsel. Die Zerstorung Jerusalems durch Titus, die Eroberung desselben im ersten Kreuzzuge, die erneuerte Herrschaft des Islam, der Zug Napoleons I. von Aegypt.en nach Syrien sind ganz reale Ereignisse der Geschichte, und auch beztiglich der funften Ostem wird sich spater Gelegenheit finden, vvenigstens die Bezeichnung »hyperideal« zuriickzuweisen. Gehen wir noch einmal die einzelnen Gedichte kurz durch. Im ersten Gedichte wird uns nur die zerstorte Stadt und das verwiistete Land, das der Herrschaft der Romer sich hat beugen mfissen, vorgefiihrt. Im zweiten Gedichte ist die Klage Gottfrieds von Bouillon von Bedeutung, dass er nur durch Vergiessen von Menschenblut sich der Stadt, in welcher der Lehrer der Naehsten- und Feindesliebe gewirkt hat, habe bemachtigen konnen; er beneidet den Pilger, dessen Hande rein sind von Blut. Das christ- liche Konigreich Jerusalem hehauptete sich nicht lange, und wieder gelangte an den heiligen Statten der Halbmond zum Siege. Noch kennt die Mensch¬ heit den religiosen Frieden nicht; der Jude zeigt uns in seiner Herzens- ergiessung, dass er den Ghristen aus tiefster Seele hasst, so tief, dass er, obwohl hier er und der Ghrist unter der harten Faust des Muselmannes zu leiden haben, sich mit jenem nicht versohnen will. Der Halbmond ist seit dem Untergange des christlichen Konigreiches von den Zinnen Jerusalems nicht mehr herabgestiirzt worden: damit beginnt das vierte Gedicht. Aber 26 die Christen hadern bis zum blutigen Kampfe unter einander liber die mancherlei Eigenthumsrechte, welche die versehiedenen Confessionen beziiglich »der heiligen Statten« in Anspruch nehmen: selbst die Christen unter einander erfreuen sich noch nicht des religiosen Friedens. Und aueh der greise Monch, welcher betend auf den Knien liegt, fugt sich schon in den Gedankengang dieses Theiles des »Schutt« ein. Das Charakteristische an ihm ist der ascetische Zug seines Wesens, demzufolge ihm das traurig-dustere Triimmerfeld von Zion besser gefallt, als sein rebenbekranztes, sangesheiteres Heimatland, die Provence, von der Uhland im »Rudello« singt: Šelige Provencer Thale, Ueppig bliihend wart ihr immer, Aber eure reichste Blute War des Minneliedes Schimmer. In der Geringschatzung des Schonen in der Natur und in der Kunst hat ihn auch die nachtliche Erscheinung Gottes nicht. wankend gemacht. SchBn ist die am Schlusse dieses Gedichtes zum Ausdrucke gebrachte Hoffnung und Enttauschung des Monches, der vom Zuge Napoleons nach Syrien den Sturz des Halbmondes in Palastina emartet hatte. Endlich das Ostern der Zukunft ist das Bild eines vollkommen gluck- lichen Zustandes der Menschheit. Die Natur, welche uberall aus Trummern wieder neues Leben hervorspriessen lasst, ist ein Symbol des menschlichen Strebens. Der Dichter charakterisiert jene ferne Zukunft dadurch, dass sie das Schwert. und das Kreuz nicht kennt; denn jene begliickten Menschen leben in einem ewigen Frieden, es werden weder Kriege gefiihrt, noch gibt es religiose Streitigkeiten. Nur das letztere kann das Nichtkennen des Kreuzes bedeuten, was der Dichter ganz bestimmt durch die schon citierten Verse ausdriickt: Sie sahn den Kampf nicht und sein blutig Zeichen, Sie sehn den Sieg allein und seinen Kranz! Das Kreuz also, insoferne es als Symbol in Glaubenskriegen diente, in seinem Namen Lander verwiistet und Menschen getodtet worden sind, ist jener Generation der fernen Zukunft unbekannt; der Geist des Christenthumes aber, das Princip der Nachstenliebe, ist nach des Dichters Anschauung in jener Zeit des ewigen Friedens, des politischen und des confesionellen, erst recht. zum Siege durchgedrungen; daher heisst es: Ob sie’s auch kennen nicht, doch steht’s voli Segen Aufrecht in ihrer Brust, in ew’gem Reiz, Es bliiht sein Same rings auf allen Wegen. Vom Halbmonde ist naturlich in den funften Ostern keine Rede mehr, der ist langst von den Moscheenkuppeln herabgesturzt vvorden und langst schon herrscht nur das Christenthum. So endet also die Dichtung mit einer Verherrlichung des Geistes des Christenthumes, das dem Dichter im Einklange mit der Lehre der Kirche als die einzige Weltreligion, wenn auch erst in ferner Zukunft, gilt. Es bleibt nur noch ein Punkt zu erortern. Das ausgegrabene Schwert hilft, den Boden pflugen; das der Erde entrissene Kreuz wird im Garten auf- 27 gestellt imd von iippig rankenden Rosen iiber und liber bedeckt. K. Griin kann sich unter dieser »Verrosung des Kreuzes« nichts denken, obwohl, wie mir scheint, das Verstandnis dieser Stelle nicht schwer ist. In den schonen Stanzen, die, leider Fragment geblieben, Goethe unter dem Titel »Die Geheimnisse« in die Sammlung seiner Gedichte aufgenommen hat, lautet die neunte, auf Bruder Marcus beziigliche Strophe: Er fiihlet neu, was dort fiir Heil entsprungen, • Den Glauben fuh.lt er einer halben Welt; Doch von ganz neuem Sinn wird er durchdrungen, Wie sich das Bild ihm hier vor Augen stellt: Es steht das Kreuz mit Rosen dicht umschlungen. Wer hat dem Kreuze Rosen zugesellt? Es schwillt der Kranz, um recht von allen Seiten Das schroffe Holz mit Weichheit zu umgleiten. Und in einer spateren Strophe erblickt Marcus in dem grossen Saale, in welchen er gefuhrt. wird, wieder das von Rosen umwundene Kreuz. Das rosenumschlungene Kreuz, welches der zum Kloster kommende Bruder Marcus erblickt, ist das Symbol des Christenthumes, insoferne es das ascetische Element, das ihm nicht ursprunglich eignete, wieder abgestreift und den Cultus des Schonen in Natur und Kunst in sich aufgenommen hat. Nun ist es allerdings nicht nothig, bei Griin, wenn es sich um Rosen handelt, an ein fremdes Vorbild zu denken, aber in diesem bestimmten Falle mochte ich doch die Stelle bei Goethe zur Erklarung der Griin’sehen Dichtung heran- ziehen. Und wenn dies richtig ist, so kann der Gedanke des Dichters nur dieser sein: In jener fernen Zeit, welche durch politischen Frieden begluckt. ist und bei der allgemeinen Herrschaft des Christenthumes einen religiosen Hader nicht mehr kennt, hat sich das Christenthum auch mit der Idee des Schonen versohnt, wie es uns in der bliihenden Natur und den Werken der menschlichen Kunst, der bildenden und der Poesie, verkorpert entgegentritt. Fiir die richtige Deutung dieses Symboles spricht auch der Umstand, dass Griin im Gegensatze dazu noch im unmittelbar vorhergehenden Gedichte einen Monch auftreten lasst, der dem Cultus des Schonen feindlich gesinnt, ist. Dass auch der »Epilog« eine beweisende Kraft fiir die hier gegebene Auffassung der fraglichen Stelle bietet, davon wird noch weiter unten die Rede sein. 24 ) Die Idee der »Fiinf Ostern« ist demnach: Die Menschheit schreitet in ihrer geschichtlichen Entwick- lung einem begliickten, idyllischen Zustande entgegen, der, durch den allgemeinen Sieg des Geistes des Christenthumes herbei- gefiihri, durch einen ewigen Frieden erhalten wird und durch die intensive Pflege des Schonen ausgezeichnet ist. Die poetische Darstellung des Gedankens der »Fiinf Ostern« erscheint mir gleichmassig gelungen und des bedeutsamen Inhaltes wiirdig. Sollten 24 ) Einen verwandten Gedanken behandelt im »Vorspiel« (»Pfaff vom Kahlenberg«) die Stelle: Zum Schmerz nicht hat uns Christ befreit und in ausfiihrlicherer Weise der Abschnilt »Herbstgefiihle« gegen Ende derselben Dich¬ tung, wie denn uberhaupt Wigand den Gegensatz zu diesem dem Schonen abholden Monche im »Schutt« bildet. 