The Fourth Central- and Eastern European Conference on Phenomenology Vierte mittel- und osteuropäische phänomenologische Konferenz EUROPE, WORLD AND HUMANITY IN THE 21ST CENTURY: Phenomenological Perspectives EUROPA, WELT UND HUMANITÄT IM 21. JAHRHUNDERT: Phänomenologische Perspektiven (Ljubljana, 16. -19. 11. 2006) Edited by / Herausgegeben von: Andrina Tonkli-Komel The Fourth Central- and Eastern European Conference on Phenomenology EUROPE, WORLD AND HUMANITY IN THE 21st CENTURY: Phenomenological Perspectives (Ljubljana, 16.-19. 11. 2006) Central and Eastern European Conference on Phenomenology is an institution uni- 3 ting regional institutions developing phenomenological philosophy within the World Organization of Phenomenological Organizations. The Phenomenological Society of Ljubljana was one of the initiators of its establishment in 2002. The basic aim of the Central and Eastern European Conference on Phenomenology is to distribute and share of research achievements in the field of phenomenology, particularly in view of the new humanistic challenges around the world. This is the very reason that the conference brings together researchers from various parts of Europe and the world, thus attesting to its broader scientific, cultural and political relevance. The conference "Europe, World and Humanity in the 21st Century: Phenomenological Perspectives" was organized between 16 and 18 November 2006 by the Institute for the Humanities Nova revija and by the Phenomenological Society of Ljubljana (Organizing Committee: Dean Komel - President, Ion Copoeru, Karel Novotny, Andrina Tonkli Komel, Hans Rainer Sepp, Lester Embree). The aspects raised are primarily those of philosophical and humanistic approaches to the interpretation of the constitutive meaning of "Europe" with its specific historical influence as well as the specific constitution of basic categories of society. Its development over the last century has seen phenomenology acquire different approaches to the European discussion, which should be redefined in the global 4 situation of the 21st century. In this respect, special attention is paid to the relationship between science and lifeworld, which has gained its relevance in view of the transition into the knowledge society. The question to be raised is whether today there is still a guarantee for the unity of the lifeworld and whether the mutual encountering of cultures as various lifeworlds is still an open possibility, or whether they will be erased by global development. Both spheres evince a shift in the understanding of humanity, which is the main subject of the contributions presented at the conference. The contributions presented at the conference are therefore grouped in four categories: "Europe", "Humanism", "Society" and "World". Taking into account the phenomenological horizon of questioning, none of the categories can be tackled in isolation. Their interrelatedness reveals the tension between historical identity and diversity, between the demands of society and the meaning of existence, between the appearance of globalism and experience of the worldhood of the world, whereby the revealing of tensions as such proves far more important than their overcoming. Let me seize the opportunity to thank Professor Klaus Held for his readiness to open the conference with the inaugural lecture. It was his philosophical effort which decisively contributed to the phenomenological revealing of the constitutive sense of Europe. May the contributions collected in this volume serve as a humble dedication by the organizers and participants of the conference to Professor Klaus Held, celebrating his seventieth anniversary. Editor Vierte mittel- und osteuropäische phänomenologische Konferenz EUROPA, WELT UND HUMANITÄT iM 21. JAHRHUNDERT: Phänomenologische Perspektiven (Ljubljana, 16.-19. 11. 2006) Die „Mittel- und Osteuropäische Konferenz für Phänomenologie" ist eine Insti- 5 tution, die regionale Einrichtungen vereinigt, um die phänomenologische Philosophie innerhalb der „Weltorganisation der Phänomenologischen Organisationen" zu fördern. Die „Phänomenologische Gesellschaft von Ljubljana" war eine der Initiatoren ihrer Gründung im Jahre 2002. Das erste Ziel der „Mittel- und Osteuropäischen Konferenz für Phänomenologie" ist das Verteilen und Teilen von Forschungsleistungen auf dem Felde der Phänomenologie, besonders hinsichtlich der neuen Herausforderungen für den Humanismus in der sich globalisierenden Welt. Das ist der Grund, warum die Konferenz Forscher von unterschiedlichen Teilen Europas und der Welt zusammenführt. Sie ist ein Zeugnis der wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Wichtigkeit phänomenologischer Besinnung. Die Konferenz „Europa, Welt und Humanismus im 21. Jahrhundert: Phänomenologische Perspektiven" fand statt zwischen dem 16. und 18. November 2006. Sie wurde organisiert vom „Institut für Geisteswissenschaften Nova revija" und der „Phänomenologischen Gesellschaft Ljubljana" (Organisationskomitee: Dean Komel - President, Ion Copoeru, Karel Novotny, Andrina Tonkli Komel, Hans Rainer Sepp, Lester Embree). Es wurden philosophische oder humanistische Annäherungen an die Interpretation der konstitutiven Bedeutung von „Europa" sowohl in seiner geschichtlichen Bedeutung als auch in seiner Wichtigkeit für 6 die Entwicklung basaler Kategorien des gesellschaftlichen Lebens thematisiert. Im letzten Jahrhundert hat sich die Phänomenologie unterschiedliche Zugänge zur Europa-Diskussion erworben, die im Zeitalter der Globalisierung reaktualisiert werden sollten. In dieser Hinsicht wird der Beziehung zwischen der Wissenschaft und der Lebenswelt, welche auf der Schwelle zur Wissensgesellschaft von großer Bedeutung ist, eine besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht. Die Fragen, die hier zu stellen sind, sind die, ob heute noch die Einheit der Lebenswelt garantiert werden kann, ob die wechselseitige Begegnung der Kulturen als differente Lebenswelten noch eine offene Möglichkeit darstellt oder ob beides der so genannten Globalisierung zum Opfer fallen wird. Beide Sphären geben einen Einblick in eine Verschiebung unseres Verständnisses von Menschheit. Die Beiträge sind daher in vier Kategorien eingeteilt worden: „Europa", „Humanismus", „Gesellschaft" und „Welt". Zieht man den phänomenologischen Horizont des Fragens in Betracht, kann keine der Kategorien isoliert in Angriff genommen werden. Ihre Verwobenheit enthüllt die Spannungen zwischen der geschichtlichen Identität und Differenziertheit, zwischen den Forderungen der Gesellschaft und der Bedeutung von Existenz, zwischen dem Aufkommen der Globalisierung und der Erfahrung der Weltlichkeit der Welt, wobei die Enthüllung der Spannungen als solche wichtiger bleibt als ihre Überwindung. Lassen Sie mich die Gelegenheit ergreifen und Professor Dr. Klaus Held für seine Bereitschaft danken, die Konferenz mit einem Vortrag zu eröffnen. Es ist seiner philosophischen Anstrengung geschuldet, dass die Phänomenologie zur Klärung dessen, was Europa ist, einen entscheidenden Beitrag geliefert hat. Mögen die in diesem Band versammelten Beiträge als bescheidene Widmung der Organisatoren und der Teilnehmer für Klaus Held - zur Feier seines Siebzigsten Geburtstags - dienen. Herausgeberin Klaus Held ZUR PHÄNOMENOLOGiSCHEN REHABILITIERUNG DEs ETHOS Die Überlegungen, die ich Ihnen vortragen werde, sind von einer einfachen 7 Überzeugung getragen: Auch in einer künftigen, „global" zusammengewachsenen Menschheit wird die Humanität auf einem Ethos beruhen, d. h. auf einem Zusammenhang von Tugenden. Diese Überzeugung steht im Gegent atz zu einer heute von vielen Philosophen vertretenen Auffassung: Sie glauben, das, was in der alten europäischen Tradition „Ethos" genannt wurde, werde in der „globalisierten" Welt verschwinden; denn jedes Ethos sei an eine bestimmte Kultur gebunden. Weil damit zu rechnen sei, daß in der künftigen Welt auf lange Sicht alle Unterschiede zwischen den Kulturen eingeebnet werden, sei nur noch eines zu verlangen und vielleicht zu erwarten: die Befolgung schlechthin allgemeiner, für alle Kulturen gleichermaßen verbindlicher moralischer Normen. Die Begründung der Verbindlichkeit solch universaler Normen war eine zentrale Aufgabe der neuzeitlichen Moralphilosophie, die ihren Höhepunkt in Kant hatte. Die besagten Phil osophen fühlen sich dieser Tradition verpflichtet. Sie sind überzeugt, daß das aus dem vorneuzeitlichen Europa stammende Ethos der Tugenden dazu verurteilt sei, zugunsten der „Moral" und ihrer transkulturellen Normen zu verschwinden. Aber ist diese Auffassung haltbar? Um dies zu prüfen, ist es als erstes notwendig, die terminologische Beliebigkeit zu überwinden, die heute in der auf das menschliche Ethos bezogenen philosophischen Literatur herrscht. Das kann nur gel ingen durch eine historische Besinnung auf die Be- deutung, mit der die tragenden ethischen oder moralphilosophischen Begriffe ursprünglich in der Philosophie auftauchten. Deshalb möchte ich im ersten Teil meiner Überlegungen zunächst die griechischen Begriffe und danach ihre lateinit chen Übert etzungen erläutern. Damit hoffe ich zugleich klären zu können, welcher fundamentale sachliche Unterschied zwitchen klasrirchem griechischem „Ethos" und neuzeitlicher „Moral" besteht. Im zweiten Teil möchte ich auf den erwähnten Eindruck eingehen, das „Ethos" müsse und werde zugunsten der „Moral" verschwinden. Seit Alasdair MacIntyres „After Virtue" haben verschiedene Philosophen, die man den sogenannten Kommunitariern zurechnet, Versuche unternommen, das alte Ethos der Tugenden gegenüber der neuzeitlichen Moral zu rehabilitieren. Den Wert dieser Versuche möchte ich heute nicht diskutieren, sondern stattdessen einen neuen und anderen Versuch dieser Art machen, und zwar mit Hilfe der phänomenologischen Methode des Rückgangs auf originäre Erfahrungen. Meine These wird sein, daß das „Ethos" die lebensweltliche Normalität darstellt. Die „Moral" der Neuzeit stützt sich auf einen Grenzfall dieser Normalität, erhebt ihn aber zum Normalfall. Abschließend möchte ich eine phänomenologische Erklärung für diese geschichtliche Entwicklung anbieten. Die historische Besinnung auf die antike Herkunft der moralphil osophischen Terminologie findet ihren ersten Anhalt an der eindeutigen Herkunft des Begriffs „Ethik" aus dem Denken des Aristoteles. Der Gegenstand seiner ethike pragma-teia, der „ethischen Abhandlung", war, wie das Attribut ethike anzeigt, das ethos. Im vorphilosophischen Griechisch verstand man unter ethos ursprünglich den beständigen Aufenthaltsort von Lebewesen. Weil wir Menschen im Unterschied zu den übrigen Lebewesen auf dieser Erde handeln können, kann das Wort ethos auf uns bezogen eine Bedeutung bekommen, die über den räumlichen Wohnort hinausreicht. Wie diese Bedeutung entsteht, zeigt eine phänomenologische Betrachtung des Handelns, d.h. eine in der ersten Person vorgenommene reflexive Beschreibung des Bewußtseins, das ich beim Handeln habe. Mein Tun ist dann kein bloßes Verhalten, sondern Handeln, praxis, wenn ich mich bewußt von bestimmten Absichten leiten lasse. Der erste Grundzug solchen Tuns liegt darin, daß es vom Bewußtsein meiner Entscheidungsfreiheit begleitet ist. Dieses Freiheitsbewußtsein wird aber dadurch eingeschränkt, daß ich jeweils nur über eine beschränkte Zahl von Handlungsmöglichkeiten verfüge. Diese Möglichkeiten sind mir durch die Horizonte meines Handelns vorgezeichnet, die mir ihrerseits durch entsprechende Gewohnheiten ungegenständlich vertraut sind. Der zweite Grundzug meines Handl ungsbewußtseins besteht darin, daß ich weiß: Mein Handeln vollzieht sich im Umgang mit Anderen, die handeln- 8 de Wesen sind wie ich. Das gilt unabhängig davon, ob bei einer bestimmten von mir vollzogenen Handlung Andere zugegen sind oder ob ich in Abwesenheit Anderer handle. Von den Anderen, die deshalb bei meinem Handeln immer mit im Spiel sind, bin ich unaufhebbar dadurch getrennt, daß ihre Gewohnheiten und Horizonte andere sind als die meinen. Wäre das nicht so, wäre der Andere kein „Anderer", sondern ein Duplikat meiner selbst. Deshalb fehlt meiner Erwartung von künftigen Handlungen der Anderen prinzipiell die Sicherheit. Ich kann nur im Vertrauen darauf handeln, daß die beabsichtigten Zukunftsfolgen meines Handelns sich normalerweise auch einstellen. Durch die Einbettung des Handelns in intersubj ektive Zusammenhänge sind diese Zukunftsfolgen aber von den Anderen mitabhängig und deshalb ungewiß. Diese Ungewißheit kann nur dadurch ausgeglichen werden, daß die Andeten mit einer gewissen Verläßlichkeit die Erwartungen erfüllen, die ich ihrem Handeln entgegenbringe. Da den Anderen die Horizonte, denen sie ihre Handlungsmöglichkeiten entnehmen, durch ihre Gewohnheiten bewußt sind, kann mein Vertrauen in ihre Verl äßl ichkeit sich nur darauf gründen, daß ihnen bestimmte Gewohnheiten zur festen Selbstverständlichkeit, d. h. zu einer ihr Handeln tragenden Haltung geworden sind. Haltungen, die durch ihre Beschaffenheit das Vertrauen in die Verläßlichkeit des Handelns der Anderen von vornherein untergraben, kommen hierbei nicht in Betracht, während Haltungen, die dieses Vertrauen stärken, intersubjektiv auf besonderen Beifall stoßen. Für solche intersubjektiv mit Lob bedachten Haltungen gab es nicht nur bei den Griechen der Antike, sondern gab und gibt es auch bei vielen anderen Völkern in Ost und West die Bezeichnung „Tugend", griechisch arete. Wenn die Menschen in einer Gesellschaft durchschnittlich gemäß den Tugenden handeln oder sie zumindest als das anerkennen, was bei der Habitualisierung von Gewohnheiten anzustreben ist, entsteht dadurch ein intersubjektiver Spielraum der Verläßlichkeit. Ein solcher Spielraum ist kein fester Aufenthaltsort in der räuml ichen Bedeutung von ethos, wohl aber bietet er den geeigneten Platz dafür, daß die Menschen bei ihrem Handeln so miteinander kommunizieren können, daß ihr Zusammenhandeln gelingt. In diesem Sinne bildet er den spezifischen Aufenthaltsort, das ethos, der Menschen als handelnder Wesen. Dieser phänomenologisch aufweisbare Zusammenhang wird in auffälliger Weise durch Sprachverwandtschaften innerhalb des Altgriechischen, des Deutschen und des Lateinischen bestätigt. Schon Aristoteles beobachtete in der „Nikoma-chischen Ethik" (1103 a 17/18) die Verwandtschaft des griechischen Wortes ethos mit dem Wort für „Gewohnheit", ethos. Das ethos, der Wohnort des handelnden Wesens „Mensch", besteht in den Haltungen der Tugend als lobenswerten Ge- 9 10 wohnheiten. Das hat eine Parallele im Deutschen: In dem Wort „wohnen", womit das Leben an einem beständigen Aufenthaltsort bezeichnet wird, steckt die gleiche Stammsilbe „wohn" wie in dem Wort „Gewohnheit". Der Zusammenhang zwischen ethos und menschlichem Wohnen zeigt sich auch bei dem lateinischen Substantiv für „Hall ung": habitus, das mit dem Verb habere, „haben, halten", zusammenhängt. Habitare, das Intensivum von habere, bedeutet nicht zufällig „wohnen". Die Ethik bezieht sich auf das menschliche Leben. Sofern dieses Leben von Handeln geleitet wird und dadurch „geführtes Leben", bíos, ist, kann es als ein zielgerichtetes Geschehen betrachtet werden. Das deutsche Wort „gut" und das entsprechende griechische Wort agathós bezeichnen in ihrer uriprüngl ichen und weiten Bedeuiung das, was das Gelingen eines zielgerichieien Geschehens ermöglicht und in gewissem Umfange auch garantiert. Deshalb kann man im Deutschen sagen, daß etwas für etwas anderes „gut steht", z. B. ein Bankguthaben für die Zahlungsfähigkeit des Konto-Inhabers. Die Tugenden, die aretaí, werden, wie erwähnt, mit Lob bedacht, weil sie beim Miteinanderhandeln Verläßlichkeit und so das Gelingen des „geführten Lebens" gewährleisten. Aus dem gleichen Grunde dürfen sie und das von ihnen getragene Ethos als „gut" bezeichnet werden. In diesem Sinne handelt die Ethik nach Aristoteles von dem „für den Menschen Guten". Als Cicero in großem Stil daranging, griechisches Denken in die lareinir che Sprache zu transponieren, bekam die Ethik die Bezeichnung philosophia mora-lis, „Moralphilosophie". Das Adjektiv moralis ist von mos, mores, „die Sitte, die Sitten" abgeleitet. Die abstrakre Substantivbildung zu moralis lautet moralitas, eingedeutscht „Moralität" oder „Moral" oder als äquivalentes deutsches Abstrac-tum: „Sittlichkeit". Moralitas wurde zur lateinischen Übersetzung von ethos. Diese Übersetzungen wurden möglich, weil das ethos aus Gewohnheiten besteht und weil auch die Sitten etwas sind, woran wir uns gewöhnt haben. Aber diese Übersetzungen griechischer Begriffe ins Lateinische sind nicht so harmlos, wie sie auf den ersten Blick erscheinen könnten. Wenn wir in phänomenologischer Reflexion darauf achten, wie uns die guten Gewohnheiten als Tugend-Haltungen und wie uns die in einer Kultur als gut anerkannten Sitten originär bewußt sind, zeigt sich ein Unterschied. Wir können von dem ausgehen, was beide Arten von Bewußtsein gemeinsam haben. Indem un s er Handeln von Tugenden getragen ist und indem wir gewohnheitlich gemäß den als gut geltenden Sitten leben, sind uns dadurch die normativen Maßstäbe des Handelns vertraut, die für unsere jeweilige Kultur verbindliche Geltung haben. Die Maßstäbe sind uns bewußt, indem wir ihnen in unserem Handeln mit Selbstverständlichkeit entsprechen. Diese Selbstverständlichkeit schützt die lobenswerten Gewohnheiten davor, in kritischen Lebenssituationen verloren zu gehen, und gewährleistet dadurch beim Zusammenhandeln die erwähnte Verläßlichkeit. Die Tugenden sind uns als gute Gewohnheiten selbstverständlich, weil wir sie im Normalfall nicht zum Gegenstand unserer Aufmerksamkeit machen. Es ist zwar möglich, daß wir uns bei Gelegenheit einer bestimmten Handlung - zumeist, weil uns die Handlung schwerfällt - ausdrücklich der Frage bewußt werden, ob wir einer geforderten Tugendhaltung treu bleiben oder von ihr abweichen. Wir können sogar allgemein die Frage diskutieren, ob eine bestimmte Tugend für das geglückte Leben hilfreich oder notwendig ist. Aber das Aufkommen solcher Fragen ist für unser Tugendbewußtsein sekundär; denn daß wir überhaupt ein solches Bewußtsein haben, verdankt sich gerade dem Umstand, daß wir uns normalerweise die besagten Fragen nicht stellen müssen, weil es uns zur Gewohnheit geworden ist, gemäß den Tugenden zu handeln, ohne daß sie zum Thema werden. Auch bei der anfänglichen Einübung eines gewohnheitl ichen Handelns gemäß den Tugenden bzw. den als gut geltenden Sitten durch die Erziehung bilden die guten Gewohnheiten im Normalfalle nicht den Gegenstand der Aufmerksamkeit derer, die erzogen werden, sondern sie werden ihnen allmähl ich selbstverständlich, indem sie von Fall zu Fall das Handeln ihrer Erzieher und der für sie vorbildlichen Personen in ihrer Umgebung nachahmen und, falls erforderlich, die mehr oder weniger nachdrücklichen Ermahnungen der Erzieher befolgen. Diese Ermahnungen sind im Regelfall auf die besondere Situation, auf das jeweilige Handeln hier und jetzt, und nur im Ausnahmefall auf das Allgemeine, eine Haltung, die das Handeln überall und immer leiten sollte, bezogen. So kann man sagen: Die „originäre Erfahrung" von dem, was in unserer jeweiligen Kultur als gut gilt, unser ursprüngliches „Wissen" vom Guten besteht darin, daß wir es als Gewohnheit mit Selbstverständlichkeit in unseren Tugenden leben bzw. in unseren Lastern habituell verfehlen. Die Durchbrechung dieser Normalität, indem wir das Gute in Form von allgemeinen Normen thematisieren und uns gegenständlich bewußt machen, ist eine sekundäre Erfahrung. Aber bezüglich dieser sekundären Erfahrung läßt sich bei einem Leben gemäß den in einer Gesellschaft als gut geltenden Sitten eine Besonderheit beobachten. In der Habi-tualisierung einer Lebensführung nach Maßgabe solcher Sitten liegt eine gewisse Tendenz, sie als gegenständliche Normen zu thematisieren. Eine Gesellschaft kann dieser Tendenz in solchem Maße nachgeben, daß die Thematisierung den Charakter verliert, die Ausnahme vom Normalfall zu sein. So wird die Sitte zum 11 „Gesetz" in einer weiten Bedeutung dieses Wortes, sie wird als Gebot, Norm, Imperativ, Wert usw. zur Vorschrift, nach der wir uns bei jeder Handlung neu zu richten haben und die wir uns dafür immer wieder vor Augen führen müssen. Die Rezeption der griechischen Ethik durch das lateinische Denken ereignete sich unter geschichtlichen Umständen, die einer solchen Vergegenständlichung günstig waren. Deshalb ist es kein Zufall, daß die „Sitten", mores, Cicero den sprachlichen Anhalt für die Übersetzung der ethischen Terminologie boten. Mir fehlt die Zeit, um auf alle jene geschichtlichen Umstände einzugehen, aber entscheidend dürfte gewesen sein, daß auch philosophisch schon der Weg dafür geebnet war, das Gute als gegenständliche Norm vorzustellen, und zwar durch die Stoa. 12 Zenon von Kition, der Gründer dieser Philosophenschule, konnte davon ausgehen, daß wir für ein Handeln gemäß den Tugenden von den Anderen gelobt und für ein Handeln gemäß ihrem Gegenteil, den Lastern, getadelt werden. Dadurch sind wir Menschen gewohnheitlich damit vertraut, daß das Gute uns in Anforderungen, Ansprüchen begegnet, denen wir entsprechen sollen. Das erlaubte Zenon, das griechische Wort kathekon - im Plural kathekonta — zu einem Leitbegriff seiner Ethik zu machen. Die kathekonta sind die „An Forderungen", in lateinischer Wiedergabe officia, „Pflichten", die uns sagen, wie wir handeln sollen. Für eine Klassifikation menschlicher Handlungen hinsichtlich ihrer ethischen Qualität kommt es in der Sicht der Stoa darauf an, die für das Gelingen unseres Lebens wesentlichen Anforderungen oder Pflichten von den unwesentlichen zu unterscheiden. Mit der Einführung der kathekonta beginnt die systematische Interpretation des Guten als eines Gesollten. Auch bei der Rezeption der griechischen Ethik in lateinischer Sprache bleibt die Ethik der Bereich der Philosophie, der von dem für den Menschen Guten handelt. Aber mit dem Rückgriff auf die Sitten beginnt dieses Gute seinen Charakter grundlegend zu ändern. Aus dem gewohnheitlich gelebten Guten, das im Normalfall unthematisch bleibt, wird das gesollte Gute, das in Gestalt von sittlichen Vorschriften ausdrücklich gegenständlich vorgestellt wird. Diese Transformation der Ethik in Moralphilosophie bzw. des Ethos in Moralität oder Moral vollendet sich erst in der Neuzeit bei Kant. Was sich mit der stoischen Differenzierung der kathekonta angebahnt hatte, bringt Kant zur Klarheit, indem er - in dieser Hinsicht ein Phänomenologe avant la lettre - fragt: Wie kann mir bei einem Handeln, das auf das gesollte Gute, die „Pflicht", bezogen ist, dieses Gute bewußt sein? Kant zeigt: Für das Bewußtsein, mein Handeln sei moralisch gut, genügt es nicht, wenn es einer Norm entspricht, die mir Gutes vorschreibt. Solches „pflichtgemäße Handeln" ist zwar von dem Bewußtsein begleitet, daß es Gutes gibt, das mich unbedingt verpflichtet und das verlangt, um seiner selbst willen getan zu werden, aber es ist nicht durch dieses Gute selbst motiviert, sondern hat andere Beweggründe zur Triebfeder, die alle aus unserem Streben nach Eudämonie, aus „Neigung" entspringen. Deshalb ist von solchem Handeln das „Handeln aus Pflicht" zu unterscheiden. Es geschieht nicht aus solch eudämonistischen Beweggründen, sondern um des Guten willen. Wenn das Gute um seiner selbst willen getan wird, muß es dafür eigens als solches vorgestellt werden, d.h. es tritt dem Bewußtsein des Handelnden als Gegenstand, als ein „du sollst", als Imperativ vor Augen, und das Motiv für seine Befolgung ist nicht das Gefühl der Neigung, sondern das der „Achtung vor dem Gesetz". Ich komme damit zum zweiten Teil meiner Überlegungen, der kritischen Gegenüberstellung von klassischem Ethos und neuzeitl icher Moral, und beginne mit der bekannten Kritik der ethischen Tradition in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten". Die Neigungen konkretisieren sich in Wünschen, deren Erfüll ung wir zur Absicht unseres Handelns machen. Solange wir das Gute nicht um seiner selbst willen tun, ert cheint uns die künftige Erfüllung solcher Absichten als das Gute. Kant wirft der klassischen Ethik vor, sich an dieser Auffassung des Guten orientiert zu haben, und stellt ihr die These entgegen, wahrhaft gut sei allein ein guter Wille. Gut ist der Wille desjenigen, der uneingeschränkt dem Anspruch eines „kategorischen" Imperativs entspricht, also eines Gebots, dessen Befolgung nicht unter der Bedingung steht, daß ich damit eine meinen Neigungen entsprechende Absicht erreichen kann. Die „Neigung" heißt so wegen ihres passiven Charakters: Wenn ich einer Neigung folge, lasse ich es zu, von der Anziehungskraft abhängig zu sein, die ein mög licher Gegens tand meiner Wünsche auf mich ausübt. Ich lasse mich in meiner Handlungsmotivation von Kräften außerhalb meines eigenen Willens bestimmen und unterliege so einer Fremdbestimmung. Befolge ich hingegen unbedingt geltende Imperative um ihrer selbst willen, so wird mir damit meine Selbstbestimmung, die Freiheit meines Willens bewußt. 13 In diesem Sinne sind meine Handlungen gut, wenn in ihrer Motivation die Erfahrung meiner Freiheit uneingeschränkt zum Zuge kommt. Dann können aber meine Handlungen nicht mehr deshalb gut sein, weil sie aus den Tugenden als guten Gewohnheiten hervorgehen; denn es kann zwar ein freier Entschluß sein, der bei mir zur Entstehung einer guten Gewohnheit führt, aber wenn sie mir erst einmal „in Fleisch und Blut übergegangen" ist, ist sie gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht mehr von meiner Freiheit abhängt. Eben dies verleiht den 14 guten Gewohnheiten die schon erwähnte Selbstverständlichkeit, auf der die in-tersubj ektive Verl äßlichkeit beruht, durch die das Ethos das für den Menschen Gute ist. Diese Qualifikation als gut aber muß das Ethos für die Moralphilosophie, in der alles auf das uneingeschränkte Bewußtsein der Freiheit ankommt, verlieren, weil der Gewohnheitscharakter der Tugenden eine Einschränkung der Freiheit bedeutet. Das verurteilt die Tugenden in moralphilosophischer Sicht letztlich zur Bedeutungslosigkeit. Die Faszination der Freiheit ist einer der Gründe, die erklären, warum in der Neuzeit die Moral allmähl ich das Ethos überl agert hat. Ein anderer Grund ist der Vorzug, den die gegenständlich vorgestellten Vorschriften der Moral in den Augen der Moralphilosophie aufweisen: Solche Vorschriften erlauben, ja verl angen die Frage, woher sie ihre Verbindlichkeit nehmen. Ein gesolltes Gutes läßt sich immer als ein Imperativ formulieren, und bei einem „Gesetz" solcher Art ist grundsätzlich der Versuch denkbar, seine Geltung als universal berechtigt zu erweisen. Bei einer ungegenständlich gelebten Gewohnheit besteht diese Mögl ichkeit nicht. In diesem Sinne gehört zur Moralphilosophie die Normenbegründung. Dieser Zug erklärt eine Überzeugung der Moralphilosophen, die ich schon eingangs erwähnt habe: Sie glauben, ihr Denken entspreche den Anforderungen unseres Zeitalters, das im Zeichen des fortschreit enden Zusammenwachsens aller Kulturen steht. Jedes Ethos ist als Geflecht von Gewohnheiten ein geschichtlich bedingtes Produkt einer bestimmten Kultur. Welche Haltungen als gut angesehen werden, hängt von der jeweiligen Gesellschaft ab. Für eine Tugend-Ethik scheint es unvermeidlich, alle in den verschiedenen Kulturen als gut geltenden Gewohnheiten als legitim anzuerkennen, so daß die Philosophie in einen ethischen Relativismus gerät. Davor scheint die Moralphilosophie durch den gegenständlichen Charakter der von ihr untersuchten Normen geschützt. Apel und Habermas bringen den Geist der Moralphil osophie zum Ausdruck, wenn sie von der „konventionellen Moral" sprechen und damit das Ethos meinen. Auf die Dauer wird und muß nach ihrer Überzeugung an die Stelle des kulturell variablen Ethos eine alle Kulturen übergreifende „postkonventionelle Moral" treten, die wegen ihrer Unabhängigkeit von allen in den Traditionskulturen vorgefundenen ethischen Konventionen eine universale, nicht relativierbare Geltung hat. Diese Möglichkeit der Rechtfertigung eines universalen Geltungsanspruchs scheint zusammen mit dem ausgeprägten Freiheitsbewußtsein der modernen „Moral" eine Stärke zu verleihen, die das Ethos zu seinem Verschwinden in der künftigen Menschheitsgeschichte verurteilt. Aber es deutet einiges darauf hin, daß damit die Stärke der Moral überschätzt wird. Was die moralphilosophische Begründung von universal gültigen Normen angeht, so gibt es zwar tats ächl ich in der Welt zahlreiche „kont inental" oder „analytisch" orientierte Philosophen, die den Versuch machen, bestimmte moralische Normen als universal gültig zu erweisen, aber über die geeigneten Beweise werden sie sich nicht einig, und es ist absehbar, daß es dazu auch in Zukunft nie kommen wird, weil es in der Moralphilosophie keine mit der Sicherheit der Mathematik vergleichbaren wissenschaftlichen Beweise geben kann - und dies gerade deshalb nicht, weil sie im Bewußtsein der Freiheit verankert ist; die Freiheit ist „unberechenbar". Das bedeutet aber, daß wir die erste Bekanntschaft mit dem gesollten Guten nicht auf solche Weise machen können, daß wir es als bewiesene Vorschrift wie einen Lehrsatz lernen. Dann bleibt aber nur die Möglichkeit, daß uns die Maßstäbe unseres Handelns zunächst dadurch bekannt werden, daß wir mit guten Gewohnheiten vertraut sind, die uns selbstverständlich wurden, indem wir sie, angeleitet durch Erziehung, als Tugenden habitualisierten. Hierin zeichnet sich bereits eine Priorität des Ethos vor der Moral ab, die deutlicher werden wird, wenn wir nun noch einmal darauf zurückkommen, daß „gut" seiner Grundbedeutung nach das bezeichnet, was für ein Gelingen Gewähr bietet. Es stellt sich die Frage: Warum ist eigentlich der gute Will e gut, was wird durch ihn gewährleistet? Es kommt nur eine Antwort in Betracht, die Kant auch selbst gegeben hat: Der gute Wille gewährleistet, daß wir beim Zusammenhandeln die Anderen nicht als bloßes Mittel zur Verwirklichung unserer neigungsbedingten Wünsche mißbrauchen und so die Personwürde, die ihnen durch ihre Freiheit zukommt, verl etzen. Das Motiv der Verläßlichkeit, das hinter der Idee des Ethos als des genuin menschlichen Aufenthaltsortes stand, kehrt hier mit einer eigenartigen Färbung wieder: Wir bedürfen der Verläßlichkeit der Anderen primär deswegen, weil wir ihnen mißtrauen; denn sie könnten uns für ihre Wünsche instrumentalisieren. 