Filozofski vestnih Volume/Letnik XXVI • Number/Številka 2 • 2005 • 19-35 DOING NOTHING: UBER MATERIELLES NICHTSTUN UND IMMATERIELLE ARBEIT Robert Pfaller 1 Das Nichts und die Angst "Making Nothing Happen" lautet der verführerische Titel einer Reihe von Zeichnungen bzw. visuellen Handlungsanweisungen, die der Künstler Pavel Büchler 2004 veröffentlicht hat (Büchler, 2004). Gemäß dem Doppelsinn dieses Ausdrucks zeigen die Zeichnungen somit einerseits, was man (etwa im Sinn vorbeugender Maßnahmen) tun muß, "damit nichts geschieht"; aber auch andererseits, welche Handlungen man setzen kann, um zu erreichen, daß das Nichts sich ereignet. Gerade der auf dieser zweiten Bedeutungsebene angesiedelte "aktive Nihilismus" dieses Kunstwerks macht seine Aktualität und seine reizvolle, zeitkritische Bedeutung aus: Denn es wird gegenwärtig immer weniger Leuten möglich, auch nur kurze Momente des Müßiggangs, partielle Ereignisse des Nichts, zuzulassen oder gar bewußt herbeizuführen, um sie lustvoll auszuleben.1 Eine Gesellschaft, die von immer prekäreren Beschäftigungsverhältnissen gekennzeichnet ist, ergeht sich in einer zunehmend zwanghaften Betriebsamkeit. Jeglicher Müßiggang ist aus ihr gänzlich verschwunden; und zwar nicht allein als Realität, sondern - was eine Neuerung darstellt - ebensosehr auch als Utopie. Mögen frühere Generationen wenigstens (z. B. im Bild befreiter, glücklicher Enkel) noch ein müßiges Ziel ihrer Schinderei vor Augen gehabt haben, so regiert in der no-future-Epoche neoliberaler Arbeit allein die nackte Angst vor dem Nichtstun. Denn wenn das, was das Nichtstun verspricht, ein Glück ist, dann läßt es jenes andere Bißchen Glück, das man sich für die Selbstausbeutung mühevoll einreden mußte, sofort zu Nichts werden. Die Idee des Nichtstuns droht jene Koordinaten aufzulösen, die man braucht, um eine Welt prekärer 1 Zur Präzisierung von Nietzsches Begriff des aktiven Nihilismus sowie zum Problem der Angst vor der "nicht ausgefüllten Zeit" siehe Zupančič, 2003: 63; 43. Beschäftigung als sinnvoll erleben zu können. Und dadurch ist sie unerträglich - das Angst- und Abscheuobjekt par excellence. Lediglich in der Kunst, und auch da nur in seltenen, kostbaren Momenten, gelingt es gegenwärtig, für das, was nicht nur keinen Platz, sondern nicht einmal mehr den Nicht-Ort der Utopie einnehmen darf, positive Formulierungen zu finden. Neben Pavel Büchlers Serie stellt diesbezüglich die Gruppe der "glücklichen Arbeitslosen" rund um Guillaume Paoli eine andere vereinzelte hoffnungsvolle Erscheinung auf weiter, verängstigter Ebene dar. 2 Es gibt nichts Gutes, außer man tut es nicht Wie Pavel Büchler zeigt, ist das Nichts nicht einfach da, sondern man muß es tun, damit es zur Existenz gelangt (ähnlich, wie man es sprichwörtlich vom Guten sagt). In der ehemaligen DDR scheint es davon - weit abseits der Idee der deutschen idealistischen Philosophen von der tätigen Negativität - ein verbreitetes, populäres Bewußtsein gegeben zu haben. "Wir tun so, als würden wir arbeiten, und dafür tut ihr so, als würdet ihr uns bezahlen", lautete eine bekannte Redewendung aus der Zeit des sogenannten real existierenden Sozialismus. (Heute, d. h. 2005, hingegen kann man in den sogenannten neuen Bundesländern auf T-Shirts den Satz lesen: "Für Arbeit töte ich".) Mehr noch als in diesem Schein-Etwas simulierter Arbeit wird die tätige Natur des Nichts durch einen anderen DDR-Witz zur Darstellung gebracht. Zwei Männer sitzen im Gefängnis. Der eine fragt: 'Wieviele Jahre hast du gekriegt?' - 'Fünf', sagt der andere. - 'Und was hast du getan?' - 'Nichts.' - 'Das gibt es nicht', sagt der Frager, 'denn für nichts kriegt man mindestens zehn Jahre.' Wie es der materialistischen Lehre von Demokrit und Epikur entspricht, wurde aus nichts damals also keineswegs nichts; man mußte schon wesentlich mehr tun als nichts, um nichts zu bekommen. Auch die Sprache des Sozialismus scheint diese verschiedenen durch Tätigkeit erzeugten Abstufungen des Nichts unterschieden zu haben - und zwar viel präziser, als es, der bekannten Warnung des Aristoteles zufolge, die Sprache des antiken Griechenland in bezug auf das Sein vermochte. Bei einem Treffen von Kunst-Kuratorinnen, das zur Vorbereitung für ein internationales Kooperationsprojekt dienen sollte, schlug kürzlich jemand als gemeinsames Thema "Doing Nothing" vor. Daraufhin meinte eine rumänische Kollegin, daß ihr das als sehr schwierig zu übersetzen erscheine, denn im Rumänischen gebe es dafür sehr viele - vielleicht siebzehn - verschiedene Ausdrücke und Redewendungen. In der Sprache des real existie- renden Sozialismus scheint es also für das Nichtstun einen ähnlich reichen Wortschatz gegeben zu haben wie in der Eskimosprache für den Schnee. Dieser Nuancenreichtum, diese sorgfältige Differenzierung im Negativen zeigt sich auch an einem anderen DDR-Witz. Eine Kundin fragt im Kaufhaus: 'Haben Sie hier keine Socken?' - 'Oh nein, antwortet die Verkäuferin. Hier haben wir keine Pullover. Keine Socken gibt es eine Etage höher.' Entgegen der in den realsozialistischen Staaten verbreiteten Propaganda von den "Helden der Arbeit" wie zum Beispiel vom sprichwörtlich gewordenen DDR-Idol Adolf Hennecke, der am 13. 