28 einzelne Stellen besonders hervorgehoben werden, so halte ich die Aeusse- rungen des Juden, des Monches und die begeisterte Schilderung des begluckten Lebens der Menschheit in dcn fiinften Ostern tur besonders hervorragend. VI. Nach der Erorterung der einzelnen Theile unserer Dichtung mogen noch einige Worte liber die Gasammtcomposition folgen. Es ist ein streng ein- heitliehes Gedankengefiige, welches die ganze umfangreiche Dichtung zusammen- halt. Wenn wir die Deutung, welche den einzelnen Theilen fiir den Gesammt- zweck der im »Schul.t.e« zum Ausdrucke gebrachten Idee gegeben wurde, festhalten, dann konnen wir von Abtheilung zu Ablheilung eine stufenmassige Steigerung des Gedankens nachweisen, welche wohl auch fiir die Richtigkeit der Deutung Zeugnis gibt. Diese Steigerung ist folgende: »Der Thurm am Strande« behandelt nur ein vermeintliches Hindernis der menschheitlichen Entwicklung, es braucht daher auch nicht hinweggeraumt, zu werden; »Eine Fensterscheibe« fuhrt uns ein wirkliches Hemmnis voj’, das aber doch von der Menschheit, welcher Zeit, und Natur als Bundes- genossen zur Seite stehen, iiberwunden wird; im »Cincinnatus« zeigt der Diehter an dem Beispiele von Siiditalien, dass es Lander gibt, in denen eine traurige Vergangenheit, mit allen lebenskraftigen Culturkeimen tabula rasa gemacht hat, wofur aber, wie zum Ersatze, der vorwartsstrebenden Menschheit sich eine neue Heimat in Amerika darbietet, in der die Pflege der Cultur eine Statte findet; endlich wird in den »Fiinf Ostern« an dem besonders pragnanten Beispiele Palastinas und Jerusalems der schbnen Ploffnung Aus- druck gegeben, dass einst iiberall die idealen Ziele der Menschheit. zur Reife gelangen werden. Alle Einrichtungen und Verhaltnisse, welche die Menschheit auf der Bahn ihrer Fortentwicklung zu hemmen versuchen, verfehlen ihres Zweckes und bleiben sehliesslich als »Schutt« zuriick, daher der Gesammttitel der Dichtungen. Als Endziel der menschheitlichen Entwicklung erscheint also Griin der politische und kirchliche Friede, herbeigefuhrt durch den Sieg des christlichen Geistes und verklart durch den uneingeschrankten Cultus des Schonen. Auf das letztere bezieht sich auch der »Epilog« des »Schuttes«, von welchem sowie von dem einleitenden Gedichte noch kurz gesprochen werden muss. Das letztere holt etwas weit aus. Einst ruhten der Osten und der Westen als liebendes Zwillingspaar in einer Wiege. Voli Grimm sieht dies Ahriman und schvving! seinen Zauberstab. Um sie zu trennen, schleudert. er zwischen sie die Kette der Berge, lasst dichte Luft niedersinken und giesst das weite Meer aus. Als Ormuzd dies sieht, winkt er mit der Zauberruthe. Da schifft die Liebe lachelnd von Osten nach Westen, im Osten saugt der Menschengeist Bliitenduft und Thau ein und fliesst als milder Regen im Westen nieder. Phantasie zieht eine Brucke von Osten zum Westen und durch das weite Meer wogt der Kahn des Liedes. Der Gedanke ist klar, wenn wir auch die Einkleidung desselben nicht besonders gelungen nennen konnen. 25 ) Den geistigen Zusammenhang der 25 ) Vielleicht wollte Griin schon durch diese symboiische Einkleidung darauf hin- we.isen, dass das Schleehte nichts Urspriingliches, nichts Positives sei. Zwar hat Ahriman alles Schleehte ins Leben gerufen; »aber er ist dennoch ohne selbstandige Schopferkraft«. M. Duncker, Gesch. d. Alterthums (4. Aufl.), IV., 117. 29 Menschheit im Osten und Westen des atlantisehen Oceanes geigt uns das einleitende Gedicht symbolisch, der »Cincinnatus« verwirklicht.. Anders sieht es mit der Realisierung des im »Epilog« dargestellten Gedankens aus. Ueber dem Schutte des Vesuv (dies der Inhalt des Epiloges) wachsen die kostlichen Lacrimse Christi und zu Worms an Stelle eines verbrannten Klosters die nicht minder edle Liebfrauenmilch. Die Reben des Siidens und des Nordens mogen ihre Ranken ineinander schlingen. Griin fordert die Dicht.erfreunde auf, in der so gebildeten Laube munter mit ihm von den Reben zu keltern. Oeffne, Laubgewinde, die Halle ein wenig fur die Aussicht, dass wir die Saaten, Dorfer, Strorne, Meere, Burgen sehen. Im Winde krauselt. sich das Laub; moge es einst wie ein frisches Laubessauseln auch durch unsere Lieder wallen! Im engen Vereine wecket, o Freunde, die jungen Keime im Boden, dass sie friiher zu treiben beginnen, und lasset Gesange ertonen, dass die Rosen in den Tiefen friiher erweckt werden. Und so sinken wir einst von Bliiten umlacht und von Zephyren umspielt mit sussen HoiTnungen in die Rosen. Dass zwischen dem einleitenden und dem Sehlussgedichte ein Gedanken- zusammenhang bestehe, kann nicht zweifelhaft sein. In beiden Fallen handelt es sich um eine innige Vereinigung, Verschmelzung. Wahrend aber die Ver- bindung des Ostens und Westens — Europas und Amerikas — bereits voll- zogen ist, harrt die zwischen dem Siiden und Norden nach des Diehters Anschauung noch ihrer Verwirklichung. Die befreundeten Poeten werden aufgefordert, im engen Ansehlusse aneinander fur die Erreichung dieges Zieles ihre dichterische Kraft einzusetzen, damit sie die in der Tiefe ruhenden Keime der Rosen zu einem frtihen Leben ervvecken; der Erfolg wird diesen Be- miihungen nicht fehlen, wie ja die Poesie auch das Ihrige dazu beigetragen, die Verbindung des Ostens und Westens herbeizufiihren. Was kann nun der Siiden, speciell Italien, dem europaischen Norden bieten? Den Sinn fur die Pflege des Schonen, der die griechische und we- nigstens zum Theile die von dieser abhangige romische Cult.ur durchzieht und beherrscht.. 20 ) Fiir die Verbreitung des Verstiindnisses des Schonen mogen besonders die Dichter thatig sein, sie mogen den Lichtseiten des Natur- und Menschenlebens ihre Štolfe entnehmen und so beschleunigen helfen, dass — auch aui Schlusse des Epiloges fehlen die Rosen nicht — das Kreuz auf Golgatha von iippig bliihenden Rosen umschlungen werde. Griin selbst, konnen wir hinzufiigen, hat durch den »Schutt« und seine Dichtung iiberhaupt ein glanzendes Beispiel hiefiir gegeben, wie er denn seinem Eide treu geblieben ist: Dem Wahren, Rechten, Schonen Zum Bannei’ treu zu stehn! Kann ich zu den Besten nicht klimmen, Doch nie mit den Schlechten zu gehn! Es ist wahr, die Menschheit wird nie vollig das Ideal erreichen, das uns Griin als den Siegespreis ihres Miihens und Strebens in den fiinften 2e ) Ein ahnlicher Gedanke klingt wieder in dem GedicMe »Pinie und Tanne«, das aus dem Jahre 1835, also demsellien, in vvelchem der »Schutt« erschien, stamrnt und symbolisch Friede und Freundschaft zwischen den Deutschen und den ttalienern wiinscht. Auch ist nach einer Bemerkung von Schwab (Heidelberger Jahrbucher 1836, pag. 486) der» Epilog«, wie der grosste Theil des »Schutt« iiberhaupt, nach einer Reise durch Italien gedichtet. Vergl. oben p. 11. 30 Ostern verwirklicht schildert. Aber als Ziel karm es uns doeh vor Augen schweben, und fur die Annaherung an dasselbe kann und soli auch jeder in seiner Sphare seine Krafte einsetzen. Niemand nimmt Anstoss daran, wenn uns ein Dichter das verlorene goldene Zeitalter, dessen sich die Menschheit im Kindesalter erfreute, poetisch vor Augen fiihrt, und doch belehrt uns die Wissenschaft, dass sich die Menschheit iiberall aus den niedrigsten, rohesten Anfangen zur jetzigen Cultur emporgearbeitet hat.. Von da an zeigt. uns aber die geschichtliche Entvvicklung der Menschheit im grossen Ganzen eine auf- vvartsstrebende Bewegung, und es entspricht demnach der historischen Wahrheit, mehr, das goldene Zeitalter in die Zukunft zu verlegen, dem wir wenigstens naher kommen konnen, als ihm die Menschen im Urzustande jemals waren. So sagt. die Prinzessin im »Tasso«: Mein Freund, die gold’ne Zeit ist wohl vorbei: Allein die Guten bringen sie zurtick; Und soli ich dir gestehen, wie ich denke: Die gold’ne Zeit, womit der Dichter uns Zu schmeicheln pflegt, die schone Zeit, sie war, So scheint es mir, so wenig als sie ist; Und war sie je, so war sie nur gewiss, Wie sie uns immer rvieder werden kann. Das Utopische an dem Bilde der fiinften Ostern ist. doeh vor allem die Voraussetzung eines ewigen Friedens, dessen sehnsuchtiges Verlangen aber der menschlichen Seele nicht fremd ist; denn das hoffen wir gewiss alle mit dem Dichter, dass der confessionelle Hader ein Ende nehme, der Geist des Christenthumes auf der ganzen Erde siege und sich mit ihm auch der Cultus des Schiinen untrennbar verbinde. 