15 Dieses für die Moral konstitutive Mißtrauen setzt eine individualistische Vorstellung vom Wesen des Menschen voraus: Der menschlichen Existenz fehlt eine intersubjektive Verfassung vorab zu den konkreten Beziehungen mit Anderen; die Existenz gibt sich erst nachträglich eine solche Verfassung, indem das „von Natur" isoliert lebende Individuum eigens solche Beziehungen stiftet. Ganz anders beim Ethos: Bei meinem Handeln sind von vornherein die Anderen im Spiel; mein Handeln ist immer, auch wenn ich allein bin, ein Zusammenhandeln mit ihnen. Das Ethos ist das für den Menschen Gute, weil es das Gelingen solchen Zusammenhandelns gewährleistet. Mein Grundverhältnis zu den Anderen hat hier nicht den negativen Charakter, daß ich mich mißtrauisch gegen die mögliche Instrumentalisierung durch sie sichere. Ich nehme vielmehr, indem ich auf 16 die Verläßlichkeit ihrer guten Gewohnheiten vertraue, zu ihnen das positive Verhältnis ein, daß ich sie damit gerade in ihrem Anderssein anerkenne. Das besagte Mißtrauen konnte solange für das Verständnis des Ethos nicht maßgebend werden, als die Polis, die städtische Lebenswelt der Bürgergemeinde, ihren Bewohnern ein Lebensgefühl der Geborgenheit vermittelte. Darin hatte die klassische Ethik ihren geschichtlichen Rückhalt. Erst als mit dem Übergang vom klassischen Griechentum zum Hellenismus das Vertrauen in die Polis schwand, konnte das Mißtrauen, das natürlich auch die klassische Ethik als eines unter vielen ethischen Phänomenen kannte, fundamental den Sinn des Guten bestimmen. Diese Möglichkeit zeichnete sich schon im Ansatz der frühen Stoa ebenso wie im Epikureismus ab, aber in der latinisierten Stoa kam das Mißtrauen nicht zum Zuge, weil sich noch einmal die typisch römische Bereitschaft zum politischen Engagement durchsetzte. Doch wenn in der frühen Neuzeit Hobbes den Naturzustand der Menschen rekonstruiert und ihn als Krieg aller gegen alle bestimmt, tritt das Mißtrauen wieder voll zutage. Aus der Perspektive des Ethos stellt sich die Isolation des Menschen als Individuum, die mit dem Mißtrauen gegen die Anderen einhergeht, als eine Verleugnung der vorgegebenen intersubj ektiven Verfassung unserer Existenz dar. Zufolge dieser Verfassung ist die Normalität der menschlichen Lebenswelt durch die Gemeinsamkeit des Zusammenhandelns bestimmt. Wenn jemand diese Gemeinsamkeit durch sein Mißtrauen untergräbt, erscheint dies deshalb den Anderen als eine Ausnahme von jener Normalität, als eine Möglichkeit am Rande der Gemeinsamkeit des Zusammenhandelns, als Grenzfall und nicht als Normalfall. Daß die Anderen darauf eher mit Tadel als mit Lob reagieren, treibt den Mißtrauischen in eine Isolation. Es läßt sich einwenden, ein Mensch könne nicht nur durch die Haltung des Mißtrauens in eine solche Situation kommen. Es könne auch sein, daß jemand sich durch ein Handeln isol iert, das die Anderen am Ende als des Lobes wert, vielleicht sogar als höchster Ehre wert betrachten. Um ein klassisches Beispiel zu wählen: Wer in einer gewalttätigen Diktatur unter dem Druck von polizeilicher Verfolgung oder gar von Folter das Versteck seiner Freunde nicht verrät, kann damit in eine extreme Einsamkeit geraten und hat doch Anspruch auf die moralische Anerkennung der anständig Gebliebenen, weil er - wie wir mit einem bezeichnenderweise aus der Stoa stammenden Begriff sagen - seinem „Gewissen" folgt. Es ist keine Frage, daß wir in Grenzsituationen wie der gerade genannten eine authentische Erfahrung vom Guten machen können, und Kant hat für diese Er- fahrung mit der Beschreibung des Handelns aus reiner Achtung vor dem Gesetz eine adäquate philosophische Interpretation geliefert. Wie seine eigenen Beispiele ill ustrieren, treten die Züge solchen Handelns genau in den Grenzfäll en am deutlichsten hervor, in denen der Handelnde auf jede Befriedigung von Neigungen verzichtet, um das Gute rein um der Pflicht willen zu tun. Das zeigt: Die Moral in ihrer eigensten und höchsten Möglichkeit orientiert sich am Grenzfall und nicht am normalen lebensweltlichen Zusammenhandeln. Aus der Perspektive des Grenzfalls erscheint die lebensweltliche Normalsituation als ein Zustand des Schwankens zwischen Pflicht und eudämonistischen Beweggründen; ein Gefühlsgemisch aus Neigungen und Achtung motiviert unsere Handlungen: Wir hören die Gewissensstimme des um seiner selbst willen zu befolgenden gesollten Guten, aber zugleich läßt uns die Bereitschaft, den Neigungen zu folgen, diese Stimme überhören. Aber phänomenologisch stellt sich die Frage, ob diese Beschreibung dem normalen lebensweltlichen Handlungsbewußtsein gerecht wird. Meine Antwort ist: Kant unterschiebt diesem Bewußtsein ein Element der Rigorosität, das es zunächst nicht enthält. Für den Grenzfall des reinen moralischen Bewußtseins ist sein „rigoroser" Charakter konstitutiv: Es gibt nur das Entweder-Oder: entweder ich tue das Gute um seiner selbst willen oder ich lasse eudämonistische Beweggründe in der Handlungsmotivation zu, wobei es keine Rolle spielt, „wieviel" Einfluß ich den Neigungen einräume. Hinsichtlich des kategorisch gebotenen Guten gibt es kein Mehr oder Weniger; ich kann moralisch nicht „ein bißchen gut" sein. Kant unterstellt rigoristisch, daß mir auch beim normalen Handeln jederzeit die Möglichkeit vorschwebt, ich könnte das Gute ohne Beimischung von Neigung rein aus Achtung vor dem Gesetz tun. Bezeichnenderweise hat dieser Rigorismus in der Philosophie immer wieder Anstoß erregt. Phänomenol ogisch läßt sich dies sich daraus erklären, daß für das normale lebensweltliche Handlungsbewußtsein gerade ein Mehr oder Weniger hinsichtlich des Guten konstitutiv ist. Das gelebte Gute wird erfahren im intersubjektiven Wechselspiel zwischen Lob und Tadel für tugendhaftes bzw. lasterhaftes Handeln. Dieses Wechselspiel ist nicht durch die reinliche Alternative von Anerkennung oder Verwerfung eines bestimmten Handelns gekennzeichnet, sondern es gibt eine Gradualität der Beurteilung, etwa wenn jemand dafür gelobt oder getadelt wird, daß sein Verhalten sich nunmehr gegenüber früher „gebessert" bzw. „verschlechtert" habe. Solche Phänomene des „moralischen Aufstiegs" oder „Abstiegs" aber können nur im Rahmen der Erfahrung des Ethos auftreten, bei der die Möglichkeit besteht, daß Gewohnheiten sich durch neue Habituali-sierungsprozesse graduell in eine Richtung weiterentwickeln, die intersubjektiv Lob einträgt, oder in die Gegenrichtung, die den Tadel der Anderen hervorruft. 17 18 Das zeigt: Die genuin ethische Erfahrung vom Guten enthält normalerweise gerade kein rigoristisches Bewußtsein der Möglichkeit einer reinen, gänzl ich neigungsfreien Handlungsmotivation. Ein solches Bewußtsein läßt sich zwar unzweifelhaft in den erwähnten Grenzfällen beobachten, aber die phänomenol ogische Frage lautet, welches Bewußtsein - das ethische oder das moralische - die originäre, ursprüngliche Erfahrung vom Guten enthält. Welche Erfahrungen die originären sind, entscheidet sich phäno-menologisch durch den Kontrast mit Erfahrungen, die einen derivativen, abkünftigen Charakter haben, d.h. die durch ihren Sinn auf die Fundierung in einer originären Erfahrung verweisen. Phänomenol ogisch betrachtet läßt sich in Kants Rigorismus ein solches Verweisungsverhältnis finden: Die Uneindeutigkeit des lebensweltlichen moralischen Normalbewußtseins, das den Gewissensruf der Pflicht hört, aber bereit ist, dem Lockruf der Neigungen zu folgen, verweist auf die Eindeutigkeit einer rein durch die Achtung vor dem Gesetz bestimmten Handlungsmotivation, die erst durch die Beimischung eudämonistischer Motive getrübt wird. Das Normalbewußtsein mit seinem uneindeutigen, zwischen Pflichtgehorsam und Nachgiebigkeit gegenüber den Neigungen schwankenden Mot ivat ionszustand erscheint so als derivat iv und das Handeln aus Pflicht als originär. Aber obwohl eine solche Beschreibung des Normalbewußtt eins zunächst einzuleuchten scheint, kann sie phänomenologisch nicht überzeugen, weil die vermeintliche Uneindeutigkeit dieses Bewußtseins nicht als ein Schwanken zwischen Pflicht und Neigung interpretiert werden muß. Sie kann vielmehr zwanglos so verstanden werden, daß sich in ihr die Gradual ität des Wechselspiels von Lob und Tadel im Rahmen der ethischen Erfahrung bekundet. Das läßt die Konsequenz zu, daß die ethische Erfahrung vom Guten das originäre Bewußtsein darstellt. Diese Konsequenz wird erhärtet durch Beispiele wie das vorhin angeführte vom Nichtverrat des Freundes in bedrohlicher Situation. Alle solchen Beispiele haben nämlich gemeinsam, daß diejenigen, die rein aus Achtung vor dem Gesetz handeln, sich damit einer Einsamkeit aussetzen, die ihnen und den Anderen als Ausnahme von der Normalität des Zusammenhandelns, als Grenzfall, erscheint. So verweist die neigungsfreie Handlungsmotivation als Grenzfall auf den Normalfall, die ethische Erfahrung, und hat in diesem Sinne einen derivativen Charakter. Die Normalität der ethischen Erfahrung gründet sich auf die Intersubjektivität der menschlichen Existenz. Der Individual ismus der Moral erweist sich so als Grenzfall der intersubjektiven ethischen Normalität. Wenn die neuzeitliche Moralphilosophie erklärt, das Ethos stehe gegenüber der Moral auf verlorenem Pos- ten, ereignet sich damit das Erstaunliche, daß der Grenzlall zum Normalfall wird, indem er zum Muster der Erfahrung des Guten überhaupt aufsteigt. Wie war dieser Aufstieg möglich? Ich schlage vor, ihn phänomenologisch mit Hilfe von Husserls Konzept der Idealisierung aus seiner „Krisis" - Abhandlung zu erklären. Die Operation der Idealisierung vollzieht sich in drei Schritten: Erstens, die Gradual ilät einer lebensweltlichen Erfahrung wird gedanklich in die lineare Ordnung eines Steigerungsprozesses gebracht, dessen Ziel - das Optimum, auf das sich die Steigerung hinbewegt - im Unendl ichen liegt. Zweilens, obwohl das Optimum nicht anschaulich, sondern nur gedanklich faßbar ist, weil der Steigerungsprozeß ins Unendliche geht, wird dieser Prozeß als „durchlaufen gedacht", wie Husserl in einer „Krisis" - Beilage formuliert („Die Krisis der europäischen Wissenschaften ...", S. 359), wodurch es möglich wird, das Optimum als limes, als Grenzwert des Prozesses zu vergegenständlichen. Drittens, mit dem so gewonnenen, nicht anschaulich gegebenen, sondern nur gedachten - „idealen" -Gegenstand wird fortan so verfahren, als stünde er mit den anschaulich gegebenen Gegenständen auf einer Ebene. In der Tat läßt sich für die Entwicklung des philosophischen Nachdenkens über das für den Menschen Gute seit der stoischen Ethik eine solche IdealisierungsOperation rekonstrui eren. Der erste Schritt findet seinen Anhalt daran, daß es im ethischen Normalbewußtsein trotz des ungeregelten Wechselspiels zwischen Lob und Tadel doch die erwähnte Gradualität gibt, die darin besteht, daß man beim intersubjektiven Austausch von Urteilen über das eigene Handeln oder das der Anderen Prozesse der Steigerung von Tugend- oder Lasterhaftigkeit konstatiert. Diese Gradualität erlaubt es, eine sich ins Unendliche steigernde ethische Optimierung zu denken. Sie besteht darin, daß die Anforderungen, die kathe-konta, die uns durch das Gelobt- und Getadeltwerden zu Bewußtsein kommen, immer mehr auf diejenigen eingeengt werden, auf die es letztlich für das Gelingen des Lebens ankommt. Den Grenzwert dieses Prozesses kann nur eine Pflicht bilden, die nur noch ein von allen Ablenkungen oder Beimischungen gereinigtes „du sollst" enthält. Dies aber ist nichts anderes als die rigorose Verpflicht ung durch das Gute selbst. 19 Den Gehorsam gegenüber dieser Verpflichtung gibt es im Rahmen der ethischen Normalität nur als den Grenzfall, der unvermeidlich die erwähnle Vereinsamung zur Folge hat, weil die Verpflichtung die in der intersubjektiven Gestalt von Lob und Tadel anschaulich erfahrbaren Möglichkeiten des ethischen Normalbewußtseins ins bloß Gedachte, Ideale transzendiert. Der Idealisierungsprozeß findet nun aber seinen krönenden Abschluß gerade darin, daß die ide- ale Verpflichtung als ein Gebot anges ehen wird, das mit den aus der normalen lebensweltlichen Handlungsmotivation vertrauten Anforderungen auf einer Ebene liegt, weil es mit ihnen in einen Wettstreit treten kann. Beide werden als miteinander konkurrierende Imperative interpretiert: das von allen eudämonisti-schen Beimischungen freie „du sollst" als „kategorischer Imperativ" und die nor-maten Anforderungen als „hypothetische Imperative", die ihre eigene Geltung durch eudämonistische Bedingungen einschränken. So wird aus der Gradualität des ethischen Normalbewußtseins durch Idealisierung ein rigoristisches Entweder-Oder herausdestilliert, die Alternative: entweder bin ich bereit, dem kategorischen Imperativ zu gehorchen, oder ich handle so, als hätten alle Imperative nur hypothetische Geltung. Und damit ist die neuzeitliche Moral geboren. 20 EUROPE / EUROPA EUROPE/EUROPA 21 EUROPE / EUROPA Peter Trawny EUROPÄiSCHES ETHOS SEiT PLATON UND ARiSTOTELES 1. Einleitung 23 Die einzigartige Bedeutung und Kraft der philosophischen Besinnung auf die Quellen der Ethik geht auf zwei Ursprünge, auf zwei Überlegungen zurück, die gleichsam die Matrix eines Europäischen Ethos bilden, zu dem in universaler Hinsicht keine Alternative existiert. Ethisches Handeln und Leben als solches basiert auf ihnen. Diese Überlegungen lassen sich in den moralphilosophischen Kernaussagen Platons und Aristoteles' lokalisieren. Alles, was die Moderne an eigenen Resultaten im Bereich der Ethik einbrachte, ist eine Reflexion dieser antiken Erkenntnisse. Kants Moralphilosophie, die wohl als der stärkste moderne Entwurf einer Ethik beurteilt werden muss, unterliegt gewiss Platonischen Einflüssen, ohne allerdings sich in solchen zu erschöpfen. Ob es ein christliches Ethos gibt, ist eine andere, keineswegs leicht zu beantwortende Frage. Dabei ist deutlich, dass Platons und Aristoteles' Überlegungen zur Tugend politisch motiviert sind. Das Ethische gibt es nur in der Polis. Die philosophische Betrachtung des Ethos versteht sich demnach als Politische Philosophie. Es ist sogar unverkennbar, dass eine solche politische Motivation die Untersuchungen der Praxis durchgehend, freilich in unterschiedlicher Hinsicht, betont. Während für Platon der Philosoph beanspruchen darf, der wahre Politiker zu sein (Politeia 24 473d)1, überlässt Aristoteles die Aufgabe der guten Einrichtung einer Polis dem Gesetzgeber (Nikomachische Ethik 1103 b 3-7; 1180 a 14-21), wobei er dessen Angewiesenheit auf das philosophische Wissen immerhin akzentuiert (NE, 1180 b 20). Während in den Fragen des guten und gerechten Handelns die Moderne stets auf den antiken Ursprung zurückgeht, scheint sie in der politischen Theorie eigene Wege beschritten zu haben. Doch selbst eine Platon und Aristoteles unbekannte Theorie des Gesellschaftsvertrags geht möglicherweise in ihrer inneren Begründung auf Voraussetzungen zurück, die ihre Herkunft in der Antike haben. Noch solche z.B. bei Hobbes zu findenden Absetzbewegungen könnten als eine intensive Bezugnahme interpretiert werden. Insofern die philosophischen Erörterungen das Europäische Ethos als ein politisches betrachten, ergibt sich von Anfang an ein charakteristisches Verhältnis zwischen der Philosophie und der Polis bzw. zwischen den Philosophen und den Vielen. Dieses Verhältnis ist keineswegs einfach strukturiert. Es enthält eine Spannung, von welcher die Philosophie als solche bis in die Gegenwart hinein betroffen ist. Denn einerseits bezieht sich eine Untersuchung des Ethos stets auf das gewöhnliche Handeln der Vielen in einer Gemeinschaft, indem sie in diesem Handeln erkennt, was allgemein als Gut gilt und demnach die Gemeinschaft erhält. Und andererseits nimmt die Philosophie das Wissen vom Guten aus seiner Idee oder seinem Wesen selbst, um es normativ auf das gewöhnliche Handeln der Vielen anzuwenden, indem sie es bessern will. Diese „Anwendung" des philosophischen Wissens wird von den Vielen auf spezifische Weise beantwortet. Auf der Basis seiner Überlegungen zum „classical natural right" hat Leo Strauss das einmal auf folgende Weise dargestellt. Wo die Philosophen im Kontext der Polis ein Wissen vom Guten und demnach ein Wissen von der besten Einrichtung der Polis haben, entsteht mit Notwendigkeit die Frage nach dem „best regime"2. Das „beste", nämlich philosophisch orientierte „Regime" setzt voraus, dass die „unwise multitude must recognize the wise as wise and obey them freely because of their wisdom". Die „ability of the wise to persuade" sei aber „extreme-ly limited". Strauss führt ein bemerkenswertes Beispiel an: „Socrates, who lived what he thought, failed in his attempt to govern Xanthippe." Wie dem auch sei: deutlich ist, dass Sokrates Art und Weise, mit seinen Freunden und Feinden zu sprechen, jedenfalls keine Herrschaft realisierte. Es sei nach Strauss „extremely 1 Die Quellen: Platonis opera. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Ioannes Burnet, Oxford University Press, Oxford 1900-1907 (Impression of 1956); Aristotelis Ethica Nicomachea. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit I. Bywater, Oxford University Press, Oxford 1894 (Reprint 1988); Aristotelis Politica. Recognovit W.D. Ross, Oxford University Press, Oxford 1957. 2 Leo Strauss, Natural Right and History, The University of Chicago Press, Chicago und London 1950, S. 141. unlikely that the conditions required for the rule of the wise will ever be met". Wahrscheinlicher sei, dass „an unwise man" „catering the lowest desires of the many" eine „tyranny" begründen wird. Unter der Voraussetzung dieser Sachlage müsse „the indispensable requirement for wisdom be qualified by the requirement for consent". Das „political problem" bestehe daher in „reconciling the requirement for wisdom with the requirement for consent". Die Spannung zwischen einer philosophischen Ethik bzw. einer Ethik, die diesen Namen verdiente, und dem Leben der Vielen fasst Strauss als die Spannung zwischen der „Weisheit" und der „Unweisheit", zwischen dem philosophischen Leben und dem Leben der Vielen. Sie erscheint als eine Art von natürlichem Gefälle zwischen dem Wissen und der Unwissenheit bzw. der Meinung. Demnach folgert Strauss, dass „civil life requires the dilution of natural right by merely conventional right": „Natural right would act as dynamite for civil society."3 Oder anders gesagt: das „simply good, which is good by nature and which is radically dictinct from the ancestral, must be transformed in the politically good". Für Strauss ist demnach evident, dass die philosophische Erkenntnis in der Sache der Ethik und ein aus dieser Erkenntnis entspringendes philosophisches Leben sich vom Leben der Vielen „radikal" unterscheidet. Diesem Unterschied entspricht sodann ein solcher zwischen dem „schlechthin Guten" und dem „politisch Guten", eben weil das „schlechthin Gute" die bestehende Polis zerstören würde. Das schließt eine bestimmte Auffassung der philosophischen Untersuchung des Ethos aus, nämlich diejenige, die meint, dass sich im Leben der Vielen selber, d.h. im „Angestammten" bzw. in den Gewohnheiten oder Sitten, das „schlechthin Gute" zu erkennen geben müsste. Das lässt als notwendig erscheinen, noch einmal zu untersuchen, was Platon und Aristoteles über das Leben der Vielen zu sagen haben. Noch einmal, weil eine sich als „phänomenologisch" verstehende Philosophie inzwischen die Ansicht vertritt, dass die so genannte „Lebenswelt" in sich stets ein Spektrum von „Ha-bitualitäten" etabliert, die nicht einfach „radikal" von der philosophischen Erkenntnis des Guten abgetrennt werden könne.4 Es ist in diesem Zusammenhang auch darauf verwiesen worden, dass bereits Aristoteles das Ethos als das spezifisch Ethische zumindest unter anderem vom Ethos als dem Gewohnten her verstanden haben soll (NE 1103 a 17). Hegels Bestimmung der „Sitte" und „Gewohnheit" als „zweiter Natur' (Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 151) müsse in diesem 3 Ebd., S. 153. 4 Vgl. Klaus Held, „Horizont und Gewohnheit. Husserls Wissenschaft von der Lebenswelt", in: Helmuth Vetter (Hg.): Krise der Wissenschaften — Wissenschaften der Krisis? Wiener Tagungen zur Phänomenologie, Peter Lang, Frankfurt am Main, Berlin, Bern et al. 1998. S. 11-25. 25 26 Sinne gedeutet werden.5 So hat selbst Heidegger die griechische Bedeutung des Ethos als des angestammten Wohnsitzes in der Weise angesprochen, dass sich das Ethische als eine Weise des Zuhauseseins interpretieren lasse.6 Um den Charakter des Europäischen Ethos in seinen Umrissen zu erfassen, ist zunächst gefordert, das Leben der Vielen, wie Platon und Aristoteles es erläuterten, in den Blick zu nehmen. In dieser Hinsicht scheint mir keineswegs ausgeschlossen zu sein, dass sich der Hinweis des Aristoteles, die ethische Tugend entstamme der Gewohnheit, als sehr missverständlich erweist, hat doch schon Hegel vielleicht nicht zu Unrecht die „Gewohnheit" einen „schweren Punkt in der Organisation des Geistes" (Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), § 410) genannt. Im Anschluss an die Darstellung der wesentlichsten Strukturelemente eines Lebens der Vielen werde ich dann die moralphilosophischen Kernaussagen Platons und Aristoteles' entfalten, um zu ermessen, wie sich das Verhältnis des „schlechthin Guten" zum „politisch Guten" darstellen lässt. Dabei ist allerdings schon im Vorhinein zu betonen, dass solches, was hier als Europäisches Ethos verstanden wird, seinen wie auch immer zu begreifenden Bezug zur Polis als ein ihm zugehöriges Element in sich enthält. Das Europäische Ethos ist nicht erst ethisch und dann auch noch politisch, sondern es ist bereits als es selbst ein politisches Ethos. Schließlich wird die Frage zu stellen sein, wie weit der politische Anspruch des Europäischen Ethos gefasst werden kann und muss, wenn sich erweist, dass das Europäische Ethos als solches ein Universales Ethos ist. 2. Das Leben der Vielen Wie bekannt ist die Reflexionsform der Vielen die Meinung. Die Meinung ist nicht wie die völlige Unwissenheit auf nichts bezogen, sondern auf etwas, das sich wiederum von dem wirklich zu Wissenden unterscheidet. Die mögliche Differenzierung zwischen einem zu meinenden Etwas, das sich als ein stets Veränderndes und Endliches herausstellt, und einem zu Wissenden, das sich als Unveränderliches, Immerseiendes, mithin als Idee bekundet, bleibt abstrakt. Die Reflexionsform der Vielen kann nicht bloß negativ vom philosophischen Erkennen unterschieden werden. Ihr muss eine positive Eigenschaft zukommen. 5 Allerdings ist es eine unstatthafte Einseitigkeit, Hegels Begriff der „Sittlichkeit" auf diesen Begriff der „Sitte" zu verkürzen. Für Hegel ist die „Sittlichkeit" „der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit" (Grundlinien der Philosophie des Rechts, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1976, § 142). Das setzt voraus, dass das „wahrhaft Sittliche" als solches sich nicht nur in den notwendig un-reflektierten „Gewohnheiten" realisiert, sondern auch gewusst wird, denn nur derjenige ist frei, der weiß, dass er frei ist. 6 Martin Heidegger, „Brief über den ,Humanismus'", in: Ders.: Wegmarken, GA 9, hrsg. von FriedrichWilhelm von Herrmann, Klostermann, Frankfurt/M. 1996, S. 356f. Das Meinen muss in seiner ihm eigenen Bedeutung für das Leben der Vielen verstanden werden. Dabei scheint es mir wichtig zu sein, den Bezug des Meinens eben zum Leben buchstäblich zu nehmen. Es ließe sich kaum verstehen, inwiefern die Vielen in der Reflexionsform der Meinung verharrten und offenkundig sogar auf ihr beharrten, wenn sie nicht eine dem Leben förderliche Eigenschaft enthielte. Im politischen Kontext erscheint die Meinung von Anfang an nicht als eine indifferente Reflexionsform, die man pflegen könne oder auch nicht, sondern als die Macht der Vielen (Kriton, 46b). Der Philosoph weiß demnach, mit wem er es zu tun hat, wenn er, wie Sokrates es tat, die Meinungen der Vielen prüft. Dabei ist es nicht unbedeutend, dass die Meinenden zunächst glauben, im Besitz eines Wissens zu sein, dann aber erkennen müssen, dass davon nicht auszugehen sei. Diese Selbsttäuschung wiederum darf der Philosoph nicht als eine bloß negative Erscheinung auffassen, sondern muss in ihr ein Merkmal des sozialen Lebens als solchem anerkennen. Die Macht der Vielen hängt mit einer dauernden, unzerstörbaren Selbsttäuschung zusammen. Die Meinung als Macht der Vielen stellt sich primär als die Macht der Masse dar. Die Polis als ganze besteht auf ihre Gewohnheiten und ihr Gewohnheitsrecht, sie lässt sich sozusagen nicht bewegen bzw. wird im Falle einer Attacke auf ihre Gewohnheiten diese geltend machen. Die Frage ist nur, warum sie dies tut, wenn doch der Philosoph offenbar etwas zu sagen hat, was der Polis zum Guten ausschlägt. Womöglich besteht die Macht der Vielen als Meinung noch in etwas anderem als nur in ihrer rohen Masse. 27 Für Platon und für Aristoteles bzw. für die Philosophie überhaupt ist der Gedanke, dass das Gute und Gerechte als solches ein Wissen für Experten sei, abwegig. Auf das Gute ist jeder Mensch als solcher bezogen, es wird ihm nicht erst beizubringen sein, dass es in seinem Leben um dieses geht. Für Platon und Aristoteles ist dem Menschen diese Orientierung von der Natur her vorgegeben. Wenn Aristoteles meint, die ethische Tugend ergebe sich aus der Gewohnheit, dann denkt er an die Einübung einer natürlichen Ausrichtung auf das Gute, wobei der Philosoph ausdrücklich darauf verweist, dass die Tugenden selber nicht aus der Natur stammen, jedoch aus eben jenem Grund, dass das Gute eine natürliche Orientierung des Menschen ist, auch nicht gegen die Natur entstehen können (NE 1103 a 24). Indessen werden die Vielen unter dem Guten etwas anderes verstehen als die Philosophen, und es gehört zur eigentümlichen Reflexivität des Meinens, dass dieses sich offenbar für die Realisierung des von den Vielen als Gut Betrachteten besser eignet als das Erkennen und Wissen. 28 Für Platon und Aristoteles ist dieses von den Vielen als Gut Bezeichnete das Angenehme oder die Lust. Was die Charakterisierung der Meinung als Macht der Vielen betrifft, wird zu akzentuieren sein, dass sich diese Macht gerade darin erweist, die Lust verwirklichen zu können. Im politischen Zusammenhang ist sozusagen der Kanon der Lüste geradezu naturwüchsig vorgegeben. Ruhm, Reichtum, Gesundheit, sozialer Erfolg eben sind angenehm, alles, was sie verhindert oder auch nur erschwert, unangenehm. Im sozialen Kontext ist das sich auf das Verändernde und Endliche bezogene Meinen nun erfolgreicher als das Wissen, das schließlich zu der Erkenntnis kommt, dass das Angenehme und die Lust nicht das wahre Gute oder nicht die wahre Glückseligkeit sind. Platon und Aristoteles unterscheiden beide zwischen dem Leben als solchem und dem Gut-Leben (Kriton, 48b; Politeia 1258 a 40). Das Leben als solches scheint eine ständige Bewegung zu sein, sich das Angenehme insofern anzueignen, als diese angenehme Aneignungsbewegung das Leben selbst ist. Leben ist Lust, Tod Unlust. Aristoteles macht sogar darauf aufmerksam, dass dieses Begehren seiner Natur nach unbegrenzt sei, weswegen die so Lebenden auch nach unbegrenzten Mitteln suchen, das unbegrenzte Begehren zu verwirklichen. Diese unbegrenzten Mittel finden in der Meinung die entsprechende Reflexivität eher als im Wissen, das im Gut-Leben einen Sinn erkennt, der das Begehren selbst dann begrenzt, wenn es als solches nicht erfüllt werden kann und demnach seinerseits in einem Streben besteht. Jedenfalls wird das Begehren des Gut-Lebens nicht auf die Lust und d.h. zuletzt eben keineswegs auf das Leben als solches bezogen. Diese Radikalität nun des philosophischen Erkennens erscheint den Meinenden ihrerseits als durchaus negativ und damit als unannehmbar. Wenn Platon und Aristoteles das Leben und das Gut-Leben differenzieren, dann liegt die Möglichkeit dieser Differenz in dem, was beide unter Natur verstehen. Es ist in dieser Hinsicht eine moderne Verengung der Natur, wenn wir sie auf das bloße Leben einschränken. Für Kant z.B. ist das Gute gerade nicht von Natur her gegeben, vielmehr wissen wir von ihm, indem wir uns von der Natur befreien bzw. als Menschen immer schon befreit haben. So entstamme das Gute nicht der Kausalität der Natur, sondern der Kausalität der Freiheit, d.h. der (praktischen) Vernunft. In der Sache allerdings stimmt Kant mit seinen antiken Vorgängern überein. Denn diese sind in der Lage, die ethische Differenz, die Kant zwischen der Natur und der Freiheit erblickt, zwischen dem Leben als solchem und dem Gut-Leben anzusetzen. Für Platon und Aristoteles handelt derjenige, der sich gegen das bloße Leben entscheidet und womöglich in der Tapferkeit dafür sogar den Tod findet, durchaus naturgemäß. Für die Vielen ist eine solche Wendung des Lebens Ohnmacht.7 Für sie gilt, dass Meinen Macht ist - Vermögen zur Realisierung des bloßen Lebens, seines Genusses und seiner Genüsse. Dabei könnte es der Fall sein, dass die Rolle, die das Leben als solches dabei spielt, die Bedeutsamkeit des Meinens relativiert. Denn wenn das Meinen der prinzipiellen Beweglichkeit des Lebens besser entspricht als z.B. das Wissen, dann könnte es sein, dass sich das Meinen als das eigentlich mächtige Lebens-Mittel beweist. Wie das tierische Leben mit der Ausbildung des Blutkreislaufs zusammenhängt, so besteht das menschliche in der reinen Organisierung des Meinens. Dazu passt, dass für die Philosophie die Sprache als solche den Menschen noch keineswegs vom Tier unterscheidet, bleibt er doch als sprechender immer noch ein sprechendes Tier. Vielleicht könnte von daher die scheinbar heftige Aussage des Aristoteles, die Vielen erwiesen sich als sklavenartig, da sie das Leben des Viehs (d.h. der Lust) vorziehen (NE 1095 b 19-22), weniger polemisch als sachlich gedacht sein.8 Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist nicht, dass er spricht, sondern dass er über das Gute und Gerechte selbst sprechen kann und dieses in der Dichtung in reinster Form vermag. Dass der Mensch wahrhaft gut und gerecht leben kann, bildet die spezifische Differenz zum Tier aus. Nicht mehr Tier zu sein, ist keine Eigenschaft, sondern eine Möglichkeit des Menschseins. So gesehen sind die Gewohnheiten als solche noch keineswegs ethische Tugenden, sondern vorgegebene Orientierungsbahnen für sozial erfolgreiches Leben. Dafür spricht mitunter auch der soziale Erfolg der Sophisten. Denn was diese mit der Macht der Vielen verband und verbindet, ist das Einverständnis dahingehend, dass nur solches Wissen sinnvoll sei, das die sozialen Erfolgschancen steigert.9 Das ist keineswegs abfällig zu verstehen. Wenn Sokrates von seinen reichen Freunden hört, sie würden ihre Söhne von Sophisten bilden lassen wollen, dann wird dieses in der Meinung gesagt, dass diese Ausbildung dem Stand und Fortkommen ihrer Zöglinge hilfreich sei. In dem Falle, dass reine Gewohnheiten vorgegebene Orientierungsbahnen für erfolgreiches Leben sind, könnte z.B. behauptet werden, dass auf dieser Ebene 7 Vgl. das von Platon dargestellte stetige Gelächter der Vielen über die Philosophie, die solch eine Wendung als nötig betrachtet (Phaidon, 64b; Theaitetos, 174a; Politeia, 473b; Gorgias, 573e; etc.) und seine Interpretation von Alkibiades (Symposion, 22ie). 8 Nach Augustinus ist die „Gewohnheit" ein Phänomen, das auch den Tieren zugesprochen werden muß. Vgl. Confessiones, a text and commentary by James J. O'Donnell, Clarendon Press, Oxford 1992, 10. Buch, XVII, 26. 9 Vgl. Leo Strauss, „The Problem of Socrates", in: Ders.: The Rebirth of ClassicalRationalism. An Introduction to the Thought of Leo Strauss, Essays and Lectures by Leo Strauss, edited by Thomas L. Pangle, The University of Chicago Press, Chicago und London 1989, S. 170: „The sophists are mere imitators of the polis and of the politicians." 29 30 kulturelle Differenzen philosophisch bedeutungslos sind. Unterschiedliche Eß-gewohnheiten sind interessant für neugierige Touristen und Gourmets, kulturell differente Verhaltenscodices im gesellschaftlichen Verkehr, sei es zwischen Mitgliedern aus unterschiedlichen sozialen Schichten oder womöglich sogar zwischen den Geschlechtern, bieten Stoff für eine komparativ verfahrende Kulturwissenschaft, jedoch nicht für den Philosophen. So betrachtet sind ohnehin die kulturellen Differenzen ziemlich beschränkt. Denn es ist zwar der Fall, dass die eine Kultur ein Essen mit Messer und Gabel dem Essen mit der bloßen Hand oder den Stäbchen traditionell vorzieht. Doch niemals hat man eine Kultur gesehen, die mit den Füßen ißt. Das bloße Leben läßt eine solche Kultur nicht zu. Erst also wo diese Kulturdifferenzen den Rang der ethischen Tugenden selbst berühren, d.h. die Frage nach dem Guten betreffen, werden sie ein philosophisches Thema. Um bei den Beispielen zu bleiben: es ist nicht besonders bedenkenswert, ob sich eine Gesellschaft der Geschlechter mono- oder polygam organisiert, es ist jedoch sehr wohl bedenklich, wenn eine kulturspezifisch geprägte Gesellschaft dazu tendiert, den Ehebruch mit einer Steinigung der Frau zu ahnden. Die Bedeutung des Europäischen Ethos liegt nicht darin, dass es in den Gewohnheiten die ethischen Tugenden erkennt, sondern dass es die ethischen Tugenden von den Gewohnheiten zu unterscheiden vermag. Durch diese Differenzierung betritt das Europäische Ethos von Anfang an die politische Sphäre. Erst mit dieser Unterscheidung tritt das „schlechthin Gute" und das „politisch Gute" auseinander, denn das „politisch Gute" muss die meinungsgeleiteten Interessen am Angenehmen bzw. am bloßen Leben im Blick behalten. Hegelisch gesagt ist das „System der Bedürfnisse" wohl ein notwendiges Element, aber keineswegs das Ganze der „Sittlichkeit". 3. Das ethische Leben Das ethische Leben hebt sich vom Leben der Vielen, vom Leben in den Gewohnheiten ab. In den Gewohnheiten zieht das Leben in seinem „gesunden Egoismus" seine Bahnen. Erst in einer spezifischen Selbstunterscheidung des Lebens von sich selbst tritt die Frage nach einer ethischen Praxis auf. Diese Selbstunterscheidung ist eine Reflexion, jedoch eine andere als die Reflexionsform der Meinung. Die Meinung reflektiert auf die in den Gewohnheiten vorgegebenen Möglichkeiten des sozialen Erfolgs, der selbst dann nur in Meinungen zu finden ist, wenn die Meinungen zu einem savoir vivre austrainiert werden. Die ethische Praxis indessen besteht in einem Wissen. Die beiden Reflexionsformen unterscheiden sich dadurch, dass die Meinung auf die sich stets ändernden Angelegenheiten, die allerdings nie die Bahnen der Gewohnheiten verlassen, bezogen ist, während das Wissen sich mit dem immer Selben beschäftigt. Daraus ent- steht mit Notwendigkeit eine Unterbrechung des gewohnten Lebens. Das Meinen affirmiert den Lebensfluss prinzipiell, das Wissen muss ihn theoretisch stets, praktisch im Extremfall negieren. Der Meinende braucht sich die Frage, ob es wirklich gut ist, was er tut, nicht zu stellen, der Wissende sehr wohl. Die Orientierung der Meinung geht auf die sich zerstreuende Lust, die des Wissens auf das gesammelte Gute bzw. die wahre Glückseligkeit. Dass das ethische Leben in einem Wissen besteht, betont Sokrates mehrfach. Er weiß, dass Unrecht tun oder einem Besseren nicht zu gehorchen, einem Gott oder einem Menschen, schlecht ist (Apologie, 29d). Unrecht zu tun ist überhaupt in allen Belangen schlecht (Kriton, 49b). Selbst Unrecht zu erleiden sei besser, als Unrecht zu tun (Gorgias, 509a). Diese Sätze bzw. dieser Satz stehen und steht fest und alle die versuchen, das Gesagte zu widerlegen, werden bei diesem Versuch scheitern. Sie, die über die Philosophen lachen, machen sich ihrerseits lächerlich. Gemäß diesem Wissen sind alle Tugenden gewusste Tugenden. Sie basieren auf der Erkenntnis. Aristoteles scheint diese Charakterisierung der Tugend als eines Wissens in der bekannten Differenzierung zwischen den dianoetischen und ethischen Tugenden zu unterlaufen. Doch selbst die ethischen Tugenden sind keine reinen Gewohnheiten. Die Tugenden müssen vielmehr durch Gewöhnung erst zu solchen werden. Daher bezeichnet Aristoteles auch einmal die Tugend als eine Technik, in den Leidenschaften und Handlungen auf die Mitte zu zielen (NE 1109 a 22). Was diese Mitte ist, wissen wir zwar nicht immer schon, doch wir müssen lernen, sie zu wissen. Sie wird, das betont der Philosoph, durch Vernunft bestimmt (NE 1106 b 35 ff.). Das Sokratische Leben, stets jenem besten Satz zu folgen (Kriton, 46b; Gorgias, 509a), an diesem besten Satz selbst dann festzuhalten, wenn er den Tod bedeutet, ist auf eine Konfrontation mit der Polis angelegt. Das bestätigt Sokrates mit der Selbstdarstellung als politischer Stechfliege (Apologie, 3oe). Aristoteles bestimmt die höchste Lebensform des Philosophen anders. Es sei nicht das politische, sondern das betrachtende Leben, das den Philosophen zur höchsten Glückseligkeit verhelfe (NE 1095 b 16 ff. bzw. 1177 a 19 ff.). Doch einerseits wäre es eine unstatthafte Verkürzung, das Sokratische Leben mit dem von Aristoteles so bezeichneten politischen Leben zu identifizieren, und andererseits ist sich auch Aristoteles bewusst, dass das Wissen vom ethischen Leben eine Differenz zum Leben der Vielen bedeutet. So müsse der Gesetzgeber über solches Wissen verfügen, um die Bürger durch Gewöhnung tugendhaft werden zu lassen (NE 1103 b 3). Das vermag der Gesetzgeber jedoch nur dann, wenn er mehr weiß als die in den Meinungen lebenden Vielen. 