10. 1948 mit einer gigantischen Schichtleistung eine Normerfüllung von 387% in der Steinkohlegewinnung erreichte, scheint es in ebendiesen Staaten eine verbreitete Realität von Heldentum in der Nichtarbeit gegeben zu haben (das Sprichwort lautete dementsprechend: "Bin ich Hennecke?"). Ein politisches System, das viel stärker auf der Macht der repressiven Staatsapparate beruhte als auf jener der ideologischen, war offenbar eher imstande, die Leute an jeglicher Tätigkeit zu hindern, als sie zu freudigem Engagement zu verleiten. Und diese Leute hatten einen klaren Begriff von Arbeit und verfügten über eine spontane, materialistische Renitenz dagegen. 3 Von der Arbeitsverweigerung zum Lob der immateriellen Arbeit Anders verhält es sich kapitalistischen Westen von heute. Hier ist eine neue Begeisterung für die Arbeit ausgebrochen - und zwar ausgerechnet bei denjenigen, die in den Jahren nach 1966 den Zumutungen der kapitalistischen Fabriksarbeit den entschlossensten Widerstand entgegengebracht hatten. Damals hatten sie die "Verweigerung der Arbeit" ausgerufen.2 Nun hingegen singen sie das Loblied einer neuen Art von Arbeit, die sie als "immaterielle Arbeit" bezeichnen. Sie schwärmen von der "Kreativität", die darin enthalten (oder wenigstens möglich) sei, und manche erblicken darin sogar eine schleichende Revolution. So schreiben Michael Hardt und Antonio Negri: Indem sie ihre eigenen schöpferischen Energien ausdrückt, stellt die immaterielle Arbeit das Potenzial für eine Art des spontanen und elementaren Kommunismus bereit (Hardt/Negri, 2002: 305) Das klingt wieder ganz so begeistert wie im 19. Jahrhundert, als der Arbeiterführer Josef Dietzgen ausrief: "Arbeit heißt der Heiland der neuen 2 s. dazu Moulier-Boutang, 1998: 7-11. Zeit".3 Aber aus anderen Gründen: mit ihrem Begriff der immateriellen Arbeit beziehen sich Maurizio Lazzarato, Hardt/Negri und andere Autoren auf eine Veränderung der Arbeitsbedingungen in den westlichen kapitalistischen Staaten seit Anfang der 80er Jahre. Da es den kapitalistischen Staaten des Westens gelungen ist, die typische fordistische Fabriksarbeit in die Schwellenländer Asiens und Afrikas zu verlagern, können sie selbst in anderer Weise arbeiten. Sie werden nun gleichsam zur Verwaltungsetage der Weltfabrik. Ihre Ökonomie erscheint darum "postfordistisch": die "blue collar"-Arbeiter verschwinden zugunsten von "white-collar"-Angestellten. Die Hauptaufgabe dieser neuen Angestellten besteht darin, die Produkte mit technologischem, juristischem Wissen sowie kultureller Information (z. B. Image- und Distinktionswerten) aufzuladen; diese Anteile - die Autoren bezeichnen sie etwas vorschnell als "immateriell"4 - machen den größten Teil vom Wert dieser Produkte aus, wenn sie nicht überhaupt erst deren Verkaufbarkeit ermöglichen. Die für den Fordismus typische strikte Trennung von manueller und intellektueller Arbeit scheint damit (wenigstens im Westen) zu verschwinden. Dies weckt weitreichende Hoffnungen - zumindest bei jenen Theoretikern, die in der Trennung von Hand- und Kopfarbeit das entscheidende Prinzip der Klassenverhältnisse erblicken. So schreibt Maurizio Lazzarato: Die Unterscheidung von Konzeption und Ausführung, von Mühe und Kreativität, oder auch von Autor und Publikum wird innerhalb des Arbeitsprozesses überwunden (Lazzarato, 1998a: 40) Der entscheidende Schwachpunkt dieser Analyse Lazzaratos besteht darin, daß sie alleine den Arbeitsprozeß betrachtet und die Frage des Wertbildungsprozesses ignoriert:5 sie kümmert sich nur darum, ob die Arbeit den Ausführenden kreativ erscheint, aber nicht darum, wer am Ende den Mehrwert einstreift. Es mag schon richtig sein, daß man heute im Westen oft nicht mehr zu fixen Arbeitszeiten einer stumpfsinnigen, "entfremdeten" Tätigkeit nachgehen muß, um einen fixen Niedriglohn zu erhalten. Stattdessen kann man sich die Arbeitszeit selbst einteilen, man darf sich mit der Aufgabe identifizieren, eigene Ideen einbringen 3 zit. nach Asholt/ Fähnders (Hg.), 1991: 12. 4 s. Lazzarato, 1998a: 39. Diese Begriffswahl ist auch innerhalb der operaistischen Tradition nicht unumstritten. S. dazu Franco "Bifo" Berardi, der gegen Lazzarato klarstellt, daß Arbeit nie immateriell ist (s. das Gespräch mit Stephan Gregory http://www. nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2000/24/15a.htm, last visited: 2005-06-09). 