27 ) Derartige Gedanken aussern Schiller, Goethe, Lessing; beziiglich des letzteren sei auf die Schlussworte der schonen Abhandlung: »Wie die Alten den Tod gebildet«, hingewiesen. Und was konnen wir uns Herrlicheres fur die Zukunft vviinschen, als die innige Durchdringung des durch das Christenthum und Germanenthum vertieften Gemiithslebens und des griechischen Schonheitscultus? 2S ) Da nun der Dichter als Ziel der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit den dereinstigen Eintritt des goldenen Zeitalters hinstellt, so ist der Schluss der Dichtung idyllisch, im Sinne Schillers, d. h. Ideal und Wirk- lichkeit als versohnt darstellend. Schiller legi. das vvahrhaft Idyllische nicht in die Schafer- und Hirtenwelt, sondern in den Gipfel menschlicher Ent- wicklung. »Treibt ihn (den Poeten) der sentimentalische Dichtungstrieb zum Ideale, so verfolge er auch dieses ganz in volliger Reinheit und stehe nicht eher als bei dem Hochsten stille, ohne liinter sich zu schauen, ob auch die Wirklichkeit ihm nachkommen mochte. Er mache sich die Aufgabe einer Idylle, _welche mit eine m Wort den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Ar kadi en zuriick kann, bis nach Elysium fuhrt. Der Begriff dieser Tdylle_ist das Ideal der Schonheit, auf das wirkliche Leben angewendet.« 20 ) 27 ) Weiter ins Detail binein durfen freilich die Consequenzen jenes Zustandes nicht gezogen vverden, weil die allgemeine Gliickseligkeit, der Mangel jedes Kampfes, der die Krafte zur Entfaltung bringt, uns anspannt, den geistigen Tod nach sich ziehen musste. 28 ) Wenn Fichte in semen Vorlesungen iihei' die Grundziige des gegen- wartigen Zeitalters an das Ende der Geschichte als fiinftes Zeitalter das goldene setzt, so steht damit der Inhalt unserer Dichtung wohl in keinem inneren Zusammenhange. 29 ) Ueber naive und sentimentalische Dichtung. 31 Die »Spaziergange eines Wiener Poeten« haben es hauptsachlich mit der Darstellung des Negativen zu thun, obwohl an mehreren Stellen die Hoffnung des Dichters durchleuchtet, dass die Zukunft bessere Zustande her- beifiihren werde. Der »Schutt« bedeutet schon inhaltlich einen grossen Fort- schritt. gegeniiber den »Spaziergangen,« denn hier handelt es sich um die Darstellung des Wahren und Schonen als des Positiven, dem gegeniiber alle verkehrten Einrichtungen als Ruinen und Schutt bezeichnet werden. 30 ) Die gesunde innere Natur des Dichters ist dem Positiven zugewendet und sieht in dem, was der Verwirklichung der menschheitlichen Ziele entgegensteht, nichts Dauerndes, nichts Reales. Die ganze Auffassung, welche Griin in der besprochenen Dichtung iiber die Entwicklung der Menschheit symbolisch zum Ausdrucke bringt, ist vorn Geiste Spinozas getragen, dem die Unwahrheit in einem Mange! an Kenntnissen besteht, der dem Schlechten die Realitat ab- spricht und alles Handeln und Denken nach strengen Gesetzen wie mit Naturnothwendigkeit sich vollziehen lasst. Unter allen Umstanden aber muss die feste Ueberzeugung, der klare und bestimmte Gedankengang, der un- erschiitterliche Glaube an den Sieg der geistigen Krafte ungetheilte Bewunde- rung fur den jungen Dichter erwecken, der im Alter von 29 Jahren diese festgefiigte Dichtung veroffentlichte, deren Conception demnach noch in eine etwas friihere Zeit zuriickverlegt werden muss. VII. Der Gedanke von der fortschrittlichen Ent.wicklung der Menschheit, welcher im »Schutt« durehgefuhrt ist, findet sich auch sonst in der Dichtung Griins. Dieser Fortschritt wird dem Dichter zufolge durch die Macht, welche den Ideen selbst innewobnt, bewirkt und fuhrt zu einer sittJichen und asthe- tischen Lauterung des Menschengeschleehtes. So verleiht der Dichter im »Prologe« zu den Gedichten der Hoffnung Ausdruck: Es werde unsres Daseins Bliite In einem neu’n Geschlecht sich jiingen, und fugt hinzu: Doch wiirden, wend’ es Gott! die Soline Nicht edler als die Vater wieder, Dann sind sie unsrer Schmerzenstdne Nicht wert und unsrer Kampfeslieder. Der Anblick eines Schwanes, der ruhig durch die Wellen steuert, ent- lockt ihm am Scblusse des Gedichtes »Seebild« folgenden Gedanken: Ueber dem Wellenspiel der fliehenden Stunde, Ueber den Volkertrummem und Zeitenschutte, Ueber den Urnen aschegewordener Herzen Zieht der Wahrheit ewiger Lichtgedanke Unaufhaltsam die Bahn in beseligter Ruhe, An der Weltenuhr der weisende Zeiger, In der Erdennacht die strahlende Leuchte, Hell und rein, wie du, sein liebliches Sinnbild. 30 ) Bezeichnend hiefiir ist das Gedicbt »Die Ruinen« (in den »Spaziergdngen«), Der Dichter sieht in demselben aus den im Traume geschauten Trummern Wiens kein neues Leben hervorspriessen — der gerade Gegensatz zur Tendenz des »Schutt«. 82 Im »Kelterspruch« (zu Ende des »Pfaff vom Kahlenberg«) preist Wigand die Natur, die trotz alles Wechsels und aller Veranderung sieh ewig treu und gleich bleibt.; er fahrt dann fort: So bleibt auch eins untl ungeschwacht Ein ewig Gutes, ewig Wahres, Ein Heiliges, allen Seelen Klares, Ein unzerstorbar ewig Recht. Das keine Menschensatzung wende, Vom Weltbeginn zum Weltenende! An dem Umvandelbaren gleiten Voriiber wechselnd Volker und Zeiten, Doch aufrecht von Geschlecbt zu Ueschlecht, In kiinffgen, in verganghien Sonnen, Ragt als ein heiliger Baum das Recbt. Niemand ist. im stande, der Macht der Ideen dauernd Widerst.and zu leisten (s. das fiinfte Gedicht im »Thurm«), ebensowenig niilzt es aber, auf gevvaltsame Weise das Reifen derselben herbeifubren zu \vollen, bevor noch die Zeit der Erfullung gekommen ist. In diesem Sinne sagt, der Dichter in der »Weinlese« (im »Pfaff«): In Herzen lceimen tief und stili Und lang und stili in Geistern reifen Muss alles, was die Welt ergreifen, Die Menschheit tief erquicken will. Aehnlich heisst es am Schlusse der »Fensterscheibe« von den schonen, froh- licben Liedern, die ein spaterer Dichter singt.: Wie einst in meinem Herzen schon sie keimten Und drin den Traum der Auferstehung traumten! Diese Anschauung liber die zvveifellose, aber langsame Realisierung der Ideen finden wir auch in den Briefen Griins ausgesprochen: Dichter, Mensch und Politiker decken sich bei ihm. So schreibt er am 20. Dezember 1849 dem frtiheren Reiehsrathsabgeordneten Kolatschek, der ihn aufgefordert hatte, an der republikanisch gehaltenen »Deutschen Monatsschrift« mitzuarbeiten: »Die grossen geistigen und sittlichen Guter des Volkes konnen nur auf gei- stigem und sittlichem Wege dauernd errungen und erhalten werden.« 31 ) Namentlich bedeutsam fiir die Beurtheilung der Personlichkeit Griins ist seine vor wenigen Jahren veroffentlichte Correspondenz mit Bauernfeld. 3a ) In den Briefen an den vertrauten Freund erweist. er sich durchaus als Anhanger ruhiger, besonnener Reformen, schon aus dem Grunde, weil sonst eine gewaltsa,me ExpIosion, eine Revolution zu besorgen ist, denn die Ideen ringen wie mit elementarer Naturgewalt nach ihrer Verwirklichung. Mit Recht konnte er von sich sagen: »Meine Losung war und blieb jederzeii: Das Licht, nicht der Brand! die Bewegung, nicht der Sturm! der Bau, nicht die Zerstbrung!« 33 ) Deshalb verurtheilt, Griin die Wiener Mai-Revolution und selbstverstandlich 3I ) K. Griin in der Beilage zur »Augsb. Allg. Zeitung«, l. Dezember 1876. 3Ž ) In der Monatsschrift »Nord und Siid«, Septemberheft 1877. 