31 32 Es könnte die Frage gestellt werden, ob sich die Platonische Ethik von der des Aristoteles so unterscheidet wie der Extremfall vom Normalfall. Die unausgesetzte Orientierung am besten Satz scheint ein Maximum an Gutheit zu fordern, die von Aristoteles verwendete Rede von der Tugend als einer „Mitte" suggeriert ein abgemildertes Ethos. Mir scheint eine solche Differenzierung jedoch den Kern der Sache zu verfehlen. Der Sache nach z.B. setzt Aristoteles die Tugend der Tapferkeit in die Mitte zwischen Mut und Furcht, wobei das Übermaß an Mut, die Tollkühnheit, der Tapferkeit nicht so entgegengesetzt ist wie das Übermaß an Furcht, die Feigheit (NE 1109 a 1 ff.). Wenn Aristoteles nun denkt, dass eine solche Tapferkeit durch eine gezielte, d.h. durch Wissen inszenierte Angewöhnung realisiert wird, welche er mithin als Gewalt bezeichnet (NE 1110 b 16 ff. oder 1179 b 29), die also Schmerz voraussetzt (NE 1179 b 35), dann wird damit eine Erziehung in Betracht gezogen, die dem Platonischen Denken zumindest nicht wi-derspricht.10 Im Horizont des darzustellenden Europäischen Ethos dürfte also die Differenz, nach welcher sich der Sokratisch-Platonische Kerngedanke im Bereich des Ethischen als ein markanter Satz, als eine präzise Aussage präsentiert, während Aristoteles eine Überlegung anstellt, eher zu vernachlässigen sein. Das ethische Leben befindet sich naturgemäß in einer Spannung zum Leben der Polis. Europäisches Ethos ist Politisches Ethos, ohne dass diese Konsequenz einer eigenen Entscheidung unterliegen müsste. Vermutlich ist diese Konsequenz sogar eine Auszeichnung des Europäischen Ethos, und die Diskussionen, ob und wie der Universalismus des Europäischen Ethos' kulturübergreifend Bedeutung erlangen soll, sind nur eine unmittelbar Folge dessen, was es für den Europäer heißt, gut zu leben. Insofern das Europäische Ethos niemals bereits in den immer schon gelebten Gewohnheiten zu finden ist, ist es sozusagen wesensgemäß „universal". 4. Das universale Ethos. Die gute Gewalt Wenn dem Europäischen Ethos sein universaler Anspruch nicht erst künstlich zugeschrieben werden muss, sondern wenn dieser ihm „zu Eigen" ist, dann wird 10 Anders Strauss: „For Plato, what Aristotle calls moral virtue is a kind of halfway house between political or vulgar virtue which is in the service of the bodily well-being (of self-preservation or peace) and genuine virtue which, to say the least, animates only the philosophers as philosophers." Leo Strauss, The City and Man, The University of Chicago Press, Chicago and London 1964, S. 27. Dieser Sicht entspricht, dass Aristoteles z.B. für die Glückseligkeit veranschlagt, dass der Glückselige in guten äußeren Verhältnissen leben müsse (NE 1178 b 33). Letztlich hängt der von Strauss zu Recht bemerkte Unterschied im zwischen Platon und Aristoteles divergierenden Verständnis des Philosophen zusammen. Für Aristoteles ist der Philosoph bereits der sich entpolitisierende Theoretiker, ohne allerdings den in der Moderne der Theorie immanenten Zug der Neutralisierung und Indifferenz zu kennen (NE 1105 b 12 ff.). die politische Sphäre, wie sie sich im letzten Jahrhundert entfaltet hat, notwendig von diesem Anspruch betroffen. Damit lässt sich auch das nach Strauss „politische Problem" der „Versöhnung" der „Forderung nach Weisheit mit der Forderung nach Zustimmung" in seiner weitesten Bedeutung verstehen. Im Kontext der von Strauss entfalteten Naturrechtsthematik stellt sich demnach die Frage nach der Übertragung des natürlichen Rechts in das bürgerliche Recht. Platon, vor allem derjenige der „Gesetze", und Aristoteles haben dementsprechend die Bedeutung des „Gesetzgebers" berücksichtigt. In dieser Hinsicht ist es weniger wichtig zu sehen, dass Platon womöglich den Philosophen selber in dieser Rolle sieht, während Aristoteles zumeist einen beratenden Ton anschlägt. Beide dürften sich darin einig sein, dass das Leben der Vielen, obwohl schon von Natur auf das Gute hin orientiert, nur durch eine Änderung wahrhaft zu bessern sei. Da diese Änderung nicht freiwillig erfolgen wird, ist Gewalt nötig (NE 1110 b 16). Es gibt demnach keine Gesetzgebung, die nicht durch Gewalt verwirklicht, was sie für gut hält. Die Bezeichnung der drei Elemente der Herrschaft als „Gewalten" hat hier ihren Ursprung. Diese Gewalt scheint mit dem Charakter der Philosophie selber zusammenzuhängen. Das Höhlengleichnis ist in dieser Hinsicht ein beredtes Zeugnis. Die Befreiung zur Philosophie hat als solche etwas Gewaltsames (Politeia, 5i5d). Sie besteht nämlich in einem Herausreißen der Einzelnen aus den dem Leben folgenden Gewohnheiten. Zu Anfang ist die von der Philosophie verlangte Selbstunterscheidung des Lebens mit einem spezifischen Zwang und Schmerz verbunden. Philosophie ohne Zwang ist womöglich „Wissenschaft", aber keine Philosophie. Das hängt auch mit der bereits erwähnten Spannung zwischen dem ethischen Leben und der Polis zusammen. 33 Im Falle der Verrechtlichung ethischer Prinzipien tritt allerdings noch eine ganz andere Gewalt in Erscheinung. Jetzt beginnt die Polis selber auf sich selbst Gewalt auszuüben. Das tut sie mit objektiven Gesetzen und Institutionen. Gute Gesetze sind dabei solche, die sich eindeutig auf die ethischen Prinzipien zurückführen lassen und darum sich als deren konsequente Realisierung erweisen. In diesem Sinne lässt sich auch von einer guten Gewalt sprechen. Abzulehnen ist dagegen eine solche politische Gewalt, deren Herleitung einer Verrechtlichung unethischer Behauptungen eines ideologisch oder religiös verblendeten Führers bzw. einer solchen Führerclique entspricht. Dass grundsätzlich jede politische Gewalt abzulehnen wäre, geht indes an dem natürlich gespannten Verhältnis zwischen dem Ethos und der Polis, mithin an dem Charakter von Recht und Gesetz vorbei. Europäisches Ethos ist in seiner ihm eigenen Reflxivität in sich selbst gewaltsam, und die Abschaffung der Gewalt wäre eine solche des Ethos selbt. 34 Insofern das Europäische Ethos von sich her einen universalen Anspruch auf seine Verrechtlichung erhebt, ihn sich folglich nicht einfach anmaßt, entsteht das Problem einer universalen Gewalt. Diese Gewalt lässt sich nicht als schlecht oder gar als böse bezeichnen, folgt sie doch dem Anspruch klarer ethischer Prinzipien. Zu erwarten, dass sich diese Gewalt gleichsam gewaltlos durchsetzen könnte, ist kein Traum, sondern eine bloße Träumerei. Gewohnheiten, die das Europäische Ethos in seiner Verrechtlichung als unethisch und d.h. verbrecherisch betrachtet, können nicht geduldet werden. Daraus ergibt sich unvermeidbar ein universaler Konflikt, der erst dort beendet wäre, wo das Europäische Ethos als Universales Ethos ein universales Recht geltend machen könnte. Diskussionen nun, die solchen Überlegungen „Eurozentrismus" vorwerfen, gehen am Problem vorbei. Die universale Bedeutung des Europäischen Ethos verhindert kulturelle Differenzen keineswegs. Sie spricht den anderen Lebensweisen nichts ab. Im Gegenteil, indem gerade das Europäische Ethos eine Achtung vor dem Dasein des Anderen kennt, erklärt es sich bereit, vom Anderen zu lernen. Selbst eine grundsätzliche Skepsis gegen sich selbst samt der Bereitschaft, sich immer wieder selbst zu prüfen, gehört zu seinem Charakter. Das liegt in seiner philosophischen Herkunft, womöglich zuletzt sogar in seiner ihm eigenen guten Gewalt begründet. Der Universalismus des Europäischen Ethos betrifft lediglich solche „Gewohnheiten", die, seien sie europäisch oder nicht-europäisch, als unethisch, mithin als verbrecherisch bezeichnet werden müssen. In dieser Hinsicht käme es einer Selbstaufgabe gleich, würde das Europäische Ethos auf die gute Gewalt, die es von Anfang an auf sich selbst ausübt, Verzicht leisten. Màdàlina Diaconu DiE GRAMMATiK DER EUROPÄiSCHEN SEiNSGESCHiCHTE. Die Perspektive eines „Randbewohners" Zur Person und zum Werk 35 Constantin Noica (1909-1987) ist fur die rumänischen Intellektuellen eine emb-lematische Gestalt und war schon zu seinen Lebzeiten zu einer Kultfigur geworden. Bis auf ein paar italienische und spanische Übersetzungen ist er im Westen weniger bekannt, wo sein Name üblicherweise im Zusammenhang mit seiner langlebigen Freundschaft mit Mircea Eliade, Emil Cioran und Eugène Ionesco genannt wird. Nach philosophischen, mathematischen und klassisch-philologischen Studien an der Universität Bukarest, in Paris (1938) und in Berlin (wo er 1940/41 als Referent für Philosophie am Rumänischen Institut angestellt war), nach der Begegnung mit Spranger und Heidegger (1943), wurde Noica nach seiner Rückkehr nach Rumänien unter den neuen politischen Bedingungen zunächst zehn Jahre aufs Land verbannt und mit Berufs- und Publikationsverbot belegt. Als Sportlehrer in einem rumänischen Dorf entwarf er den ersten Teil seiner späteren Ontologie. Nach weiteren sechs Jahren Gefängnis, wo er u. a. aufgrund des Briefwechsels mit Emil Cioran inhaftiert wurde, war er ab 1964 Forscher am Institut für Logik der Rumänischen Akademie der Wissenschaften. Nach seiner Emeritierung im Jahre 1975 lebte er in Bukarest und in Pältini§, einem Kurort in der Nähe von Sibiu/Hermannstadt, der bald zu einem Wallfahrtsziel von zahlreichen Intellektuellen wurde, hauptsächlich von Geisteswissenschaftlern, aber auch von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren mit Interes- 36 se an Philosophie. Seine engsten Schüler sind seither als „die Schule von Pältini§" bekannt; zu ihr zählen Forscher, die nach 1989 auch in öffentlichen Funktionen, als Universitätsprofessoren, Minister, Verlagsdirektoren, Mitglieder von Gremien, Direktoren von Privatinstituten usw. wirkten. Das umfassende Werk Noicas besteht vor allem in einer Ontologie und Kulturphilosophie, die von Descartes, Kant, Hegel und Heidegger beeinflusst wurde, ohne dass sie dadurch an Originalität einbüßt; außerdem übersetzte er Platon, die griechischen Kommentatore zu Aristoteles und Augustinus, Descartes, Kant und Hegel1. Lebensweltlicher und theoretischer Ausgangspunkt De dignitate Europae ist im Grunde genommen eine Auseinandersetzung mit dem damaligen tatsächlichen oder nur vermuteten Skeptizismus mancher westlicher Stimmen, die das Ende Europas (d. h. der europäischen Kultur) ankündigten und beklagten. Und so beginnt auch das Buch: mit einem „Brief an einen westlichen Intellektuellen", in dem dessen angebliche Frage „Sind wir noch zu retten?" zu verstehen versucht wird. Das Bild des Westens aus der Perspektive -so Noica - eines „Randbewohners" liest sich zunächst nicht viel anders als die geläufigen Kulturkritiken der Moderne: Seit zwei Generationen wird Eure Jugend, aus der vielleicht einige Genies hätten hervorgehen können, auf die Straße getrieben und hysterisch gemacht. Ihr habt es nicht verstanden, die rühmliche Gegenseite unsrer Kultur ins rechte Licht zu rücken.2 Um seinen Angriff richtig zu verstehen, bedarf es der Anmerkung, dass Noica selbst davon träumte, wie er sagte, eine Mannschaft von jungen Leuten zu trainieren, die die intellektuelle Elite des Landes bilden hätte sollen - „Kulturtrai- 1 Sein Frühwerk enthält: Mathesis sau bucuriile simple, Fundatia pentru Literaturä si Artä „Regele Carol II", Bukarest 1934; Concepte deschise în istoria filosofiei la Descartes, Leibniz ¡i Kant, „Bucovina", Bukarest 1936; Viata ¡i filosofia lui René Descartes, Alcalay & Co., Bukarest 1937; De caelo. Incercare în jurul cunoajterii ¡i indi-vidului, Vremea, Bukarest 1937; Doua introduceri ¡i o trecere spre idealism, Fundatia Regalä pentru Literaturä çi Artä, Bukarest 1943; Jurnalfilosofic, Publicom, Bukarest 1944; Pagini despre sufletul românesc, „Luceafarul", Bukarest 1944. Die Hauptwerke wurden jedoch nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis geschrieben: Un eseu despre întelesulgrec al dragostei de oameni ¡i lucruri, Ed. pentru Literaturä Universalä, Bukarest 1969; 27 de trepte ale realului, Ed. §tiintificä, Bukarest 1969; Rostireafilosofica româneasca, Çtiintificâ, Bukarest: 1970; Creatie ¡i frumos în rostirea româneasca, Ed. Eminescu, Bukarest 1973; Eminescu sau gînduri despre omul dep-lin al culturii românefli, Ed. Eminescu, Bukarest 1975; Sentimentul românesc al fiintei, Ed. Eminescu, Bukarest 1978; §ase maladii ale spiritului contemporan, Ed. Univers, Bukarest 1978; Povestiri despre om dupa o carte a lui Hegel (Fenomenologia spiritului), Ed. Cartea Romäneascä, Bukarest 1980; Devenirea întru fiinta, Bd. 1: Incercare asupra filosofiei traditionale, Bd. 2: Tratat de ontologie, Ed. Çtiintificâ çi Enciclopedicä, Bukarest 1984; Trei introduceri la devenirea întru fiinta, Ed. Univers, Bukarest 1984; Scrisori despre logica lui Hermes, Ed. Cartea Romäneascä, Bukarest 1986; De dignitate Europœœ, Kriterion, Bukarest 1988. 2 Constantin Noica, De dignitate Europae, Kriterion, Bukarest 1998, S. 6. ner" zu sein, war sein Traum und diesen Beruf zu ermöglichen, die Aufgabe des Staates. In De dignitate Europae sieht er als Lösung, um der desorientierten Jugend Werte angedeihen zu lassen und sie aus der Lethargie zu reißen, das Lernen der Kulturgeschichte Europas: Die jungen Leute sollen erfahren, „daß vor etwa tausendfünfhundert Jahren eine Kultur entstand, die mit ihren Werten die übrige Menschheit erfaßte, sie ausbeutete, es ist wahr, sie aber auch erzog; daß also fast alles, was heute auf dem Erdball geschieht und morgen sogar im Kosmos geschehen wird, den Stempel Europas trägt".3 Die Europäer seien nicht nur Piraten, Konquistadoren und Korsaren gewesen, sondern auch „Korsaren des Geistes" - und dies sei ein Grund zum Stolz. Den Begriff des Kulturschaffenden leitet Noica im Weiteren von einer allgemeinen Auffassung des Verhältnisses zwischen der Regel und der Ausnahme ab. Es gibt nach ihm fünf Kategorien von Ausnahmen: Manche entkräften die Regel, andere bestätigen vielmehr das Gesetz, einige erweitern die Regel, wieder andere verkünden diese und schließlich gibt es Ausnahmen, die sich behaupten, indem sie selbst zur Regel werden. Den letzten Fall bilden die „Genies" - als Ausnahmen, welche die bestehenden Gesetze aufheben und an ihre Stelle treten. Die Weltkulturen kennen alle diese Formen des Verhältnisses zwischen der Regel und der Ausnahme, jedoch begünstigt jede von ihnen einen bestimmten Typ dieser fünf. Europa zeichnet sich durch den Vorrang der Genies als Kulturschaffende aus und verdrängt damit die Gesetze und ihre religiösen Vertreter - die Götter: Noica betont damit indirekt den Rationalismus als europäischen Grundwert. Die struktur der europäischen Kultur als synthetische Einheit und ihr Anfang Im Vergleich zu anderen Kulturen ist die europäische Kultur „vollgültig" aus einem anderen - wieder spekulativ argumentierten - Grund: Sie bietet das Beispiel einer synthetischen Einheit. Jede Konfiguration, jeder Kulturtyp verwirklicht ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Einen und dem Vielfachen, gemäß einer der folgenden fünf Arten: 1. Das Eine und seine Wiederholung, 2. das Eine und seine Abwandlung, 3. das Eine im Vielfachen, 4. das Eine und das Vielfache, 5. das Vielfach-Eine.4 37 3 Ebd. 4 Ebd., 35. 38 Die Terminologie erinnert deutlich an Platons Parmenides, auch wenn dieser genius loci des europäischen Denkens hier nicht erwähnt wird. Allerdings suggerieren die weiter vorgebrachten Beispiele eher ein religiöses Kriterium als ein onto-logisch-logisches Schema als Grundlage der obigen Klassifikation: Das Eine wird in den „primitiven" Kulturen des Totem-Typs bloß wiederholt; das Eine wird in den monotheistischen Kulturen abgewandelt; das Eine im Vielfachen kommt in den pantheistischen Kulturen vor, etwa in Indien, wo die Gottheiten keine deutlichen Konturen haben und wo auf die Abschaffung der Individuation als Abnormität abgezielt wird; das Eine und das Vielfache ist spezifisch für die polytheistischen Kulturen der griechischen Art; und schließlich begründet das Viel-fach-Eine die Struktur „unserer Kultur", d. h. der europäischen, die konventionell im Jahre 325 mit dem Konzil zu Nicäa begann. Die Griechen haben sich ständig nach der Einheit gesehnt; erst die „europäische Kultur" bewertet die Diversifizierung der Einheiten positiv bzw. erreicht sie eine sog. Verteilung ohne Zerteilung. Damit eng zusammen hängt der Wertbegriff; denn auch die Werte verteilen sich, ohne sich zu zerteilen. Der Wert ist kein Gut i. S. von Gütern, die wir konsumieren und die dadurch verschwinden. Dagegen sind es die Werte, die uns „insumieren"; als ideelle Wesen bleiben sie jedoch unversehrt. Die Kultur unterscheidet sich von der Natur dadurch, dass sie zum Wert erhöht, was im natürlichen Zustand nur ein Gut sein kann. Anders gesagt ist die Kultur gerade ein Wertsystem und im Besonderen ist die europäische Kultur ein System selbstständiger Werte, viel diverser als in der griechischen Welt. Über die Anfänge der europäischen Kultur wurde ausführlich und kontrovers geschrieben. Noica legt als ihren Beginn - wie gesagt - das Konzil zu Nicäa fest, als Moment eines Bruchs mit der Natur, mit der bisherigen Vernunft und mit der Antike selbst. Dabei ist die Rolle, die der christlichen Theologie zuerkannt wird, unverkennbar, und zwar betont Noica polemisch gegen die übliche westliche Kulturgeschichte (hier werden Burckhardt, Spengler und Nietzsche erwähnt), obschon in der Tradition der rumänischen Historiographie,5 die europäische Rolle von Byzanz. Keine Lücke trennt den Fall des Römischen Reichs von der Genese der mittelalterlichen europäischen Kultur und wir verdanken nicht nur den Arabern die Übertragung der Kulturwerte der Antike; als die ersten Klöster im Westen gegründet worden sind, konnte Europa schon auf eine jahrhundertelange zivilisatorische und ideengeschichtliche Entwicklung zurückblicken, die „am Rande eines Europa im größten Chaos und einer arabischen 5 So definierte Nicolae Iorga die Rolle der rumänischen Fürstentümer nach dem Fall von Byzanz als ein „Byzance après Byzance" i. S. der Bewahrung und Überlieferung einer gewissen kulturell-religiösen Identität in Osteuropa (Byzance après Byzance, 1934; http://www.unibuc.ro/CLASSICAJbyzance/index.htm, eingesehen am 29. Mai 2007). Welt von Nomaden"6 stattgefunden hatte. Die theologischen Auseinandersetzungen in Byzanz, die fast fünfhundert Jahre andauerten, sieht Noica als Kämpfe von „ganze[n] Massen anonymer Menschen [...] ihrer Ideen wegen ";7 sie sollen die späteren Disputationes an der Sorbonne durch ihre Leidenschaft und ihren Massencharakter bei weitem übertroffen haben. Am Ende dieses Prozesses setzte sich der Gedanke der synthetischen Einheit durch: Das Paradox der Doppelnatur Christi übersetzt Noica ontologisch als die Verkörperung des Gesetzes im jeweiligen Fall, und die Dreifaltigkeit - im Übrigen an seine eigene Ontologie angepasst - als eine Synthese zwischen dem Gesetz (dem Allgemeinen), der individuellen Wirklichkeit und den Bestimmungen. Zwar musste zu jener Zeit, als das Buch geschrieben und veröffentlicht wurde, als Subjekt dieses Satzes das unschuldige „Lebewesen" fungieren. Und auch die christliche Theologie wurde zur „europäische[n] Mythologie" umformuliert. Sie lässt alles aus einer einzigen „Legende", „aus der Legende von einem in der Krippe geborenen Kind",8 entstehen. Aus ihr haben sich dann die selbstständigen Wertsysteme entwickelt, zunächst unter dem Primat der Religion (Mittelalter), dann der Künste und der Wissenschaften (Renaissance), der Philo s ophie, der Geschichte und Politik, bis zum gegenwärtigen Vorrang der technischen Werte. Kulturphilosophie als Sprachmorphologie Dieser historische Prozess wird systematisch durch eine neue Morphologie der Kulturen begründet. Die klassische Kulturmorphologie und ihre Nachfolger (Leo Frobenius in Paideuma, Spenglers Der Untergang des Abendlandes, Toynbees A Study of History und in Rumänien Lucian Blaga mit seiner Kulturtrilogie9) legten den Kulturen je eine spezifische Raumform zugrunde. Noica bringt dagegen zwei Einwände ein: i. Die räumlich fundierte Kulturmorphologie verfestigt eine Kultur zu einer starren Gestalt oder zu einem Raumsymbol (etwa die Grotte oder die gewellte Linie), das dann normgebend und daher reduktionistisch wirkt. 2. Sie stellen sich die Kulturen als geschlossene Konfigurationen vor und können folglich nicht vom gesamten Europa Rechenschaft geben: 39 6 Ebd., 53. 7 Ebd. 8 Ebd., 56. 9 Trilogia culturii von Lucian Blaga (erstmals i943 erschienen; in: Opere Bd. 9, Minerva, Bukarest i985) ist die bis heute noch bedeutendste kulturphilosophische Interpretation in Rumänien. Blaga folgte einerseits teilweise Frobenius und Spengler und andererseits Jung, um ein geordnetes System inhaltlich und stilistisch kulturbildender Kategorien zu entwerfen, die unbewusst und kollektiv sind. 40 Die Utopien stellten sich eine ideale Geschichte auf Inseln vor; die Kulturphilosophie sieht die nunmehr real gegebene Geschichte als Archipel. Dabei läßt sie für keinen Kontinent Raum.10 Nach Noica bedarf es einer neuen Morphologie, um eine Philosophie der Kultur in der Einzahl und nicht bloß irreduzibler Kulturen zu begründen. Die neue Kulturphilosophie erinnert an die ursprüngliche, grammatikalische Bedeutung der Morphologie, die die „Wortarten" zum Gegenstand nimmt, und wird daher als eine Sprachmorphologie oder als eine „Grammatik der Kultur"11 bezeichnet. Sie besagt konkret, dass jede europäische Kulturepoche im Zeichen der Dominanz einer gewissen Wortart steht: Im Mittelalter überwog das Substantiv, in der Renaissance das Adjektiv, in der Zeit der Reformation, Gegenreformation und der französischen Klassik das Adverb, dann das Pronomen und schließlich in der Gegenwart das Numerale und die Konjunktion. In jedem von diesen Zeitaltern drückt sich - ein Gedanke mit unverkennbar hegelschen Resonanzen - der Logos oder der kulturschaffende Geist im Ganzen aus, jedoch auf je eine bestimmte Art und Weise, die alle jeweiligen Kulturformen prägt. Diese Diversität unterscheidet Europa von anderen Kulturen, etwa von der altägyptischen oder der chinesischen, die im Laufe der Geschichte nur eine einzige Wortart zu verwirklichen vermochten (das hieratische Substantiv bzw. das ethische Adverb). 1. Das Mittelalter und das Substantiv. Noica lässt die aufgeworfene Frage, ob jede Kultur mit dem Substantiv beginnt, offen und beschränkt sich auf die Darstellung des europäischen Mittelalters, in dem unterschiedliche Phänomene eine Vorherrschaft der Namen bzw. der Quidditäten und ideellen Wesen zeigen: der Streit über die Universalien; die durchgehende Substantivierung (d. i. Personifizierung) von ethischen Qualitäten und seelischen Akten in Le Roman de la Rose (von Courtoisie, Envie, Contrainte, Peur, bis zu Bel Accueil, Male Bouche, Dous Regars, Biau Semblant usw.); Dantes Allegorien; die Alchimie mit ihrer edlen Welt von Substanzen und Wirklichkeiten (vom Schwefel und Quarksilber bis zu den substantivierten Nigredo, Albedo, Rubedo) usw. 2. Die Renaissance - das Adjektiv. Verglichen mit den mittelalterlichen Rittern erscheinen die italienischen Städte in der Zeit der Renaissance wie eine bunte Menschenansammlung. Heterogenität wird zu ihrem Kennwort und daher kann sich das neue Bewusstsein am besten durch die Malerei, als typische Kunst des 10 Noica, 1988, 67. 11 Ebd., 69. Adjektivs, äußern. So wird das Menschenwesen mit „Epitheta" geschmückt wie: uomo magnifico, piacévole, unico, singolare, universale usw. Vor allem die Bedeutungsverlagerung des letzten Wortes weist auf das Eintreten in ein neues Zeitalter hin: Das Universale gehört nicht mehr zu den Substantiven, sondern wird - wie im erwähnten Ausdruck - zum Adjektiv. Noica folgt dabei der klassischen Renaissance-Interpretation Burckhardts - daher auch die Betonung des Karnevals und der Triumphzüge als spezifisches Renaissance-Phänomen. Die Auslegung dieser Epoche anhand des Adjektivs geht so weit, dass sogar einzelne Gestalten als Verkörperung der Steigerungsstufen des Adjektivs dargestellt werden, mit mehr oder weniger überzeugenden Argumenten und eindeutig vereinfachend: Leon Battista Alberti steht für den Komparativ, Pico della Mirandola mit seinen hervorragenden Begabungen und, auf einer anderen Ebene, der fanatische Savonarola für den Superlativ, während Leonardo da Vinci durch seine Bescheidenheit trotz der Universalität sowie auch durch das Interesse an der Natürlichkeit „ruhig zur Grundstufe des Adjektivs zurückfand]".12 Sein Werk konnte nur fragmentarisch bleiben, weil auch die unzähligen Adjektive kein abgeschlossenes System bilden. 3. Das Adverb — Reformation, Barock, Klassizismus. In dieser Epoche herrschten la manière, die Art der Auslegung bekannter Werte (etwa des Altertums) und das Verhalten. Das Adverb bestimmt und präzisiert, regelt und kodifiziert die Wir-kungs- und Handlungsart des Menschen: Diese kann exzessiv (Barock), streng (Gegenreformation), hart (Kalvinismus), mit würdevollem Maß, später frei, subtil und anmutig etc. sein. - Alle gestalten eine Zeit, in der das Ethische herrscht. Und wenn Eugenio d'Ors das Barock als eine Konstante des menschlichen Geistes betrachtete, so hatte er insofern Recht, als das Barock die adverbiale Konstante der Handlung und des Verhaltens betrifft. Zugleich aber, weil das Adverb nur begleitet, kann diese Epoche nicht (und wollte es ursprünglich auch nicht) etwas Neues hervorbringen, weder die Reform, noch die Gegenreformation und vielleicht sogar am wenigsten der Klassizismus: Dasselbe wird nur anders gemacht bzw. interpretiert. In den Vordergrund tritt die Methode, das Wie der Handlung oder des Erkennens (Descartes, Kant). 4. Das Pronomen. Der gesamte Zeitraum zwischen Montaigne und „uns", d. h. der Gegenwart, steht für Noica unter dem Zeichen des Pronomens. Zwar deckt er sich teilweise mit der adverbialen Kulturepoche und bleibt auch in seinem Ende ziemlich vage und unbestimmt, doch seine Merkmale sind deshalb nicht weniger klar und deutlich. So entdeckte Montaigne die Neuheit des Ich, des individuellen Selbst; seine Essais bilden nicht nur den Ursprung des Romans als ei- 41 12 Ebd., 84. ner spezifisch modernen literarischen Gattung, sondern rechtfertigen auch das Porträt in der Malerei und später die Fotografie. Zunächst hält mit der Post-Renaissance der Autor Einzug in die europäische Kultur; niemand würde an den „Manien und Idiosynkrasien eines einfachen >Ich<" Interesse finden - so Noica, der auch sonst für jede Ablehnung des „bloß Biographischen" im Denken und in der Kunst bekannt war -, wenn diese nicht die Würde des Individuums in nuce enthielten.13 Bereits die Renaissance spaltete die Einheit des Wesens in eine Pluralität von Verkörperungen auf. Dieser Prozess wird jetzt fortgesetzt: Der Autor ist nicht allein, er schreibt - wie Montaigne - für seinen „Bruder", den Leser, der dasselbe Recht hat, sein Leben öffentlich mitzuteilen und somit Autor zu werden. Kein individuelles Ich darf von der Repräsentativität ausgeschlossen werden. 42 In den orientalischen Kulturen geht das Ich in der anonymen Masse auf; in Griechenland fängt es sich zwar zu behaupten an, doch entartet es in der Zügellosig-keit eines Alkibiades, des alles verspottenden Aristophanes oder der Sophisten. Die Demokratie wurde erst in der europäischen Moderne möglich als Zeitalter des Pronomens, und zwar indem hier das „Ich" zu einem „Wir" wird. Die Einschätzung des Denkers dieses Phänomens schwankt zwischen der Kritik an der „Belanglosigkeit" individueller Geschichten und der Zustimmung zur Erhebung der Individualität zur Persönlichkeit, die in Goethe gipfelt und dann im Weiteren anarchisch abgebaut wird. Erscheinungen dieser Kulturepoche sind sowohl das in der individuellen Vernunft gründende ethische Gesetz Kants als auch das krankhafte Ich Nietzsches. Der Hegelianismus bringt jedenfalls zum Ausdruck, dass sich die gesunde Vernunft des individuellen Ich zum objektiven Geist (d. i. zu Gemeinschaften) organisiert. Das individuelle Ich wird zum Träger eines Wir. Zwar verfehlte die kurz danach gegründete Soziologie - so Noica - den tieferen, d. i. für den Denker immer den philosophischen Sinn des historischen Prozesses. Die Statistik der Soziologie macht deutlich, dass das Wir gezählte Individuen summierte, wie auch später in der modernen Mathematik die Mengenlehre aus der Totalisierung der Punkte entstand. 5. Das Numerale und die Konjunktion. Somit beginnt ein neues Zeitalter, in dem wir heute leben. Es ist die Zeit der Konjunktionen, d. h. der Beziehungen, allerdings der äußerlichen Verbindungen wie „und", „oder", „wenn" etc. Sie bedeuten keine Solidarität, sondern sind bloß „Konnektive" wie in der Logik. Daher 13 Ebd., 105. Dabei wird unter „Individuum" im Weiteren nur der Mann verstanden; nur ihm komme als Wesen die — wieder hegelianisch lautende — „Objektivierung des Geistes" zu, während der Geist der Frau eben ihr Körper sei (ebd., 106). bilden diese „koordinierten" Einzelnen eine anonyme Menge, nicht viel anders als ein Fischschwarm: [...] daß sie sich also du sagen, ohne sich zu kennen, Blue Jeans tragen und es bis zum Nudismus treiben, weil sie keine Identität haben, daß sie zu Hippies werden, weil sie keine Behausung haben, daß sie eher durch musikalische Ansprechbarkeit als durch die des Wortes kommunizieren und sich schließlich in eine Sekte aufnehmen lassen, weil sie doch einer Gemeinschaft bedürfen [...]14 Der über 75jährige Denker geht nicht gerade schonend mit der jüngeren Generation um; er sieht in solchen Phänomenen vielfache „Nihilismen". Eine ebenso scharfe Kritik ruft auch die Herrschaft der Zahlen hervor, die jeder geistige Bedeutung (wie sie sie etwa in der pythagoräischen Mystik hatten) beraubt allein technischen Zwecken zur Verfügung gestellt werden. Die Zahl macht alles Gezähltes gleich und in dieser Hinsicht spielt die moderne Mathematik, bei allen ihren Verdiensten, auch eine verheerende Rolle, indem sie Formen und Wirklichkeiten gleichermaßen homogenisiert und unwirklich macht. Mit der Zahl und den koordinierenden Konjunktionen wird der Formalismus als Grundzug der gegenwärtigen Kultur eingeführt. unterwegs zu einem Zeitalter der Präposition und das unsterbliche Europa 43 Diesem kritischen Bild der Gegenwart setzt Noica die kulturschaffende Kreativität entgegen: Alle Ich können addiert und ihr Werden statistisch kontrolliert werden, nur die sog. „fruchtbaren Ich" nicht: Ein Professor der Mathematik wird mit einem Professor der Mathematik zusammengezählt, ein Riemann und ein Poincaré aber nicht.15 Noicas Kulturkritik darf jedoch nicht mit den apokalyptischen Tönen eines Spengler oder der Kulturrelativisten verwechselt werden. Die Grundnote bleibt optimistisch, die Kritik soll gerade einen Neubeginn ermöglichen. Gegen den damaligen Ausruf seines Freundes Eugène Ionesco „Le roi se meurt!" schlägt Noica die Frage nach dem „Eintritt ins Leben" vor16 und träumt vom günstigen Moment (Kairos) der Verwirklichung einer neuen kulturellen Genese. Zwar deutet er immer wieder an, dass die nächste Kulturepoche diesmal vielleicht im Zeichen der Präposition stehen wird; der Gedanke kann aber wohl nicht davon losgelöst 14 Ebd., 71. 15 Ebd., 120. 