5 Denselben Fehler machen Hardt/Negri, wenn sie schreiben, daß der Einsatz des Computers die Arbeit "in Richtung abstrakter Arbeit" verschiebe (Hardt/Negri, 2002: 304). und muß, wenn nötig, Nächte durcharbeiten - aber die Frage bleibt: zu wessen Vorteil? Nach wie vor kassiert der Chef, den man nun duzen darf, weil es "flache Hierarchien" gibt, den Gewinn - und drückt den Lohn seiner (oft outgesourcten und dadurch um die Sozialleistungen gebrachten) Mitarbeiter nicht selten noch mit eben dem Argument, daß sie ja froh sein müßten, von einer so feinen Arbeit, die quasi ein Hobby ist, überhaupt leben zu können. So renitent die operaistischen Theoretiker gegen die stumpfsinnige fordistische Arbeit waren, so wehrlos zeigen sie sich gegenüber den Verführungen der ebenso kapitalistisch strukturierten postfordistischen Arbeit. Daran erweist sich, daß die am Sichtbaren orientierten Unterscheidungen von "Hand-und Kopfarbeit" bzw. von "Mühe" und "Kreativität" viel zu simple und darum untaugliche Instrumente zur Kritik kapitalistischer Klassenverhältnisse sind. Das Strukturelle läßt sich eben, wie Bertolt Brecht bemerkte, nicht immer mit freiem Auge sehen. 4 Freih^eit oh^n^e M^at^eri^e?Ei^n^eDa^m^e oh^n^e Unt^erl^eib Auf der Ebene ihrer zentralen Begriffe vollziehen die Anhänger der immateriellen Arbeit eine Operation der Verkettung, die sich schematisch wie folgt darstellen läßt: "Intellektualität" - "Kreativität" - "Immaterialität" - "Identifizierung" - "Freiheit". Aufgrund des Umstands, daß die postfordistische Arbeit größere "intellektuelle" (d. h. bürokratische, kommunikative, designerische) Anteile aufweist, wird geschlossen, daß sie "kreativ" sei. Schon dieser erste Schluß ist höchst fragwürdig, denn viele manuelle Tätigkeiten erscheinen heute weitaus "kreativer" als jenes sogenannte "bullshitting" aus umfassender schriftlicher Konzepterstellung, Lobbying, networ^king^, br^anding, mer^chandising, Evaluierung und Monitoring, welches den großen Anteil intellektueller Arbeit an heutigen Produktionen ausmacht. Intellektualität und Kreativität werden im nächsten Schritt als ausreichende Gründe dafür betrachtet, von "Immaterialität" der Arbeit zu sprechen. Dies setzt allerdings einen sehr primitiven Begriff von Materie voraus. Es wird dabei unterstellt, daß die Materie nicht das Terrain von kreativer und intellektueller Arbeit sein könne und daß diese, sozusagen als Schöpfungen aus dem Nichts bzw. von Nichts, jenseits von Materie stattfänden. Im Gegensatz dazu hatte Louis Althusser bereits Anfang der 60er Jahre gezeigt, daß selbst theoretische Arbeit nicht ohne Materie ist: denn sie vollzieht sich keineswegs in einer "schwerelosen" Sphäre reiner Geistigkeit. Vielmehr setzt sie wie jede Arbeit bei einer Grundmaterie an: bei einem durch und durch ideologischen common sense aus ersten Vorstellungen und fixen Ideen zum Thema. Und diese Grundmaterie tut genau das, was jede Materie tut: sie leistet Widerstand gegen ihre Bearbeitung; sie bildet "epistemologische Hindernisse" gegen ihre Transformation in Erkenntnis. Aus diesem Grund hat Althusser gegen die bei bestimmten Marxisten beliebte Unterscheidung von Theorie und Praxis festgehalten, daß theoretische Arbeit selbst eine Praxis - eben "theoretische Praxis" ist.6 Auch die postfordistische Aufladung der Produkte mit Design sowie mit bürokratischer Legitimation und Öffentlichkeitsarbeit kann - jedenfalls für die marxistische Theorie - nicht als hinreichender Grund gelten, um von Immaterialität zu sprechen. Denn Design, Bürokratie und Öffentlichkeitsarbeit gehören allesamt zum Bereich der Ideologie. Und auch die Ideologie weist, wie Althusser in seinem bekannten Text von 1969 bemerkt hat, eine spezifische Materialität auf: Eine Ideologie existiert immer in einem Apparat und dessen Praxis oder Praxen. Diese Existenz ist materiell. Die materielle Existenz in einem Apparat und dessen Praxen besitzt selbstverständlich nicht die gleichen Eigenschaften wie die materielle Existenz eines Pflastersteins oder eines Gewehrs. Aber auch auf die Gefahr hin, als Neoaristoteliker angesehen zu werden (es sei allerdings darauf hingewiesen, daß Marx Aristoteles sehr hoch einschätzte), behaupten wir, daß 'die Materie in mehrfacher Bedeutung genannt wird' [_] (Althusser, [1969]: 137) Wer sich mit Ideologie auseinandersetzt, darf dabei nicht auf deren Selbstverständnis als einer "geistigen" Sache hereinfallen. Die Rituale der Zusammenkunft, die Institutionen, Orte und Kanäle der Kommunikation existieren immer schon lange, bevor es für diese Zusammenkunft (z. B. in einem Fitneßclub oder in einer Musikbar) so etwas wie ein in Ideen formulierbares Programm gibt; sie können oft auch gänzlich ohne ein solches Programm auskommen. Gerade das Nichtstun in der Freizeit, das Abhängen und die Rekreation haben eine massive materielle Existenz und erfüllen darin die entscheidende gesellschaftliche Funktion der Ideologie: die Reproduktion der Arbeitskraft. Sie leisten das, indem sie die Individuen mit dem Gefühl von Freiwilligkeit, und sogar mit dem Gefühl von rebellischer, "subversiver" Widerspenstigkeit ausstatten - freilich