3:l ) Brief an S. Brunner, »Nord und Sud«, p. 396. 33 den Oktobermord uncl verliess nach der Ermordung Lichnowskys und Auers- vvalds Frankfurt. Auf die Wiener Oktobertage bezieht sich die Stelle in dem Briefe vom 30. November 1848: »Der Kampf der physischen Gewalten hat begonnen; die letzten Friichte dieses Kampfes diirften schwerlich neue Er- rungenschaften der Freiheit, Bildung und Humanitat. sein.« 34 ) Als nothwendige Voraussetzung fiir den Sieg dieser Ideen gilt Griin die Durchbildung der Massen, da er ohne Bildung, Sitllichkeit und Gerechtigkeit keinen Fortschrit.t kennt. Daher schreibt er am 16. Februar 1849 seinem Freunde: »Aber ich kenne nur eine Freiheit auf den Grundlagen der Bildung, der Sitllichkeit, der Gerechtigkeit und will in dieser Hinsicht gern den Zopf des Altliberalismus tragen.« 35 ) Denn nur fiir jene Freiheit tritt. er ein, »die mir mit dem unantastbaren Rechts- und Sittengesetze zusammenfallt.« (Brief vom 30. November 1848. 3S ) Ferner interessiert uns hier folgende Stelle aus einem Briefe vom Jahre 1850 an Bauernfeld: »Aus diesen Misstanden ffiefreit uns nur die Durchbildung und Versittlichung der Massen oder ein einzelner grosser Mann, mag er immerhin ein Despot sein, — die wahre Grosse iibt ja dureh ihre Unwiderstehlichkeit immer ein gewisses Mass despo- tischer Kraft aus. In Erwartung der letzteren Chance lass uns einstweilen an der Moglichmachung der eksteren arbeiten, jeder nach Thunlichkeit in seinem Kreise und mit den zugebote stehenden Kraften.« 37 ) Wenn alle Seelen voli der Stralile, Dann ist gefiillt des Heiltranks Schale. 88 ) Wir sehen, es beriihrt sich obige Aufforderung mit dem Inhalte des Epi- iogeszum »Schutt«,in welchem sich der Dichter ebenfallsan die Freunde wendet, gleich ihm fur die Herauffuhrung der fiinften Ostern, wozu die sittliche Durch¬ bildung der Massen die erst.e Vorbedingung ist, poetiscli zu wirken. Aehnlich ruft Griin in dem Gedichte »Die Einsamen« den Dichtern zu, ein »Wall von Felsen« zu sein, Der als Damm, gar stolz und fest, Von dem Meere der Gemeinheit Sich nicht untei'wiihlen lasst! Es ist wieder im Sinne Schillers, wenn Griin die befreundeten Dichter auf- fordert, vor allem das asthetische Ideal darzustellen. Die geistige Hebung der Massen ist aber notlnvendig; denn, schreibt Griin am 3. Februar 1849 an seinen Freund: »Die geistige Unfahigkeit und sittliche Verwilderung der Massen gibt ein schlechtes Material fiir den neuen Staatsbau.« 30 ) Dass endlich der Politiker Anton Graf Auersperg in seiner parlamen- tarischen Thatigkeit almlichen Ansichten huldigte, darauf soli hier nur hin- gedeutet werden, um das Bild der einheitlichen Abgeschlossenheit., welches uns Griin zeigt, nicht nach dieser llichtung hin unbegrenzt zu lassen. 34 ) A. a. O. p. 387. 3!> ) A. a. O. p. 392. 30 ) A. a. O. p. 386. 37 ) A. a. O. p. 400. 36 ) »IVeinlese« im »Pfa/T«. 39 ) A. o. O. p. 388. 8 34 VIII. Nachdem bisher die Aufmerksamkeit der Idee des »Schutt« zugewendet worden ist, sollen im Folgenden einige Bemerkungen angereiht werden, welche sich mehr auf das Detail der Dichtung und den Stil beziehen, zum Theile mit Riieksichtnahme auf andere Werke Griins. Gelegentlich der Besprechung der serbischen Volkslieder ausserte Goethe zu Eckermann: »Dass aber die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichtes in der Situation, in den Motiven besteht, daran denkt, niemand. Und aus diesem Grande w er d en denn auch tausende von Gedichten gemacht, wo das Motiv durchaus nuli ist und die bloss dureh Empfmdungen und klingende Verse eine Art von Existenz vorspiegeln.« 40 ) Wenden wir diese Worte auf den »Schutt« an, so werden sie zu einem unbedingten Lobe desselben; denn den Štolf zu dieser seiner bedeutendsten Dichtung hat Griin vollstandig aus seiner Phantasie geschopft, und es ist schon bei der Besprechung der einzelnen Absehnitte auf besonders hervor- ragende Situationen hingewiesen worden, so dass hier nicht weiter davon zu sprechen ist. Wenn allgemein die theilweise Nachahmung Heines in den »Blattern der Liebe« hervorgehoben wird, wenn J. Schmidt betont, dass Griin es wagte, »die Romantik auch im Sonnenschein zu suchen«, wenn Gottschall sagt, dass Griin ein moderner, ja unser erster wahrhaf't moderner Dichter ist, so wird dies alles zugegeben werden miissen. Griins Ueberzeugung und Poesie vvurzelt im Boden der Gegenwart, aber trotzdem verleugnet er nicht allen Zusammen- hang mit der vorausgegangenen Romantik, deren Herrschaft in seinen Jugend- jahren freilich schon sehr erschiittert war. Auf diesen Zusammenhang deutet seine Vorliebe flir das Allegorische und Symbolische, das in seiner ganzen Dichtung eine so bedeutende Rolle spielt und namentlich auch dem ganzen »Schutt« zugrunde liegt. Ist doch nach A. W. Schlegel 41 ) alles Dichten ein ewiges Symbolisieren, und ahnlich sagt Fr. Schlegel: »Alie Schonheit ist Alle- gorie.« 42 ) So ist namentlich bezeichnend Griins Auffassung der Natur, die er in allen Theilen beseelt und im ganzen formlich als Symbol des mensch- lichen Handelns darstellt, wie es gerade auch im »Schutt« der Fali ist. Ausserdem finden wir bei Griin mehrfach Anklange an romantische Stoffe und romantische Darstellungsweise, und zwar in seinen friihesten wie in seinen spateren Dichtungen. Aus der Abtheilung »Lieder aus dem Gebirge« sind das scherzhaft humoristische »Elfenleiden« und das sinnige Gedicht »Elfe und Kobold« hier zu nennen; ebenso fiihren uns einige Romanzen in die Welt der Elfen und Kobolde ein, so : »Elfenliebe«, »Elfenkonig 0’Donoghue«, »Hausgliick«, »Ein Marchenerzahler in Irland«. Lieblich ist die Schilderung des Elfentreibens im Walde in den »Nibelungen«, mehr humoristisch die Dar- stellung des Schaffens der Kobolde im Berge in derselben Dichtung. Roman- tiseh ist der Stoff der Romanze »Die beiden Sangerheere«, der Inhalt der »Alpengeister« im »Pfaff« etc. So ist auch im »Schutt« das Marchen von der Entstehung der Sterne, die Ausstatt.ung des Feuergeistes des Vesuv mit 40 ) Goethe bei Eckermann (3. Aufl.), I., 132. 41 ) Haym, die romantische Schule, p. 773. 42 ) Haym p. 691. 35 menschlicher Leidenschaft in hohem Grade romantisch, wie denn iiberhaupt die Bilder von dem verschiitteten Pompeji nicht das Geprage der classischen Objectivitat des SehilleFschen Gedichtes »Pompeji und Herculanum«, sondern romantisches, von den Re(lexionen des Dichters in ihrem Charakter bestimmtes Colorit an sich tragen. Da Griin sein eigenes Diehten und Streben in die Natur hineintragt (der Winter ist ihm ein »Erzdespote«, der Friihling ein »Freiheitsheld« 43 ), so kann es uns auch nicht befremden, dass er nach Weise der Romantiker die todte Natur belebt und sogar spreehend einfiihrt. Es reden im »See- marchen« Welle, Wind, Fels undAnker; in der Romanze »Vogel und Wan- derer« singt ein Voglein von der Schonheit der Welt; Schwan, Nachtigall und Schwalbe sprechen in »Heimliche Liebe«; in »Friihlingsbotschaft« (im »Letzten Ritter«) bringt ein Voglein dem gefangenen Maximilian die Kunde von der bevorstehenden Befreiung u. s. w.; des Guten zu viel auf dem Gebiete des Romantischen leistet der Schluss der Nibelungen: »Eine Vision. Die Saiten klingen aus.