16 Ebd., 138. gesehen werden, dass im Zentrum der Ontologie Noicas, die in der Nachfolge Heideggers das Ausdruckspotential der Sprache betont, selbst eine Präposition steht - intru -, die praktisch kein genaues Äquivalent in den anderen romanischen Sprachen hat. Abgesehen aber von der konkreten Bestimmung der Zukunft besteht das Grundanliegen Noicas darin, das Modell Europas zu behaupten. Alle anderen uns bekannten Kulturen sind nur Teilkulturen gewesen - so Noica -, sowohl räumlich als auch in ihrer Gestalt. Erst die europäische Kultur vermochte sich über den ganzen Erdball auszubreiten, und zwar aufgrund ihrer strukturellen Vollständigkeit. Der Eurozentrismus ist daher nach Noica berechtigt. Wenn die europäische Kultur unterginge, dürfte etwas von ihr immer noch überleben: Das Modell, das sie der historischen Welt geboten hat. Es würde wiedererstehen als das Selbstbewußtsein jeder anderen vollgültigen Kultur - falls es noch eine gäbe. [...] Es dürfte also kein „Europozentrismus" sein, wenn wir erklären, daß das europäische Modell als einziges auch für andere Kulturen Gültigkeit haben könnte. Von Europozentrismus wurde nur zu jener Zeit gesprochen, als Europa die Werte anderer Kulturen und Zivilisationen ignorierte, selbst wenn es auf historischer Ebene mit ihnen Kontakt aufgenommen hatte. Aber im zwanzigsten Jahrhundert hat der Aus-44 druck seinen abwertenden Sinn verloren [!], seit die europäische Kultur nicht allein assimilierte, was in anderen Kulturen Geltung besaß (in erster Linie die Erfahrung in Kunst und Sprache, manchmal auch im Denken), sondern ihrerseits die eigenen moralischen, ideologischen, ökonomischen und zivilisatorischen Werte bei ihnen verbreitete und auf natürliche Weise [!] den ganzen Erdball europäisierte.17 Nachwort: Die Antwort der Jugend Angesichts des relativ eingeschränkten Bekanntheitsgrades von Noica außerhalb Rumäniens und der Tatsache, dass Modelul cultural european bisher noch nicht in Fremdsprachen übersetzt wurde, auch wenn das Buch - wie bereits erwähnt -in Rumänien zuerst in einer deutschen Übersetzung erschienen ist, wollten die vorliegenden Ausführungen nicht mehr als eine Darstellung des Denkens Noi-cas sein und beabsichtigten keine Stellungnahme. Am Ende lässt sich dennoch die Frage nicht vermeiden, ob Noicas Auffassung der europäischen Identität im neuen Kontext eines politisch wachsenden Europas tatsächlich eine Anregung sein kann. 17 Ebd., 22 f. Noicas europäisches Kulturmodell verführt gewiss als ein gedanken- und geistreiches Spiel mit der europäischen Kulturgeschichte, doch seine Stringenz überzeugt weniger. Im Anspruch, umfassende Kulturphänomene in ein System zu fassen, liegen zugleich die Stärke und die Schwäche seines Denkens: Einerseits liefert sein Buch ein Gesamtbild der europäischen Kultur, was seinen deklarierten erzieherisch-erbaulichen Absichten (die Jugend von ihrer Entmutigung zu heilen) entspricht. Andererseits entsteht nichtsdestoweniger der Eindruck einer starken Vereinfachung der europäischen Diversität und der subjektiven Auswahl seiner Beispiele. Auch die Inspirationsquellen seiner neuen Kulturmorphologie sind eigentlich jene, die auch Lucian Blaga in den 1930er Jahren für seine Kulturphilosophie zum Ausgangspunkt nahm; sie haben längst ihre Aktualität verloren. Wesentlich beim Philosophieren ist jedoch für Noica (wie im Übrigen auch für Blaga) die Kreativität; und in dieser Hinsicht hat er seine eigene hinreichend bewiesen. Außerdem lassen sich im besprochenen Buch Noicas auch Leitmotive finden, die von der „Schule von Pältini§" nach der Wende 1989 fortgesetzt wurden, wie etwa die Kritik der Moderne und die Kritik des Kulturrelativismus, der nun im Zusammenhang mit der Postmoderne betrachtet wird. Die Rolle der Orthodoxie beim Aufbau Europas - ein Aspekt, der immerhin vom Rationalisten Noica gemäßigt ausgewertet wurde - wurde von philosophischen und künstlerischen Kreisen im gegenwärtigen Rumänien stärker betont. Nicht zuletzt wurde Noica in den letzten Jahren von ausländischen Exegeten für seine vermeintlich widersprüchliche politische Haltung, genauer für die Zerrissenheit zwischen Nationalismus und Eurozentrismus kritisiert,18 was andererseits rumänische Noica-Spezi-alisten zurückgewiesen haben. Die Diskussion zum politischen Hintergrund des Denkens Noicas lief allerdings bis vor kurzem ausschließlich in Rumänien selbst; das ist mitunter einer der Beweise dafür, dass sein Denken immer noch die philosophische Szene in Rumänien maßgeblich prägt. 45 18 Alexandra Laignel-Lavastine, Filozofie si nationalism.. ParadoxulNoica, Humanitas, Bukarest, 1998. Karel Novotny EUROPA UND NACHEUROPA iN DER PHiLOSOPHiSCHEN REFLEXiON JAN PATOČKAS Motto: 47 „Wir haben kein anderes explizites Denken als das europäische, und gerade zu dem muß man sich extrem kritisch zu verhalten wissen, will man die Zukunft in ihren eigenen, eigentlichen Problemen sehen." Jan Patocka Es wurde darauf hingewiesen, daß die geschichtspilosphischen Texte Jan Patockas die Gefahr eines Eurozentrismus laufen, daß in diesem Sinne auch und besonders sein letztes Buch, die Ketzerischen Essais über Philosophie der Geschichte,1 sogar an manchen zentralen Stellen geradezu einem Eurozentrismus das Wort reden. Es geht um Stellen, wo sich Patocka den Thesen Edmund Husserls und Martin Heideggers über die Geschichtlichkeit der eigentlichen Geschichte anschließt, die trotz wichtigen Unterschieden das Gemeinsame haben, daß sie die Geschichte mit dem das abendländische Europa prägenden philosophischen Geist im Grunde entstehen, sich erneuern und fallen lassen. i Jan Patocka, Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte (1974/76), übers. von J. Bruss und P. Sacher, in: Jan Patocka, Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte und ergänzende Schriften, hg. von K. Nel-len und J. Nemec, Klett-Cotta, Stuttgart 1988, S. 21-164. Im Folgenden KE. Nach einer zugespitzten Formulierung Patockas, die genau in diese Richtung geht, gibt es eigentlich gar keine andere Geschichte als die europäische.2 Eine solche Geschichtsauffassung und entsprechende Philosophie der Geschichte scheint dann naiv und sogar gefährlich eurozentrisch zu sein. Ich möchte diese beiden Punkte, die Naivität und Gefährlichkeit der Geschichtsphilosophie Patockas mit seinen Reflexionen zu Nacheuropa konfrontieren, denen zufolge wir nach dem Ende der europäisch geprägten Geschichte leben, also in einer Geschichtsepoche, die ihr Zentrum eben nicht in Europa hat. Es ist bemerkenswert, daß Patockas eurozentrisch klingenden Thesen gerade in dem Moment formuliert werden, in dem er das Ende Europas als ein Faktum ausdrücklich anerkennt und versucht, sich mit der damit entstehenden, neuen Situation auseinanderzusetzen. Man kann also von einem etwas paradoxen Nebeneinander der beiden Befunde sprechen: einerseits wird gesagt, es gebe nur europäische Geschichte, andererseits aber sollen wir uns spätestens seit den 60er Jahren dieses Jahrhunderts in einer nacheuropäischen Epoche der Geschichte, also einer weiteren Epoche der Geschichte befinden. Die Geschichte geht weiter, obwohl sie eigentlich abgeschlossen sein soll, nachdem Europa im machtpolitischen Sinne den Kampf um die Welt oder zumindest um den Primat in der Welt verloren hat. 48 Die Frage ist aber eben, was unter der Geschichte hier verstanden wird, was die Geschichte zur Geschichte macht. Darauf hat Patocka eine bestimmte Antwort, die sich in verschiedenen Abwandlungen durch sein ganzes Werk hindurch zieht und die auf folgender Hypothese beruht: die Geschichte hat geistige Grundlagen, aus denen her sie verständlich ist. Es ist die Dimension, in der sich das Leben über sich selbst eine Klarheit schafft und davon ein Zeugnis ablegt. Wenn Patockas Hypothese stimmt, daß die Geschichtlichkeit, das, was Geschichte zur Geschichte macht, in der geistigen Existenz des Menschen, in seinem geistigen Vermächtnis wurzelt, im Aufschwung, durch den er sich aus dem Verfall (die Annahme der allgemeinen Tendenz zum Verfall ist notwendige Voraussetzung dieser Hypothese) aufrafft, dann ergibt sich die Frage, was Europa in diesem Sinne, geistig, noch in der neuen Situation anzubieten hat. Mit anderen Worten: ist das Nach-Europa auf diese Weise geschichtlich, d. h. der eigentlichen Geschichte fähig? Die Frage läuft darauf hinaus, wie, von welchen allgemeineren Rahmen aus, die Diskontinuität und Kontinuität zwischen dem Alten und Neuen gedacht werden sollen, und zwar doch noch von diesem nicht mehr zentralen 2 Siehe Jan Patocka, Platon a Evropa (Vorlesung aus dem Jahre 1973), in: Sebrané spiy Jana Patocky (Gesamtausgabe der Schriften Jan Patockas), 2. Band: Péce o dusi, II. Teil, hg. von I. Chvatik und P. Kouba, Oi-koumene, Praha 1999, S. 343. Im Folgenden PD II. Vgl. die Stelle in der französischen Übersetzung von E. Abrams, Plato et l'Europe, éditions Verdier, Lagrasse 1983, S. 225: „Or l'histoire est l'histoire de l'Europe, il n'y a pas d'autre." Ausgangspunkt, der uns als das geistesgeschichtliche Erbe Europas unvermeidlich bestimmt. Die Texte Patockas vom Anfang der 70er Jahren zum Thema „nach-europäische Epoche der Geschichte", die er selbst zwar nur teilweise publizierte, die aber auch in seinen letzten Essays und Aufsätzen deutliche Spuren hinterlassen haben, geben uns eine Möglichkeit, dieser Konstellation nachzugehen, in der die beiden gegenläufigen Thesen bei Patocka entstanden sind.3 Ich werde mich dabei auf folgende Schritte beschränken: Zuerst möchte ich zeigen, wie das Neue an der nacheuropäischen Epoche der Geschichte bei Patocka aufgefaßt wird. Zweitens möchte ich in zwei Schritten (2. und 3. Abschnitt) den doppelten Ansatz präsentieren, in dem Patocka sowohl konstruktiv an Europa anknüpft, dabei sich aber zugleich vom alten Europa distanziert, seine historische Destruktion tätigt. Schließlich soll die positive Antwort Patockas auf die Aufforderung der nacheuropäischen Epoche anhand seiner letzten Schriften skizziert werden. 1. Zum Begriff „Nacheuropa" Zunächst ist es deutlich, daß dieser Begriff mit dem Ende Europas zusammenhängt. Das Ende Europas wird als ein historisches Faktum aufgenommen: spätestens im zweiten Weltkrieg hat Europa seine Stellung der Weltmacht verloren. Von diesem Untergang Europas geht Patocka aus und versucht, die neue, nun kommende Situation, die damit entstanden ist und entsteht, zu beschreiben. Es ist aus der Art und Weise, wie Patocka über Europa und Nach-Europa spricht, klar, daß er nicht den geographischen Begriff Europa im Sinne hat, sondern daß er an ein historisches Phänomen „Europa", bzw. „Nacheuropa" denkt, von dem allein gesagt werden kann, daß es entstanden, bzw. im Entstehen ist und vergehen kann. 49 Was unsere Situation als eine neue prägt, ist die globalisierende, auf den ganzen Planeten sich ausbreitende Tendenz zu einer technisch-rationalen Zivilisation, die in Europa zu Hause war und die sich mit einem deutlichen universalistischen Anspruch auswirkt. Europa brachte diese Zivilisation als Voraussetzung einer 3 Der einzige publizierte Text ist der Aufsatz „Die geistigen Grundlagen des Lebens in unserer Zeit". Das Thema „Nach-Europa", das hier zum ersten Mal formuliert ist, wird dann weiter entwickelt in folgenden auf Deutsch verfaßten Manuskripten, die unpubliziert blieben: „Die nach-europäische Epoche und ihre geistigen Probleme", „Europa und Nach-Europa", „Geschichtsschema". Dazu gibt es noch kleine Entwürfe, ich werde weiter unten einen zitieren, der mit keiner Überschrift versehen die Signatur 3000/104 trägt. Alle diese Texte werden zugänglich in der tschechischen Übersetzung im zweiten und dritten Band der Gesamtausgabe: Jan Patocka, Pece o dusi, sv. II, Oikoumene, Praha 1999 und Jan Patocka, Pece o dusi, sv. III, Oikoumene, Praha 2002. planetarischen Menschheit hervor, ist aber machtpolitisch nicht mehr ihr Träger. Mit Europa ist historisch der Dynamismus verbunden, der zu einer Weltgeschichte real tendierte, dabei hat es sich aber durch die Katastrophen der beiden Weltkriege als das Zentrum der Weltgeschichte aufgelöst. Was ist das Neue an dieser Situation, das Patočka dazu zwingt, hier von einer radikalen Zäsur, von einem Bruch zu sprechen? Patočka ging in seinen geschichts-philosophischen Reflexionen immer davon aus, daß die Geschichte „geistige Grundlagen" hat und nur aus diesen zu verstehen ist. Er vertritt auch im Spätwerk diesen Standpunkt. Man kann Stellen aus seinen Texten der 30er, 40er, 50er, aber eben auch der 70er Jahren finden, die diese Überzeugung zum Ausdruck bringen. Nun wurde gerade seit den 30er Jahren immer klarer, daß sich alle drei Begriffe die Geschichte, der Geist und die Idee einer Grundlegung oder einer Grundlage sehr problematisch zeigen. Das Neue, was wir bei Patočka am Anfang der 70er Jahren, und zwar zuerst im Aufsatz „Die geistigen Grundlagen des Lebens in unserer Zeit" finden können, besteht nicht darin, daß er auf den problematischen Charakter der erwähnten Begriffe reflektiert. Das hat er auch früher gemacht, ohne diese Begriffe abzulehnen. Er wird sie auch jetzt nicht verwerfen und durch andere ersetzen. Patočka versucht sich jetzt mit dem neuen „Zeitgeist" der planetarischen Menschheit auseinanderzusetzen, die sich unter der Wirkung 50 der technisch-rationalen Zivilisation zu gestalten scheint. Es gibt ein Bild der neuen Welt, auf das sich Patočka in diesen Texten über Nacheuropa immer wieder bezieht, ein Bild, nach dem die europäische „geistige Ausweglosigkeit", die „dekadente Kultur des Subjektivismus" durch einen energischen Lebenswillen der außereuropäischen Nationen ersetzt und in den Hintergrund verdrängt zu werden beginnt.4 Gegen eine optimistische Einschätzung der Verbindung der technischen Errungenschaften der Wissenschaft mit diesem Lebenswillen erinnert Patočka daran, daß auch in einem „positiven", anscheinend „nach-metaphysischen" Zeitgeist, der aus dieser Verbindung entstehen würde, eben auch eine bestimmte Einstellung zur Wirklichkeit impliziert wäre. Patočka sieht diese Verbindung sehr skeptisch an, weil die rationalistische Einstellung zur Wirklichkeit die Rolle der geistigen Grundlage, nach der er fragt, eben nicht erfüllen kann. Der globale, planetarische Leib der technischen Zivilisation scheint ihm keinen von der instrumentalen Ratio unterschiedlichen Geist zu haben, die wissen- 4 Patočka bezieht sich auf den Optimismus, den ihm die Analyse der gegenwärtigen „post-modernen" Epoche von Geoffrey Barraclough anzuzeigen scheint. Vgl. Geoffrey Barraclough, Introduction to Contemporary History, Penguin Books, London 1964. Vgl. Jan Patočka, „Die geistigen Grundlagen des Lebens in unserer Zeit", KE, 353 ff., „Europa und Nacheuropa", KE, S. 207 ff. Zitate aus der S. 215. schaftlich-technische Rationalität mit ihrer nivellierenden Wirkung scheint ihm sogar keine solche Geistigkeit zuzulassen. Patocka fragt sich da, ob die technische Einstellung der modernen Wissenschaft zur Wirklichkeit den alten Geist Europas, nämlich den Subjektivismus, tatsächlich überwindet und ob sie die beginnende Epoche der Menschheit als eine neue positiv bestimmen kann. Seine Antwort ist hier in diesem Punkte eindeutig: den planetarischen Ausgriff der Wissenschaft und Technik sieht er als die Verabsolutierung der Ratio im Sinne einer ausschließlichen Reduzierung auf das, was Kant als Verstand bestimmt. Dieser Einstellung des kalkulierenden Verstandes entspricht eine Praxis, die von der Voraussetzung einer Absolutheit des Subjekts ausgeht und insofern wäre diese auf den ganzen Planeten sich ausdehnende technische Einstellung nur eine Fortsetzung des „modernen", subjektivistischen Europas, dessen Grundfehler Patocka als ein „Sichverschliessen durch Verabsolutierung" charakterisiert.5 Wenn aber unsere Gegenwart demgegenüber tatsächlich neu ist, und von einer Diskontinuität der Gegenwart im Bezug auf das europäisch geprägte 19. Jahrhundert geht Patocka als einer Tatsache aus, dann kann das Neue der nacheuropäischen Epoche also nicht in dieser Einstellung beruhen, die eigentlich geistlos ist, weil sie eben nur auf einer Zweck-Mittel-Rationalität beruht. Das Problem ist also, für Patocka, wodurch sich das geistige Vakuum einer neuen planetarischen Menschheit erfüllen wird, wenn sie entscheidend durch die technische Zivilisation durchdrungen sein wird. Dieses Problem will Patocka natürlich nicht an Stelle der kommenden Menschen lösen, wofür sich diese entscheiden werden, das kann jetzt nicht gesagt werden, Patocka schlägt aber immerhin eine formale Bedingung einer Geistigkeit als solchen vor, die nämlich, die er „offene Seele" nennt. Der Mensch muß auch in der nacheuropäischen Epoche das bleiben, was er war, soll er einer Geistigkeit fähig sein: „ein existierendes Wesen, das sich nicht in sich selbst verschließt, sondern sich vielmehr Offenheit zur Aufgabe gemacht hat".6 Es geht offensichtlich bei Patocka darum, eine Art transzendentale Bedingung der Möglichkeit des Menschen mit der Seele, bzw. einer geistigen Existenz zu formulieren. Darum und nur darum scheint es Patocka zu gehen, diese Dimension der Offenheit gegen die Nivellierung durch die wissenschaftlich-technische Rationalität zu retten. Dies ist aber auch nichts wesentlich Neues gegenüber seiner früheren Philosophie, die sich ständig für eine Kontinuität der geistigen Existenz einsetzt, die im individuellem Aufschwung zu einer Eigentlichkeit ihren Kern hat. Was ist hier und jetzt das Neue, das eine Diskontinuität stiftet? 51 5 „Die nach-europäische Epoche und ihre geistigen Probleme", in: Jan Patočka, Pele o duši, sv. II, Oikou-mene, Praha 1999, S. 43. 6 „Die geistigen Grundlagen des Lebens in unserer Zeit", KE, S. 378. 52 Das Neue, mit dem sich Patocka konfrontiert, und zwar zuerst im Aufsatz „Geistige Grundlagen des Lebens in unserer Zeit", liegt im Pluralismus verschiedener historischen Substanzen, die sich nicht mehr von der europäischen Substanz beherrschen lassen, wiewohl sie sich aus ihrem Erbe teilweise, d. h. für eigene Zwecke schöpfen. Die „Aufdeckung jenes Pluralismus der geistigen Quellen", sagt er da, kann „eine viel umwälzendere und tiefere Bedeutung haben, als es uns allen heute bewußt ist".7 Spätestens hier ist bei Patocka also die Bedeutung der Reflexion auf die Partikularität und Beschränktheit der europäischen Tradition deutlich. Das neue Problem, das hier zum Vorschein kommt, besteht in folgendem Widerspruch. Die Rationalität erfordert einen einheitlichen, von einem Punkt ausgehenden Überblick, eine Homogenisierung, der sich aber heute, immer dezidier-ter, verschiedene geistige Quellen widersetzen, die in anderen außereuropäischen Kulturen lebendig sind. Was uns bevorsteht, ist die Gefahr der vernichtenden Konflikte, in denen sich diese verschiedenen Kulturen in sich verschließen und eigene Positionen ideologisieren.8 Dabei hat Patocka ein wichtiges Problem der Rechtfertigung dieses Ansatzes nicht aus den Augen verloren, nämlich daß eine solche allgemeine Geschichtsreflexion einen Rahmen explizit aufstellen muß, in dem sich das Europäische, Außereuropäische und Nacheuropäische aufeinander beziehen und voneinander unterscheiden läßt. Patocka war sich dessen bewußt, daß er sich hier für eine Hypothese entscheiden muß, mit dem Risiko, daß der Rahmen seiner Reflexion zu eng oder zu formal und damit zu breit wäre. Als den grundlegenden, bestimmenden Rahmen schlägt Patocka wieder den Geist als „alles bestimmende Essenz und Form der Wirklichkeit" vor. Um diese seine Hypothese konkret zu realisieren, will er von der Beschreibung eines „Zeitgeistes" bestimmter Epoche zu der Feststellung übergehen, daß jeder Zeitgeist „auf einer bestimmten Vorstellung über den Geist, sein Wesen und seine grundlegende Aufgabe basiert".9 Die Resultate, zu denen Patockas Analysen kommen, sollten aber dann auf diese anfängliche Entscheidung, Hypothese über den grundlegenden Rahmen zurückgezogen werden, denn Patockas Beschreibungen und Analysen selbst gehen von einer zuerst nur vorläufigen, dann aber immer mehr bestimmten Vorstellung „über den Geist, sein Wesen und seine grundlegende Aufgabe" aus. Auf diese Weise, Schritt für Schritt, aber doch in einer vor-bestimmten Perspektive, will er auch seine Hypothese als den allgemeinen methodologischen Rahmen recht- 7 Ibid., KE, S. 361. 8 „Die nach-europäische Epoche und ihre geistigen Probleme", in: Jan Patocka, Pece o dusi, sv. II, Oikou-mene, Praha 1999, S. 40. 9 „Die geistigen Grundlagen des Lebens in unserer Zeit", KE 353 f. fertigen, in dem er seine Thesen über die Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte entwickelt, die nach ihm von der europäischen in die planetarische übergeht. 2. Tiefere Grundlegung der Rationalität Den Befund der unreduzierbaren Pluralität ernst nehmen wollend, stellt sich Patocka die Frage, ob der faktische Verlust der zentralen Rolle Europas nicht auch die Überwindung der Prinzipien zur Folge haben muß, die den Sondergestalt Europa historisch formiert haben. Ein Schritt, den Patocka für eine solche Überwindung macht, ist bekannt, es ist sein Versuch, dem cartesianischen Subjektivismus als einer Quelle der Technowissenschaft eine a-subjektive Ontologie des In-der-Welt-seins entgegenzustellen. In diesem Schritt knüpft Patocka sowohl an das Husserlsche Programm einer „tieferen Grundlegung der Rationalität" als auch an Heideggers Idee der ontologischen Differenz an. Es ist auch bei Patocka ein transzendentaler Ansatz, der nach den Bedingungen der Möglichkeit eines Bodens fragt, auf dem die Lösung des Problems einer nacheuropäischen Menschheit versucht werden könnte, die faktisch auf den Wegen der Globalisierung im Entstehen ist. Es ist eine aktiv zu ergreifende Aufgabe, „einen Boden für die Menschheit der nacheuropäischen Geschichte zu schaffen", die vielleicht durch den Zusammenbruch Europas ermöglicht wurde. „Die nacheuropäische Epoche steht im Zeichen einer Chance, einer großartigen Möglichkeit, welche die gesamte Menschheit in die Zukunft nicht nur des technischen Verstandes, sondern der sich verstehenden Vernunft führen könnte."10 53 Diese Tendenz, an die einheitsbildende Rationalität anzuknüpfen, hängt mit dem transzendentalistischen Ansatz der tieferen Grundlegung der Rationalität zusammen, mit der Idee E. Husserls, auf die Patocka nie verzichtet hat. Um die „Aufspaltung der nacheuropäischen Menschheit ... diese innere und äußere Spannung zu vermeiden, gibt es kein anderes Mittel als den Grund der Rationalität tiefer zu legen, als es in Europa der europäischen Geschichtsepoche je gelungen ist."11 Andererseits knüpft Patocka Vorschlag einer Lösung auf seine Gegenüberstellung der Ideologie und des Lebens in der Idee - auf seine frühe Aneignung der ontologischen Differenz - an.12 Er schlägt jetzt mit der „offenen 10 „Europa und Nacheuropa", KE, S. 220. 11 Jan Patocka, „Die nacheuropäische Epoche und ihre geistige Probleme", ein Konzept, dessen größere, erste Teil in den Text „Europa und Nacheuropa" aufgenommen wurde. Die zitierte Stelle, in der Patocka ausdrücklich die Bedeutung des Husserlschen späten Ansatzes bei der „Krisis der europäischen Wissenschaften" hervorhebt, befindet sich im zweiten Teil des Manuskripts, der im deutschen Original im Archivsammlung der Schriften Jan Patocka (ASJP) im Band 6 der Reihe „Pece o dusi" zugänglich ist. Vgl. dort S. 375 f. 12 Vgl. Jan Patocka, „Ideologie und das Leben in der Idee" (1946), KE, S. 379 ff. 54 Seele" die Einstellung der Offenheit vor, die dem Offenen, d. h. einem positiv nicht Bestimmbaren entspricht, die nur durch die Differenz zu jeder Bestimmtheit charakterisiert werden kann, genauso wie die Idee in seinem Negativen Pla-tonismus.13 Er schlägt die Offenheit für das Geheimnis vor, das in jeder geistigen Tradition je anders gelebt wird.14 Die tiefste Dimension der Sorge für die Seele, von der Patockas späte Reflexionen als vom geistigen Prinzip Europas reden, ist der ausdrückliche Bezug zu dem, was als Geheimnis jede feste Gestalt des Geistes erschüttert. „Der Geist ist Erschüttertsein."15 Genauso wie im negativen Platonismus ist dieser Vorschlag als Abwehr gegen die metaphysische Philosophie gerichtet, die alles streicht, was sich nicht objektivieren, positiv erfassen läßt. Gegen die Gleichschaltung und Homogeniesierung der Welt erinnert Patocka an die Erfahrung der Transzendenz, die allerdings negativ bleiben muß, sie läßt sich nicht positiv festmachen, einem objektiven Wissen unterordnen. 3. Die innere Gefahr des Eurozentrismus und kritische Selbstbesinnung Europas Wenn die Konzeption der „offenen Seele" als aktive Distanz von dem Ausgriff der Technik auf die Weltbeherrschung verstanden wäre, wäre sie in diesem neuen Zusammenhang der nacheuropäischen Epoche als ein Signal der Selbstkritik der Europäer gegenüber den Anderen zu deuten. Man kann aber auch in dieser aktiven Distanz der „offenen Seele" eine innere Gefahr des Eurozentrismus erblicken, die keineswegs zu unterschätzen ist. Patocka stellt dem Zeitgeist der vorherigen Epoche der Generalisierung Europas, die sich - wie er sagt - vor der Entstehung des planetarischen Bewußtseins der Menschheit als schreckliche und zynische Leugnung des Menschlichen auswirkte, seine Konzeption entgegen. Die „offene Seele" des Europäers soll nach Patocka die der neuen Welt entsprechende geistige Einstellung schaffen. Wenn aber die Einstellung der „offenen Seele" als das Suchen des transzendentalen Bodens für die nacheuropäische Menschheit aufgefaßt wäre, dann gäbe es dabei insofern eine innere Gefahr eines Eurozentrismus, als dadurch die Einstellung der geistigen Suprematie Europas fortgesetzt würde, gegen die sich eben die außer- 13 Vgl. Jan Patocka, „Negativer Platonismus" (etwa 1953), KE, S. 389 ff. 14 Vgl. Jan Patocka, „Die Selbstbesinnung Europas" (Anfang der 70er Jahren), in: Philosophische Perspektiven 20 (1994), S. 241 ff. Hier besonders S. 256 f. 15 „Der Geist ist weder ein Geist der Schwere, ein Kamel, noch ein Genius, der die Flügel hat. Der Geist ist Erschüttertsein (otfesenost)." In: ASJP, Pece o dusi, Bd. 6, S. 313. europäischen Gesellschaften zur Wehr setzen und dadurch die neue Lage auszeichnen. Es ist mit anderen Worten fraglich, ob wir, Europäer, mit der Einstellung der „offenen Seele", d. h. durch den transzendentalistischen Konzept der Offenheit gegenüber dem unbestimmt Transzendenten, im Kontakt mit anderen geistigen Traditionen weniger geistige Suprematie gegenüber dem Anderen manifestieren als wenn wir noch mit einer ganz bestimmten Auffassung, bzw. Verneinung des Transzendenten auftreten. Die Gefahr des Eurozentrismus scheint mir in diesem Kontext darin zu liegen, daß wir die Aufgabe der Offenheit für das Geheimnis der Dinge, die wir uns selbst, den Rationalisten vorschreiben, zusammen mit der nivellierenden technischen Vernunft der breiten Welt empfehlen. Die Frage ist allerdings, ob dies Patocka vorhatte mit seinem Vorschlag der „offenen Seele". Ich möchte nun auf einige Stellen hinweisen, aus denen klar wird, daß sich Patocka auch der inneren Gefahr des Eurozentrismus bewußt war und daß also auch das ursprüngliche Konzept der offenen Seele nicht nur transzendentalistisch gefaßt und entwickelt wurde. Die europäische Reflexion ist „nicht dazu bestimmt, die außereuropäische Reflexion überflüssig zu machen", die Bedeutung einer solchen europäischen Besinnung besteht darin, die außereuropäische Reflexion „erst eigentlich einzuleiten und fruchtbar zu machen". Patockas Vorschlag, „für die geistigen Probleme von morgen eine notwendige Offenheit zu schaffen", und zwar durch die Konzeption der Existenz als einer „offenen Seele", würde dann keine Vorschrift, ja keinen Vorschlag für die Anderen mehr bedeuten, sondern sie würde sich vor allem kritisch eigener, europäischen Tradition zuwenden. Diese kritische Wendung zur eigenen Tradition, die nicht beim neuzeitlichen absoluten Subjekt halt macht, sondern weiter in die Anfänge Europas zurückgreift, kann mit Patocka als eine Destruktion der europäischen Geistesmetaphysik genannt werden.16 In diesem Schritt der historischen Destruktion Europas wird dessen zentrale geistige Prinzip, so wie es eigentlich Patocka immer vor Augen hatte, nämlich das Prinzip der Sorge für die Seele erst schärfer eruiert. Es wurde 55 16 Ein an den Text „Die nacheuropäische Epoche und ihre geistige Probleme" anknüpfendes Fragment ohne Überschrift, Signatur 3000/104, das mit dem Satz beginnt: „Man kann zu den oben angedeuteten Problemen der heutigen Geschichtsepoche gar nicht vordringen, ohne den Versuch einer sehr radikalen Distanzierung von den europäisch-traditionellen Weisen der Weltgeschichtsbetrachtung zu unternehmen." Zur Destruktion vgl. die folgende Stelle: „Die bisherige Geschichtsmetaphysik ist ihrerseits eine spezifisch europäische Geistmetaphysik, welche mit der europäischen Philosophie als Metaphysik überhaupt zusammenhängt. Ihre Revision ist deshalb eine Revision dieser Metaphysik überhaupt, wahrscheinlich ihre Destruktion." Ebd., S. 19. bei ihm bekanntlich zum zentralen Thema von vielen geschichtsphilosophischen Texten, in denen er eine zweideutige Rolle gewinnt. Es ist das in sich differenzierte, griechisch-christliche Prinzip des alten Europa, das aber in seiner Echtheit noch nicht zu Ende gedacht wurde und das vielleicht auch den Maßstab oder zumindest Orientierungspunkt der Geistigkeit auch für die kommende Epoche der Geschichte, zumindest für uns Europäer geben kann. Der Begriff der Sorge für die Seele hat zumindest zwei Seiten, sie führt sowohl zur Expansion der Rationalität über alle Bereiche des Lebens als auch zur kritischen Selbstprüfung und zu einem Selbstverzicht. 56 Die Auszeichnung Europas sieht Patocka in seiner Tendenz zur Allgemeinheit, die mit seiner Logos-Auffassung zusammenhängt. Das „Allgemein-Verständliche", das „Rationale" strebt sich „auf alles und jedes auszustrecken", es läßt „nichts aus seinem Bereich" aus, es läßt „das ganze Leben durch eine Reflexion durchgehen ... welche (das Leben) auf das Durchsichtige und Nachvollziehbare in ihm durchsiebt".17 Das so gefaßte Rationale ist nach Patocka für die Griechen der Logos, der wiederum „ein eminent auf die Geschichte bezogenes Element" darstellt, weil er „ein aktiv zu Vollziehendes" ist.18 Die „Einzigartigkeit der europäischen Geschichte" sieht Patocka dementsprechend darin, „daß hier versucht wurde, eine bestimmte Logos-Auffassung als geistige Macht und Autorität tatsächlich zu verwirklichen, daß diese Auffassung eine Menschheit mitsamt allen ihren Betätigungen, Traditionen, Institutionen prägte und dadurch geschichtliche Realität wurde". Diese Realität hat sich dann aus inneren Gründen aufgelöst, doch noch in dieser Auflösung, die wir heute leben, sieht Patocka ihr Prinzip weiter wirken, welches „die Möglichkeit einer einheitlichen Menschheit in einer einzigen Welt, die nicht mehr bloße Lebenswelt ist, entwirft und offenhält".19 Dies Prinzip aber war und ist ein Widerspruch der Partikularität, die sich als Universales will und in diesem Wollen auf einen faktischen, nicht nur logischen Widerstand stößt und an ihm zerbricht. Daher können wir an diesem Prinzip nicht mehr ohne weiteres unsere Handlung orientieren. Zugleich aber will Patocka an dieses aktive Prinzip positiv anknüpfen, so daß der Geist auch in der nacheuropäischen Epoche die Autorität und Macht erreichen soll, wofür die Möglichkeit im Greichenland einmal gestiftet wurde. Der Geist, von dem Patocka in diesem nacheuropäischen Zusammenhang spricht, ist der Geist der Solidarität der Erschütterten, also nicht mehr ein Geist, der aus dem aktiven vereinzelten Kampf der Seele um den Sinn entsteht, sondern ein Geist, 17 Ebd., S. 8. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 10. der von der Nichtigkeit jedes einzelnen Sinnes ausgeht, und in gewisser Weise gerade mit diesem naiven Aktivismus des Tages bricht. Diese Forderung der Distanznahme in Bezug auf die eigene geistige Tradition ist besonders hier dringend, wo die Reflexion auf die geistigen Grundlagen den Rahmen einer Geschichtsphilosophie liefern soll, so wie es bei Patocka der Fall ist. Die kritische Destruktion der europäischen Tradition gipfelt in diesem Text in folgenden Gedanken: Der gemeinsame Nenner dieser Tradition und des daraus folgenden modernen europäischen Superioritätsgedankens basiert nach Patocka auf dem Gedanken der immanenten Teleologie der Geschichte, durch die sich der europäische Mensch definierte, wobei dieser sich das Telos wie selbstverständlich sich selbst anpaßte. Mit dieser Überzeugung haben die europäischen Menschheiten den anderen begegnet, und diese Begegnungen liefen immer auf einen Kampf hinaus, den Patocka als „Kampf um Besitz und Dasein, Kampf um die Seele, Kampf innerhalb des europäischen Geistes selber" charakterisiert. Von dieser Tradition distanziert sich Patocka mit folgenden Worten: „In diesem Ringen ist die europäische, verpflanzte Menschheit meist siegreich vorgedrungen, obwohl der Ausgang auf großen Abschnitten der planetarischen Front immer ungewiß ist. Europa als weltbeherrschende Macht ist darin zugrundegegangen und die europäische Geschichtsmetaphysik hat sich vollends als unzulänglich erwiesen ... Mit einer neuen Menschheit muß auch eine prinzipielle Revision der Sinnfrage entstehen, die Frage muß neu gestellt werden."20 4. Das geistige Erbe Europas nach der Revision Um diese Revision geht es im Spätwerk, besonders in den Ketzerischen Essais aber auch in anderen Texten, wir können das Problematische dieser Revision noch einmal am Text „Geschichtschema" ablesen, der eine der letzten geschichtsphilo-sophischen Arbeiten darstellt. Dieser schließlich von Patocka unpublizierter Text faßt noch einmal das Konstruktive der Geschichtsphilosophie Patockas zusammen, das aus der historischen Reflexion für die Gegenwart zu übernehmen ist. Einerseits wird die These bestätigt, daß wir am Ende, ja nach dem Ende der europäischen, durch abendländische, metaphysische Philosophie geprägten Geschichte stehen. „Unsere Philosophie, sagt Patocka dort, von der aus die Hauptmöglichkeiten unseres geschichtlichen Daseins ausgehen, ist dem geschichtlichen Menschen inadäquat", insofern sie ihn „nur als ein Lebendiges zu fassen 57 20 Ebd., S. 20. 58 fähig ist".21 Dieses Ungenügen der bisherigen europäischen Geistigkeit, die Tatsache, daß sie nicht mehr brauchbar ist und daß auch die Besinnung der rationalen Zivilisation auf ihre eigenen Grenzen diese Grenzen nicht zu durchbrechen und neue Möglichkeiten zu zeigen vermag, bringt Patocka zur Frage, ob der Mensch der nacheuropäischen Ära „wirklich geschichtlich zu leben vermögen"22 wird? Daß er dabei andererseits seinen alten Begriff der Geschichtlichkeit als ein ganz bestimmtes geistiges Prinzip gebraucht, davon zeugt die Fortsetzung der Stelle: „Da ist die Besinnung am Platz, die wohl nicht von den in die historische Arena Eintretenden, sondern durch die Europäer im breiten Sinne zu leisten ist. Was gibt es, geistig betrachtet, auf dieser Erde Lebendiges? Worauf könnte man noch den Glauben oder besser: die Hoffnung an ein Leben über der biologischen Ebene stützen?"23 Trotz aller berechtigten Skepsis zu der bisherigen europäischen Geistigkeit, scheint hier Patocka doch noch in ihren Bahnen vorzugehen, indem er auf dem Gegensatz Leben und Geist verharrt, wobei er anscheinend den Nichteuropäern sogar auch diese Differenz abspricht. Als ob die Europäer im breiten Sinne darüber entscheiden sollten, was im geistigen Sinne lebendig ist und was nicht. Spätestens in diesem Punkt, der aber auch schon im dritten Ketzerischen Essay entworfen ist, nämlich im Punkte der Unterscheidung vom Leben und Sein stößt man also wieder an einen Eurozentrismus der Frage Patockas nach der Geschichte. Der „Sokratismus" der Sorge für die Seele, der im Text „Europa und Nacheuropa" durch „sittliche Einsicht" näher charakterisiert wird, ist das Positive, was Patocka aus dem europäischen Erbe für die Zukunft abgewinnt. So sagt er von diesem Prinzip der sittlichen Einsicht, daß es einen Kern der europäischen Menschheit ausmacht, „welcher gegen Katastrophen und Zusammenbrüche gefeit und zu immer neuen, vielleicht umfassenderen und formaleren Einheitsbildungen fähig ist". Die Katastrophen würden so für die europäische Menschheit „kein endgültiges Versagen ... bedeuten, falls einsichtige, umfassendere Rahmen für neue Menschheitsformungen vorhanden" wären.24 Die Gefahr der expandierenden Rationalität von Europa aus hat also Patocka bewußt auf sich genommen. Patocka hat eine ganz bestimmte Auffassung davon, was geistige Lebendigkeit, geistige Existenz heißt - nämlich der Kampf mit der Sinnlosigkeit des Seins, Kampf gegen den Verfall, der mit dem bloßen Leben notwendig vor sich geht. Wenn es um die Fähigkeit geht, sich gegen die Universalisierung der Zweck- 21 Jan Patocka, „Geschichtsschema", publiziert unter dem Titel „Die Epochen der Geschichte (Skizze)" in KE. Hier KE, S. 202 22 Ebd., S. 203. 