genau in dem Maß, in dem es ihrer Arbeitsfähigkeit sowie ihrer Eingliederung in die gesellschaftlichen Klassenverhältnisse dient: in der Arbeit z. B. ein kleiner Bürohengst, in der Freizeit dafür aber ein wilder, tätowierter 6 s. dazu Althusser, [1963]: 186-197; [1965]: 14-31. Motorradschurke oder tougher Extremsportler. Und unter postfordistischen Bedingungen: einer, der auch beim braven Arbeiten zeigen muß, was er in der Freizeit für schräge Sachen draufhat. Schließlich verkettet die Theorie der "immateriellen" Arbeit den Begriff der Immaterialität mit denen von Identifizierung und Freiheit. Die Beobachtung, daß unter postfordistischen Bedingungen Beschäftigte sich mit ihrer Tätigkeit in höherem Maß identifizieren können, als es fordistischen Arbeitern möglich war, mag richtig sein. Aber diese Aufhebung von "Entfremdung" sichert ihnen im ökonomischen oder politischen Sinn keinerlei Freiheit. Und die Suggestion, daß Freiheit nur in Form von Immaterialität existieren könnte, ist eine gefährliche anti-materialistische Annahme, wie sie für ein christlich geprägtes Denken charakteristisch ist: gerade dieses Denken zeichnet sich, wie Bela Grunberger und Pierre Dessuant nachgewiesen haben,7 durch eine solche generelle Feindlichkeit gegen alles Materielle aus. Und es führt damit zu einer Verlierermentalität, in der alles Großartige (wie eben die Freiheit) grundsätzlich nur jenseits der Materie - und das heißt: jenseits dieser Welt - angesiedelt wird. Dadurch kann es für ein solches anti-materialistisches Denken niemals ein großartiges Gelingen, sondern immer nur ein großartiges Scheitern geben; so verliebt man sich von vorneher-ein in die eigenen Niederlagen, die man in der Folge auch nicht verfehlen wird. Das besondere Augenmerk, das die operaistischen Theoretiker auf die Frage richten, ob die Beschäftigten ihre Kreativität in die Arbeit einbringen und sich dadurch mit ihr identifizieren können, entspricht jenem Zeitgeist, den Richard Sennett bereits 1974 hellsichtig analysiert hat: dieser Zeitgeist ist das Imaginäre einer Gesellschaft, "in der intimes Erleben zu einem Allzweckmaßstab für die Beurteilung der Wirklichkeit geworden ist" (Sennett, [1974]: 21). Diese intime, d. h. ich-bezogene Herangehensweise an die Wirklichkeit bezeichnet Sennett als narzißtisch, und er erläutert: "Zum Narzißmus gehört die bohrende Frage, was diese Person, dieses Ereignis 'für mich bedeuten'." (Sennett, [1974]: 22). Wie auch Grunberger/ Dessuant hinsichtlich der anti-materialistischen Position des Narzißmus bemerkt haben, tendiert dieser dazu, nichts zu dulden, was nicht von Bedeutung für das eigene Ich zu sein scheint - also zum Beispiel keine Tätigkeit, mit der man sich nicht in hohem Grad identifizieren kann. Aber zugleich macht diese scheinbar rebellische Natur den Narzißmus völlig wehrlos gegen alles, womit Identifizierung möglich ist - zum Beispiel gegen schlecht bezahlte und prekäre postfordistische Arbeit, in die in hohem Maß eigene schöpferische Fähigkeiten nicht nur eingebracht werden dürften, sondern sogar müssen. Und schließlich, um auf die Frage des Nichtstuns zurückzukommen, tendiert dieser ich-bezogene Weltzugang dazu, gerade jene Praktiken aufzulösen, die am 7 s. dazu Grunberger/ Dessuant, 2000: 121ff.; 272. ehesten geeignet sind, dem gesellschaftlichen Arbeitsaufruf zu widerstehen. Denn diese besonderen, arbeitsresistenten Praktiken sind solche, die mit dem Heiligen zu tun haben. Und das Heilige ist zuallererst etwas, das durch seine "schmutzige, unreine" Natur (oder auch durch seine "dreckigen Götter"8) und durch seine Materialitätjedem narzißtischen Ich zutiefst fremd und zuwider ist. Die Stärkung eines narzißtischen Ich, wie sie in der operaistischen Position zum Ausdruck kommt, wird somit auf die Liquidierung des Heiligen in der Kultur hinarbeiten und dadurch der Entstehung eines verstärkten Arbeitsethos Vorschub leisten. 5 Vorg^eschriebenes Ni^chtstun, klaubte Arbeit^: d^a^s Heiligte und d^a^s Profane Auf den ersten Blick kann es so scheinen, als ob man im Allgemeinen arbeiten müßte (sofern man überhaupt Gelegenheit dazu hat) und es nur manchmal, in seltenen Momenten, bleiben lassen dürfte. Zu^m Ar^beiten g^e-zwu^ng^en, manchma^l vielle^i^ch^t fr^e^i z^ur Nichtar^beit - das ist die Formel eines zur Naturerscheinung stilisierten Arbeitsethos. Kulturtheoretisch ist diese Formel jedoch hochgradig irreführend. Denn in Wahrheit ist es genau umgekehrt: Oft muß man das Arbeiten bleiben lassen. Die Nichtarbeit ist dann nicht bloß erlaubt, sondern vorgeschrieben. Sie stellt eine Pflicht dar, die sofort (termingerecht) erfüllt werden muß. Das gilt nicht nur für jene Gesellschaften, wie sie Sigmund Freud in "Totem und Tabu" beschreibt und an denen uns (wie an jeder fremden Gesellschaft) sofort in erster Linie deren weitgehende Prägung durch zwanghafte rituelle Strukturen auffällt. Selbst in unseren utopielosen