« Von dieser romantischen Zungenlosung der Natur finden wir einige Proben auch im »Schutt«. Im ersten Cyclus schleudern Kette, Quadern, Bettdiele, Lerche und das Herz des Gefangenen den venetianischen Machthabern heftige Vorvviirfe entgegen; das Voglein, das sich auf das Fenster des Thurmes setzt, fiihlt Erbarmen mit dem Gefesselten. In der »Fenster- scheibe« werden der Aehre und der Rebe, welche die Monstranze schmiicken, Gedanken beigelegt; nachdem die Geister der verstorbenen Monche und Kunstler den Grabern entstiegen sind, wird der Mond redend eingefiihrt; in dem folgenden Gedichte wendet sich das grosste der Klosterfasser an die kleineren mit einem Selbstbekenntnisse. Im »Cincinnatus« macht die Mauritia- Palme selbst die Auswanderer mit ihren zahlreichen Vorziigen bekannt; im ersten Gedichte der »Fiinf Ostern« beklagt der Kedron sein und Jerusalems trauriges Geschick. Eine der schonsten Seiten der Grunlschen Lyrik ist die Verherrlichung der Natur. Alle grosseren und eine sehr bedeutende Zahl seiner kleineren Gedichte konnten zum Zeugnisse hiefur angefuhrt werden; beschriinkt doch »Der letzte Dichter« den poetischen Stoff wesentlich auf den Preis der Natur! Griin selbst theilt uns in der Einleitung zu den Liedern von Robin Hood mit., was ihn aus den Kampfen des Lebens immer wieder zur Natur hinzieht; er sagt: »Aber auch die Neuzeit kennt inmitten ihrer kampfenden Gegensatze noch immer jenes unwiderstehliche Verlangen . nach einem Momente der Selbstsammlung und Erfrischung, nach einem, wenn auch nur augen- blicklichen Ruhepunkt und Hall, vvelchen ihr das nach ewig unveranderlichen Gesetzen sich bewegende Leben der Natur in seiner Ruhe, Klarheit und Steligkeit zu bieten vermag.« Es ist nur eine Steigerung derselben Auffassung der Natur, wenn der Dichter im ersten Liede des »Schutt« singt: Zur Menschensaat des Hasses pflanzt versohnend Natur so gern den Frieden und die Liebe. So spielt denn auch im »Schutt« die Natur eine sehr bedeutsame Rolle, so dass von einem der friihesten Kritiker unserer Dichtung dieselbe wesent- lich als Preis der unermiidlich schaffenden schonen Natur aufgefasst. werden 43 ) »Sieg der Freiheit« (in den »Spaziergangen«), 3 * 36 konnte. 44 ) Immer hebt. Griin an der Natur die erzeugende, nicht aber die zerstorende Thatigkeit hervor, immer die heiteren, nicht. die diisteren Seiten, allen Jahreszeiten weiss er die charakteristischen Reize abzugewinnen, ganz im Gegensatze zu Lenau; daher sagt Wigand: Natur ist Freude, Glanz umi Licht! Dem Tod tritt sie mit Bliih’n entgegen, Der Trauer mit dreifachem Segen, Dem Welken mit urewigem Leben; Schonheit ist selber ihr Schmerzensk]'ampf. Ein Lacheln selbst ihr Todeskampf. 45 ) Dagegen ist ein anderer hervorragender Charakterzug der Griin’schen Muse, der Humor, im »Schutte« wenig vertreten. »Eine Fensterscheibe« enthalt im achten Gedichte die humoristische Zeile: O Mensch, du kennst jetzt wahrlich nicht die Stunde. Humoristische Wendungen fmden wir in der Sehilderung der Parade, welche liber die Miliz in Pittsburg abgehalten wird, im Monologe des Lazzarone. Der hohe Ernst, mit, dem der Dichter seinen Stoff behandelt, lasst fiir diesen Zug wenig Raum. Wohl aber enthalt der »Schutt« einige scharf-sarkastische Stellen, an denen es iibrigens auch in den anderen Diehtungen Griins nicht fehlt: so im ersten, eilften und zwolften Gedichte der »Fensterscheibe« und im Monologe des Juden in den »Fiinf Ostern«. In den poetischen Werken Griins kommt an vielen Stellen die patriotisch- vaterlandische Gesinnung des Dichters zum Ausdrucke. Wiederholt besingt er die Schonheit Oesterreichs mit begeisterten Worten, preist die Treue und Er- gebenheit der Bewohner des \veiten Reiches zu dem angestammten Kaiser- hause, verherrlicht, wi.e im »Prinz Eugenius«, Ruhmesthaten aus der Ge- schichte unseres Staates, aussert, seine innigsten Wiinsche fiir das Gedeihen Oesterreichs auch in Gedichten, die, wie der Festgesang »An Franz Grillparzer«, an eine einzelne Personlichkeit gerichtet sind. Tm »Schutt«, dessen Inhalt, sich auf die Entwicklung der ganzen Menschheit bezieht, kommt freilich diese patriotische Gesinnung nicht \veiter zum Durchbruche, doch verrath sie sich wenigstens an einer Stelle. Im dritten Gedichte des »Cineinnatus« fiihrt Griin den Leser in das Tnnere eines amerikanischen Ilauses, und da heisst es; Drin griiss’ ich, beimisch Larenpaar, dein Bild, Dich grosser Fritz, dich Josef, weis’ und miki! Die Stelle ist um so bezeichnender, wenn wir bei Kapp 40 ) beziiglich der Aus- wanderer lesen: »Friedrich der Grosse war einer der popularsten Manner der deutschen Bauern. Sein Bild hieng in den Wirtszimmern, sein Name wurde in den Kalendern, in der Sauer’schen Zeitung verherrlicht« etc. Griin konnte es sich nicht versagen, neben Friedrich auch Josef II. zu nennen. 4l ) W. Haring in den »Blatterr. fiir literarische Unterlialtung« 1835. 45 ) »Herbstgefiihle« im »Pfaff vom Kahlenberg«. 46 ) Deutsche Rundschau p. 92. 37 Der Stil Griins ist bekanntlich charakterisiert durch blendenden Reich- thum des Colorits, durch eine Fiille von Bildern, durch Vorliebe fiir Gleich- nisse, durch den Gcbrauch von schwerwiegenden, zusammengesetzten Sub- stantiven und Adjectiven. Dabei fehlt es stellenvveise auch nicht an Ueberladung, an weniger passenden Gleichnissen, an minder gluckliehen Zusammen- setzungen. Proben fur das Gesagte epthalt auch der »Schutt«. Namentlich die beiden letzten Abtheilungen zeigen einen iibergrossen Reichthum an zusam¬ mengesetzten Adjectiven und Substantiven, am einfachsten ist der Stil im »Thurm«. Hervorragend schone Gleichnisse und Bilder sind 47 ): Die Zeit wird verglichen mit einem Falken, der einst. mit rauschendem Gefieder uber dem Gefangenen flatterte, dann aber mit durehšchossenem Fliigel matt beim Kerker niedersank (p. 214); Erinnerung leuchtet dem Greise um das Haupt, Wio durch der Darnm’rung Grau Nachglanz des Tages (p. 226); die auch von Gottschall speciell hervorgehobene Vergleichung eines rein ab- stracten Glaubens mit einer einsamen Pyramide (p. 237); als das Licht der ewigen Lampe im Dome zum letztenmale aufflackerte, schien es dem Diehter, als ob des Domes Seele stili entsehwebte (p. 261); wie schnell in Amerika die Stadte entstehen, zeigt uns der Diehter htibsch dadurch, dass der Dam- hirsch am Stadtbrunnen die Quelle sucht, die ibn gestern noch im Walde getrankt bat (p. 269); das Kreuz ragt von den Kuppeln des Domes in Jeru- salem, die Kreuzfahrer tragen es am Busen: O dass auch er ein Dom des Gottes sei! (p. 323); den um die heiligen Statten hadernden Vertretern der christlichen Gonfes- sionen ruft Gott entgegen: Wisst, dass der Erdball rings zu mir die Stufe Und meine Pforte rings die weite Welt! (p. 337). Die angefuhrten Stellen, welche leicht vermehrt werden konnten, mogen ge- niigen. Dagegen fehlt es freilich auch nicht an Bildern und Gleichnissen. welche minder gelungen, zum Theile geradezu unpassend sind. Z. B.: Der gefangene Diehter wird mit einem schlechten, verrenkten Verse verglichen (p. 200); das Lied des Dichters soli zum Epheu werden und zum Fenster emporklettern (p. 232); die Becher vverden mit Panzern todter Helden verglichen (p. 236); Ouartanten prangen gleich Leichensteinen, an denen sich Spinnennetze gleich Todten- hemden angesetzt haben (p. 257); der Russ an der Lampe erinnert den Diehter an die Ehrennarben an Kriegerkopfen (p. 305); Titus erhalt die Bezeichnung »ein Neptunus der Zerstorung« (p. 319); eine verfallene Burg wird eine Puppe genannt, die aber vielleicht einmal als Rebengarten schone Falterflugel schmueken (p. 349). Nicht immer ist der Gegenstand der Vergleichung des Verglichenen wiirdig, der Diehter halt mitunter die Einheitlichkeit des Bildes nicht lest, hie und da ist der Gegenstand der Vergleichung unsinnlicher Art. Fur letzteres diene als Beispiel aus den »Funf Os ter n«: Der Kedron seufzt lT ) Die folgenden Stellen sind zur Ersparnis des Raumes nach der Seitenzahl in der Gesammtausgabe der Werke Griins citiert; der »Schutt« ist im dritten Bande abgedruckt. 