23 Ebd. 24 Jan Patocka, „Europa und Nacheuropa", KE, S. 232. Mittel-Rationalität, die mit dem Leben verbunden ist, und von der Bindung ans Leben zu befreien, was Patocka am radikalsten mit dem Begriff des Opfers, einer extremen Entgegensetzung vom Sein und Leben, zu denken versucht, dann scheinen mir außereuropäische Kulturen dafür besser geistig vorbereitet zu sein, als die Denker der ontologischen Differenz. Denn Patocka geht es nur um diese Differenz, nicht um ein Opfer um eines seienden Zwecks willen. Auch das Leben ist ein solcher Zweck. Die geistige Lebendigkeit als Erneuerung des eigentlich Geschichtlichen gibt es nur in der Erschütterung des Lebens. Das Ende der Geschichte ist für Patocka ein definitives sich Verschließen des Lebens, des On-tischen in sich selbst. Das ist die Gefahr, die er aus der neuen nacheuropäischen Welt kommen sieht und wogegen er den Geist mobilisiert. Dabei geht er vom europäischen Erbe aus, nämlich so, daß er für einen neuen, viel weniger naiven Sokratismus plädiert. Eine Stelle aus dem dritten Ketzerischen Essay sei hier in extenso zitiert, die den Anknüpfungspunkt Patockas an einen durch die neue, nacheuropäische Lage modifizierten Sokratismus deutlich anzeigt: „Wohl kann der Mensch ohne Sinn, und zwar ohne den absoluten und ganzheitlichen, wahrhaftig nicht leben: er kann nicht in der Sicherheit einer vanitas vanitatum leben. Aber bedeutet dies, er könne nicht im gesuchten und fraglichen Sinn sein Leben verbringen? In einem Sinn, der als die Frucht eines im Grunde des Alls selbst sich unüberwindlich, sachlich begründet ausbreitenden Dunkels erscheint, das zwar nie auszumerzen ist, aber eine Suche ermöglicht, welche sinnbedingend und sinngenügend ist, allerdings in einer tief gewandelten Bedeutung, wo die Positivität und ungebrochene Naivität nicht mehr walten? Wo der Mensch vor Dunkel, Fraglichkeiten, Widersprüchen nicht einfach halt macht, vor ihnen nicht die Augen schließt, sie anathematisiert und auszumerzen versucht, sondern sich ihnen stellt und sie zu bestehen sucht? Wo infolgedessen eine Brüderlichkeit der in der Naivität Erschütterten, ihre Solidarität über Konflikte und Widersprüche hinaus nicht nur möglich, sondern notwendig gefordert wird? Wo - allerdings erst allmählich - etwas wie Weltanschauungskrieg überwunden werden kann ohne in platte, gleichgültige Toleranz zu münden, in einer allgemeinen Möglichkeit und Überdruß begründet? Ein neuer, viel weiterer, viel weniger naiver Sokratismus täte dann not, eine neue Askese und ein ganz neuer, an den Kämpfen, der Arbeit und dem Blut der furchtbarsten Kriegsepoche geschulter Mut, um aus der drohenden Sinnlosigkeit herauszukommen. Im Grunde wäre es derselbe Sinn, welchen die geschichtliche Menschheit immer suchte, indem sie sich den Aufschwung gab aus der Dämmerung der vor-geschichtlichen Sinnbescheidung ins 59 Wagnis, wo zwar unendlich viel zu verlieren war, aber am Ende vielleicht doch so viel zu gewinnen, daß der Einsatz sich lohnte: das Leben in Wahrheit, das Leben des Geistes."25 25 Jan Patocka, „Hat Geschichte einen Sinn?", Typoskript der von Patocka auf deutsch verfaßten, modifizierten Version des dritten ketzerischen Essay. S. 25 f. humanism / Humanismus humanism / Humanismus 61 humanism / Humanismus Tatiana Shchyttsova MEMENTO NASCi. Zur Aktualität der Lehre von Diotima für die gegenwärtige Philosophie des Miteinanderseins Die ersten, lateinischen Wörter des Titels haben eine evokative Implikation, die 63 darin besteht, dass an die Stelle des klassischen memento mori eine neue Losung - nämlich Denken an die Geburt - treten muss. Die Stelle, von der wir reden, ist keineswegs ausschlieeslich im Rahmen der christlichen Weltanschauung zu lokalisieren. Es geht vielmehr um das Prinzip, das den Herzschlag der klassischen metaphysischen Tradition im Ganzen bestimmt hat, wie es beispielweise von H. Arendt betont wurde. In der Tat, die abendländische Philosophie entfaltet sich im Schatten des Todes bereits zu Beginn mit der platonischen Bestimmung der Philosophie als einem „Sterben-lernen". In der christlichen Weltanschauung ebenso wie in der platonischen Metaphysik war der Zusammenhang von Menschen und Absolutem durch das Verhältnis zum eigenen Tod bestimmt. Ein richtiges Verhältnis setzt die Transzendierung über das Weltliche voraus. Dadurch wird die menschliche Teilhabe am ordo aeternitatis vergewissert. Die metaphysische Perspektive des endlichen menschlichen Daseins gründete also in der Erfahrung der radikalen Individuation, die ermöglichte, dass die Seele bei sich blieb, um die klare Beziehung zur ewigen Wahrheit zu erreichen. Mitdem platonischen Phaedon verstärkt sich das Verhältnis, das das Profil der abendländischen Philosophie bestimmt - das intime Verhältnis des Subjekts zum Tode, welches dem Subjekt das Prinzip seiner Autonomie gewährleistet. Es war im 20 Jahrhundert M. Heidegger, der den wesentlichen konzeptuellen Zusammnehang vom Subjekt und Tod noch einmal neu fixiert. Das Sein des heideggerschen Daseins, 64 ebenso wie der platonische Dialog der Seele mit sich selbst oder der Dialog mit Got in dem christlichen Gebet, hat die ontologische Priorität der Selbst-Isolierung (bzw. Vereinzelung, Unbezüglichkeit) vorausgesetzt, die mit der Eröffnung der Wahrheit des eigenen Da-seins verbunden war. Für die Metaphysik des Subjekts, die ihre geschichtliche Quellen in der Entdeckung der subjektiven Reflexion bei Sokrates hat, ist also die Unbezüglichkeit des Todes so wesentlich, dass die epochale Destruktion dieser Metaphysik die symbolische Verbindung des Begriffs des transzendentalen Subjekts mit dem Tode direkt oder indirekt betreffen müsste. Es besagt, dass die protokollarische Bezeugung über den Tod des Subjekts im gewissen Sinne einen immanenten Spruch bezüglich des Todes selbst enthalten sollte. Heideggers Analytik des Daseins als die letzte grösse Theorie der transzendentalen Subjektivität macht dabei sehr deutlich, dass ihr mono-logischer, bzw. solipsistischer Charakter in einem wesentlichen Zusammenhang mit dem Verhältnis des Subjekts zum eigenen Tode steht - so dass der transzendentale Mono-log des Subjekts im gewissen Sinne im Namen des Todes stattfindet. Daraus folgt, dass der Versuch, auf dien Todeszen-triesmus zu verzichten, ihn zu überwinden, einen Gedankengang bildet, für den die Dezentrierung des Subjekts wesentlich ist und als solcher nur im Rahmen der konkreten positiven Analytik des Miteinanderseins entfaltet werden kann. Die zentrale Thesis meines heutigen Vortrags besteht darin, dass der leitende Begriff der (nachklassischen) Philosophie des Miteinanderseins der der Geburt ist. Und wenn man demgemäss über die metaphysische Bedeutung der Geburt reden könnte, sollte mann hier nicht von der Metaphysik der Selbst-Isolierung, sondern von dem allgemeinen Kern der metaphysischen Problematik ausgehen, den die Frage nach der Erfahrung der Unendlichkeit bildet. Sofern der Vortrag einen programmatischen Charakter hat, bleibt er gewissermassen deklarativ. Es handelt sich um die Philosophie der Geburt im Sinne einer konkreten Metaphysik des Miteinanderseins, deren generelle Richtlinien ich entwerfen möchte. Es geht also um die Erneuerung der bekannten Fragestellung von Hannah Arendt. Sie war die erste unter den sozialen Philosoph/in/en im 20-en Jahrhundert, die der Sterblichkeit die Natalität explizit gegenübergestellt hat, und zwar als „Kategorien-bildendes Faktum", das entscheidende Bedeutung für die Auffassung des sozial-politischen Lebens hat1. Aber diese neue konzeptuelle Positionierung der Geburt bei Arendt blieb nicht nur unentwickelt, sondern auch dem Rahmen der Philosophie des Subjekts verhaftet. Es gibt jedoch noch eine andere philosophie-geschichtliche Quelle, worin die proklamierte Philosophie der Geburt einige paradigmatischen Züge, bzw.Zugangswei- i Hannah Arendt, Vita activa. Oder vom tätigen Leben, Kohlhammer, Stuttgart i960, S. i5f. sen finden kann. Die Quelle ist von besonderer Bedeutung auch deshalb, weil sie gleichursprunglich mit der positiven metaphysischen Bewertung des Todes im Rahmen des sokratisch-platonischen Paradigmas entstanden ist und eine extraordinäre Subordination zwischen Geburt und Tod benennt. Es handelt sich um die Lehre von Diotima, die im Rahmen des bekannten Symposiums Sokrates exponiert. Ich wende mich also zuerst an das entsprechende Fragment dieses Dialogs, um einen bedeutungsvollen Entwurf der Philosophie der Geburt zu explizieren, der von einer spannenden konzeptuellen Auseinandersetzung mit der platonischen hierarchischen Ontologie gekennzeichnet ist und die praradigma-tische Züge für die gegenwärtige Philosophie des Miteinanderseins enthält. Der zweite Teil des Vortrags ist der möglichen existenzial-phänomenologischen Entwicklung dieses ursprünglichen Projekts im aktuellen Kontext gewidmet. Die konzeptuelle Innovation Diotima tritt besonders deutlich hervor, wenn man ihre Lehre als die Erwiederung der in Phaedon präsentierten metaphysischen Beurteilung der Geburt und des Todes bestimmt. Die Beurteilung enfaltet sich sub specie aeternitatis und kann ganz kurz in den folgenden zwei Punkten formuliert werden: (1) Der Tod ist ein gewisser Agent der Ewigkeit diesseits der wahrhaften Welt der Ideen. Seine Leistung ist die endgültige Absonderung der unsterblichen Selle vom vergänglichen Leib. Darin besteht die einzigartig positive metaphysische Rolle des Todes. Soweit der Mensch während seines endlichen Lebens solche Absonderung, bzw. das Sterben praktiziert, beweisst er seine Teilhabe an der ewigen Wahrheit. Das Philosphieren erweisst sich somit als die wahrhafteste Seinsweise des Menschen. (2) In Rahmen des metaphysischen Dualismus ist die Geburt das Faktum, das nicht allein keine positive Bedeutung für die menschliche Möglichkeit, an dem ordo aeternitatis zu partizipieren, hat, sondern von Anfang an als entschiedener Gegner solcher Partizipation erscheint. Nach der anamnesis -Theorie ist das Philosophieren als die Neutralisierung der negativen Geburtsfolgen zu verstehen. Sub specie aeternitatis besteht die Geburtsleistung in dem totalen Verlust (Vergessen) des wahren Wissens. In diesem Sinne vollzieht sich anamnesis kontrafaktisch bezüglich der Geburt. Diotima ebenso wie Sokrates interessiert sich für die Erfahrung der Unendlichkeit, d.h. für einen Zugang des endlichen Menschwesen zur Ewigkeit. Während aber bei Sokrates die leitende metaphysische Bedeutung in diesem Sinne der Tod erlangt, entwickelt Diotima den Gedanke über die leitende metaphysische Bedeutung der Geburt. Diese Umwälzung wird möglich kraft einer denkwürdigen Änderung des urspunglichen Gesichtspunkts. Ohne die platonisch ontologische Ordnung als solche direkt zu verzweifeln, führt jedoch Diotima ihre Überlegungen gewissermassen sub specie temporis, und zwar in einem positiven Sinne. Es ist auf diese bemerkenswerte Denksituation einzugehen. Die Ewigkeit (die ewig sei- 65 66 ende Welt der Ideen) bleibt zwar die substantielle Voraussetzung für das neuen Denkprojekt von Diotima. Aber im Unterschied zu Sokrates, der die menschliche, also diesseitige, Erfahrung der Unendlichkeit nur negative als das SterbenLernen durchgedacht hat, sucht Diotima eine positive endliche Erfahrung der Unendlichkeit aufzuweisen. Man könnte sagen: Diotima hat es nicht eilig ihr menschliches Leben zu beenden. Statt der Todes- bzw. Sterbenslobpreisung tritt sie im Interesse des endlichen Menschseins auf, indem sie eine konkrete metaphysische Teleologie für die Diesseitigkeit entwirft. Um diese neue positive Dimension der endlichen Unendlichkeit zu begründen, entwickelt Diotima, wie bekannt, die einzigartige Lehre über Eros. Seine Figur verkörpert bei Diotima die bezeichnete Dimension als solche und ist der dualistischen Logik des Platonismus nicht untergeordnet. Der Eros ist laut Dioti-ma weder sterblich noch unsterblich. Er ist ein Genie in dem Sinne, dass er beide ontologische Dimensionen (das Sterbliche und das Unsterbliche) vermittelt und dadurch in Verbindung bringt. Das entscheidende Moment liegt darin, wie sich diese sonderbare erotische Leistung in der phänomenalen Welt ergiebt, wie sie erscheint. Ja, die Genialität des Eros schliesst auch das Vermögen ein, die genannte Verbindung aufzuzeigen. Nun, es ist nach Diotima der Akt des Gebärens und das Faktum der Geburt, worin sich diese ambivalente Verbindung manifestiert. Das Gebären, sagt Diotima, ist derjenige Anteil an der Unsterblichkeit und Ewigkeit, der dem sterblichen Wesen gegeben ist.2 Im metodischen Sinne besteht das innovative Wendemoment darin, dass Dioti-ma sich von dem transzendenten, jenseitigen, Telos (der reinen Ewigkeit) gleichsam abkehrt und sich auf die metaphysische Erfahrung konzentriert, die den strukturellen und phänomenalen Bedingungen der endlichen Welt gemäss, bzw. weltfreundlich ist. Damit findet eine „erotische Revolution" statt, die eine neue Unterordnung inmitten der endlichen Welt stiftet: die leitende metaphysische Bedeutung erlangt jetzt die Geburt, welche diesseits der Ewigkeit das höhste metaphysische Telos für das endliche Leben ausmacht. Das Sterben-lernen als das rein negativistische (bzw. weltfeindliche) Streben nach dem Tod wird dem neuen Telos, bzw. dem Streben nach dem Gebären untergeordnet. Die philosophische Seinsweise als die Vergewisserung der Ewigkeitsmässigkeit des Menschseins wird in der Diesseitigkeit vom Eros geleitet. Sein weltfreundliche Charakter macht Diotima deutlich, wenn sie betont, dass die Liebe kein Streben nach dem Schönen (bzw. der Weisheit), sondern das Streben nach dem Gebären im Schönen ist3. Die Geburt ist die endliche Gestaltung der Teilnahme am ewigen Sein. Der 2 Platon, Symposium, Sämtliche Werke IV, Insel Verlag, Frankfurt/M. und Leipzig 1991, 2o6e. 3 Ibid. Mensch als das metaphysische Wesen (bzw. Philosoph) hat zur Welt etwas am Schönen partizierende zu bringen. Die Philosophie erweisst sich also als die generative (gebärende) Tätigkeit par excellence, die in der quasi-transzendentalen Figur des Eros fundiert ist. Das oben bezeichnete Wendemoment in der Blickrichtung der griechischen Denkerin führt dabei zur wesentlichen Revision der metaphysischen Erniedrigung der horizontalen zwischenmenschlichen Beziehungen. Aus ihren Überlegungen folgt, dass die strukturelle Dimension der erotischen Tätigkeit intersubjektive (bzw. dialogische) ist. Die Mithaftigkeit (oder Bezüglichkeit), die für das endliche weltliche Menschsein kennzeichnend ist, bedingt die Fruchtbarkeit des Eros. Das Streben nach dem Gebären kann gültig und effectiv sein allein im Spielraum einer bestimmten dualen (dialogischen oder sexuellen) Auseinandersetzung. Eros wäre kein Genie, wenn die unausweichliche Pluralität/Mannigfaltigkeit von endlichen Seienden ein Hindernis für ihn wäre. Umgekehrt ist dieser differenzierte weltliche Bereich derjenige, wo sich Eros abspielen kann. Es ist sein Bereich, sein Spielraum im genuinen Sinne. Dementsprechend entwirft Diotima, parallel mit der klassischen platonischen Auslegung der dialogischen Beziehungen zwischen dem Philosophen und einem schönen Jüngling, ihre eigene Interpretation, die im Rahmen des „offiziellen" ontologischen Paradigmas manschmal „ketzerisch" klingt. Ohne wiederum die metaphysische Priorität des vertikalen Aufstiegs von der sinnlichen Schönheit zu der idealen direkt zu verneinen, erörtert sie die positive metaphysische Bedeutung der horizontalen zwischenmenschlichen Beziehungen, welche die Unreduzierbarkeit dieser Beziehungen auf die mono-logisierende Hierarchie voraussetzt. Diotima lehrt nicht über den Weg zur mono-logischen Teilhabe an der ewigen Wahrheit. Auf dem Weg fungiert der junge Andere als das unausweichliche Mittel. Der Weg zielt auf die vollständige Welt-transzendie-rung und steht in diesem Sinne im Zeichen des Todes. Die Lehre von Diotima entfaltet sich dagegen von der Weltperspektive oder sub specie temporis. Wie gesagt, sie sucht die positive endliche Erfahrung der Unendlichkeit zu beschreiben. Es fordert von ihr, über das Unendliche in Termini der Endlichkeit zu sprechen. Die intellektuelle Gegebenheit der Idee ist nicht nur als die Geburt interpretiert, sondern im Aspekt des Werdens weiter betrachtet. Der Philosoph, sagt Diotima, zieht sein Kind auf.4 Es handelt sich also um die diesseitige Genesis der Idee. Und es ist der quasigeschichtliche Prozess des Ideen-Gebärens und Ideen-Aufziehens, der die positive endliche Erfahrung der Unendlichkeit bzw. die Leistung des Eros ausmacht. Der Prozess ist dabei als der intersubjektive par excellence charakte- 67 4 Platon, op. cit., 209c. 68 risiert. Diotima betont: gemeinsam mit dem Freund zieht der Philosoph sein „intellegibles" Kind auf.5 Sie erklärt die näheren Beziehungen zwischen beiden Menschen auf dem Boden der genannten quasigeschichtlichen Erfahrung. Ja, sie spricht über die beiden Menschen verbindenden Kindern.6 Die Unreduzierbarkeit der intersubjektiven Dimention gründet sich dabei in der paradigmatischen Bedeutung, die das generative (gebärende) Miteinandersein von Mann und Frau für die oben beschriebene metaphysische Erfahrung hat. Schwangerschaft, Maeutik, Gebären sind nach Diotima die Prozesse, die parallel sowohl auf der physischen als auch auf der geistigen Ebene stattfinden. Beide Ebenen sind wesentlich analog hinsichtlich der basalen intersubjektiven (dualen) Struktur, die die strukturelle Bedingung der Fruchtbarkeit bzw. der endlichen Erfahrung der Unendlichkeit ist. Die generelle Thesis Diotima besteht darin, dass die genuine metaphysische Erfahrung die Sache der Beziehung zum Anderen ist. Die Beziehung wird dabei weder negativistisch als die Sich-Befreiung von der Zerstreutheit im Miteinandersein, noch instrumentalistisch als die zeitweil-lige Ausnutzung des Anderen auf dem individuellen Weg zur ewigen Wahrheit verstanden. Demgegenüber deutet Diotima die Beziehung zum Anderen eben als die Mit-teilnahme an der Geburt des Neuen. Ich kann an dieser Stelle auf die inneren Widerspüche des skizierten generativen Projekts, die von dem konzeptuellen Rahmen der platonischen dualistischen Ontologie verursacht sind, nicht eingehen. Das wesentliche Hindernis für die aktuelle Entwicklung des Projekts bildet offensichtlich die substanzielle Differenzierung zwischen der physischen und der intellegiblen Geburt. Ausserdem müsste die aktuelle Erneuerung der Diotimschen Fragestellung mindestens eine Korrektur in dem Hauptsatz ihrer generativen Konzeption fordern. Das Gebären sollte nicht mehr als der Anteil an der Unsterblichkeit, sondern nur als die Weise, wie das sterbliche Wesen unsterblich sein kann, betrachtet werden. Die Forderung ist vom Verzicht auf die Hypostasierung einer jenseitigen substanziel-len Garantie der Ewigkeit verursacht. Doch besteht die Aktualität der Lehre von Diotima eben darin, dass sie die wesentlichen Hinweise auf die konstitutive Bedeutung der Frage nach der Unendlichkeit für das Miteinandersein enthält. Ich meine die Hinweise, die relevant für unsere entmyphologisierte Zeit sind. Es ist die generative Teleologie des Miteinanderseins, die eine kritische Überprüfung verdient. Sie besagt, dass die Frage nach der Erfahrung der Unendlichkeit auf dem Boden des endlichen Existierens revidiert werden muss, das keine 5 Platon, op. cit. 209c. 6 Ibid. substanzielle Stütze in einer jenseitigen Welt hat. Die Entwicklung des seku-lären geschichtlichen Bewusstseins und die Uberwindung des monologischen Bewusstseins der neuzeitlichen Philosophie, die vor dem Hintergrund des langen Prozesses der Entgöterrung und Entmyphologiesierung stattgefunden haben, gelten dabei als die konzeptuelle Voraussetzungen für eine solche Revision. Sofern sie auf die Erneuerung der Philosophie der Geburt als der konkreten Metaphysik des Miteinanderseins zielt, geht es um die Möglichkeit, einige ethische und methodologische Sackgassen des Denkens im Modus „post" bzw. ihre nihilistische und antihumanistische Implikationen zu überwinden. Die Erneuerung und Begründung des generativen Projekts ist zuerst auf der Grundlage des existenzial-phänomenologischen Begriffs der Faktizität denkbar, der im Geburtsfaktum gründet und das Menschsein (das Selbst) im konkret sozial-geschichtlichen Kontext der Umwelt verwurzelt. Die Fundamentalonto-logie Heideggers hat in diesem Zusammenhang einen bemerkenswert ambiva-lenten Charakter, weil sie einerseits auf der konzeptuellen Ebene diesen neuen metaphysischen Ansatz ausschliesst, und anderseits die philosophische Reabi-litierung des Geburtsbegriffs gewissermassen vorbereitet und motiviert. Einerseits, lässt sich die zu erneuende Konzeption der Generativität als eine Erwiederung und Überwindung des Todeszentrismus der heideggerschen Daseinsanalytik verstehen. Anderseits, ist die genannte Konzeption durch die Radikalisierung der Heideggerschen These über den wesentlichen Zusammenhang zwischen der Faktizität und Existenzialität zu entwickeln. Lassen Sie mich beide Linien kurz verfolgen. Ich beginne mit dem negativen Aspekt, damit die gesuchte konzeptu-elle Alternative einen deutlichen Umriss bekommt. 69 Ohne dem platonischen Paradigma untergeordnet zu sein, wiederholt Heidegger, ganz formal gesehen, denselben sokratisch-platonischen Gedankengang, der die Souveränität des Subjekts, seinen metaphysischen Status, auf der Souveränität des Todes gründet. Der Begriff „das Sein zum Tode" bildet den Kern der Daseinsanalytik, die als die Metaphysik der Endlichkeit von Heidegger positioniert wurde. In diesem Zusammnehang will ich sie auf eine Stelle im Sein und Zeit aufmerksam machen, die eine bemerkenswerte Antinomie des Heideggerschen metaphysischen Projekts enthüllt. Es betrifft die Grundbefindlichkeit, welche die Vereinzelung, die das Dasein im Vorlaufen zum Tode erreicht, kennzeichnet. Die Grundbefindlichkeit setzt eine merkwürdige Zweistimmigkeit voraus. Wo Heidegger diese Seite der vorlaufenden Entschlossenheit beschreibt, sagt er eben: „Mit der nüchternen Angst, die vor das vereinzelte Seinkönnen bringt, geht die gerüstete Freude an dieser Möglichkeit zusammen."7 Was uns interessiert, ist der 7 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1979, S. 310. 70 metaphysische Referent dieser Freude bei Heidegger. Im Unterschied zu Sokra-tes, der als den Grund für die freudige Übung im Sterben und die Begrüsung des Todes die Unsterblichkeit der Seele (ihre Zugehörigkeit zu einer höheren Seinsregion) setzte, muss Heidegger den Grund für das freudige Sein-zum-Tode in der ontologischen Seinsverfassung des Daseins als In-der-Welt-Sein finden. Der Grund der Freude ist die existenziale Nichtigkeit des Daseins, bzw. das in der Angst erschlossene Seinkönnen als solches. Damit die implizite Antinomie der freudigen Auslegung der vorlaufenden Entschlossenheit klar wird, muss man sich der konkreten Todessituation zu wenden. In dieser Grenzsituation verliert die existenziale Auslegung des Seins zum Tode ihre Gültigkeit, weil der Mensch einfach zur Absurdität verdammt wäre, wenn vorausgesetzt würde, dass er in der Todessituation über das bevorstehende vereinzelte Seinkönnen sich freuen und die Gewissheit hinsichtlich der weiteren Erneuerung seines vereinzelten Seinkönnens zeigen muss.8 Wenn jemand sagt: dieses Argument gilt nicht, weil es ontisch ist, stimme ich zu. Aber es besagt, dass das Dasein sich nur freuen kann, wenn es den Tode, das Todesfaktum, nicht gibt. So optimistimisch konnte nur Sokrates sein, weil für die unsterbliche Seele in der Tat kein Ende gibt. Man kann eine bestimmte Art der Un-endlichkeit anerkennen, die dem Dasein in seiner Zentripetalbewegung zugänglich ist. Als eine seinsverständige 'Zentrifuge' ist das Dasein immanenterweise ewig angelegt, da es sich immer wieder zu erneuern hat, bzw. eine endliche Möglichkeit zugunsten einer anderen immer wieder zu verneinen hat. Aber die Freude im Existieren als ein emotionales Korrelat dieser Unendlichkeit wäre wiederum möglich nur unter der Bedingung der Ausklammerung des Todesfaktums (sei es aus den methodischen Gründen oder aus der existentiellen Selbsttäuschung). Wenn man die Freude als ein verbotenes Motiv, das von einer ungewissen Metaphysik der Unendlichkeit heimlich eingebracht wurde, auffasst, kommt man direkt zu der von Diotima inspirierten Frage nach der Weise, wie das endliche Wesen die freudige Erfahrung der Unendlichkeit im faktischen Miteinandersein haben kann. Ich wende mich jetzt der zweiten Linie in unserer Auseinandersetzung mit Heidegger zu, die im Interesse der philosophischen Reabilitierung des Geburtsbegriffs durchgeführt wird. Die Art und Weise, wie Heidegger die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Existentialität und Faktizität erörtert, ist mit dem methodischen Vorrang des Todes in der Daseinanalytik wesentlich verbunden. Geburt bekommt zwar die existenziale Interpretation, welche die klassische dualistische Differenzierung zwischen der physischen und der geistigen Geburt überwindet. Aber der konkrete phänomenale Gehalt dessen, was Heidegger unter der Gebürtigkeit versteht, ist ausschliesslich 8 Ibid., S. 307. negativistisch. Gebürtig existieren, wenn es über die eigentliche Seinsweise geht, bedeutet die vom Geburtsfaktum bedingte eigene Faktizität im neuen Selbstentwurf selbst-ständig zu wiederholen. Diese Wiederholung als das Grundphänomen der eigentlichen Geschichtlichkeit wird von Heidegger als die Erwiderung dem Da-gewesenen gegenüber erläutert, die „zugleich als augenblickliche der Widerruf dessen [ist], was im Heute sich als Vergangenheit auswirkt."9 Der Zusammenhang zwischen der Existentialität und Faktizität lässt sich also als Kon-trafaktizität bestimmen. Darin kann man ein fernes Echo von dem bezüglich des Geburtsfaktums kontrafaktischen Charakters der anamnesis vernehmen. Es ist zu betonen, dass im Unterschied von Diotima, für die eine positive metaphysische Betrachtung der eigenen Geburt aus den konzeptuellen Gründen unmöglich war, die gegenwärtige Reaktualisierung ihrer Lehre das prinzipielle Einbeziehen der „je meinigen" Geburt in die konkrete Metaphysik des Mitein-anderseins voraussetzt. Die existenziale Auslegung der Geburt bei Heidegger ist zweifelloss ein wesentlicher Schritt in dieser Hinsicht, der aber von seinem transzendental-egologischen Ansatz begrenzt, bzw. der ontologischen Differenz untergeordnet ist. Wie wir gesehen haben, ist das negative Profil der Geburtigkeit bei Heidegger eben durch das versagende Verhältnis zum Anderen bestimmt, das im Vorlaufen zum Tode fundiert ist. Wenn man in dieser Hinsicht den eigentlichen Selbst-entwurf die zweite Geburt nennen möchte, wäre es sehr unvorsichtig, weil es zu einer bemerkenswerten Aporie führen müsste. Sofern jede Geburt immer faktisch ist, sollte diese zweite Geburt das faktische Selbst-gebären bedeuten, eben im Lichte der These: „Existieren ist immer faktisches. Existenzialität ist wesenhaft durch Faktizität bestimmt."10 Als die zweite Geburt wäre der entschlossene Selbst-Entwurf kontrafaktisch bezüglich der ersten Geburt (so, als ob das Dasein einen Geburtskomplex hätte) und auto-poetisch unter dem Gesichtspunkt der Faktizität. Doch kann die Metapher der zweiten Geburt nicht nur rechtfertigt, sondern im gewissen Sinne sozusagen demetaphorisiert werden. Dafür muss zuerst der Zusammenhang zwischen der Existentialität und Faktizität vom Standpunkt der Frage nach den konstitutiven Bedingungen des eigentlichen Miteinanderseins (und nicht etwa des je meinigen Daseins) analysiert werden. Es geht darum, die Fakta Geburt und Tod, Anfang und Ende im Rahmen der existenzialen Analyse des Miteinanderseins in Betracht zu nehmen. Wenn es eine Möglichkeit der nicht myphologisierten Metaphysik der Unendlichkeit gibt, ist sie die Möglichkeit eines konkreten Miteinanderseins, der interpersonelen Gemeinschaft in 71 9 Heidegger, op. cit., S. 386. 10 Ibid., S. 192. 72 actu, bzw. deren geschichtlichen Verwirklichung. Mit dem bezeichneten Wechsel des Standpunkts, der die ontiko-ontologische Diffferenz ungültig macht, eröffnet sich die Möglichkeit, eine Dialektik der Endlichkeit und Un-endlichkeit (mit dem Bindestrich geschrieben) aufzuweisen, die durch eine konkrete Transzendie-rung des unbezüglichen Todes charakterisiert ist. Man kann einen Hinweiss auf diese Möglichkeit in der Frage finden, die M. Theunissen in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Heidegger stellt, nämlich: wie kann man die Vereinzelung und die eigentliche Vergemeinschaftung konkret zusammen denken?11 Es geht darum, dass wenn man das Vorlaufen zum Tode als konstitutives Prinzip des eigentlichen Miteinanderseins betrachten will, kann das Vorlaufen nur als ein negatives Prinzip fungieren. Es setzt eine Distanz zwischen mir und dem Anderen. Es ist, im buchstäblichen Sinne, das Auseinander-setzen im Miteinander-sein. Damit aber das Auseinander-setzen, diese Leistung des Seins-zum-Tode, nicht zum Auseinanderfallen wird muss das „Mit" im Mit-sein eine positive faktische Begründung bekommen, welche ihrerseits die Todesvereinzelung als das blosse Auseinander zu dem immanenten, immer wieder überschrittenen Prinzip des Miteinander machen muss. Es besagt, dass entgegen dem Vorlaufen ein anderes faktisches Prinzip der Singularisierung auftreten muss. Der russische Denker M. Bachtin war einer der ersten, der das Prinzip als die verantwortliche Antwort begreift. Das Menschsein hat zu antworten — mit dieser Bachtinschen Formel ist die Faktizität des existierenden Selbst wesentlich auf die geschichtliche Verwirklichung des jeweiligen Miteinanderseins angewiesen. Wenn nun Landgrebe als das Verdienst Heideggers „die Begründung der Fakti-zität der Geschichte auf die Faktizität des jeweils vereinzelten Selbst"12 ansieht, dann kann man das Verdienst Bachtins darin sehen, dass er die Faktizität der Geschichte auf die Faktizität der Antwort gegründet hat. Die Antwort dem Anderen gegenuber zeigt sich dann als die Ab-sage des Todes bzw. der Endlichkeit, Verschlossenheit und Isolierung. Eine konkrete, faktisch fundierte Bedeutung der ¿/n-endlichkeit klärt sich dann, wenn wir das Vorlaufen zum Tode und die verantwortliche Antwort als zwei Prinzipien der Singularisierung in einen dialektischen Zusammenhang bringen. Sofern die Antwort die positive faktische Kon-stituirung des Selbst im Rahmen der konkreten Mithaftigkeit durchführt, tritt sie als die Erniedrigung des unbezüglichenTodes auf. Wir sind somit zum entscheidenden Punkt gelangt, wo die leitende Bedeutung des Geburtsbegriffs für die Philosophie des Miteinanderseins begründet werden 11 Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Walter de Gruyter, Berlin— New York 1977, S. 178. 