Arbeitskulturen gibt es noch kleine, unterschwellige Spuren dieser Pflicht zur Nichtarbeit. Zu bestimmten Zeiten muß die Arbeit im Büro unterbrochen werden; dann müssen Sektflaschen geöffnet werden - etwa wenn Silvester ist oder wenn ein bestimmter Kollege Geburtstag hat. Dann wäre es unanständig und obszön, zu arbeiten; dann muß vielmehr mit dem Sekt angestoßen werden; und er muß getrunken werden, wenigstens in kleinen, "zum Anstoßen" vorgesehenen Mengen - selbst von denen, die keinen Sekt mögen oder nach Vorschrift ihres Arztes keinen Alkohol trinken dürfen. Genauso müssen wohl die Mitglieder einer totemistischen Stammesgemeinschaft an bestimmten Tagen Stücke vom Totemtier verzehren, ob sie wollen oder nicht. An den übrigen Tagen des Jahres hingegen ist ihnen der Genuß dieses Fleisches strikt untersagt; aber ebenso wirkt der Sekt, als typisches "Anlaßgetränk", ja auch in unserer Kultur eigentümlich deplaziert und na- 8 s. dazu Freud, [1912-13]: 311; vgl. Marinelli (Hg.), 2000. hezu unappetitlich, wenn man ihn abseits der Anlässe konsumieren möchte. Man muß die Feste feiern, wie sie fallen - das bedeutet auch, daß man sie sonst eben nicht feiern darf. Das Fernsehen übt heute, unter der neidvollen Beobachtung der Vertreter der christlichen Religionen,9 diese Zwänge zur Arbeitsniederlegung wohl am stärksten aus. Insbesondere bei bestimmten Sportereignissen sind Belegschaften und Privatpersonen zum live-Zusehen verdammt, ob sie wollen oder nicht. Und wenn (etwa bei Olympiaden, die in einem anderen Erdteil stattfinden) die Übertragungen mitten in der Nacht ausgestrahlt werden, dann muß eben mitten in der Nacht ferngesehen werden. Nicht einmal die weitverbreitete Existenz von Videorekordern kann diesem Brauchtum Abbruch tun. In diesen heute noch auffindbaren, jedoch leicht übersehbaren Spuren von zwanghafter ritueller Resistenz gegen das Arbeiten zeigt sich, was die stärkste Kraft des Widerstands gegen die Zumutungen der Arbeit bildet: Es ist etwas Kultisches,10 mithin etwas Kulturelles - und keineswegs etwa die angebliche natürliche Trägheit der Menschen, die sogenannte, von Lenin heftigst bekämpfte "Oblomowerei" (s. dazu Mierau, in: Asholt/ Fähnders, 1991: 210ff.). Nur eine kulturelle Ressource kann diese notwendige Steigerung herbeiführen: jenes Heilige, das zum Nichtstun zwingt - und das die Arbeit regelrecht obszön (und nicht etwa nur mühevoll) erscheinen läßt. Dieses Heilige ist übrigens keineswegs Erfindung oder Eigentum der institutionalisierten Religionen. Vielmehr ist es, wie die Beispiele des Fernsehsports oder des Sekttrinkens zeigen, ein populäres, alltagskulturelles, theologieloses, meist ohne Bekenntnis und Programm ausgestattetes Heiliges, das von den Akteuren selbst oft als ein wenig blödsinnig, läppisch oder sogar lästig erachtet wird, aber seltsamerweise gerade deshalb zwingend verrichtet werden muß. 6 Wenn di^e Arbeit z^ur hei^li^g^en wird: Max Weber und Franci^s Fukuyama Gerade dieses populäre Heilige, das seine alltäglichen Riten zwingend an jenen Platz setzt, den es der Arbeit damit versperrt, ist von den verschiedenen Kulturen (ebenso wie von deren Religionen) in sehr unterschiedlicher Weise 9 s. dazu z. B. Albrecht, 1993; Thomas, 1996; Jochum, 2000. 10 Zurecht hat darum Paul Lafargue in seiner Verteidigung der Utopie der Faulheit mehrfach auf das Heilige - insbesondere des Heidentums - verwiesen; s. Lafargue, [1883]: Vorwort und passim^. behandelt worden. Das wird an ihrem Verhältnis zum Müßiggang deutlich - insbesondere an ihrem Verhältnis zum Müßiggang als Utopie. Solange der Müßiggang für eine Kultur - und sei es nur in der Vorstellung - das ersehnte Andere der Arbeit bildet, findet sich das Heilige dieser Kultur im Gegensatz zur Arbeit. Damit das süße Nichtstun hingegen sich in eine Angstvorstellung verwandelt, die im Imaginären dieser Kultur keinen Platz mehr einnehmen kann, muß das Heilige seine Stellung gegenüber der Arbeit verändert haben. Es muß, statt das Andere der Arbeit zu bilden, zur Arbeit selbst geworden sein. Wenn die Arbeit selbst heilig geworden ist, dann ist für das Nichtstun, ebenso wie für seine Vorstellung, nur noch ein völlig "gottverlassener" Ort übrig (in dem Sinn, in dem man zum Beispiel ein Dorf auf dem Land, wo es keinen schönen Dorfplatz und nicht einmal ein Kino gibt, einen "gottverlassenen" Ort nennt). Max Weber hat diesen Ortswechsel des Heiligen - seine Verwandlung vom Anderen der Arbeit in die Arbeit selbst - am Beispiel des calvinistischen Protestantismus präzise nachgezeichnet und den Zusammenhang seiner Konsequenzen analysiert (s. Weber, [1904/05]). Zum hundertsten Jahrestag der Veröffentlichung von Webers klassischem Text hat ihn der Vordenker der amerikanischen Rechten Francis Fukuyama vor kurzem gefeiert - in einem Artikel mit dem programmatischen Titel "The Calvinist Manifesto" (Fukuyama, 2005). Fukuyama zeigt unverhohlen seine Faszination