38 »wie eines Dichters Leichenklage« (p. 318); Gesteine und Leichen liegen »wie des Gottesfluches Worte« (p. 319); den Schutt iiberdecken griine Triften, Gleichwie ein stilles freundliches Vergessen Sich senkt auf dunlder Tag’ uraltes Leid (p. 341). Dazu kommt die Haufung von Gleichnissen: Dem Dichter erscheinen die weissen Haare des Monches wie Silberschilde, dann wie weisse Wellen, die ein schroffes Inselhaupt umfliessen (p. 235); im »Cincinnatus« sieht er den Springquell als Schnee »millionenflockig« fallen, gleich einer Trauerweide aus Silberzweigen; im letzteren Beispiele ist auch gegen die Einheitlichkeit des Bildes verstossen. Mitunter gibt ein einzelnes Wort dem Dichter Veranlassung zu einem allzu weit ausgefiihrten Gleichnisse, so dass dann auch forcierte Ziige nicht fehlen. So vergleicht, er ein vom Winde bewegtes Garbenfeld mit einem wogenden Meere, in der folgenden Strophe sind ihm schon die Sicheln Silberkahne, die dieses Meer befahren, die Schnitterinnen erscheinen ihm als Dienerscharen der Meeresgottin (p. 212); der Ausdruck »Schanze fiir die Glaubensstreiter«, welchen Griin fiir das KI oster gebraucht., verleitet ihn dazu, in vier Strophen dieses Gleichnis weiter auszufiihren (p. 230); dureh das Wort »bombenfest« werden die nicht besonders gliieklichenWendungen »Geschiitz des Witzes« und »des Lachens Erdebeben« veranlasst (p. 240); die Bezeichnung »Urwaldsforum« fiir das dureh die Ausrodung des Waldes gewonnene Feld zieht neun Strophen nach sich, in welchen die Vergleichung des Pflanzers mit einem siegreichen Feldherrn durchgefuhrt wird (p.276); dasWort»Wieglein« ruft die Vorstellung von Pathe und Amine hervor, der Dichter macht die Riffe zu Pathen und das Meer zur Amme und nach einigen Strophen \vird der Klang der Glocken und der Glanz der Falter als Angebinde des Kindes bezeichnet (p. 296); Jerusalem wird die Konigin der Stadte genannt, das Bild in seehs Strophen ausgefiihrt und dabei die Sohne und Tochter des Landes »als ihre beiden lichten, schonen Augen« bezeichnet (p. 319). Uebrigens sind die hier erwahnt,en Mangel Grun’scher Darstellungsweise nicht dem »Schutt« speciell eigenthiimlich, sondern finden sich auch sonst in seinen Werken: es wurde zu weit fiihren, analoge Wendungen aus anderen Gedichten zu citieren. Das sind freilich Beispiele, welche von Mangel an »Elasticitat der Ge- staltung« Zeugnis geben, bei solehen Stellen wird wohl der Verstand an- geregt, aber das Gemuth geht ziemlich leer aus. Diesbeziiglich gelten auch fiir Griin die Worte, welche Lessing in der »Hamburgischen Dramaturgie« anlasslich der Besprechung der Merope des Maffei zur Charakterisierung des Stiles dieses Dichters gebraucht: »Sein Ausdruck zeigt von mehr Phantasie als Gefiihl.« Uebrigens darf man bei Griin nicht allzu schnell aburtheilen; gar manehes Bild, welches beim ersten Anblicke unpassend scheint, erweist sich bei wiederholtem Lesen als gelungen. Endlich moge hier noch auf zwei Eigenthiimlichkeiten Griins in for- meller Beziehung hingewiesen werden, namlich auf den ungerechtfertigten Zeitenwechsel und die nicht immer geniigend motivierte Vorliebe fiir den Gebrauch des Conjunctivs. Was das erstere anbelangt, so sind mir im »Schutt« nur wenige Stellen aufgefallen; in der »Fensterscheibe« folgen sich in coor- dinierten Satzen die Reimvvorte: »wiirfe — schliirfe« und »bespeie — reihe« (p. 235); in der im zvrolften Gedichte des »Cincinnatus« vorgefuhrten Schil- derung gebraucht der Dichter stets das Prasens, nur »nahte« macht eine Aus- 39 nahme (p. 355); bei der Darstellung des Zusammensturzes der Kirche ist durchaus d as Prasens angewendet, mit Ausnahme von »erlosch« und »bebte« (p. 261); willkiirlich wechseln Prasens und Imperfect p. 324 in der zweiten und dritten Strophe. Storender wirkt es, wenn der Dichter ohne hinlangliche grammatische Begrunduug den Conjunctiv statt des Indicativs und den Conj. Praš. statt des- selben Modus des Imperfects gebraucht. Nicht, immer ist dabei die Rilcksicht auf den Reim massgebend gewesen, da sich Beispiele, wenn auch vereinzelt, selbst im Innern der Verse finden. Im ganzen sind auch solcher Stellen im »Schutt« nicht viel, bedeutend weniger als im »Pfaff«, der die meisten Bei¬ spiele fur diese Eigenthumlichkeit bietet. Haufiger gebraucht Grun in unserer Dichlung den einfachen Conjunctiv, wahrend der Sprachgebrauch Umschreibung mit »konnte, mochte, solite« etc. vorzieht. Hieher gehoren: »meine« = »meinen konnte« (p. 230); »schaue« statt Indic. (p. 237); »labe« statt Conj. Imperf. (p. 239), wie ofter, wenn der Satz mit »als ob« eingeleitet ist; »weide« statt »weiden konnte« (p. 243); auf derselben Seite »gedenke« und »miissen« statt Conj. Imperf.: »trage« statt Indic. (p. 252); »tauge« statt Conj. Imperf. (p. 260); »tragen soli« statt »solite« (p. 303); »bangen« statt Conj. Imperf. (p. 336); »labe« statt »laben kann« (p. 347). Zum Schlusse dieses Abschnittes sei auch Metrum und Reim mit wenigen Worten besprochen. Die vierzeiligen Strophen des »Schutt« sind, vom einleitenden Gedichte und dem Epiloge abgesehen, durchaus im funffiissigen Jambus abgefasst. Die Lieder des ersten Cyclus reimen mit Ausnahme des zweiten Gedichtes, das paarige Reime zeigt, durchaus gekreuzt; alle Reime sind weiblich, wie es dem wehmuthig-ldagenden Tone, der diese Lieder durchzieht, entspricht. In den Gedichten der zweiten Abtheilung sind die ausnahmlos paarweisen Reime ebenfalls weiblich, im Einklange mit dem elegisch-ernsten Inhalte. Sehr sorg- faltig hat Grun im »Cincinnatus« auf die Art der paarigen Reime geachtet,. Diejenigen Gedichte, deren Stoff auf dem abgestorbenen Boden Unteritaliens spielt, reimen durchaus weiblich, diejenigen, welche uns Situationen aus dem lebenskraftigen Amerika darstellen, durchaus mannlich: das erste und letzte Gedicht, welche auf beide Continente Bezug nehmen, haben abwechselnd mannliche und weibliche Reime. Und in der vierten Abtheilung sind die ge- .kreuzten Reime theils. mannlich, theils weiblich, weil uns dieser Cyclus hoch- bedeutsame kriegerische Ereignisse der Weltgesehiehte entrollt, die aber einen mildversohnenden Abschluss im allgemeinen Frieden finden. Da der »Schutt« den Gedanken der fortschrittlichen Entwicklung der Menschheit darstellt, so passt, gut das vorwartsdrangende, steigende Metrum. Ftir das einleitende und Schlussgedicht hat Grun den vierfussigen Trochaus gewahlt; die abwechselnden Reime sind in dem ersteren, das sich auf Europa und auf Amerika bezieht, theils mannlich, theils weibhch, im letzteren, das auf die veredelnde Kraft, des Schonen hinweist, durchaus weiblicb. So hat der Dichter auch durch Reim und Versmass dem symbolischen Charakter der Dichtung Rechnung getragen. IX. Es obliegt mir noch, einiges liber die erste Aufnahme des »Schutt« an- zufiihren, soweit die in beschrankter Zahl mir zugebote gestandenen Quellen sich hiefur ergiebig erwiesen haben. 40 Die Wirkung, welche die poetischen Werke Gruns bei ihrem Erscheinen hervorriefen, war im einzelnen sehr verschieden. Wahrend die »Blatter der Liebe« (1830) ziemlich unbeachtet blieben, fand der in demselbeu Jahre er- schienene Romanzenkranz »Der letzte Ritter« hoheren Antheil, wenn auch anfangs kein grosses Publicum. Gross dagegen war die Aufregung, welche die anonym erschienenen »Spaziergange eines VViener Poeten« (1831) erwecklcn, und sehr bedeutend der Eindruck, welchen der »Sehutt« erzielte; weniger gill; dies vom »Pfaff vom Kahlenberg« (1850) und den »Nibelungen im Frack« (1843), wogegen die »Gedichte« (1837) wieder vielen Beifall ernteten. 48 ) Im August 1836 unternahm Bauernfeld mit Griin eine Reise nach Deutschland, ersterer erzahlt dariiber: »In Leipzig wurde A. Griin hoch gefeiert. Er stand damals im Zenith seines Dichterruhmes. Verleger, Literaten und Studenten belagerten ihn scharenweise, ein jeder wollte ihn kennen lernen, die meisten brachten ihre Albums mit, erbaten sicli ein paar Erinnerungsverse, gelegent- lieh auch von mir.