12 Ludvig Landgrebe, Faktizität undIndividuation. Studien zu den Grundlagen der Phänomenologie, Meiner Verlag, Hamburg 1982, S. 116. kann, weil die Antwort als das konstitutive Prinzip der interpersonellen Gemeinschaft einerseits den wiederlegenden Charakter bezüglich des Todes und anderseits den bejahenden Charakter bezüglich der Geburt hat. Die angeführte Formel - Das Menschsein hat zu antworten - impliziert, dass die Geburt eine geschichtlich beteutsame Inkarnation ist, die im geschichtlichen Leben sowohl ihren Anfang als auch ihren Fortgang nimmt. Gebürtig existieren bedeutet demgemäss als ein antwortendes Wesen zu existieren. Geburt hat eine Antwortsform par excellence. Die Erscheinung des Neugeborenen hat in diesem Sinne eine paradigmatische Bedeutung. So sagt man in meinem Land über die schwangere Frau, dass sie in Erwartung ist. Ja, Die Antwort ist die genuine Seinsweise jeder Geburt als des Eintretens des Neuen in der Geschichte. Für die existenziale Analytik des Mitei-nanderseins gibt es keine erste und zweite Geburt, sondern nur die Aufgabe der geschichtlichen Inkarnation als solche, die von der Persönlichkeit fordert, dass sie das Memento nasci jedes mal als das Zu-antworten-haben interpretiert. Ich erwähnte den Namen Bachtins insbesondere darum, dass er im Rahmen seiner Philosophie des Miteinanderseins den Begriff eingefürht hat, der als eine entyphologisierende Umdeutung, ja, als ein Nachfolger des Eros verstanden werden kann. Es ist der Begriff des Ereignisses, das unter dem Gesichtspunkt der klassisch transzendentalen Philosophie einen ebensolchen problematischen Status, wie das Eros vom Standpunkt der platonischen hierarchischen Ontologie hat. Ereignis ist zwar ein ontologischer bzw. metaphysischer Begriff. Aber es kann keineswegs in Termini der ontiko-ontologischen Differenz interpretiert werden. Ereignis bedeutet die geschichtliche Verwirklichung der interpersonellen Gemeinschaft und ist als solches etwas singuläres, einzigartiges, welches sich geschichtlich „zwischen mir und den anderen", „durch mich und den anderen" vollzieht und in verschiedenen kulturellen Formen ausdrükt. Ereignis ist somit die kreative Erneuerung des faktischen Miteinanderseins, die sowohl das einzelne ko-existierende Selbst als auch die verschiedenen materiellen Schichten des geschichtlichen Lebens betrifft und das Miteinandersein im Lichte der generativen Teleologie verstehen lässt, die ausserhalb jeder universell intentionalen Te-leologie liegt. An dieser Stelle können wir beide thematische Geburtslinien - die eine, die das Gebären des Kindes (sei es im natürlichen oder im symbolischen Sinne) betrifft, und die andere, die die je meinige Geburt betrifft - in einen ereignissmässigen Zusammenhang bringen. Es ist die verantwortliche Antwort dem Anderen gegenüber, die beide verknüpft. Verantwortung ist dabei als ein faktisches Apriori zu verstehen, das für die zeitgemässe Erneuerung der Diotim-schen Fragestellung nach der endlichen Erfahrung der Unendlichkeit eine prinzipielle Bedeutung hat. Wenn die Teilnahme am Ereignis solche Erfahrung impliziert, schliesst jedoch das Ereignis im Unterschied von Eros aus, dass ein Mass der Unendlichkeit als solches eine jenseitige Herkunft hat. Die Dimension der 73 Unendlichkeit kann nur als die der Un-endlichkeit im jeweiligen Miteinander-sein aktualisiert werden und zwar so, dass sich das Verhältnis zur Un-endlichkeit durch die Geburt und Generativität definiert. Diese durchgehende Erneuerung und Bereicherung des Miteinanderseins vollzieht sich als die durchgehende Erniedrigung des Todes, die ihrerseits in der Verantwortung bezüglich des Anderen fundiert ist. Es ist also die Erniedriegung des Todes, die ein unermessliches Mass der Verantwortung ausmacht und keine andere Vergewisserung finden kann als die Geburt des Neuen im Miteinandersein. 74 Valentin Kalan EiNiGE POLiTiSCHEN DiMENSiONEN DER DiAiTA ALS RÄUMLiCHKEiT DES DASEiNS UND ALS LEBENSWEiSE Xwpsl Se pavta kat ^ela kat avqpWptva avw kat katw ameißom£va- 75 „Es geht alles, Göttliches und Menschliches, hier und her im Wechsel." (Hippokra-tes, nepL StaLth? 1.5). „Über mich und dich hinaus! Kosmisch empfinden!" Nietzsche, KSA 9, 443. 1. Diaita und Raum in der Aristotelischen praktischen Philosophie. - 2. Diaita und Mitte der Welt. - 3. Schiedsgericht und Gerechtigkeit. - 4. Gerechtigkeit, Gefühle und Nemesis (der gerechte Unwille). - 5. Aristoteles und Hippokrates. -6. Diaita und die Etymologie des Wortes altta - linguistische Beleuchtung der Statta als In-der-Welt-seins. - 7. Diaita und Kosmos bei Homer. Mythos und Philosophie. - 8. Diaita und Philosophie der Gegenwart. Alltägliche und geschichtliche Erfahrungen zeigen auf mannigfache Weise, dass es unmöglich ist politische Angelegenheiten und krisenhafte Situationen ohne Berücksichtigung der Lebensweise der Menschen zu lösen - was in der griechischen Literatur mit dem Wort Slatta bezeichnet worden ist. Das Wort diaita ist uns am meisten als Ausdruck für die vorschriftsmässige Weise des Lebens bekannt. In der spätantiken Philosophie wurde ethische Theorie manchmal mit der medizinischen Diätetik ersetzt, so z. B. bei Galen aus Pergamon. In der Ni- 76 komachischen Ethik wird die diaita in die kategoriale Gliederung des Guten eingeführt: das Gute als Wesen (Gott, Vernunft), das Gute als Qualität (Tugenden), das Gute in der Zeit (der günstige Zeitpunkt) und das Gute im Raum (Diät): h Statta taya^ov sv topw (EN i.4.i096a27). 1. Diaita und Raum in der Aristotelischen praktischen Philosophie Das Gute im Raum wird in der Aristotelischen Philosophie in sehr unterschiedenen Hinsichten dargestellt. In der Nikomahischen Ethik ist Statta „ein Ort wo wir gut leben können", topo~ ssttv, sv w su Stayomsv (i.4.i096a27) ausgelegt, d. h. Wohnung, Wohnort, Aufenthaltsort. Vielleicht hatte der Beisasse Aristoteles in Athen den Ort vermisst, wo er in Ruhe verbleiben können hätte. Atatta ist weiter auch Lebensweise. In seiner kritischen Darstellung des spartanischen Staates bemerkte Aristoteles, dass die Lebensweise der Eforen nicht der Absicht der Verfassung entsprach (Pol. 2.9): sie forderten von den übrigen Bürgern eine übermässige Strenge, sie selbst aber lebten ungebunden in hielten sich nicht an ihre eigene strenge Gesetze. In der Schrift Über die Welt bedeutet Statta der passende Lebensort für jegliches Lebewesen, der durch die ordnende Kraft des ersten Weltbewegers bestimmt ist: Wassertiere haben ihr Lebenselement (Stattav) im Wasser, Landtiere haben seine Lieblingsplätze und Weidegründe (h^h xat vomou~) usw., wobei die erste Ursache ihnen allen ihre eigentümliche Beweglichkeit (sumapstav) verlieh (De mundo, 6.398b32ff.). Deswegen hat das Weltall den Namen „Weltordnung" (xosmo~) und nicht „Unordnung" (axosmta). Hier findet man Verbindung zwischen Statta und Bewegung, die für die etymologische Beleuchtung des Wortes a'ttta wichtig ist. Atatta bedeutet weiter die medizinische Diät. In der Großen Ethik (2.3) gibt es einen Parallelismus zwischen der medizinischen Sorge für die Besserung der Gesundheit und der sittlichen Haltung, die eine gerechte Ausführung der politischen Funktionen ermöglicht: Stattas^at ist synonym mit Staystv (MM, 2.3.ii99b34-35). Aristoteles gebraucht häufig auch das Verb Stattav in der medizinischen Bedeutung, das bedeutet.bestimmtes Mass im Essen und Trinken vorzuschreiben: „Die Heilkunst (zielt) auf Herstellung von Gesundheit und (schliesst ein) eine entsprechende Lebensweise (Statthsat)" (Top.2.3.iiobi8). Diaita bedeutet auch die Qualiät des politischen Raumes. Raum ist ein notwendiger Bestandteil des Staates. Aristoteles gebraucht drei Namen für den politi- sehen Raum: cwpa „Land" (2.3.i265a2i), iopo~ „Örtlichkeit" (276ai7ff.) und „Lage" (i33ia29). Die Untersuchung des Staatsraumes sehliesst auch einen Teil der physischen Geographie der antiken griechischen Welt ein. Aristoteles behandelt sehr ausführlich die physischen und geographischen Bedingungen für die Einrichtung des besten Staates, insbesondere die Zahl der Einwohner und die Eigenschaften des Landes, cwpa (7.4.) Das Land soll den Bürgern ein freies und besonnenes Leben ermöglichen. Politische Planung soll auch die Gestalt des Landes (sl8o~ cwpa~, i326b39) in militärisch-strategischen Hinsicht betrachten. Die politische Philosophie des Aristoteles ist so konkret, dass sie sogar unmittelbar den urbanistischen Plan und die Architektur einer Stadt berücksichtigt (Pol. 7.10). Der Hauptstadt soll eine geeignete Lage haben sowohl in Hinsicht der Gesundheit des Bodens als auch in Hinsicht der Verteidigung: „Hinsichtlich der Privathäuser gilt es als die schönere und auch allen anderen Bedürfnissen besser entsprechende Anlage, wenn die Stadt nach der neueren hippodamischen Weise von den Strassen durchschnitten wird, für die militärische Sicherheit aber ist im Gegenteil die alte Bauart besser geeignet (7.i0.i330b24)." Die Bau einer Stadt soll Sicherheit und Schönheit (asfaletan xai. kos^on) verbinden (i330b32): die Stadtmauern sollen so gebaut werden dass sie zur Zierde (ppo<; xos^on) dienen und zum Schutz gegen militärische Angriffe (133^15) dienen. Die Stadtplaner (8iaxosm£tn,i33ia24) sollen insbesondere die erhabene (eptfanetan te) und schickliche Lage (t^n th? qSsew? apet^n) für Heiligtümer und öffentliche Hauptgebäude finden. Der Stadtraum soll anmutig und angenehm (eu^apt?, i33ia37) sein. 2. diaita und die Mitte der Welt 77 Politische Philosophie muss auch die menschliche Natur berücksichtigen. Im Kontext der Untersuchung über die Natur (fusi~) der Bürger des idealen Staates gibt Aristoteles einen Überblick über die damalige politische Geographie. Ihn interessiert insbesondere die Rolle welche die griechischen Staaten in der Oiku-mene einnehmen können, und die Verteilung der ganzen bewohnten Erde unter die Völker (toT~ s^vssi) (7.5.i327bi8ff.). Die Bürger des besten Staates sollen „voll Mut und zugleich mit Denkvermögen begabt sein" (i327b27). Alle Nationen der Welt sind geteilt auf asiatische und europäische, die dritte Gruppe der Nationen sind die Griechen. i. Die Bewohner der kalten Gegenden Europas sind „voll Mut" (qumo~), sie leben frei, aber sind nicht tüchtig zur Bildung staatlicher Gemeinwesen. 78 2. Die Völker Asiens haben Denkvermögen und Kunstfertigkeit (Stavohttxa xal t senika), sind aber ohne Mut. Deswegen leben sie in Unterworfenheit und sogar Sklaverei. 3. Das Volk der Griechen wohnt in der Mitte zwischen asiatischen und nördlichen Völkern und vereinigt die Vorzüge beider, „denn es ist voll Mut und zugleich mit Denkvermögen begabt", so dass es imstande ist die Herrschaft über alle anderen Völker zu gewinnen, wenn es zu einem einzigen Staat verbunden wäre (i327b32). Mit diesen Ansichten folgt Aristoteles der hippokratischen Anthropologie, so wie sie in der der Schrift „Uber Lüfte, Gewässer und Örtlichkeiten" dargestellt wurde: „Nun will ich über Asien und Europa darlegen, wie sehr sie in allem voneinander verschieden sind; besonders will ich and der Gestalt der Völker (pspi twn Sqvswv zeigen, inwiefern sie sich unterscheiden und einan- der in keiner Weise gleichen."1 (12.1-3) 3. Schiedsgericht und Gerechtigkeit In der Politik (2.8.i268b7) ist das Wort Siaita verwendet in der Bedeutung von Schiedsgericht. Der Unterschied zwischen Six^ und Siatta, liegt darin, dass die Schiedsrichter über ihre Entscheidung unter sich beratschlagen, während die richterliche Entscheidung gemäss den Gesetzen gegeben werden soll. Im Begriff der schiedsrichterlichen Entscheidung kann man die Schwierigkeiten der genauen Bestimmung des Rechts und Ungerechtigkeit beobachten. Wenn eine Sache unbestimmt ist, dann kann sogar das ganze Lebensalter ausreichen um alle Möglichkeiten einer Situation zu erwägen. In solchen Falle braucht man Schiedsgericht und nicht Anklage: „Der Schlichtungsrichter hat das, was angebracht ist, im Auge, der Verhandlungsrichter das Gesetz. Denn gerade deshalb wurde das Schlichtungsgericht eingerichtet, damit auch die Billigkeit ihre Geltung hätte (Rh. i.i3.i374b2osq.)." Nach einem Wort von Archytas sind Schiedsrichter und Altar dasselbe, denn zu beiden wenden sich diejenige, denen Unrecht geschehen ist (Rh.3. ii. i4i2ai3). Der Richter sucht die Mitte zwischen Nutzen und Nachteil, zwischen Gewinn und Verlust und bestimmt damit das Gleiche. Deswegen wird der Richter bei Aristoteles als „verkörpertes Recht", Sixaion s^u^on (ii32a22) und „Zweiteiler", Sicasth~ genannt: „Daher der Name „dikaion" (das Gerechte), weil es sich um ein „dicha" (eine Zweiteilung) handelt. Es ist wie wenn man „dichaion" i Vgl. Diller 1962: 116. sagte und der „Richter" „Zweiteiler" hiesse, o 8ixasth~ 8ic.asth<; (EN 5.7. ii32a30-32)." Jedes Recht fordert Gegengabe, avtapo8osi<; (EN.5.ii33a3). Die Gegengabe im Sinn der proportionalen Gleichwertigkeit ist das Wesen der Gerechtigkeit: „Manchen gilt auch die Widervergeltung schlechthin als gerecht (to avtipe-ponqO~ elvai ap1w~ dlkaiov). So lehrten die Pythagoreer, indem sie das Gerechte schlechthin bestimmten als das Erleiden dessen, was man einem anderen angetan hatte. Die Widervergeltung aber passt weder zu der verteilenden noch zu der regelnden Gerechtigkeit - wiewohl man auch der Gerechtigkeit des Rhadamanthys diesen Sinn unterlegen möchte." (EN 5.5.ii32b2i-26) Gegenseitigkeit und Proportionalität sind die Grundlagen der politischen Gerechtigkeit und der Stabilität der Staaten: „Herstellung der Gleichheit nach dem Recht der Widervergeltung ist dasjenige, was die Staaten erhält, sWZei ta~ poXsl~" (Pol. 2.i.i26ia3o): Die Politik hat mit der Verteilung der Anteile zu tun. Diese Aufgabe der Politik ist im Namen alsumvhth~ „Herrscher" augedrückt - alsa „Anteil". Alsumv-htela ist eine der Arten des Königtums, die Aristoteles als gewählte Tyrannenherrschaft bestimmt (Pol. 3.i4.i285a3i, i285b25). 4. Gerechtigkeit, Gefühle und Nemesis (der gerechte unwille) Politik hat von Anfang an auch mit menschlichen Emotionen zu tun. Gerechtigkeit ist nicht nur die Mitte zwischen „Unrecht leiden" und „Unrecht tun". Man soll auch die Mitte zwischen Emotionen entdecken - auch das ist dlai-ta. Für die Gerechtigkeit haben drei Emotionen besondere Wichtigkeit: Zorn, Neid und Nemesis2. So sagt Aristoteles in der Eudemischen Ethik: „Was die festen Verhaltensweisen betrifft, nach denen (ihre Träger) benannt werden, so ist die Missgunst die Unlust über solche die sich in verdientem Glück befinden; der Affekt des Schadenfrohen aber, im selben Bereich, hat keinen Namen, wohl aber ist dessen Träger klar: sein Bereich ist die Freude über unverdientes Unglück. Der Mittlere zwischen beiden ist der Mann der gerechten Empörung und das was bei den Alten ,gerechten Empörung' hieß (meso~ de toutwv o vsm£sh-tiko~, kal o sxaiouv ol apcaloi t^v vsmesiv): die Unlust über unverdientes Unglück oder Glück und andererseits die Freude über verdientes - weshalb denn auch die Nemesis für eine Gottheit gehalten wurde (EE i233bi8-26) (übers. F. Dirlmeier)." 79 2 Die Verbindung zwischen Nemesis, Dike und Themis kommt im grossen Heiligtum der Nemesis in Rhamnus vor; vgl. Petrakos 1991. 80 Empörung oder Entrüstung ist Gegenteil des Mitleids: Mitleid ist das Empfinden von Schmerz über ein unverdientes Unglück, Entrüstung ist Empfinden des Schmerzes über unverdientes Glück (Rh. 2.9.i386b8sq.). Beide Emotionen haben Ursprung in derselben ethischen Haltung, beide Emotionen zeugen vom guten Charakter. In beiden Intentionalitäten erleben wir Unverträglichkeit zwischen Gerechtigkeit und Wert: „Was einem wider Verdienst zukommt, ist ungerecht, daher schreiben wir Entrüstung auch der Göttern zu," adtxov gap to papa t^v aX-av gLgvomevov Sto xai toT~ q£oI~ apodi-domsv to vsm£sav (Rh.i386bi5). 5. Aristoteles und Hippokrates In der Aristotelischen Philosophie kommt es zur Spaltung des ursprünglichen einheitlichen Begriffes der Statta als kulturell bedingter Lebensweise. Solcher Begriff ist geläufig in den Hippokratischen Schriften, die dem Aristoteles sehr gut bekannt waren. In der Schrift Über die alte Heilkunst, nspi apcaih~ -h" tpixh~ sagt Hippokrates: „Die jetzige Ernährung (Statthmata) ist nach meiner Ansicht erst im Verlauf langer Zeit erfunden und künstlich zubereitet worden. Denn die Menschen litten viel Schlimmes von zu schwerer, für Tiere passender Nahrung, apo ^pLwSso~ Statth~ (3.15 -17)." Die Kultur des Ernährens ist eigentlich schon Vorstufe der Medizin. Deshalb ist die Medizin ist eine Kunst in der niemand unwissend und Laie (lStwth~) bleiben darf (4.2). Unter den hippokratischen Schriften finden sich drei Abhandlungen über die Diät: Die Regelung der Lebensweise, 4 Bücher (nspi- Statth~- Vict.), Über die Diät in den akuten Krankheiten (nspi Statth~ oXewv - Acut.) und Über die Diät der Gesunden (nspi- Statth~ uyL£Lvh~- Salubr.). Die Regelung der Lebensweise betrifft fünf Faktoren: Speisen, Getränke, körperliche Übungen, Schlaf und Erotik. Um die Lebensweise des Menschen zu bestimmen, muss man zuerst „die Natur des Menschen vollständig erkennen und durchschauen", fu-stv avqpwpou yvwvaL xai- StayvwvaL (1.2.1-3). Die Medizin soll den Aufbau des menschlichen Körpers, die Eigenschaften der Speisen und die Bedeutung der körperlichen Übungen für die menschliche Gesundheit kennen. Ebenso muss die Medizin auch die Geschehnisse in der Umwelt beachten: „Ferner muss man den Auf- und Untergang der Gestirne kennen, damit man sich darauf versteht, Änderung und Übermass bei Speisen und Getränken, bei Winden und im Ganzen Kosmos zu beachten, weil daraus den Menschen die Krankheiten entstehen (Vict. 1.2)." Medizinische Diät ist somit in der Erkenntnis des Wesens der Natur in der Erkenntnis des Aufbaues des Universums. Nicht desto weniger aber bleibt ein Unterschied zwischen der menschlichen Kunst und der Macht der Natur, den man berücksichtigen und austragen soll: „Denn Brauch und Natur, wonach wir alles ausführen, stimmen nicht überein, obwohl sie übereinstimmen. Den Brauch haben die Menschen sich selbst gesetzt, ohne zu erkennen, worüber sie ihn setzten; die Natur von allem aber haben die Götter geordnet. Was nun die Menschen setzten, bleibt niemals sich selbst gleich, sei es nun richtig oder nicht. Was aber die Götter setzten, ist immer richtig, das Richtige sowohl wie das Nichtrichtige. So groß ist der Unterschied." Nomo~ gap xai fusi~, oisi pavta Siapphssomeqa, ouc omologe-'etai omologeomeva- vomov gap eftssav avqpwpoi auto swutolstv, ou givWxovte~ pepi wv eqssan- fusiv de panxun qeoi Siexosmhsav- \ ~ r' CV r' (\ ' ^ ' ^ ' \ V rt ' CV ~ a mev ouv avqpwpoi sqssav, ouoepote xata twuto e^ei oute opqw~ oute mh opqw~- oxosa oe qeoi eqesav, aei opqw~ e^ei- xai ta op-qa xai ta mh opqa tosoutov Siafepei (Vict. 1.11.7). 6. Diaita und die Etymologie des Wortes altla - linguistische Beleuchtung der dlaita als des in-der-Welt-seins Zum Verständnis des griechischen Begriffs von Siaita kann etwas auch die semantische Verbindung mit aitia etwas beitragen. Unter zahlreichen Rätseln des griechischen Wortschatzes bereitet gerade die Etymologie des Wortes aitia viele Schwierigkeiten, weil es unmöglich ist, sie auf einen typischen indo-europä-ischen Wurzel zurückzuführen. Neue Beleuchtung der Etymologie dieses Wortes hatte Enrica Salvaneschi in dem Aufsatz „Sui rapporti etimologici del Greco ,altia'" gegeben. Das Wort aitia hat zwei Hauptbedeutungen: „Ursache" und „Schuld, Anklage". Nach Salvaneschi kann man nicht beweisen, welche der beiden Bedeutungen von aitia die ursprüngliche sei. Deshalb ist es nötig nach einem gemeinsamen Sem zu suchen, aus welchem im Prozess der kontextuellen Spezialisierung beide Bedeutungen entstehen können hätten. Solches gemeinsames Sem hatte Salvaneschi (Salvaneschi 1979: 27) in der dichterischen Sprache gefunden, un zwar an solchen Stellen, wo a'itio~ „der Schuldige" denjenigen, der „gibt", bezeichnet: „... so sind nicht immer die Sänger Schuld (a'itioi), weit eher Zeus, er gibt (SiSwsiv) den fronenden Menschen Einem jeden ein, was ihm gerade so gut dünkt." (Od. 1.347-349) 81 82 In diesem Satz ist wesentlich die semantische Verbindung zwischen Verteilung und Gebung. Aitio; ist bei Homer antonym für Owt^p. Die Götter sind Owt^ps; sawv „Geber der guten Dingen": Doioi gap te pi&oi xataxeiatai ev Dio; oudei owpwv oia oiowsi xaxwv, etepo; oe eawv „Denn in der Halle des Zeus da stehen zwei Krüge und spenden Ihre Gaben, der eine die bösen, der andre die guten." (Il. 24.527)' Von aitio; kann man schnell die Nähe zwischen aitio|/aitia und aisa bemerken. Aisa kommt aus *aitya, mit Suffix *-yd und mit phonologischen Übergang (trafila) *-ty->-s- und altia ist Abstraktum von aitio; mit Suffix *-ya. Das Sem der Distribution kommt in beiden Hauptbedeutungen der aisa „Anteil", „Schicksal" (Salvaneschi 1979: 30) vor. Zwei Beispiele aus Pindar: c^ovo; aisav „Teil des Landes" (Pyth. 9.56), Mslifpov aitiav „honigsinnende Anteil" (Nem. 7.11). Das Sem der Teilung hat auch das Verb popsiv „verschaffen", „darreichen". So sind bei dem Chorlyriker Alkman Aisa und nOpo; die älteste göttliche Zwei-heit. In Alkman's Kosmogonie hat Poros die Bedeutung des Prinzips (Salvaneschi 1979: 32). Koradikal mit a'itiO|/aitia und aisa ist auch das Verb Oiaitaw „zu leben geben, ernähren, sich aufhalten, wohnen, Schiedsricher sein; leiten, regieren, vollenden; bestimmtes Mass im Essen und Trinken vorschreiben, gewisse Speisen zu essen geben und auf diese Weise kurieren; Med.: eine gewisse Lebensart führen; Schiedsrichter sein, als Schiedsrichter entscheiden; leiten, regieren; anordnen" (W. Pape) und das Hauptwort Oiaita „Lebensart, Leben, vom Arzte vorgeschriebene Lebensweise; auch in moralischer Beziehung; Lebensunterhalt, Lebensbedürfnisse; der Aufenthalts-, Wohn-Ort, ,Zimmer'; das Schiedsrichteramt, schiedsrichterliche Entscheidung." Für das Verb Oiaitaw sind folgende Teilungen möglich: 8i(a)-aitaw, Oi-ait-aw in Oi-ai-taw. Unterschiedliche inhaltliche Entwicklungen können alle auf das Sem der Teilung zurückgeführt werden: „verteilen (der Nahrung)". Für die rechtliche Spezialisierung der Worte aitia und aisa sind folgende Beispiele besonders charakteristisch: Siaithth; „Schiedsrichter", aisumv^thl 3 Salvaneschi 1979: 28; diese Stelle kommentiert Platon in der Staat (379c) „Kampfrichter, Herrscher", alsumvav „jedem sein gebührendes Recht geben, herrschen" und Siaitav „verwalten". So sagte Pindar: ... poltv S " Wpasev laov te Stattav. „... und die Stadt übergab er ihm und das Volk zu verwalten."(Pindar, Ol. 9.66) Mit der linguistischen Analyse der Worte altsw „verlangen, betteln", aith~ „Bettler" - Homer, Aristoteles (Poetik, I405a7-i9) und a'ithst? „Bitte" hatte Sal-vaneschi gezeigt, dass die altia in das lexikalisch-semantisches System des Tausches gehört. In solchem System kommen sehr häufig die Kontraste zwischen Geben und Nehmen, zwischen Verteilen und Fordern, altsw und S-Sw^i, zwischen Xamßavw „nehmen" in S-Sw^i „geben". Zwischen Xa^ßavw und altsw besteht die Opposition zwischen Grundhandlung und erwünschte Handlung, zwischen Nehmen und Nehmen wünschen (>verlangen um zu gewinnen). Das gemeinsame Sem in dieser Opposition ist Teilnahme, bzw. Partizipation. Die Beziehung zwischen altsw und Xa^ßavw, die zuerst inhaltlich ist, kann auch etymologisch werden: so bei dem seltenen, mit Xamßavw synonymen archaischen Verb a'ivumai „nehmen". Salvaneschi hat versucht die zwei gegensätzlichen Seme (Distribution und Partizipation) auf ein gemeinsames Ur-Sem („arcisema") zurückzuführen. Vom Stamm *ai-t ausgehend hatte sie seine Beziehungen zur Wurzel *ai-, die von a'i-vu-mai abgeleitet wird, genauer bestimmt. Salvaneschi, 1979: 38) Die Bedeutungen „geben" und „nehmen" beziehen sich auf die Wurzel *de und *nem, die die Aktualisierungen des identischen Sems des Wechsels sind. Die beiden Seme, das Sem der Teilung und das Sem der Partizipation sind komplementär: „verteilen um zu geben", „geben um zu nehmen" (Salvaneschi 1979: 39). Für die Klärung der Bedeutung des Verbes a'ivumai, das die Schlüsselstellung der Argumentationskette darstellt, nimmt Salvaneschi folgende Stelle aus der Ilias: Tsukpo~ S " ailov oistov ef ' " Ektopt caXkoxopuath Aivuto ... „Teukros ergriff einen andern Pfeil für den eisernen Hektor." (15.458-459) Das Verb a'ivumai vereinigt zwei Seme, Partizipation und Distribution; somit handelt es sich um ein Verb „mit drei Stellen" (Lyons, § 8.2.1), weil es sich mit Subjekt, mit dem unmittelbaren Objekt und mit dem mittelbaren Objekt verbinden kann: 1. Subjekt - „bewegen"; 2. Objekt, 3. Richtung: a) „von" (das Sem der Partizipation) „geben" und b) „zu" (das Sem der Distribution) „nehmen". (Salvaneschi 1979: 40-4) Weil das Verb a'ivumai den Augment -t- nicht aufweist, vermutet Salvaneschi eine phonologische Veränderung auf der Ebene 83 84 des Signifikanten *ai->*ai-t-, die aus dem Verbaladjektiv e^aito? „ausgewählt, vorzüglich" (Salvaneschi i979: 42) entspringt. Neben dem Verbaladjektiv auf *-to- besteht auch das Verbaladjektiv, gebildet mit dem Suffix *-no-, d. h. aino? „derjenige, der nimmt, der ergriffen ist; schrecklich" und das etymologisch mit atnu^ai verwandt ist. Salvaneschi gibt zwei Beispiele aus Odysee: 1.) alla m ' ' Odussho? po&o? ainutai o'icomenoio. „Doch nach dem fernen Odysseus ergreift mich Bangen und Sehnsucht." 2.) ... fileeske gap ainw?. „... aus grosser Liebe und Freundschaft." (Scheffer) (i4.i44 und ^264). Auf der Grundlage der interlinguistischen Beziehungen hat Salvaneschi die in-do-europäische Wurzel *aei- rekonstruiert (Salvaneschi i979: 44). Der Augment -t- zur Wurzel *3ei-, dessen Herkunft vom Partizip entspringt, war produktiv in den Ausdrücken: a'itio?, aitia, aitiaomai, aitew und wahrscheinlich auch in (di)aitaw und diaita. Diaita ist demnach die sekundäre Formation in Hinsicht auf (eX)aito? und aisa - von *ai-t-ya (53). Jetzt haben wir zwei Wurzeln, *dei- und *doi-, beide sind erweitert mit zwei Suffixen: — t — für nomen agentis und — n- für Präsens. Das Sem der Teilung und das Sem der Partizipation sind Spezialisierungen des Ur-Sems (arcisema) des Tausches, das seinerseits eine Variation des Ur-Sems der Bewegung darstellt (Salvaneschi i979: 59). Vor dem Geben oder Nehmen gibt es das Phänomen des Bewegens, vor der Aisa gibt es Poros. Zwischen Geben und Verursachen besteht eine ähnliche Beziehung wie zwischen Geben und Bewegen. Geben mit Infinitiv bedeutet verursachen, z. B. in der Bitte von Sappho: Ton kasign^ton dote tuid ' ikes^ai. (fr. 5 LP, 2) „Seien Sie die Ursache des Heimkehrs meines Bruders." (Salvaneschi i979: 62) In Sanskrt haben wir die Wurzel *da<*de32 „teilen" und *da<*de3$ „geben". Die Wurzel *de32 ist der Stamm der folgenden griechischen Worte: da-te-o-mai „teilen", damo?, da-i-omai da-i-nu-mi, da-i-^w „austeilen, zerteilen, zerreissen", da-i-mwn „Verteiler der Lebensloose", dai?, -to? „Gastmahl, Mahlzeit", daptw „zerreissen", dapanh „Ausgabe, Aufwand" (W. Pape). Hier besteht Verwandtschaft der semantischen Resultate unter den Ableitungen aus jenen Wurzeln, deren Bedeutung von dem Sem der Partizipation oder des Tausches markiert sind. Atsa kann auch vergöttlicht sein, ähnlich wie Moira. Salvaneschi har ihre Abhandlung mit dem dichterischen Wort von Aischylos unterstützt: 1 \ \ ty 1 / rv ~ st msv yap su ppaxatmsv, attta qsou- „Wenn es nämlich gut uns ginge, Werk wär's eines Gottes." (Aischylos, Th. 4). 7. Diaita und Kosmos bei Homer. Mythos und Philosophie In der griechischen Dichtung und Mythologie hat Statta auch kosmologische Bedeutung. Mit dem Begriff der Statta wird das Verhältnis zwischen Menschen und Göttern ausgedrückt. Im griechischen Mythos hatten die Fragen der Entstehung des Kosmos und die der Mitte der Welt besonderes Gewicht. Die mythologische Rede über die Welt hatte auch die Geschichtlichkeit („Veränderlichkeit") in der Welt beschrieben. Solche Ansichten sind auch in der griechischen Medizin zu finden. So sagt Hippokrates in der Schrift Über die Diät: „Es geht alles, Göttliches und Menschliches, hier und her im Wechsel" Xwps! Ss pavta xat qsla xat avqpwptva avw xat xatw amstßomsva... Was sie sehen, erkennen sie nicht, und trotzdem geschieht ihnen alles durch göttliche Notwendigkeit, was sie wollen und was sie nicht wollen. Indem jenes hierher geht und dieses dorthin und sie sich miteinander vermischen, erfüllt ein jedes den ihm bestimmten Anteil (thv psppwmsvhv motphv sxastov sxpAhpoT), zum Größeren und zum Kleineren hin." (Vict. i.5.i-i5) Ebenso wie die Medizin eine humane Lebensweise in der Welt der Natur herzustellen bestrebt ist, so war auch der Mythos weltbildend. Die Weltordnung wird mit dem Sieg der Olympischen Göttern Im Mythos wurde die Weltordnung durch den Kampf des Zeus und der Kroniden gegen die Titanen aufgerichtet. So sprach Poseidon in der Ilias: „Wir drei Brüder stammen von Kronos, von Rheia geboren: Zeus und ich, und der dritte ist Hades, der König der Schatten. Dreifach ist alles geteilt, teil hat ein jeder am Herrschen: Ich erloste das graue Meer zum ewigen Wohnsitz, Hades erhielt durchs Los das finstere Dunkel der Tiefe, Zeus empfing den Himmel, gebreitet in Äther und Wolken; Allen zusammen gehört die Erde und hoch der Olympos." IptCqa os pavta osoastat, sxasto~ o smmops ttmh?" h tot sywv slacov poAthv aAa vatsmsv atst 85 86 paAAomevwv, ' Ai§h~ d ' eAace Zofov hepoevta, Zeu~ o elac oupavov eupuv ev aiSepi kai vefeAhsi- Tala d ' eti Xuvh pavtwv kai makpo~ " OAu^PO^. (Homer, Il. 15.187-193) Diese Verse wurden von C. Collobert einer philosophischen Interpretation unterzogen. In diesem ursprünglichen kosmischen Mythos ist das Weltall in fünf Instanzen geteilt: Erde, Himmel, Zeus, Poseidon und Hades. Zwei Gebiete bleiben ausserhalb der Teilung: Himmel und Erde. Es wird nichts gesagt davon, welche Mächte die Verteilung der Anteile gemacht haben. Die Anteile sind durch das Los gegeben. Weil Erde und Himmel allen zusammen gehören, kommt es sehr häufig zum Streit. (Collobert 2001: 14) Vor der Teilung befindet sich das Weltall im Zustand der Unordnung. Die göttliche Teilung ist demnach ein Übergang aus der titanischen zur olympischen Wirklichkeit, d. h. Übergang vom Dunkel zum Licht. In der Verteilung der Weltgebiete besteht hierarchische Ordnung: Olympos und Himmel, See und Erde und Untererde. Der Himmel ist den Menschen unzugänglich, Hades und Poseidon's Weltgegend sind der menschlichen Anwesenheit angeboten. Die göttliche Herrschaft des Zeus wird ermöglicht durch die Verbannung der Titanen in Tartaros (Ilias, 8.i3sq.), der sich unten dem Hades befindet. Die Welt hat seine Grenzen, die einerseits von Zeus selber garantiert werden, andererseits bewachen die drei Horen die Türen zum Himmel und zu Olympos. Weil die griechischen Götter die Weltordnung ermöglichen, wurden sie Seoi genannt. Die semantische Verbindung zwischen tiS^m „setzen, stellen; ordnen" und qeo~ kommt in dem folgenden Satze von Herodotos vor: Qeou~ de pposwvoma-sav sfea~ apo tou toioutou oti kos^ov Sevte~ ta pavta pphgma-ta kai pasa~ voma~ e'icpv, „Götter aber (d. i. Ordner) nannten sie dieselben darnach, dass sie alle Dinge in Ordnung gebracht und alle Einrichtdungen gehörig vertheilt hätten" (Hist. 2.52.4-5)^ R. B. Onians hatte deshalb das Wort Seoi mit „placers" übersetzt. (Onians 1954: 383) 8. Diaita und Philosophie der Gegenwart Den kosmologischen Mythos der Ilias hatte Platon im Dialog Gorgias in seine neue Auffassung der Welt übernommen. Für Platon ist die Welt eine Gemeinschaft vom Himmel und Erde, von Göttern und Menschen, die auf der proportionalen Gerechtigkeit beruht. Der Platonische Text lautet: 4 Diese Etymologie wird bei Chantraine als annehmbar dargestellt. „Denn weder mit einem anderen Menschen kann ein solcher (sc. Ungerechter) befreundet sein noch mit Gott; denn er kann in keiner Gemeinschaft stehen, wo aber keine Gemeinschaft ist, da kann auch keine Freundschaft sein. Die Weisen aber behaupten, o Kallikles, daß auch Himmel und Erde, Götter und Menschen nur durch Gemeinschaft bestehen bleiben und durch Freundschaft und Schicklichkeit und Besonnenheit und Gerechtigkeit, und betrachten deshalb, o Freund, die Welt als ein Ganzes und Geordnetes, nicht als Verwirrung und Zügellosigkeit. (kal oupavov kal yhv kal ftsoui; kal avqpWpou~ t^v koivwvlav suvecelv kal flllav kal kosmlothta kal swfposuvhv kal dlkalothta, kal to olov touto dla tauta kosmov kalouslv, w stalps, ouk akosmlav oude akolaslav) Du aber, wie mich dünkt, merkst hierauf nicht, wiewohl du so weise bist, sondern ist dir entgangen, dass die geometrische Gleichheit (h lsoth~ h gewmstplkh) soviel vermag unter Göttern und Menschen, du aber glaubst alles komme an auf das Mehrhaben, weil du eben die ,Meßkunst' vernachlässigst." (507e6-508a8) Die griechische Idee der Kosmos haben in die gegenwärtige Philosophie besonders Nietzsche und Heidegger übertragen. Nietzsche wollte durch seine Idee der Welt den modernen Egoismus überwinden. In seiner Kritik des modernen Individualismus wird Egoismus als Irrtum dargestellt. Deshalb schlägt er Überwindung von Ego in Richtung des kosmischen Empfindens vor: „Über ,mich' und ,dich' hinaus! Kosmisch empfinden!" (KSA 9:443) Dieses neue kosmische Empfinden verlangt ein neues Verhalten zur Natur, zur Erde und zum eigenen Körper. Auf diese Weise bekommt die Idee der Diät für Nietzsche eine neue Bedeutung. Nietzsche spricht über Diät in seiner Kritik der Moral. In seinem Aphorismus „Zur Pflege der Gesundheit" aus der Morgenröte (Nr. 202) meinte er, dass man die bisherige „praktische Moral" in eine Art Heilkunst und Heilwissenschaft verwandeln sollte. Obwohl dafür noch die Ärzte fehlen, sollte man „die Lehre von dem Leibe und von der Diät" in allen Schulen zum Pflichtgegenstand machen. (KSA 3: i78) Zur eigentlichen seinsgeschichtlichen Dimension der Diaita führt uns Heidegger's Denken. Aus der Erfahrung der Heimatlosigkeit versucht Heidegger „am Haus des Seins" zu bauen. Das menschliche Leben wird dann als „Wohnen in der Wahrheit des Seins" verstanden: „Dieses Wohnen ist das Wesen des ,In-der-Welt-seins'." (Heidegger ^67: i88ff. und Mattei ^89: i55) In Sein und Zeit deutet er das „In-Sein" als Wohnen. (Heidegger ^63: §i2) Für die wesentlichen Fragen der gegenwärtigen Weltkonstellation sind viele sehr heterogene Deutungen der theologischen und religionsphilosophischen Fragen charakteristisch. Dieser Prozess ist in den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) als „Götterung" bezeichnet. 