durch einen Theoretiker, der durch seine These von der religiösen Bedingtheit einer ökonomischen Entwicklung den Materialisten Marx von den Füßen auf den Kopf zu stellen scheint - und der überdies geeignet erscheinen kann, den Kapitalismus US-amerikanischer Prägung als einzigartige Kulturentwicklung zu glorifizieren und dessen imperialistische Absichten als welthistorische Mission, insbesondere gegenüber Kulturen mit anderer Religion, zu legitimieren. Immerhin ist Fukuyama hellsichtig genug, die Schwäche Webers gerade in diesen beiden Punkten - in seinem "Anti-Marxismus" sowie in seiner Eignung als "US-Legitimator" - zu erkennen und einzugestehen: Webers "anti-marxistische" Annahme einer religiös-ökonomischen Kausalität ist angesichts der Komplexität der Entstehungsbedingungen von Produktionsweisen selbst in Fukuyamas Augen nicht zu halten. Und anders als Weber annahm, können auch andere Religionen (wie z. B. Taoismus und Buddhismus) eine kapitalistische Ökonomie mit entsprechendem, vielleicht sogar noch rigoroserem Arbeitsethos hervorbringen bzw. begleiten. Und noch eine dritte mögliche US-Erwartung wird durch Weber enttäuscht: Gerade die unter den derzeitigen Krisenbedingungen boomende, aggressive neue US-amerikanische protestantische Religiosität findet bei Weber keine Stütze. Denn Weber betonte, daß der Protestantismus bei der Entstehung eines kapitalistischen Arbeitsethos die Rolle eines verschwindenden Vermittlers einnimmt: so notwendig er am Anfang dieser Entwicklung gewesen sein mag, so sehr muß sich der Protestantismus, Weber zufolge, aus dieser Entwicklung zugunsten eines aufgeklärten, völlig profanisierten Arbeitsethos zurückziehen - dies läßt die neuen religiösen protestantischen Fundamentalismen, die sich derzeit der neoliberalen Politik so willfährig andienen, durch Webers Theorie nicht nur nicht gerechtfertigt erscheinen, sondern sogar als hinderliche Anachronismen. Und was schließlich das protestantische Ethos und den von ihm angeblich hervorgerufenen kapitalistischen Geist betrifft, ist gerade Weber weit davon entfernt, darin eine hervorragende kulturelle Errungenschaft zu erblicken. Dementsprechend schreibt Weber diesen "Geist" fast immer unter Anführungszeichen. 7 Das Ni^chts al^s Gipfel d^^s M^^n^schen^tum^s Das Charakteristische dieses vom protestantischen Ethos hervorgerufenen kapitalistischen "Geistes" besteht, Weber zufolge, darin, daß die Arbeit im Verhältnis zum Heiligen ihren Platz wechselt. Anstatt das zu sein, wovon die Menschen leben, wird sie zu dem, wofür sie leben - ein Selbstzweck. Arbeit wird damit zum "Beruf", das heißt: zur Berufung, zur Mission, zum Lebensinhalt (s. Weber, [1904/05]: 171; 163). Die bis dahin als weltabge-wandte religiöse Praxis betriebenen Formen der Enthaltsamkeit verwandeln sich damit in eine innerweltliche Tätigkeit - in "innerweltliche Askese". Jenes Erwerbsstreben, das in früheren Kulturen in der Form der Habgier existierte und dementsprechend als niedriges Motiv gewertet wurde, erscheint nunmehr als eine hoch respektable, heilige Pflicht. Erstmals, so Weber, entsteht dadurch eine Lebenshaltung, die der Arbeit eine ethische Dimension zuspricht - ein vom Pflichtgedanken geprägtes Arbeitsethos. Obwohl Weber die damit verbundene kulturelle Umwertung bemerkt und erkennt, daß damit in "perverser" Weise etwas bislang Schändliches in ein kulturelles Ideal verwandelt wird (s. Weber, [1904/05]: 55), und obwohl ihm Nietzsches Analyse dieses Ethos als einer von Neid und Rache gekennzeichneten "Ressentimentkultur" bekannt ist (s. ebd.: 241), vermag Weber dieser Pflicht dennoch nicht zu mißtrauen. Es gelingt ihm nicht, diese Pflicht anders zu lesen, als sie sich selbst begreift. Als guter Kantianer scheint Weber außerstande, im Pflichtbewußtsein etwas anderes zu sehen als eine hohe sittliche Qualifikation. Die verdächtigen Besonderheiten ebendieser Pflicht - die niemandem nützt und nur den Ausübenden das Gefühl "eigener Vollkommenheit" verschafft (wobei sie nichts anderes tun, als den bisherigen Neigungen weiter nachzugeben; nun allerdings mit dem Gefühl der Selbstüberwindung, bei verringerter manifester Lust) - erscheinen Weber nicht kritikwürdig und mit theoretischen Mitteln analysierbar. Allerdings macht Weber sich über die Tatsache lustig, daß dieses Arbeitsethos, ähnlich wie die Besen von Goethes Zauberlehrling, zum Herrn seiner ehemaligen calvinistischen Herren wird und sich letztere als seine Sklaven unterwirft. So schreibt Weber: Nur wie 'ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte', sollte nach [Richard] Baxters Ansicht die Sorge um die äußeren Güter um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden. Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte. (Weber, [1904/05]: 203f.) Anders als Kant, der im pflichtgemäßen Handeln das genuine Betätigungsfeld menschlicher Freiheit erblickte, erkennt Weber, daß gerade in diesem Feld sich eine bis dahin ungeahnte Unterworfenheit des Menschen abzeichnet - und zwar noch dazu unter die von der Pflichtethik wenigstens theoretisch so sehr verachteten "äußeren Güter". Weber liefert damit - weit mehr als Marx mit seinem analogen Befund im Fetischkapitel des "Kapital" - eine sehr präzise immanente Kritik der Kantschen Pflichtethik. Aus der theoretischen Sympathie für das Arbeitsethos entwickelt sich bei Weber eine hellsichtige Kritik - und mitunter sogar eine lautstarke Beschimpfung (wenn auch unter dem Schutzschild fremder Zitate). Für das "stahlharte Gehäuse" der Moderne, in dem sich Fukuyama so wohlfühlt, sowie für dessen Propagandisten findet Weber die folgenden starken Worte: Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gebäude wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber - wenn keins von beiden - mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die 'letzten Menschen' dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: 'Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.' (Weber, [1904/05: 204) Keineswegs wertfrei beobachtend, sondern mit deutlichem Abscheu kommentiert Weber auch das aus dem Arbeitsethos hervorgehende "Banausentum" der Puritaner in bezug auf die Kultur und die schönen Künste (Weber, ebd.: 184). Er zeigt, wie die protestantische (und später von der Aufklärung betriebene) "Entzauberung der Welt" alles hinwegfegt, was ihr der Magie verdächtig erscheint. Darin beseitigt der Puritanismus nicht allein die Sakramente und prunkvollen Zeremonielle der christlichen Religion, sondern überhaupt alles, was symbolischen Charakter hat und demnach als nutzlos erscheint: auch diejenigen Dinge, die - wie zum Beispiel der "che-valreske Prunk" mit äußerer Erscheinung und Illusion zu tun haben, - und damit letztlich alles, was das Leben glamourös, charmant und "zauberhaft" erscheinen läßt und in der Kultur Freude macht. 8 Arbeil^sbi^^n^en und Luxusbi^en^en Die präzise Erwiderung auf Max Webers These, wonach das protestantische Arbeitsethos die Ursache für die Entstehung des Kapitalismus gewesen sei, wurde genau 200 Jahre vor Webers Text formuliert: Bernard de Mandevilles 1705 erstmals veröffentlichtes Lehrgedicht "Die Bienenfabel" ("The Fable of the Bees, or Private Vices, Publick Benefits"). Zum Glück, schreibt Mandeville darin, gibt es Ungerechtigkeit, Betrug, Geschäftemacher, korrupte Richter, habgierige Quacksalber-Ärzte, windige Advokaten, Diebe und Räuber. Andernfalls könnte eine große, moderne Gesellschaft nicht blühen. Gesetzt den Fall, die Götter hätten eine solche Gesellschaft, wie sie es selbst manchmal heuchelnd wünschen mag, mit Ehrlichkeit und Anstand versehen: sie würde binnen kürzester Zeit zugrunde gehen. Wenn die Schurken ("knaves") einmal ehrlich und anständig geworden sind, dann ist mit der Prosperität Schluß. Wer Ehrlichkeit und Anstand haben will, der muß bereit sein, auf die Annehmlichkeiten einer großen Gesellschaft zu verzichten, und sich in einer primitiven Dorfgemeinschaft von Eicheln ernähern: Bare Virtue can't make Nations live In Splendor; they, that would revive A Golden Age, must be as free, For Acorns, as for Honesty (Mandeville, 1980: 79) Aus Mandevilles Perspektive erscheint Webers Theorie somit nicht so sehr falsch als vielmehr verkehrt: das, was Weber für seine Erklärung hält, wä- re für Mandeville vielmehr das Rätsel. Zu erklären wäre nicht, inwiefern der Kapitalismus dank des protestantischen Geistes zustandekam, sondern vielmehr, wieso er sich tr^ot^z dieses Geistes überhaupt entwickeln konnte. Wenn wirklich durch den Protestantismus der Verschwendung, der Korruption und dem Betrug ein Ende gemacht worden wäre, dann müßte man erklären, wieso der Kapitalismus nicht an dieser Beseitigung seiner wichtigsten Stützen zugrundeging. Francis Fukuyama zum Beispiel zeigt sich vom protestantischen Geist und dessen Weberianischem Selbstverständnis angetan, wenn er auf das Nord-Süd-Gefälle hinsichtlich der Korruption in der Europäischen Union hinweist. Erst die Intervention der protestantischen Skandinavier hätte, so Fukuyama, der Korruption innerhalb der EU unter französischer (katholischer) Führung 1999 ein abruptes Ende bereitet. - Abermals müßte man sich hier nach Mandeville fragen, inwiefern das der EU gutgetan haben könnte: inwiefern könnte im Ende der Korruption nicht nur eine moralische Verbesserung, sondern auch ein wirtschaftlicher Gewinn liegen? Mandevilles Erklärung dieses Paradoxons würde wohl lauten, daß die "honesty" des protestantischen Geistes und dessen Pflichtethik eben etwas ganz anderes sind als das, wofür sie sich selbst halten. Findet sich denn hinter diesem ethischen Verhalten nicht immer ein Element des Stolzes - eines Stolzes, der sich gerade durch die Dezenz seiner Äußerung noch in ungeahntem Maß steigern läßt (s. Mandeville, 1980: 106)? Ist folglich die nach außen getragene Bescheidenheit