« 49 ) Der oberosterreichische Dichter M. L. Schleifer schreibt. an Schurz, den Schvvager Lenaus, am 24. Juni 1836: »Ich babe ihn (den »Sehutt«) erst ein- mal gelesen und erlaube mir iiber das Ganze noch kein Urtheil; einzelne Blatter las ich wiederholt mit steigendem Entziicken — jene vier Strophen, die da anfangen: Wie eine Rose aussieht, wiisst’ ich gerne! und das nachstfolgende: wo der Gefangene einen Halm aus seinem Strohlager zieht, sich daran hinausspinnt ins Freie, dort im Anbliek des Kornfelds schwelgt, das Schnitterfest mitfeiert, bis er plotzlich durch das Gerassel der Kette aus seinem Traume geweekt wird und mit dem Schmerzensrufe hinsinkt: Du diirrer Halm, wie hatt’ ich’s denken mogen, Dass ich durch dich noch einst so elend ware! diese und noch einige Blatter der Art —- du weisst, ich lese nur mit dem Herzen — ztihlen zu dem Schonsten, was ich in meinem Leben gelesen habe.« 50 ) In dem bedeutendsten literarischen Organe des damaligen Oesterreich, in den »Jahrblichern der Literatur«, war natiirlich kein Raum fiir die Anzeige des »Sehutt«. Die Jahrbiicher mussten, um den Blick der Leser von der Gegenwart abzulenken, sich zu viel mit dem Chinesischen und Altspanischen beschaftigen, 51 ) und die Namen Grun und Lenau (den »letzten Ritter« hat noch Enk angezeigt, freilich ohne ins Detail der Dichtung einzugehen) durften damals »in osterreichischer Druckerschwarze« 5a ) nicht erscheinen. Wenn wir uns also um eine gleichzeitige offentliche Besprechung des »Sehutt« umsehen wollen, miissen wir unsere Blicke auf die literarhistorisch-kritischen Blatter Deutschlands richten. 48 ) Alles nach Bauernfeld: »Alt- undNeu-Wien«, p. 142, und »Briefwechsel mit Grun«, p. 382. 4! >) Bauernfeld: »Aus Alt- und Neu-Wien«, p. 234. 50 ) Citiert bei Radics: »Anast. Griin. Verschollenes und Vergilbtes«, p. 82. 51 ) Springer: »Gesch. Oesterreichs«, I,, 572. 52 ) Bauernfeld: »Aus Alt- und Neu-Wien«, p. 139. 41 Mir liegt die Besprechung des »Schutt« von W. Haring (Willibald Alexis) vor, welche in d en »Blati ern fur literarische Unterhaltung« am 16. und 17. Mai 1836 erschien. Die damals neueste Dichtung Gruns wird sehr giinstig recen- siert und das Gesammturtheil am Schlusse mit den Worten zusammengefasst: »Schutt ist nicht alles das, wa.s er (der Dichter) dafur ausgibt; a h er seine Gedichte »Schutt« sind eine der bedeutendsten, geistvollsten und eigenthuihlichsten Schopfungen, vvelche die letzte Zeit im weiten Reiche unserer Literatur zutage gebracht hat.« Doch wird Griin der Vorwurf gemacht, dass er dazu auffordere, dass der Mensch, wenn er aller Uebel und Zweifel ledig sein wolle, sich nur an die ewig griinende Natur zu halten brauche. Er legt dem Dichter die Darstellung des Gedankenš unter: »Unsere Entwicklungsgeschichte allmiteinander ist Schutt, nur in der Natur, die von Anfang an war und ewig sein wird, ist Geist, Freiheit, Heil, Ewigkeit.« Diese Deutung des »Schutt«, welche der von mir versuchten vviderspricht, kann vielleicht nicht allzu schwer aus dem Gedichte selbst vviderlegt werden. Im »Cincinnatus« fiihrt uns der Dichter den feigen bourbonischen Soldaten, der sich aus Liebe zur schonen Natur gerettet hat, und den miissigen Lazzarone, der sich doch auch auf seine Art der Herr- lichkeiten in der Natur erfreut, nicht als berechtigte Typen der menschlichen Gesellschaft vor; nicht umsonst stellt er dem Lazzarone die rustigen Aus- wanclerer entgegen, da er an dem Gegensatze zeigen will, dass der Mensch sich miihen und arbeiten miisse! Der zweite Tadel, den Haring gegen den Dichter erhebt, betrifft das Schlussgedicht der »Funt Ostern«; daruber ist schon oben gesprochen vvorden. Um so mebr riihrnt er die gewaltige Kraft der Phantasie Gruns, das bliihende Colorit des Ausdrucks, die Warme der Empfindung. »Farben wirft er mit dem Pinsel hin, und es steht Feuer auf der Leimvand.« Beziiglich des Cyclus »Eine Fensterscheibe« lesen wir: »Der Referent fiihlt sich in Verlegenheit, wenn er das Vorziiglichere zur Mittheilung auswahlen soli; eines iiberbietet in RembrandPschen Schlagschatten und Denner’scher Physiognomik das andere_Und doch ist das »Cincinnatus« iiberschriebene Gedicht noch bedeutender, sowohl was dichterische Begeisterung als die Tiefe des Inhalts anlangt.« Und an einer spateren Stelle heisst es: »Diese Bilder (vom neapolitanischen Golfe) uberstrahlen an Warme, Glanz und Tiefe der Auffassung die Bilder eines Catel, der doch seine besondere Kraft in der Portratierung der neapolitanischen Meere hat.« Wenn aber Haring fragt: »Kennt Graf Auersperg die neue Welt nur aus Coopers Ro- manen?« so scheint mir diese Frage nicht berechtigt, denn Griin hat Amerika gewiss nicht als das Land seiner schonsten Traurne geschildert, wovon tibrigens schon oben in ausfuhrlicher Weise gehandelt vvorden ist. Nachdem zuerst die Stirnme eines norddeutschen Kritikers und Roman- schriftstellers angefuhrt worden ist, moge auch die Anzeige eines siiddeutschen Dichters, eines Lyrikers, ervvahnt vverden. Die »Heidelberger Jahrbiicher der Literatur« enthalten im 29. Jahrgange (1836, p. 485—494) die Recension des »Schutt« von G. Schwab. Dieselbe geht auf die Idee der Dichtung nicht weiter ein, sondern befasst sich nur mit der Besprechung der einzelnen Liedercyelen, aus denen mehrere Gedichte als besonders schon hervorgehoben werden; so das achte, zehnte und eilfte aus dem »Thurm«, das vierzehnte aus der »Fensterscheibe«; »Fiinf Ostern« wird als die »tiefsinnigste, ernsteste und vollendetste Dichtung dieser Sammlung« bezeichnet. Indem die Dichtung als Ganzes mit Anerkennung besprochen wird, richtet sich der geringe Tadel nur 42 gegen Einzelheiten des Stiles. So wird geriigt »ein plotzlieher Uebergang von edeln Bildern zu unedeln, von pathetischen Redensart.en zu niedrigen«; hiefur werden aus dem funften und sechsten Gedichte des zweiten Cyclus Beispiele angeluhrt. S3 ) Sehwab schliesst seine Recension mit folgenden Worten: »A. Griin hat. sich seit seinem Auftreten als einen edeln und reinen Sanger des Geistes bewiesen, und der Geist wohnt auch in dieser Diehtung hinter der sinnlichen Fiille, die iibrigens gelauterter und geziigelter erscheint, als der an die ubrigen Dichtungen verschwendete Bilderschmuck. Doch konnte seine vollblutige Diehterphantasie auch hier noch von ihrem Ueberflusse genug hergeben, um ein Dutzend mondsuchtiger Kunstpoeten mit Leben und Productionskraft aus- zustatten, ohne dass sie selbst. etwas verlore, als ein gefahrliches Uebermass von Saften«. Die angefuhrten Proben diirften zur Erhartung des Satzes genugen, dass der »Schutt« gleich bei seinem Erscheinen als eine hervorragende Diehtung begrusst, wurde: in diesem Urtheile begegneten sich ein nord- und ein sud- deutscher Kritiker, ein Epiker und ein Lyriker. X. Die Schlussredactlon des »Schutt«, wie sie uns in der Gesammtausgabe der Griimschen Werke vorliegt, zeigt, ziemlich erhebliche Abweichungen von dem urspriinglichen Texte vom Jahre 1835; sie sind im Folgenden zusammen- gestellt. 