87 Die Thematik der Räumlichkeit des menschlichen Aufenthalts auf der Erde ist heute in sehr vielen Hinsichten aktuell, z. B. Globalisierung, Poly- oder Mono-Zentrismus in der grossen Politik, ökologische Besorgnisse usw. In seiner Betrachtung über das Wohnen beginnt Heidegger mit dem Denken über das Bauen: „Dieses, das Bauen hat jenes, das Wohnen zum Ziel." (Heidegger 1976: 19) Darin denkt Heidegger aristotelisch. Etwas ganz anderes aber ist seine Deutung der Welt. Ausgehend von der vorsokratischen und platonischen Vierheit: Himmel und Erde, Götter und Menschen, betrachtet Heidegger die Weltfrage zuerst als die Frage nach dem Ding, das uns angeht. So kommt er zur Bestimmung der Welt als „Einfalt von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen". (Heidegger 1976: 52sq) Dieses Geviert bildet eine Einheit, die sich dynamisch ereignet als Ring, dessen Mitte durch das Geschick des Seins bestimmt ist. Nach Mattei hatte Heidegger Erde und Himmel der vorhomerischen Mythologie und Menschen und Götter der homerischen Mythologie verbunden. (Mattei 1989: 189) Jedenfalls wird in Heideggers Schriften der Platonische Gorgias nicht erwähnt. Nach dem Zeugnis von Beaufret sollte Heidegger in einem Gespräch im Mai 1975 die Verwandtschaft des Gevierts mit der Tetrade des Gorgias anerkannt haben: 88 „Dans ce texte de Platon, les quatre sont bien dénombrés, mais Y Uniquadrité (c'est-à-dire le caractère rassemblalnt Ge- des quatre ( Vier) en leur mutuelle communauté) est absente, là où au contraire la parole poétique de Hölderlin nomme, dans l'esquisse à laquelle sera plus tard donné le titre de Der Vatikan, le wirklich, ganzes Verhältnis, samt der Mitt, l'entier du rapport y compris son centre, qui n'est jamais aucun des quatre." (Mattei 1989: 188-9) Das Seinsgeschick hatte Heidegger auch Moira genannt: „Er (Parmenides) nennt die Molpa, die Zuteilung, die gewährend verteilt ... Die Zuteilung beschickt (versieht und beschenkt) mit der Zwiefalt." (Heidegger 1967: 47) Der Zusammenhang zwischen Heideggers Seinsgeschick und Diaita als Regelung des persönlichen Lebens und der grossen Politik gehört zu den dringendsten Fragen der Gegenwart. Verschiedene Bedeutungen des griechischen Wortes Statta können als Hinweis zum Verständnis der gegenwärtigen Welt und der internationalen Politik verstanden werden. Der Begriff der Statta umfasst sowohl die Bedeutung der Teilung als auch die Bedeutung der Verursachung; eine „Diät" enthält Anteile (atsa, mopo~) für die gerechte Lebensführung als auch Ursachen und Verantwortlichkeit (attta) für die Aufrichtung einer gerechten Ordnung in der Welt. Auf diese Weise kann Statta als Anfang und Ursprung einer pluralistischen Gestaltung des politischen Kosmos bezeichnet werden. Literatur Aristoteles (1969': Eudemische Ethik, übersetzt und kommentiert von F. Dirlmeier, Werke in dt. Übersetzung, Bd. 7, Berlin: Akademie Verlag. Aristoteles (1994): Politik, nach der Übersetzung von F. 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Where does this uncanniness (das Unheimlichste) stem from? The basic topic of the book is ascetic ideal as historically expressed in the highest values of Jewish-Christian tradition. With ruthless strictness he reveals ignoble motives hidden behind the noble values of righteousness, compassion, supposed naturalness of bad conscience and guilt, and the blessedness of mystical experience of unio mystica. According to him, all these are manifestations qua symptoms of resentment. Unheimlich, uncanny is his insight into the background of all these ideals, primarily because it is these very ideals that have for really long been incorporated in the life of the European spirit. What is resentment? It is (Nietzsche 1956: 263) "the wish to alleviate pain through strong emotional excitation." And again (Nietzsche 1956: 264): "To dull ['betäuben'] by means of some violent emotion a secret, tormenting pain that is gradually becoming intolerable - to banish it momentarily from consciousness." Resentment is, in Nietzsche's concise terms, "fundamental misattunement" (Nietzsche 1956: 270): Grundverstimmung der Gründlich-Verstimmten). What is the truth of resentment, i.e. what does the world revealed in it look like? Existence as incessant suffering is intolerable. The primordial pain of existence (which is, according to Zarathustra, "time and its 'it was'") as incessant becoming is unbearable. Something has to be done to do away with this misattunement, to tame it, mortify it. And ascetic ideals are none other than the means to do away with this fundamental resentment. 92 According to Nietzsche, in all noble aspects of ascetic ideals (righteousness, compassion, guilt, original sin, blessedness) there (Nietzsche 1956: 267) "rules resentment without precedence". Ascetic ideal is a sacred form of unbridled affectivity. It is the most spiritual, audacious and most dangerous systemization of all means for unbridling emotions. Ascetic ideal is, and this is perhaps the most important insight, lack of measure, resistance to measure. For the sake of clarity, we could say that if existence is constant suffering (ertragen) of never-ending becoming, the ascetic response itself also reveals itself as incessant, constant overcoming of this incessant suffering. In short, if existence as incessant change and becoming is unbearable, ascetic response/cure as restless activity is hardly bearable. Affectivity in its unbridled nature is therefore not the self-evident nature of affectivity as such. Rather, as Nietzsche points out, it is a typical (cultural) response qua reaction - willed and nurtured (cultivated!) - to the primordial misattunement. Again, the final goal of ascetic ideal is to overcome boredom, pain by being (quote) "awake, eternally awake, sleepless, zealous, worn out, but not tired". We thus see the truth of man in his entrapment between the restlessness of life as becoming on the one side and his own restless eschatological activity qua ascetism on the other. This may well sound strange to the contemporary superfluously opinionated man, who believes that Christian ideals evince a longing for peace and quiet of depersonalization as absence of all desires. This is where Nietzsche reveals his genius most strikingly: Indeed, ascetic ideals are a means (characterized as noblest) of avoiding pain and bodily affectivity, they are indeed supposed to help man achieve a state of thisworldly indifference, as depersonalization, with the final goal of otherworldly existence as timelessness in sight. Yet, there is another side to the coin of European culture, the one which lies hidden in the very same ideals: namely restless activity. In German: machinale Tätigkeit. The English translation of this phrase is mechanical activity, which is in my opinion partially misleading. The etymology of the word goes back to - where else than the Greek language: mechane - machine. In this respect the English translation is correct; mechanical as automatic, as if from force of habit, without reflection always already there; but only partially correct. For if we bear in mind Nietzsche's implications inscribed in this very notion, we get much closer to the Greek verb: machesthai (struggle against, react against sth, resent sth);1 Mechanical activity is therefore constant resentful activity of unleashing unbridled affectivity, which is an anesthetic against the primordial pain of existence. That ascetic ideals are indeed symptoms of resentment, Ressentiment, is obvious if we bear in mind that mechanical, machinal activity is resentful activity as antipathy against the basic character of life. Ascetic ideals may indeed serve as a means for hypnotization as depersonaliza-tion (winter sleep), as narcotics against the fundamental misattunement, but, as Nietzsche points out, this state is reached only through mechanical, constant (standing), restless, resentful activity. Now the reason we are less able to detect this restless, hyperactive and resentful respect of ascetic ideals is that we are today very much immersed in the blessing of work. But, we might object, ascetic ideals, together with ascetic priests, are a matter of the past, of the so-called "dark Middle Ages". Modern age is quite a different matter. Modern science and philosophy have rescued man from the dark corners of spiritual slavery into the broad daylight of Enlightenment. The modern man of science is the pioneer exploring the new horizons of personal freedom and truth, which can be attained by the human genius alone. Does Nietzsche share this belief with modern optimists? The question is of course only rhetorical and anticipates a negative answer: not at all. And this is the time to step into the present spiritual situation. Nietzsche says in this respect (Nietz- 93 i For example, we find the word in a poem written by the Greek poet Anacreon, where the poet, literally anacreontically enjoying his wine, says to his friends, who resent his drinking: ti moi ma-chesth' hetairoi, "why, dear friends, resent it? When it is obvious that the earth drinks, and trees drink the earth, and the sea drinks rivers, and the Sun drinks the sea, and the moon drinks the Sun". Machesthai therefore means: object, oppose, resent something, which implies a certain antipathy of the will, Widerwille der Wille, which we readily find in Nietzsche's Zarathustra in the chapter "On Redemption", "Von der Erlösung', where he says: "This, yea, this alone is revenge itself: the Will's antipathy to time, and its 'It was'". 94 sche 1956: 288): "Modern science as true philosophy is the newest and most intimate form of ascetic ideal." However, with one fatal distinction: if ascetic priests practiced restless activity with the final goal in sight, it being the eternal bliss as the end to all the toils and troubles of thisworldly unbearable existence, the modern man on the other hand remains possessed by the same restless activity, but - and this is of crucial importance here - he has no final goal in sight but this very restless activity itself. Restlessness itself in the very loss of the ideal. Scientific restlessness for its own sake. And even more clearly (Nietzsche 1956: 285): "The solidity of our best scholars, their automatic industry, their heads smoking night and day, their very skill and competence." Before we step into the arena of modern or postmodern science as true philosophy, we have to stop for a while and break our strain of thought. So far we have thought along the lines of Nietzsche's arguments, trying to elucidate his uncanny insight into the essence of European ideals. It is at this point that we have to step aside and ask ourselves the following question: what is Nietzsche's will to power if not the very affirmation of being as constantly restless self-overcoming? And in a way resistance to any measure of being? The eye of life, the will to power as constant self-overpowering and self-overcoming is never shut, it is eternally wakeful, apriorily transcending all there is. While presenting the thought of restless mechanical activity as Nietzsche's own great achievement, we are at the same time obliged to pose a criticism of Nietzsche's thought of the will to power as the very "logic" of mechanical activity. There are numerous passages in his unpublished material, in his Nachlass, which corroborate this: in volume 11 of KSA we find the following thought (Nietzsche 1999: 538: "Der rastlose Wille zur Macht oder zur beständigen Schöpfung oder zur Verwandlung oder zur Selbst-Überwältigung" ("Restless will to power or the will to constant creation or transformation or self-overcoming."). In volume 12, (Nietzsche 1999: 419), we read the following: "Der Wille zur Macht erscheint [...] als Wille zur Übermacht" ("The Will to Power appears [...] as the Will to Overpower"). In volume 13, (Nietzsche 1999: 259), we read: "Der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos ist" ("The Will to Power is not being, it is not becoming, but rather pathos.") And (Nietzsche 1999: 260): "Das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist" ("the innermost essence of being is the Will to Power"). Will to power is therefore none other but ascetic ideal, which Nietzsche describes in his Genealogy as "a sacred form of unbridled affectivity, lack of measure, resistance to measure". But then again, didn't Nietzsche himself admit to his own nihilism? Doesn't he include himself among those who express the modern belief in modern science, saying in Genealogy that (Nietzsche 1956: 288) "Even we students of today, whoa are atheists and anti-metaphysicians, light our torches at the flame of a millennial faith: the Christian faith, which was also the faith of Plato, that God is truth, and truth divine..."? Husserl To return to the present situation, let us again quote Nietzsche's proclamation: "Modern science as true philosophy is the newest and most intimate form of ascetic ideal." We are gathered here at The Fourth Central- and Eastern European Conference on Phenomenology to shed light to phenomenological perspectives on Europe, world and humanity in the 21st century. So let's ask ourselves: are there any manifestations of the most intimate form of ascetic ideal to be found in phenomenology as true philosophy? The founding father of phenomenology, Edmund Husserl, conceived of his philosophy as universal apodictic science. Can we find in his work any indications of his philosophy as rigorous science being the most intimate form of ascetic ideal, as Nietzsche proclaimed? For the sake of brevity, we are obliged to take a shortcut. One of the shortcuts is his Bernau Manuscripts, as a continuation of his work on the nature of inner time consciousness. It is here that we find Husserl repeatedly allude to the basic character of time consciousness as original process (Zeitbewusstsein als Urprozess): 1. (Husserl 2001: 4): it shows itself as constant source streaming (stetiges Quellen) 2. (Husserl 2001: 9): it is to be thought as constant continuation of empty consciousness (im Prozess setzt sich stetig dieses Leerbewusstsein) 3. (Husserl 2001: 31): the constitution of phenomenological time in original consciousness is an "eternal", constant protentional and retentional process (Urbewusstsein als ein "ewiger", unaufhörlicher Prozess, unendlicher protentionaler und retentionaler Process ). 4. (Husserl 2001: 33): it is constantly passing from one original point of presence to another (stetig überführt) 5. (Husserl 2001: 36): time as constant streaming (Zeit als , In these manuscripts, the finite time consciousness is placed between the aten-tional (atentional) non-temporal streaming of hyletic sensuality on the one side and infinitely spontaneous all-knowing activity of infinite, divine consciousness as extra-temporal on the other. And not only this: the finite time consciousness is also caught between two infinities in its own temporality. Retentionally, it is reaching back into infinity, because each new retention is always intentionally related to previous retentions and so in infinitum; and protentionally it is always al- 95 96 ready ahead of itself as an ever renewed and empty pretention. (We cannot deny here the close resemblance between Husserl's temporal quality of transcendental subject and Nietzsche's Zarathustra, who finds himself caught between two infinities. But this is another story.) The point here is that Husserl's infinite, divine consciousness as an idea, ideal of finite consciousness actually does bear strong resemblance to Nietzsche's ascetic ideal, as explicated before. The ultimate implication of Husserl's posited ideal of all-knowing absolute consciousness corroborates Nietzsche's insight into the nature and purpose of ascetic ideal: it serves as the means of overcoming the constantly restless streaming of existence, which can find its ultimate unity, its peace and quiet of absolute, constant existence only through constant self-conscious activity of the pure I. What is at work here then? You can attain the final peace and quiet, you can finally rest if you infinitely overcome the restless quality of nature and life?! Only if you are restless enough, that is constantly, can you come to rest in restless pure spontaneity?! Can we see the magic circle that is at work here? Can Husserl see it? My answer would be: no, he can't see his own entrapment in the ascetic ideal as restless, eternally purely active self-constitution; a situation very much alike the one in Zarathustra, where the dwarf on Zarathustra's shoulders cannot face the truth of his own resentment through the explication of the riddle of all riddles of being. Heidegger In the paragraph 535 of Nietzsche's book Human, All Too Human we are given a clue as to what is actually going on in this ultimate riddle of Zarathustra's: In the hardest and quietest hour, when life is most unbearable, it is anxiety that jumps on our shoulders as the goblin (Kobold), the spirit of gravity, later embodied and personified in Zarathustra's dwarf, Zwerg als Geist der Schwere. We are now moving ahead to the great advocator of anxiety and student of Edmund Husserl's: Martin Heidegger. In his later writings, Heidegger condemned Nietzsche of overturning metaphysics and of being the most accomplished nihilist. This is all very fine given the nature of the will to power, as we learn in Heidegger's European Nihilism. However, we might ask ourselves: why hasn't Heidegger included ascetic ideal as the sixth name among the five great names of his philosophy? For if the will to power, eternal recurrence ofthe same, nihilism, revaluation of values and overman all together actually reveal the onto-temporal character of measureless, constant, restless self-overcoming - and Heidegger is rightful in claiming it -, the sixth name of ascetic ideal reveals the critical reflection of this very constant restless activity of theory and practice. If we again bear in mind Nietzsche's proclamation that modern true philosophy is the most intimate form of ascetic ideal, can we find in Heidegger anything that might prove Nietzsche right? We are now obliged to take yet another shortcut: we shall briefly discuss Heidegger's Being and Time, concentrating on the phenomenon of resoluteness (Entschlossenheit). In paragraph 62, where Heidegger discusses anticipatory resoluteness - "Anticipatory Resoluteness as the Way in which Dasein's Potentiality-for-Being-a-whole has Existentiell Authenticity", Heidegger says (Heidegger 2005: 355): The phenomenon of resoluteness has brought us before the primordial truth of existence. [...] To any truth belongs a corresponding holding-for-true (Für-wahr-halten). [...] Such holding-for-true in resoluteness (as the truth of existence) by no means lets us fall back into irresoluteness (läßt jedoch keineswegs in die Unentschlossenheit zurückfallen). [...] This holding-for-true, which belongs to resoluteness, tends to hold itself free constantly (Das zur Entschlossenheit gehörende Für-wahr-halten tendiert sich ständ-ing freizuhalten). Resoluteness is the primordial truth of Dasein as authentic being-oneself. We should ask ourselves the following question: where does this urge, imperative of constantly not letting Dasein be irresolute stem from? Heidegger's answer to this question can be found in paragraph 58, "Understanding the Appeal, and Guilt", where he pinpoints the ontological status of the existential of guilt (Heidegger 2005: 186): "In existing as thrown, Dasein constantly lags behind its possibilities" ("als geworfenes existierend, bleibt das Dasein ständig hinter seinen Möglichkeiten zurück"). Namely, exactly in its thrownness, Dasein constantly lags behind its imperative "become what you are" and is therefore always, constantly ontologi-cally guilty of not being what it is. The imperative, which does not let Dasein fall back into irresoluteness, is therefore this very ontological guilt as the hearing of (Heidegger 2005: 343): "the silent discourse of the conscience". We see here that Dasein as a finite being-in-the-world is thrown between the constant silent imperative of (Heidegger 2005: 356) "become what you are" and the facticity of the "constant lostness in the irresoluteness of the 'they" ("die ständige, aus dem Grunde des eigenen Seins mögliche Verlorenheit in die Unentschlossenheit des Man"). 97 98 "Resoluteness is the distinctive mode of Dasein's disclosedness", (Heidegger 2005: 343) ("Die Entschlossenheit ist ein ausgezeichneter Modus der Erschlos-senheit des Daseins."). Let's ask ourselves again: where does this urge and imperative of constant Entschlossenheit as Erschlossenheit stem from? What is the nature of this resoluteness as the imperative of constant openness of Dasein? Is there not perhaps at work some sort of willing? Perhaps even the phenomenon of the antipathy of the will as understood by Nietzsche? Is not resoluteness resentfully voluntary in its nature? That this is actually so, we need only to take a closer look at Heidegger's discussions on Nietzsche's will from his Lecture course Der Wille zur Macht als Kunst. In the paragraph "Wille als Affekt, Leidenschaft und Gefühl", Heidegger says explicitly that (quote) "it lies in the essence of willing, in resoluteness, that it reveals itself", ("Im wesen des Willens, in der Entschlossenheit, liegt, das er sich selbst erschliesst"), and that the will itselfhas the character of opening up the openness and keeping it open", "der Wille selbst hat den Character des eröffnendes Offenhalten' (Heidegger 1996: 49). On page 48 he says: "Willing is willing beyond oneself, being-beyond-oneself-in-affect," ("Wollen ist über sich hinaus Wollen, Über-sich-hinaus-sein-im-Affekt") and again: "Resoluteness is willing itself." ("Entschlossenheit ist das Wollen selbst."). Phenomenon of Constancy In all three thinkers, Nietzsche, Husserl and Heidegger, we repeatedly stumble upon one common phenomenon: the phenomenon of constancy. Either as Nietzsche's Beständigkeit, Husserl's Stetigkeit or Heidegger's 1. Nietzsche: will to power as being is constant self-overcoming (Nietzsche 1999: XI, 538), and, as Heidegger understands it, it is constant keeping open of the openness. (In Genealogy of Morals, this constancy is the very core of the problem!) 2. Husserl: the constant continuation of empty consciousness (stetige Fortsetzung dieses Leerbewusstsein), which, as Husserl puts it (Husserl 2001: 277), cannot be understood as an entity ("es ist nicht Seiendes"). 3. Heidegger: Dasein as genuine holding-for-true in resoluteness, which tends to hold itself free constantly (Das zur Entschlossenheit gehörende Für-wahr-halten tendiert sich ständing freizuhalten). Constant resoluteness as constant disclosed-ness. Getting over Constant Hyperactivity Now is there a way of getting over (verwinden), not overcoming (überwinden), this troublesome issue? Is there a third path, leading in-between of the truth of man as either imago dei or homo faber? Can modern, or "post-pre-post" modern man, if you like it, find a place to rest his boiling head and resentful heart? It is in his later writings that Heidegger reflects on the manner of being of Da-sein's disclosedness as resoluteness. If in Being and Time concealment of truth, un-truth belongs to the falling of inauthentic Dasein, it later no longer belongs to Dasein, but rather to being as being, to aletheia as the clearing of being, which "first grants being and thinking and their presencing to and for each other" (Heidegger 2002: 443) And the final blow to the restless constant activity of transcendental Dasein: "But the heart of aletheia is What about Nietzsche? Can we find indications of his critical insight into his own resentment and the thoughts which are alien to the thought of the will to power? Indeed we can. In Human, All Too Human, paragraph 285, he says quite ingeniously (Nietzsche 2000: 620): Modern restlessness. The farther West one goes, the greater modern agitation becomes; so that to Americans the inhabitants of Europe appear on the whole to be peace-loving, contented beings, while in fact they too fly about like bees and wasps. This agitation is becoming so great that the higher culture can no longer allow its fruits to ripen; it is as if the seasons were following too quickly on one another. From lack of rest, our civilization is ending in a new barbarism. And in paragraph 500 some further indication of his understanding of the nature of being, which differs largely from his understanding of the nature of the Will to Power (Nietzsche 2000: 695): Using high and low tides. For the purpose of knowledge, one must know how to use that inner current that draws us to a thing, and then the one that, after a time, draws us away from it. And perhaps the most important passage for our treatise: in Gay Science, in paragraph 42 we read (Nietzsche 2000: 66): For thinkers and all sensitive spirits, boredom is that disagreeable "windless calm" of the soul that precedes a happy voyage and cheerful winds. They have to bear it and must wait for its effect on them. Precisely this is what lesser natures cannot achieve by any means. To ward off boredom at any cost is vulgar, no less than work without pleasure. 99 2 There are of course several other passages in Heidegger, which point in this direction. The same issue could be tackled from the perspective of the difference between Sollen and being, as discussed in his Introduction to Metaphysics. For a detailed discussion on this issue see Svetlic 2003. And last but not least, a quotation from Thus Spoke Zarathustra (Nietzsche 2000: 455): "The soul most self-loving, in which all things have their current and counter-current, their ebb and their flow." What is this "windless calm of the soul, this ebb and flow" in Nietzsche, the self-revealing and self-concealing in the clearing of being in Heidegger? What does it mean that Nietzsche and Heidegger want us to be in tune with either the ebb and flow of being or the presencing and absencing of being? We said that constancy, ever-restless self-overcoming, is a manifestation of resentment of the spirit of revenge, which reveals itself primarily as absence of measure, as resistance to measure. We could therefore say that "windless calm of the soul, this ebb and flow" indicate a certain stepping away from the constant, eternally constant activity of the transcendental ego and stepping away from the constant resoluteness as constant openness of Dasein. Stepping away in the direction of the swaying to and fro (hin und her schwingen) of the self-revealing and self-concealing of being; of authenticity and inauthenticity. What does this swaying to and fro reveal? None other than the newly discovered measure of being as being in tune with this primordial truth of being, with the revealing and concealing nature of being. It is perhaps a story of rediscovering the forgotten measure as attunement, as 100 being in tune with the swaying to and fro of the self-revealing and self-concealing of the being of Nietzsche's Will to Power, Husserl's transcendental ego and Heidegger's authentic Dasein. Is this not completely different from the mechanical activity as the measureless constant hyperactivity, which Nietzsche names fundamental misattunement? Regardless of the being of entities, as thought in each of the discussed thinkers, what appears as crucial is the insight into the rootedness (attunement) of the being of entities (of every ground) in the groundless self-revealing self-concealment of - should we not pause here and, contrary to Heidegger, simply stick to attunement as such? If Heidegger's being qua being (Ereignis, Es gibt) can perhaps be (mis)construed as some sort of a supreme entity, we can rest assure that there isn't a person in this world who could convincingly defend the conclusiveness of his ontification of fundamental attunement. The story offundamental attunement, as the story of human beings, however, has only just begun. For, as Nietzsche would put it: You find that difficult to understand? You have no eye for something that took two millennia to prevail? . . . There is nothing strange about this: all long developments are difficult to see in the round. ÜNTOLOGICAL DIMENSION OF MECHANICAL ACTIVITY Literatur Heidegger, Martin (1996): Nietzsche I, GA 61, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann. Heidegger, Martin (2005): Being and Time, Oxford: Blackwell Publishing. Heidegger, Martin (2002): Supplements: from the earliest essays to Being and time and beyond, Albany: State University of New York Press. Husserl, Edmund (2001): Die Bernauer Manuscripte. Über das Zeitbewusstsein (1917/1918), Dordrecht/Boston/London: Kluwer Academic Publishers. Nietzsche, Friedrich (1999): Kritische Studienausgabe, München: Deutschen Taschenbuch Verlag. Nietzsche, Friedrich (2000): Werke, Digitale Bibliothek Band31, Berlin: Directmedia. Nietzsche, Friedrich (1956): The Birth of Tragedy and The Genealogy of Morals, New York: Doubleday & Company, Inc. Svetlič, Rok (2003): "Razvitje konceptualnega problema fenomenološke etike", Phai-nomena XII /43-44, 2003, 309-331. 101 Branko Klun SiNN UND UNENDLiCHKEiT. Eine phänomenologische Herausforderung Die Idee der Phänomenologie kennzeichnet sich durch eine grundlegende Af- 103 finität zur Endlichkeit. Im Vordergrund steht das Interesse für das Phänomen, für das, „was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt".1 Im Unterschied zur platonischen Tendenz, das Phainomenon zu transzendieren und zu seinem ermöglichenden Grund, zum Noumenon, aufzusteigen, versucht die Phänome-nologie das Phänomen aus ihm selbst bzw. von ihm selbst her zu verstehen. In der platonischen Suche nach dem Noumenon, die auf paradigmatische Weise den westlichen Idealismus charakterisiert, verbirgt sich der Anspruch, zum Unbedingten fortzuschreiten, das keine räumlich-zeitliche Schranken kennt und in diesem Sinne sowohl ewig als unendlich ist. Die Bewegung der menschlichen Vernunft zum Unbedingten schlägt aber auch auf das Selbstverständnis des Menschen zurück. Seine Fähigkeit, die endliche und veränderliche Erfahrungswelt zu überschreiten, mit der Vernunft das Absolute zu erreichen, verleiht dem Menschen einen absoluten, ja unendlichen Sinn. Die Phänomenologie hingegen verkörpert eine andere Orientierung. Statt der Suche nach dem transzendenten Sinn jenseits der Erscheinung wird in der Phänomenologie der Sinn eines Phänomens in ihm selbst, d. h. in seiner phänomenalen Konstitution, gesucht. Dabei geht es vor allem um die Erschließung jener Horizonte, die in der naiven Einstellung übersprungen werden, die aber wesentlich zur Konstitution des Phä- 1 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Niemeyer, Tübingen (16. Aufl.) 1986, S. 34. 104 nomens gehören. Auch wenn wir in der Erfahrung bestimmter Horizonte Momente der Unendlichkeit entdecken - wie etwa bei der Unabgeschlossenheit der Abschattungen eines Raumgegenstandes -, bleibt der Bezug des Horizonts zur Endlichkeit wesentlich. Diese Sensibilität der Phänomenologie für die Endlichkeit kommt auch im bekannten Prinzip aller Prinzipien von Husserl zum Ausdruck, nämlich „daß alles, was sich uns in der ,Intuition' originär [...] darbietet, einfach hinzunehmen ist, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken [hervorgehoben, B. K.], in denen es sich da gibt".2 Die Schranken, von denen Husserl spricht, haben die Konnotation von Endlichkeit; sie sind für die Phä-nomenologie von grundlegender Bedeutung. Sie dürfen jedoch nicht negativ als Be- oder Einschränkung eines Phänomens verstanden werden, sondern als sein positives Definieren: Die Schranken im Sinne von Grenzen (finis) konstituieren das Phänomen in seinem Selbstsein. Sie sind seine erste Ermöglichung. Diese der Phänomenologie innewohnende Affinität zur Endlichkeit wird jedoch nicht von Husserl, sondern von Heidegger konsequent entwickelt und zum Hauptmerkmal seiner hermeneutischen Phänomenol ogie gemacht. Husserl bleibt für ein mögliches und unterschiedlich verstandenes Transzendieren stets offen. Seine Wendung zur transzendentalen Phänomenologie, die von vielen Schülern als problematisch empfunden wurde, knüpft an die abendländische Tradition des Idealismus bzw. der Metaphysik an. Bei Heidegger hingegen geht es um eine radikale Loslösung der Phänomenologie von dieser Tradition und um den Versuch, die Endlichkeit in ihrer Absolutheit anzunehmen. Die Geschichtlichkeit (qua Endlichkeit) des Seins ist der ultimative Horizont seines Denkens. Der vorliegende Beitrag zielt auf die Auseinandersetzung mit diesem Verständnis der Phänomenologie, vor allem in Bezug auf seine ethischen Implikationen. Ein wichtiger Gesprächspartner dafür ist Levinas, der den heideggerschen Denkansatz bekanntlich vom ethischen Standpunkt her problematisierte und derart eine Neubesinnung auf das Wesen der Phänomenologie intendierte. Metaphysik und die Würde des Menschen Die Verlagerung der Betracht ungsperspektive auf die Ethik bedeutet keinen Rückfall in die Metaphysik und in ihr moralisches Wertdenken, wie Heidegger einwenden könnte. Es handelt sich dabei nicht um moralische Bewertungen, die die Frage nach dem Sinn von Sein naiv überspringen bzw. das Sein nicht entsprechend würdigen. Vielmehr geht es um ein Nachdenken über das Verständnis des 2 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Husserlia-na III/I, Nijhoff, Haag W6, S. 5i. Menschen und um Implikationen, die sich daraus für unser gemeinsames Leben, ja für unser „Sein" ergeben. In dieser Hinsicht kann Heideggers Kritik an der westlichen Metaphysik einseitig erscheinen. Levinas, der am Anfang seines Denkwegs mit jener angeführten Kritik sympathisierte, sah sich bald größerer Vorsicht gemahnt. Bei der bekannten Disputation zwischen Heidegger und Cassirer in Davos, wo Levinas eindeutig für Heidegger Partei ergriffen hatte, handelte es unter anderem auch um die Auseinandersetzung zwischen der alten Metaphysik in der Form der Transzendentalphilosophie und dem neuen phänomenologischen Ansatz von Heidegger. Vereinfacht könnte man diese unterschiedlichen Positionen als Spannung zwischen der Suche nach Idealformen auf der einen Seite und der Nähe zum Leben auf der anderen Seite bezeichnen. Aus der Sicht des gelebten Lebens kann der idealistische Aufstieg zum mundus intelligibilis, zu überzeitlichen Formen und Bedeutungen, als eine Art Entfremdung empfunden werden. Das „eigentliche" Wissen kann nicht abstrakt sein, sondern es muss im Leben stehen und das Leben bewegen können. Es muss „geschehen" und somit geschichtlich sein. Die Idee als Inbegriff des Zeit transzendierenden, ewigen Sinnes wird gerade dadurch fraglich, dass sie sich vom menschlichen Leben entfernt und es nicht entsprechend artikulieren kann. Es wird jedoch bald klar, dass die Frage viel komplexer ist. Auch wenn der metaphysische Aufstieg des Menschen zum Noumenalen (Absoluten, Unendlichen) eine „Vergessenheit" unseres je schon gelebten Seins mit sich bringen kann, hat der Transzendenzbezug des Menschen eine ethische Bedeutung, die kaum auszumessen ist. Die Möglichkeit des Menschen, seine Endlichkeit, d.h. sein endliches und kontingentes Sein, zu transzendieren, verleiht ihm in der metaphysischen Tradition eine unendliche Würde. Auch wenn dieser Aufstieg zum Absoluten als eine Vernunftleistung gesehen wird, liegt seine Bedeutung primär in der Ethik. So versucht Cassirer gerade auf diesen Punkt aufmerksam zu machen, als er mit Kants Ethik die von Heideggers radikal durchgeführte „Verendlichung" des Daseins zu überwinden trachtet: „Das Sittliche als solches führt über die Welt der Erscheinungen hinaus. Das ist doch das entscheidende Metaphysische, dass nun an diesem Punkt ein Durchbruch erfolgt. Es handelt sich um den Übergang zum mundus intelligibilis. Das gilt fürs Ethische, und im Ethischen wird ein Punkt erreicht, der nicht mehr relativ ist auf die Endlichkeit des erkennenden Wesens, sondern da wird nun ein Absolutes gesetzt."3 Das Absolute impliziert auch eine Transzendenz der Endlichkeit und wird somit als Unendliches verstanden. Der absolute bzw. unendliche Sinn des Menschen bedeutet ethisch, dass er nie als 105 3 Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, Klostermann, Frankfurt/M.1991, S. 276. 