nicht eine noch viel massivere Anmaßung, als es der billige chevalreske Prunk jemals gewesen war? Und ist somit das Pflichtgefühl nicht bloß eine infame, verlogene Bemäntelung rücksichtslosester Verfolgung egoistischer Interessen? Sind also die "fools" des reinen protestantischen Gewissens in Wahrheit nicht viel hinterhältigere "knaves", als es die "knaves" je fertigbrachten? Unter dieser Perspektive würde Mandeville wohl auch das von Fukuyama angesprochene Verschwinden der Korruption aus der EU betrachten. Wenn in der EU vor 1999 anscheinend Gelder in finsteren Kanälen verschwanden - wohin fließen sie denn jetzt? Wohl in die massiven bürokratischen Apparate, die durch Kontrolle, Monitoring und Evaluierung das unkontrollierte Verschwinden der Gelder verhindern sollen. Eine gewaltige Apparatur aus nicht endenwollenden, unüberschauberen Antragsprozeduren hat die einstige Willkür ersetzt. Die früheren heimlichen, illegalen Günstlinge der Korruption sind nun durch weitaus zahlreichere, legale Begünstigte ersetzt worden, die noch mehr Geld verschlingen, indem sie angeblich die Korruption bekämpfen. Und an die Stelle offener Willkür ist eine andere, hinter dicken Aktenbergen versteckte, "objektivierte" Willkür getreten: Unliebsamen Institutionen und Initiativen zum Beispiel dreht man als Politiker heute nicht einfach den Geldhahn ab; vielmehr läßt man sie evaluieren. Und sobald die Evaluierer, die von denselben Politikern abhängen, das gewünschte Ergebnis geliefert haben, geben die Politiker sich einsichtig und erklären, daß sie gar nicht anders handeln können, als nun den ineffizienten Institutionen die Förderungen zu entziehen. Aus Mandevilles Sicht wäre das Paradoxon damit gelöst: das Auftreten der protestantischen "honesty" hat der Prosperität in der EU nur deshalb nicht geschadet, weil diese honesty eben etwas ganz anderes ist als das, wofür sie sich selbst hält und ausgibt; weil die bürokratische Kontrolle des Verschwindens von Geldern selbst ein noch weitaus umfassenderes Verschwinden ebendieser Gelder möglich macht; weil die korrekte Wirtschaft eben noch viel mehr Bürokraten ernährt, als die korrupte Wirtschaft an Günstlingen versorgen konnte. 9 Arbeit macht Arbeit Durch das massive Anwachsen bürokratischer Apparate unter den Bedingungen der "honesty" wird Arbeit in immer höherem Maß durch das Aufzeichnen von Arbeit begleitet. Weil sich beides aber aus denselben Ressourcen speist, geht dies auf Kosten der Arbeiter; sie werden zunehmend durch Aufzeichner verdrängt. In sämtlichen Unternehmen werden Produzierende also ersetzt durch Leute, die über das Produzieren berichten: durch PR-Leute, Juristen, Evaluierungsspezialisten etc. Anders als die produktive Arbeit aber hat die berichtende nie ein Ende: denn jeder Bürokrat macht mindestens einen weiteren Bürokraten notwendig, der seine Berichte liest, und jede PR-Lady, die ein Produkt bekanntmacht, erobert damit ein Stück öffentlicher Aufmerksamkeit, die eben dadurch immer knapper wird und darum von immer mehr gegnerischen PR-Ladies unter immer größeren Anstrengungen wieder zurückerobert werden muß. Mandeville hat dafür treffende Worte: Millions endeavouring to supply Each other's Lust and Vanity; While other Millions were employ'd, To see their Handy-works destroy'd (Mandeville, 1980: 68) Erst für diesen Typ von parasitärer Arbeit gilt das, was ein Anarcho-Spruch auf deutschen T-Shirts behauptet: "Arbeit macht Arbeit". Insofern diese parasitäre "Sozius-Arbeit" (im Sinn von Deleuze/ Guattari) nie ein Ende hat und insofern sie sich anderer Arbeit entgegensetzt, kann sie auch als negative Arbeit, als Nichtstun im emphatischen Sinn, als Vernichtung und Annihilierung von Arbeit, mithin als luxuriöse Konsumtion begriffen werden. Die Agenten dieser Entwicklung hatte Weber als jenes "Nichts" bezeichnet, das sich für den Gipfel des Menschentums hält. Dieses Nichts bringt also einen Exzeß des Nichtstuns hervor - allerdings in der verhohlenen Form der Betriebsamkeit. Unter diesem Blickwinkel wird nochmals klarer, weshalb der Müßiggang derzeit nicht einmal mehr als Utopie existieren kann: denn diese Betriebsamkeit ist selbst ein gigantischer Müßiggang, ein gesteigertes Nichtstun, ein Nichtstun auf "erweiterter Stufenleiter", das jedes einfache Nichtstun mit gleicher Notwendigkeit zum Verschwinden bringt wie der Autobus die Postkutsche. Diese Realität ist selbst eine Utopie; eine nie geahnte, gesteigerte Utopie des Nichtstuns, die jeden Gedanken an das bloße Nichtstun als eine naive und unschuldige, viel zu bescheiden gefaßte Utopie verschämt erröten läßt. Li^teratur^: Albrecht, Horst (1993). Die Religion der Massenmedien. Stuttgart - Berlin -Köln. Althusser, Louis (1986 [1963]). "Sur la dialectique materialiste (De l'inega-lite des origines)", in: PourMar^x. Paris: Ed. la Decouverte, 161-224. - (1990 [1965]). 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