54 ) »Der Thurm am Strande« entha.lt im altesten Texte mir 15 Lieder, indern das jetzige zvrolfte und vierzehnte Gedicht, dort fehlen; ausserdem zeigt dieser Cyclus folgende Varianten: p. 204: Und laden vor Gericht nun meine Richter! » » zu Gerichte » » p. 205: Und hinden nicht konnt, ihr den Regenbogen! » knebeln » » » » » p. 210: mitleidsvoll mitleidvoll. p. 211: Furwahr, ich wollt’, ich sass’ im Karr’n statt seiner O dass ich sass’ im Karren anstatt seiner. p. 216: Sonnen Sonne p. 224: Im Grabgewolb’ der Zeit euch zu bestatten » » » » 6S * » p. 226: Mich dunkts wohl gar etc. » diinkt » » » An dem Text,e der »Fensterscheibe« hat der Dichter nachstehende be- deutende Veranderungen vorgenommen: p. 230: Zum Bannertrager ist der Thurm erkiesen » » sie den » » 53 ) So der Ausdruck »bombardierend« im ersteren und die Beschreibung des Bildes des dicken Abtes im letzteren. Wenn spater Schwab die Schlussverse im Monologe des Juden auch hieher rechnet, so mochte ich doch dagegen bemerken. das mir der Sarkasmus, der in diesen Worten liegt, recht wirksam erscheint. Eine ahnliche Bemerkung iiber den Stil Gruns macht Immermann, Reisejournal, II. Buch, siebenter Brief, riicksichtlich der »Spaziergange«. 64 ) An erster Stelle steht die urspriingliche, an zweiter die letzte Fassung des Textes. 43 p. 230: Nie lustefs sie — Nie lustefs sie.. . p. 232: Beuten Beute. p. 235: _entsandt’ der Alte entbot » » p. 237: . ..gar frisch ... ganz frisch. p. 240: leuchten sehen leuchtend sehen. p. 241: _und duld’st es gerne » duldest gerne. p. 241: Dass mitt’ auf deinem Bauch, als Polsterpfiihle, Keck meine Phantasie, das Kind, jetzt spiele. — Dass keck auf deines Bauches Polsterpfiihle Jetzt meine Phantasie, das Kindlein, spiele. p. 242: Da focht siclfs drunter gut.... Darunter focht sich’s gut... p. 245: Satanam Satanas. p. 245: _bliihend ihn umscblungen » sie » p. 246: _Zahl und Seiger » » Zeiger. p. 246: _von Erdens Bliitenkranze vom Erden-Bliitenkranze. p. 247: Dass Wand und Pfeiler bebt und Kuppel splittert » » » » bebt, die Kuppel zittert. p. 247: erblichen entfarbtes. p. 250: der Demuth voli von » » p. 250: geschnallt gespannt. und in der unmittelbar folgenden Zeile: Stand Stamm. p. 252: hintendrein hinterdrein. p. 255: hungerfs hungert. p. 258: wusst’ weiss. p. 258: Scheidemauer Scheidemauern. p. 258: Bliif und Frucht gelragen! Bliit und Friichte tragen! p. 262: ihnfs ihm. Im »Cincinnatus« linden wir folgende Varianten: p. 267: _ im blauen Flor von Liiften » » Flur » » p. 269: Es braust die Susquehannah » » der » 44 p. 269: bliildndem bliihendem. p. 269: UrwaldswUsten Urwaldw iisten. p. 269: —zu neuen, schon’ren zu neuem, schon’rem. p. 279: ....die durch ihn schreitet die ihn durchschreitet. p. 281: Lave Lava. p. 283: das Grasslichste doch wai' Kornetens Schvveif! » » war des Kometen Sehweif! p. 290: eine seltne Vase ein’ » » p. 291: Sitz’ drunter, bis sie reif in Schoss dir failen! Sie werden reif selbst in den Schoss dir failen! p. 291: Was soli die Nas’ in dorn’gen Rosenblattern? Dein Duft liegt selbst ja dran, zu ihr zu vvallen! — Was soli im Rosendorn die Nase blattern? Dem Duft liegt selber dran, zu ihr zu wallen! p. 292: ....Russland brauch’ zu laufen » musste laufen. p. 292: Ein solches erst zu thun um seinethalben! In Staub zu werfen mich um seinethalben! p. 292: Da muss vom Segen auch auf mich was failen! Etwas vom Segen muss auf mich auch failen! p. 294: Spielt seine Hand, doch darf sie ihn nicht kronen! » » » ihn selbst darf sie nicht kronen! p. 295: Priestenveihe g’nug? Priestervveih’ genug ? p. 297: Da stiirmen ali’ aufs Deck empor in Hast, Das Aug’ wagt vor dem Schiff die Landung fast, Neugierig auf den ersten Gegenstand, Den bieten mag das heissersehnte Land? — Da stiirmen ali’ in Hast aufs Deck hinan, Das Aug’ will friiher landen als der Kahn, Es forscht und fragt den fernen, blauen Strand: Was bringst du mir, du meiner Sehnsucht Land? p. 297: Sieht dort der Freiheit Siegesbogen stehn Will dort der » » sehn. p. 298: _Spreche, was Dir noth? Spridi, was thut Dir noth? p. 299: Sieh hier die freien Soline der Natur! » » wildfreie » » » p. 299: Und sausle einst als Glock’ ihr Sterblied leis Ihr Sterblied saus’1 ich einst als Glocke leis. p. 299: Schvving’ rasch den Fuss ans Land! Rasch schvving’ ans Land den Fuss! p. 300: Knechtschaftfrohne. Knechtschaftsfrohne. p. 302: _vor ihm aufgethan vor mir » p. 305: Gut hielfst du einst den Lichtberuf Erfullt hast du den Lichtberuf. p. 306: Und in das Meer von Glanz, das sich ergossen, Sah noch sein bleich Gesicht, das todverklarte. — Sein Antlitz blieb, nun sich das Aug’ geschlossen, Als ob der Tod ihm zur Verklarung werde. 45 p. 311: _des Schmerzens Kinder des Schmerzes » p. 311: An seiner Fiille In » » In člen »Fiinf Ostem« kommen folgende Textesabweichungen vor: p. 323: _Ha, liegen sie in Krieg — Ha, » » im » p. 330: _auf reich’re Flur auf reich’rer Flur. p. 330: Wenn ihr die Bunde peitscht, den Hirsch zu hetzen. Da rennt durch Busch und Feld er fort und fort; — Der Hirsch, den ihr mit Hunden liesset hetzen, Der rennt durch Busch’ und Felder fort und fort. p. 331: Durch’s Leben sich, in alle Welt zerstreut! » > » zerstreut, im Wand’rerkleid! p. 332: An Farb’ und Bildung In » » » p. 335: Fest wie sein Aetherbild » » ein » p. 335: Des Paschen drohend Antlitz Des Pascha » » p. 337: Ihr habt in tausend Aeste ihn zerspalten In tausend Aeste habt ihr ihn zerspalten. p. 338: Libans Cedern Lebans » p. 342: Sie zeigen ihm’s Sie zeigen’s ihm. Endlich im Epilog: p. 348: Bis zu solidnem, duffgen Schutte » » duffgem, saffgem » Griin hat, auch sonst an seinen Gedichten in spateren Auflagen geandert, namentlich gilt, dies beziiglich der in die Sammlung seiner »Gedichte« auf- genommenen Lieder und Romanzen aus den »Blattern der Liebe«. Wenn wir die Veranderungen, welche er am »Schutt« vorgenommen hat, niiher betrachten, so ergibt sich Folgendes: Im ersten Cyclus hat. Griin allerdings zwei Gedichte ganz neu ein- geschaltet, aber sonst sind in demselben wie in den »Fiinf Ost.ern« die Ver- anderungen ziemlich geringfiigig, woraus wir schliessen diirfen, dass beide Cyclen sprachlich den Dichter am meisten befriedigten, wie dies wohl auch beim Leser der Fali ist. »Eine Fensterscheibe« und noch mehr »Cincinnatus« zeigen aber viele und namentlich die dritte, freilich auch langste Abtheilung nicht unbedeutende Abweiehungen. In den meisten Fiillen kann man ersehen, was den Dichter zur Vornahme der Veranderung veranlasst hat. Ueberwie- gend \var es die Riicksicht auf den gesteigerten Wohllaut und die grossere Flussigkeit der betreffenden Stelle, was fiir den Dichter bestimmend war. Dahin gehiiren die Veranderungen p. 204, 210, 211, 226, 241, 242, die erste p. 246, 247, 255, 262, 279, 283, 291, die erste p. 292, 295, die zweite p. 299, 305. Namentlich sind darunter mehrere Stellen, welche durch die Weglassung des Artikels oder die unnothige Einschaltung von »es« oder »’s« in der ersten Fassung hart klangen. An eine andere Gruppe von Ausdrucken hal der Dichter deshalb die bessernde Hand angelegt, um eine weniger poe- 46 tische oder minder seharf ausgedriickte Wendung zu beseitigen; dahin gehoren: die zweite Stelle p. 292, die erste p. 297, 302, 306, 331. Wieder eine Reihe von Veranderungen betrifft nur die Stellung der Worte, um das starker betonte Wort durch Voranstellung mehr hervorzuheben; Beispiele hiefiir sind: die letzte Stelle p. 292, 294, die erste p. 297, die dritte p. 299, die dritte p. 330, 337. Ferner finden wir einige Verbesserungen in gram- matischer Beziehung, die sich leicht von selbst ergeben und daher nicht speciell angefdhrt zu werden brauchen. Endlich moge liier noch auf einige Stellen aufmerksam gemaeht werden, welche sich durch den Vergleich mit dem altesten Texte theils aus Rucksicht auf den Sinn, theils des gestorten Metrums wegen in der Gesammtausgabe als Druckfehler bezeichnen lassen ; so. p. 267 »Flur« st. »Flor«; p. 269 »bluhendem« st. »bluhfndem,« wodurch ein ganz vereinzelter Anapast entstiinde; p. 290 »ein’ selten Vase« ebenfalls aus Rucksicht auf das Versmass; endlich p. 335 »fest wie ein Aetlierbild«, da »sein Aetherbild« gewiss ein bestimmteres und scharferes Bild gibt. Laibacb, im Mai 1881. A. Zeehe.