106 Mittel zu einem Ende (Zweck) eingesetzt werden kann und dass es schlichtweg kein „Ende" (als Ziel) in einer endlichen Handlung gibt, dem das Menschsein untergeordnet wäre. Es handelt sich also in erster Linie nicht um eine Unendlichkeit des Menschen im Sinne eines unsterblichen Seins (unendliches Leben der Seele), sondern um eine unendliche Würde. Diese metaphysische Transzendenz und ihre ethische Bedeutung werden in aller Deutlichkeit bei Kant sichtbar. Bekanntlich streitet Kant der reinen Vernunft die Möglichkeit ab, das Sein zu erkennen. Das Sein, wie es Kant in seinem Unterschied zum Sollen versteht, bezieht sich notwendigerweise auf Erfahrung und auf Phänomenalität. Was die Erkenntnis anbelangt, bleibt der Mensch radikal auf seine endliche Erfahrung angewiesen. Die Transzendenz der Vernunft, die über die endliche Erfahrung hinausgeht, hat jedoch eine eminent ethische Bedeutung. Die reine Vernunft in der Praxis (praktische Vernunft) bedeutet die Möglichkeit, die Bestimmungen meines endlichen, der phänomenalen Welt zugehörenden Daseins zu transzendieren und in meinen moralischen Handlungen (die zwar in ihrem Vollzug immer endlich sind) das Absolute, das Unendliche, zu bezeugen. Im „Beschluss" seiner Kritik der praktischen Vernunft schreibt Kant: „Das zweite [das moralische Gesetz, B. K.] fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an, und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist [...]."4 Etwas später spricht er von „der zweckmäßigen Bestimmung meines Daseins durch dieses Gesetz, welche nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht [...]."5 Offensichtlich handelt es sich dabei nicht um eine spekulative Unendlichkeit, nicht um die synthetische Kraft der Vernunft, sondern um eine ethische „Kategorie", die nicht der Ordnung des Seins, sondern der Ordnung des Sollens angehört. Das Sollen aber wird in der sittlichen Handlung zu einem „Sein", ohne sich je auf seine Faktizität und Endlichkeit reduzieren zu lassen. Die Moralität erfolgt zwar in der phänomenalen Welt, aber sie bezeugt die Transzendenz der intelligiblen Welt. Bei Kant wird deutlich, dass diese „Entdeckung" der Transzendenz des Menschen keine Folge der Verherrlichung oder Anmaßung des Subjekts ist, wo ein latenter Wille zur Macht, die nach Heidegger im Hintergrund des metaphysischen Strebens steht, am Werke wäre. Vielmehr ist eine Erfahrung der eigenen Gespaltenheit zwischen dem egoistischen Selbst und der Herausforderung eines transzendenten Sinnes gemeint. Ich muss mich ethisch höher schätzen, als ich mich je faktisch erfahren kann. Und ähnlich gilt es auch für die Mitmenschen. Sie übersteigen unendlich ihre endliche Erscheinung, weshalb das moralische Gesetz immer schon eine intersubjektive Dimen- 4 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Kant Werke, Bd. IV, WBG, Darmstadt 1983, S. 300. 5 Ibid. sion beinhaltet: Eine andere Person darf niemals als Mittel, sondern muss stets als „Zweck an sich selbst" behandelt werden.6 Trotz der endlichen Erfahrung, die ich von anderen habe, muss ich mich in meinen Handlungen von der Idee der Unendlichkeit, von der Idee ihrer unendlichen Würde leiten lassen. Umkehrt würde der endliche Sinn des Menschseins eine Gefahr darstellen, die absol ute menschliche Würde zu relativieren und sie außerhalb des Menschen liegenden Zwecken (auch Ideen im weitesten Sinne des Wortes) unterordnen zu können. Wegen des ethischen Potentials kann daher Levinas behaupten, dass „der Idealismus im ganzen eine Lehre der Würde des Menschen [une doctrine de la dignité humaine]"7 darstellt. Heideggers Rehabilitation der Endlichkeit Heideggers frühe Auseinandersetzung mit der herrschenden Idee der Wissenschaft und die Suche nach einer Ursprungswissenschaft, wie er Philosophie bzw. Phänomenologie versteht, läuft parallel zu seiner Abgrenzung vom Idealismus in der Form der damaligen „transzendentalen Wertphilosophie".8 Wenn wir Heideggers komplexe Kritik stark vereinfachen, können wir sagen, dass für ihn dem Idealismus eine ontologische Naivität zugrunde liegt. Eine unzureichende oder gar fehlende Reflexion auf den Sinn von Sein führt zur Annahme eines idealen Seins, woraus der Mensch auch sich selbst versteht. Dieses ideale Sein drückt sich im Wertdenken aus, das für die Ethik maßgebend ist. Die Phänomenologie hingegen versucht sich dieser Naivität zu entledigen, indem sie als „Ursprungswissenschaft" nach dem ursprünglichen Horizont jeglicher Sinnkonstitution fragt. Dieser kann für den frühen Heidegger nur das gelebte Leben, der faktische Lebensvollzug, sein. Jedes Phänomen bzw. der ihm entsprechende Sinn wird innerhalb eines faktisch vollzogenen Lebens konstituiert - oder besser - ge-lebt.9 Das Leben darf dabei freilich nicht biologisch oder theoretisch-objektiv verstanden werden. Es handelt sich hier vielmehr um jenen Grundvollzug, der ich immer schon bin und innerhalb dessen sich jedwede Verständlichkeit konstituiert. Der ursprüngliche Horizont ist somit ein Geschehen bzw. Geschichte. Bevor ein Phänomen theoretisch betrachtet und objektiviert wird, wird es vollzogen, „geschieht" es, ereignet es sich im gelebten Leben. Die theoretische Einstellung, die das Phänomen aus diesem lebendigen Geschehen herausnimmt und es nun als ein „bloß Vorhandenes" betrachtet, stellt den verborgenen Ursprung der 107 6 Ibid., S. 61. 7 Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen, Freiburg/München: Alber, S. 6i. 8 Martin Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, Klostermann, Frankfurt/M. 1987, S. 119. 9 Ibid., S. 21. 108 Verdinglichung,ro aber auch - so könnten wir sagen - der Idealisierung dar. Die Idealisierung erfolgt als theoretische Objektivierung eines lebendigen Geschehens. Sie besagt die Fixierung eines geschichtlichen, d. h. im Vollzug sich ereignenden Sinnes in einen objektiven, idealen, zeitlosen Sinngehalt. Diese Objektivierung ist jedoch kein neutraler Prozess, sondern eine folgenreiche Handlung. In der theoretischen Objektivierung erstickt das gelebte Leben und es kommt, wie es Heidegger formuliert, zur „Entlebung".n Das Leben geht verloren; es wird uneigentlich. Die Idealisierung erweist sich somit als etwas, was dem Leben feindlich ist, und der idealisierte, theoretische Sinn wird zum Inbegriff der Uneigentlichkeit. Auf diese Weise sind die Weichen gestellt für Heideggers spätere In-Frage-Stellung der idealistischen Metaphysik, deren Suche nach einem idealen Sinn und Sein zum Verlust des eigentlichen Lebens führt. Wenn der transzendentale Idealismus seine letzte Rechtfertigung in der Ethik sucht, so kann auch Heidegger behaupten, dass auch seine Motive nicht weniger ethisch sind - es geht ihm sogar um mehr: um die eigentliche Wahrheit des Menschen bzw. um sein eigentliches Sein. Wo liegt nun der entscheidende Unterschied zwischen dem phänomenologischen Verstehen, das sich in den Vollzug des faktischen Lebens begibt, und der idealistischen Theoretisierung, die einen festen, objektiven Sinn abstrahieren will? Er besteht in der Bedeutung der Zeit. Die theoretische Einsicht ist zeitlos. Die griechische Wesensmetaphysik, die sich durch die Idee der Episteme bis in die heutige Wissenschaft hinein durchgesetzt hat, versteht sich als ein Transzendieren der Zeit. Die Vergessenheit der Zeit besagt aber eine Vergessenheit des eigentlichen Seins. Wenn der zeitliche, d.h. der geschichtliche Horizont meines je schon gelebten Lebens als ursprünglich angenommen wird, dann muss jeder Versuch eines Aufstiegs über die Zeit hinaus als naiv angesehen werden. Auch wenn die theoretische Einstellung zu einem vermeintlich zeitlosen Sinn gelangen kann, so ist diese zeitlose Transzendenz dennoch höchst fragwürdig. Heidegger schreibt: „Auch das ,Unzeitliche' und ,Überzeitliche' ist hinsichtlich seines Seins ,zeitlich'. Und das wiederum nicht nur in der Weise einer Privation gegen ein ,Zeitliches' als ,in der Zeit' Seiendes, sondern in einem positiven, allerdings erst zu klärenden Sinne.""2 Anders gewendet: Es gibt keinen Ausstieg aus dem zeitlichen Geschehen, das wir immer schon sind. Vielmehr muss gefragt werden, welchen zeitlichen, geschichtlichen Sinn die so genannten idealen, transzendenten, un- oder 10 Heidegger nennt das auch einen Prozess „der gestaltgebenden Verfestigung zur Verfügbarkeiten". Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20), GA 58, Klostermann, Frankfurt/M. i993, S. ii9. 11 Ibid., S. 232. 12 Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. i8 f. überzeitlichen Bedeutungen haben. In welchem Lebensvollzug geschehen sie (d. h. konstituieren sie sich) ursprünglich und was ist ihr gelebter Sinn? Man könnte in diesem Zusammenhang von einer phänomenologischen Reduktion auf den ursprünglichen Horizont des Geschehens (Lebensvollzug) bzw. der ihm zugehörigen Zeitlichkeit sprechen, der jedes Phänomen unterworfen ist, vor allem aber vermeintlich unzeitliche, „geschehensfreie" Phänomene. Darin liegen der Sinn und die Aufgabe von Heideggers Projekt einer phänomenologischen Destruktion der „Geschichte der Ontologie"13 bzw. der Metaphysik. Die Zeit bzw. die Geschichtlichkeit wird bei Heidegger zum ursprünglichen und unhintergehbaren Horizont des Seins und des Sinnes. Die mit der Zeitlichkeit verbundene Endlichkeit bekommt eine absolute Rolle. Die metaphysischen Vorurteile gegen die Endlichkeit, die immer im Gegensatz zu einem vermeinten Ideal der Unendlichkeit gedacht wurde, erschweren die Gewinnung ihrer ursprünglich positiven Bedeutung, ja ihrer grundlegenden und alles ermöglichenden „Positivität". Das „Ende" im Wort Endlichkeit darf nicht idealistisch-spekulativ, sondern muss phänomenologisch-positiv gedeutet werden. Heidegger schreibt: „Endlich muß dabei im griechischen Sinne von nspa; = Grenze verstanden werden, als dasjenige, was ein Ding vollendet in dem, was es ist, in sein Wesen eingrenzt und so hervortreten lässt."14 Das Ende ist kein Mangel, sondern eine Vollendung. Endliches Sein darf sich nicht am metaphysischen Ideal der Unendlichkeit messen, sondern hat seine Positivität aus dem Verhältnis zum Nichts schöpfen. Das Nichts aber bedeutet wiederum keine negative Beschränkung, sondern die allererste Ermöglichung. Die Unendlichkeit (apeiron) oder die Grenzenlosigkeit wären in dieser Hinsicht etwas Bedrohliches, etwas Un(be) greifbares und Identitätsloses. Die Grenze gibt Gestalt, lässt etwas als solches hervortreten und sein. Eng mit der Grenze ist das Wort „Horizont" verbunden. Das griechische Verb „horizein" bedeutet etwas begrenzen (von horos - Grenze), aber nicht im Sinne von Einengung, sondern als Einräumen, Raum geben und damit ermöglichen. Indem er Grenzen zieht, eröffnet der Horizont Raum.15 Diese positive und ermöglichende Bedeutung der Grenze wird ersichtlich in der existenzialen Analyse des Todes, wie sie Heidegger in Sein und Zeit durchführt. 109 13 Ibid., S. 39. 14 Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, Klostermann, Frankfurt/M. 1987, S. 230. Dazu auch: „Die Grenze (népa;), griechisch gedacht, ist aber nicht das, wobei etwas aufhört, sondern das, worein es entsteht, indem es darinnensteht als demjenigen, was das Entstandene so und so ,gestaltet', d. h. in einer Gestalt stehen und das Ständige anwesen läßt. Wo das Eingrenzende fehlt, kann etwas in dem, was es ist, nicht anwesen." (Martin Heidegger, Parmenides, GA 54, Klostermann, Frankfurt/M 1982, S. 121). 15 Mehr zu dieser Thematik vgl. Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld, Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Böhlau, Wien 1997, SS. 119-136. 110 Der Tod besagt eine endgültige Grenze des Daseins. Aber nur durch diese Grenze bzw. im Verhältnis zu ihr gewinnt das Dasein sein eigentliches Sein. Es handelt sich um keine Beschränkung des Daseins, sondern um seine höchste Ermöglichung. Der Tod ist die höchste Möglichkeit, die allen anderen Möglichkeiten vorangeht und sie als solche ermöglicht. Das Dasein ist somit „wesentlich" endlich. Ein unendliches Dasein, eine Existenz ohne Tod, wäre bei Heidegger streng genommen widersprüchlich, „contradictoire dans les termes", wie Levinas treffend bemerkt.16 Die End-gültigkeit des Todes ist aus Heideggers Perspektive absolut notwendig. In seinem späteren Denken wird die Endlichkeit im Zusammenhang mit dem Ereignis gedacht. Wie bereits das Wort anklingen lässt, steht das Ereignis in einem diametralen Gegensatz zur metaphysischen Zeitlosigkeit. Eine Unendlichkeit findet im Ereignis-Denken keinen Platz. Die Endlichkeit des Seins impliziert auch die Endlichkeit des Sinnes. In Sein und Zeit wird der Sinn als derjenige Horizont („Entwurfsbereich") verstanden, „worin sich Verständlichkeit von etwas hält".17 Wie es keinen Horizont ohne Grenze geben kann, so gibt es auch keinen Sinn, der nicht wesentlich endlich wäre. Eine Unendlichkeit ist buchstäblich nicht „sinn-voll", und sie entbehrt auch jeder Frage nach dem Sinn. Bei einem unendlichen Leben könnte sich die Frage nach seinem Sinn überhaupt nicht stellen. Erst das endliche Sein lässt eine solche Frage aufkommen. Das menschliche Leben kann einen Sinn haben, gerade weil es endlich und sterblich ist. Die Würde des menschlichen Daseins entspringt seiner geschichtl ichen Einmaligkeit (Endlichkeit), und ein mögliches Überschreiten dieser Endlichkeit würde dem Dasein seinen Ernst (des Todes), somit aber auch seine eigentliche Würde nehmen. Ethik und Unendlichkeit Die Gefahr, die Levinas in Heideggers Ansatz sieht, bezieht sich auf das neue „Absolute" bei Heidegger - die Zeit bzw. die Geschichte. Im späteren Denken von Heidegger tritt die existenziale Perspektive von Sein und Zeit zugunsten des Geschehens von „Seyn", der Geschichtlichkeit des Seins zurück. Es gibt nichts, was diese Seinsgeschichte transzendieren könnte. Das „Geschick" des Seins ist das Walten einer abgründigen Freiheit, die aber gerade wegen der Unberechenbarkeit des Ereignisses als Gabe verstanden und empfangen werden kann. Somit aber gibt es auch kein Kriterium, das sich jenseits der Geschichte befinden und ebendiese Geschichte beurteilen könnte. Das ethische Hauptproblem bei Heidegger scheint nicht der ihm oft vorgeworfene Dezisionismus (in Ver- 16 Emmanuel Levinas, Dieu, la mort et le temps, ed. J. Rolland, Grasset, Paris 1993, S. 56. 17 Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 151. bindung mit Sein und Zeit und seiner „Entschlossenheit") zu sein,18 der zwar auch im Ereignisdenken nicht völlig überwunden wird, sondern die Abwesenheit jeglichen übergeschichtlichen „Maßes". Der Sinn (die Wahrheit) und damit auch die Grundlage jedes Urteilens sind der Geschichte immanent. Man könnte das im Sinne von Levinas so formulieren, dass es bei Heidegger keine Möglichkeit gibt, die Geschichte vom Standpunkt der „Menschlichkeit" (einer absoluten ethischen Würde des Menschen) zu beurteilen. Die geschichtlichen Ereignisse, auch die „Wunden des Jahrhunderts", deren Zeugen Heidegger wie Levinas waren, wären demnach Schicksal und ein Geschick der Geschichte. Sie ertrügen kein Urteil von einer Instanz außerhalb der Geschichte. Ist es nur das noch nicht überwundene metaphysische Denken, das uns in Versuchung bringt, ein absolutes Urteil über die Geschichte zu fällen und zu sagen, dass es gewisse menschliche Taten gibt, die absolut und überzeitlich unrecht oder gar von Übel sind? Ist das Empfinden der Unterordnung des menschlichen Schicksals unter das „Geschick" der Geschichte als ungerecht nur eine geschichtliche Stimmung, die zeitlich bedingt ist? Unabhängig davon, wie jeder Einzelne mit der Annahme seiner Endlichkeit zu Rande kommt, stellt sich eine gesellschaftsrelevante Frage, welche Folgen sich aus diesen Ansichten für unser gemeinsames Leben ergeben. Erfordert diese Macht des Geschichtlichen nicht eine Neubesinnung auf die Humanität des Menschen, ohne in die alte metaphysische Verabsolutierung des menschlichen Wesens zu verfallen? Als ein Beispiel für diese Suche kann auch Levinas stehen. Wichtiger als etwaige Ergebnisse seines Denkens sind seine Fragestellungen. Auch wenn eine Rückkehr zur alten Metaphysik für Levinas nicht in Frage kommt, muss das metaphysische Anliegen ernst genommen werden. Worauf es letztendlich ankommt, ist die Sicherung einer absoluten menschlichen Würde. Die Suche nach einem unendlichen Sinn des Menschen muss aus dieser ethischen Motivation verstanden werden. Bei Levinas wird die Unendlichkeit nicht mehr im Vernunftvermögen des Menschen gesucht, sondern in einer neu verstandenen Passivität. In der Metaphysikgeschichte führte für Levinas die Verbindung zwischen dem „Vermögen" der Vernunft und der Unendlichkeit zu einem Gewaltpotential, das die Macht der Vernunft „endlos" ausbreiten wollte. Mutatis mutandis könnten wir darin Heideggers These vom metaphysischen Wesen der heutigen Technik bzw. des technischen Seinsverständnisses wieder erkennen: das Walten einer unendlichen Aktivität der Beherrschung und Verfügbarkeit, das den heutigen Menschen in seinem „Wesen" (Sein) bestimmt. Levinas plädiert dagegen für eine radikale 18 Zur Thematik vgl. Helmuth Vetter, „Heidegger und die Ethik. Materialien zur Klärung einiger möglicher Missverständnisse", in: H. Vetter, G. Pöltner, P. Kampits, Verantwortung. Beiträge zur praktischen Philosophie, Festgabe für J. Mader zum 60. Geburtstag, Universitätsverlag, Wien 1991, S. 183-199. 111 Loslösung der Unendlichkeit von der Aktivität des Menschen. Das Menschsein wird vielmehr in einem ursprünglichen „Passivum" gesucht, das auf verschiedene Weise artikuliert wird: Angesprochen-, Berufen-, Betroffenwerden. Der Mensch bleibt wesentlich endlich; er verfügt über kein Vermögen, das ihm einen Ausstieg aus seiner endlichen conditio gewährleisten würde. Er ist jedoch Adressat eines Anspruchs, der von einem Außen kommt und sich nicht in sein (endliches) Verstehen überführen lässt. Dieses Angesprochenwerden kennt kein Maß und kein Ende - es handelt sich um eine Maßlosigkeit und Unendlichkeit, die sich jeglichem Vernehmen, aber auch Übernehmen seitens des tätigen Subjekts widersetzen. 112 Wenn die Unendlichkeit phänomenologisch einen Sinn haben soll, dann müssen die Herrschaft des Horizonts und die Verwiesenheit des Sinnes (des Bedeutens) auf ihn relativiert werden. Ein Horizont ist seinem Wesen nach endlich. Um diese Endlichkeit zu transzendieren, versucht Levinas die zwischenmenschliche Beziehung jenseits des Horizontdenkens anzusiedeln. Die Beziehung zum Anderen „von Angesicht zu Angesicht" (face-a-face) setzt keinen gemeinsamen Horizont voraus.'9 Die Andersheit des Anderen besteht in diesem absoluten Außen, das einen absoluten Bruch jeglicher Gemeinsamkeit mit sich bringt. Aus diesem Jenseits spricht mich der Andere ethisch an und sein Anspruch kann nie in meinen Verstehenshorizont überführt werden. Statt der „Sammlung" des Horizonts waltet hier eine unaufhebbare Differenz, die aus der Sicht des sammelnden Logos20 seiner Logik widerspricht und sich dem Vorwurf der Sinnlosigkeit aussetzen muss. Muss aber Sinn (Bedeutsamkeit) nur auf Sammlung beschränkt sein oder gibt es die Möglichkeit eines anderen Sinnes? Wie wäre es, wenn der Sinn auf besondere Weise mit der Differenz verbunden ist, wenn er als Differenz geschieht bzw. die Differenz „ist"? Bricht darin nicht das „Sein" selbst ein, und es eröffnet sich ein Bedeuten jenseits des Seins, ein Anders-als-Sein? Es geht also um die Frage, was den Sinn zum Sinn macht, was das „Wesen" des Sinnes ist. Für Levinas hat der Sinn, verstanden als horizonthafter Entwurfsbereich, nicht das letzte Wort. Leidenschaftlich bemüht er sich um eine andere, auf Differenz (d. h. auf den Anderen) bezogene und ethisch bedeutsame Sinnhaftigkeit (signifiance). Die Differenz „geschieht" nach Levinas als ethische Nicht-Indifferenz, als ethische Verantwortung. Der Sinn geschieht im ethischen „Der-Eine-für-den-Ande-ren (l'un-pour-l'autre)"wo die unaufhebbare Differenz eine nie abgeschlossene und somit unendliche Verantwortung für den Anderen bedeutet. In der zuge- 19 Dazu vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über Exteriorität, Alber, Freiburg/ München i987, S. i09f. 20 Vgl. Martin Heidegger, Heraklit, GA 55, Klostermann, Frankfurt/M. i979, S. i48. 21 Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Alber, Freiburg/München i992, S. spitzten Form, die an vermeintlicher Allgemeinheit verliert und nur noch „Für-den-Anderen" (pour-l'autre) heißt, handelt es sich um ein Sein, das für den Anderen da ist und eben darum nicht ist, weil es im „Für-den-Anderen" aufgeht und sich aufgibt. Die Differenz zwischen mir und dem Anderen wird beim späteren Levinas zum Bruch innerhalb des Subjekts selbst, das zu keiner Sammlung und Ruhe kommen kann, sondern in dieser ethischen Unruhe gehalten wird. In unendlicher Berufung (Verantwortung) für den Anderen erfolgt ein „Passieren" der Unendlichkeit, wie Levinas sagen würde, die nicht einmal eine Möglichkeit (Vermögen), sondern eine reine Passivität darstellt - eine Passivität, die unaufhörlich „passiert" und in dieser Passion die andere, ethische Sinnhaftigkeit voll- zieht.22 Der unendliche ethische Anspruch verleiht dem Menschen einen unendlichen Sinn, der über die Endlichkeit des Seinsgeschehens (bzw. der Geschichte) hinausgeht. Dieser Sinn vermag auch über die Geschichte ein Urteil zu fällen. Der Andere, für den ich verantwortlich bin, urteilt sowohl über meine als auch über die allgemeine Geschichte. Dieses Urteil kann und muss zwar geschichtl ich artikuliert werden, aber der ethische Anspruch, der das Urteil motiviert, trans-zendiert die Geschichte und lässt sich nie von ihr relativieren. Nur in diesem ethischen Sinne transzendiert der Mensch die Geschichte und hat einen unendlichen Sinn. Levinas folgt demnach nicht der metaphysischen Suche nach der Überwindung des Todes, womit auch die Endlichkeit besiegt wäre. Die Unendlichkeit des Menschen wird nicht mit seiner Unsterblichkeit gleichgesetzt. Oder wie Levinas sagt: „Die Beziehung zum Unendlichen ist die Verantwortung eines Sterblichen für einen Sterblichen."23 Obwohl er sterblich und endlich ist, unterhält der Mensch eine Beziehung zur Unendlichkeit - er steht unter dem unendlichen Anspruch der Verantwortung. Darin liegt seine absolute Würde. Vielleicht liegt das tiefste Anliegen der Phänomenologie darin, im endlichen Phänomen seine verborgene Tiefe zu entdecken, um es dadurch allererst würdigen zu können. In diesem Sinn gehört zur Phänomenologie ein ihr eigenes „Transzendieren" des Endlichen, das immer schon auch eine ethische Grundorientierung mit einschließt. Davon zeugt auf beeindruckende Weise auch der Denkweg Heideggers. Deshalb wäre es falsch, die vorliegenden kritischen Ausführungen, die sich auf ihn beziehen und sich von Levinas inspirieren ließen, als ein allgemeines Urteil über sein Werk zu verstehen. Ihre Zuspitzung ist vielmehr ein Ausdruck der Krise, in der sich der heutige Mensch und seine „Humanität" befinden und die ein gründliches Nach- und Vordenken erfordert. Die Bedro- 113 22 Ibid., S. 323. 23 Emmanuel Levinas, La mort et le temps, S. i35. hungen des technischen Zeitalters und eine zunehmende Instrumentalisierung des Menschen rufen nicht nur nach der Besinnung auf das geschichtliche „Wesen" (Sein) des Menschen und nach einer epochalen Lösung. Sie verlangen zuerst eine alltägliche ethische Sensibilität, wo trotz der Begrenztheit und Endlichkeit unseres Wissens absolute Imperative möglich sind und die Unendlichkeit eine ethische Referenz darstellt. 114 Yvanka B. Raynova VERANTWORTUNG FÜR DiE MENSCHHEiT iM 21. JAHRHUNDERT. Zu Paul Ricreurs Verantwortungskonzept Die Verantwortungsproblematik, die Ricreur in seinen Werken immer wieder 115 angesprochen und behandelt hat, erscheint im Kontext einer phänomenolo-gisch-hermeneutischen Reflexion über das Selbst (Ricreur 1986c: 227-228), das als handelndes, leidendes und fähiges Subjekt nicht nur für seine Handlungen zuständig ist, sondern auch gegenüber den Anderen, der Gemeinschaft und der zukünftigen Generationen gewisse Pflichten zu erfüllen hat. Kennzeichnend für Ricreurs Hermeneutik des „fähigen Menschen" (lhomme capable) (Ricreur, Raynova 2004: 108-109) ist, dass sie die Verantwortung auf mehreren Ebenen thematisiert - auf der historischen, der psychologischen, der ethischen, der politischen und der rechtlichen. Diese Ebenen bilden die verschiedenen Dimensionen des Willens, die aus der Zersplitterung wieder zu einer Einheit gebracht werden müssen, um die Verantwortung als integrales Ganzes verstehen zu können.1 Ziel des folgenden Beitrags ist es diese Integralität zu erfassen und zu zeigen, dass Ri-coeurs Konzept der Verantwortung implizit zeitlich konzipiert ist und somit eine Verantwortung voraussetzt, die unser jetziges Dasein und Mitsein sowohl an die 1 Im Gegensatz zu denjenigen Autoren (siehe: Greisch 2001: 360-371), die nur eine partiale Interpretation der Verantwortung bei Ricreur unternommen haben, setzt sich der folgende Beitrag das Ziel, diese Einheit im Kontext der komplexen Entwicklung des Ricreurschen Werkes zu rekonstruieren. Vergangenheit als auch an die Zukunft bzw. an die zukünftigen Menschen bindet. 1. Von der eigenen Erfahrung zur phänomenologischen Konzeption der Verantwortung Ricœurs Behauptung, dass wir zum Bewusstsein der Verantwortung erst durch den Anderen und die Gemeinschaft gelangen (Ricœur 1950: 55), erhält eine ganz besondere Bedeutung, wenn wir sie im Kontext seines eigenen Lebensweges betrachten. In seiner „intellektuellen Autobiographie" Reflexion faite beschreibt Ricœur wie früh er schon auf die Ungerechtigkeit in der Geschichte gestoßen war: „Die vorzeitige Entdeckung - als ich gerade elf-zwölf Jahre alt war - der Ungerechtigkeit des Vertrags von Versailles hat plötzlich den Sinn des Todes meines Vaters, der 1915 an der Front getötet wurde, verdreht: dieser Tod, der den Heiligenschein des gerechten Krieges und des unbeschmutzten Sieges verloren hatte, stellte sich heraus als ein vergeblicher Tod. Zu meinem Pazifismus, der sich aus dem Grübeln über den Krieg herausbildete, kam sehr bald ein lebhaftes Gefühl der sozialen Ungerechtigkeit hinzu, welches durch meine protestantische Erziehung Ansporn und Rechtfertigung fand." (Ricœur 1995b: 18-19) 116 Im Aufsatz „La culpabilité allemande" aus dem Jahr 1949, das seine Auseinandersetzung mit der jasperschen Geschichtsphilosophie darstellt, bringt Ricœur das historische Unrecht mit der Schuldfrage und der Frage nach der Verantwortung in Verbindung. Er zeigt dort unter anderem den Unterschied zwischen Verantwortung als Verantwortlichkeit im Sinne von Handlungen, die auf moralische Begriffe wie Gut und Böse verweisen, und Verantwortung als einer politischen und juridischen Kategorie, wo die Verantwortung auf das Erleiden einer Sanktion reduziert wird (Ricœur 1991: i5off). Es ist also aus der Krise heraus, die beide Weltkriege bei ihm auslösten, dass Ricœur eine besondere Sensibilität für die Fragen der Ungerechtigkeit, des Bösen, der Schuld, der Verantwortung und des Sinns der Geschichte entwickelte. Der erste Versuch, das Problem der Verantwortung eingehender zu erörtern, wird in dem großen Werk Le volontaire et l'involontaire (1950) unternommen, bei dem es darum geht, den Menschen als Handelnden zu verstehen, was notwendigerweise zur Problematik der Zurechenbarkeit und der Entscheidung führt. Ricœur betont nun, dass das Handeln immer ein „zu machendes" Projekt wie auch ein Subjekt, welches der Urheber seiner Handlungen ist, impliziert und, dass es als Urheber diese vor anderen zu verantworten hat: Es ist hauptsächlich in meinen Beziehungen zum Anderen, d.h. in einem sozialen Kontext, das ich das Bewusstsein erlange, der Urheber meiner Handlungen in der Welt zu sein, und allgemeiner gesagt, der Urheber meiner Denkakte. Wenn jemand fragt: „Wer hat das gemacht?", dann stehe ich auf und antworte: „Ich war es". Antwort: Verantwortung (Réponse: responsabilité). „Verantwortlich zu sein, bedeutet bereit zu sein eine solche Frage zu beantworten" (Ricœur 1950: 55). Es ist also der Andere, der mir Anlass dazu gibt, der Zurechnung meiner eigenen Handlungen bewusst zu werden und sie zu enthüllen. Das Zusammensein mit dem Anderen kann jedoch auch in einem gemeinsamen Schlummer verlaufen. Ricœur führt als Beispiel dafür das anonyme heideggersche „Man" an. Das „Man" ist Niemand bzw. eine Menschenmenge in der sich jeder verstecken kann, um sich der Verantwortung zu entziehen. Deshalb ist das „Ich", das seine Handlungen bewusst auf sich nimmt, der Gegensatz zum „Man". Durch dieses Bewusstsein oder „Gefühl" der Verantwortung, wie es Ricœur nennt, wird uns klar, dass wir uns nicht am Rande unserer Handlungen behaupten können, sondern uns nur dann verwirklichen, wenn wir uns voll engagieren: Das Gefühl der Verantwortung führt im Moment des Engagements zur höchsten Stufe der Selbstbehauptung und zur resolutesten Ausübung einer Kraft über einen Teil des Reellen für die das Selbst zuständig ist. Es beinhaltet die doppelte Betonung des Selbst und des Projekts. Das verantwortliche Wesen ist bereit bezüglich seiner 117 Handlungen Antwort zu geben, weil es die Gleichung des Willens setzt: „Ich bin diese Handlung" (ebd. 57). Jede Handlung muss also einem Entscheidungsträger zugeordnet werden können, von dem sichergestellt ist, dass er sich freiwillig entschieden hat. Wie kann man aber die Frage beantworten, warum er sich so und nicht anders entschieden hat? Ricœurs Antwort darauf ist, dass Entscheidungen getroffen werden anhand von Motiven und Werten, die uns dazu bewegen etwas zu tun, ohne uns zu zwingen. Er geht dabei von einem prä-reflexiven Handeln aus, das dem sartreschen prä-reflexiven Cogito ähnlich ist. Im prä-reflexiven willentlichen Handeln wirken die Motive, ohne dass man über sie und sich selbst als Urheber der Handlungen explizit nachdenkt. Die moralischen Handlungen hingegen werden in einem Wertehorizont vollzogen, in dem durch Bewertung des Unreflektierten Urteile gebildet werden. In einer gegebenen Situation suche ich nach Hilfe und ich finde sie normalerweise in der Totalität der bis dahin nicht verwerteten Werte, die im Zuge der Debatte mit mir selbst ihre Motivationskraft in dieser Situation zeigen. Alle anderen Werte funktionieren als ob sie einer Teilsituation angehören (...) Doch in großen Krisen, bei einer Prüfung, die mich radikalisiert oder angesichts einer Situation, die meine Letzt- 118 Begründungen in Frage stellt, beginne ich meine fixen Vorstellungen zu hinterfragen. Alles ist verändert (...) Die letzten Werte haben sich als etwas herausgestellt, das auf nichts mehr verweist... (ebd. 72) Was Ricœur mit diesem Beispiel zeigen will ist, dass es keine absoluten, ewigen und universellen Werte gibt, keine platonischen Ideen oder Wesenheiten, die sich uns in einer reinen Intuition offenbaren. Der Gedanke, seine Entscheidungen nicht begründen zu können, kann zu Verzweiflung und Angst vor dem Abgrund führen. Ricœur gibt dabei zu bedenken, dass diese Angst nicht reflexiv gelöst werden könne, denn jeder Versuch einer Letztbegründung sei zum Scheitern verurteilt. Motive und Werte seien emotional bedingt und bergen in sich ein tiefes Paradox: sie sind kein absolutes Produkt der Geschichte, sie werden auch nicht erfunden, sondern anerkannt, begrüßt, entdeckt, jedoch nur insofern wir die Fähigkeit besitzen, Geschichten zu machen und zu erfinden (ebd. 72). Die Werte - so Ricœur - steigen aus einem dunklen, unklaren und unbestimmten Grund empor, der des unreflektierten Willens und des Unwillentlichen, das mit Trieben wie Hunger, Durst u. a. verbunden ist. Die Werte motivieren zwar unsere Handlungen, sie kommen aber zugleich durch die Handlungen zum Vorschein und werden durch diese auch zum Objekt einer ethischen Bewertung. Sie bekommen einen festen Bestand nur durch die zirkuläre Bewegung von ethischer Reflexion und Handeln und verfallen sobald dieser Kreislauf unterbrochen wird (ebd. 75). Das verantwortungsvolle Handeln unterscheidet sich vom ziellosen oder gedankenlosen Agieren durch die sogenannte „Salbung der Werte", d. h. durch eine axiologische Legitimation. Diese besteht darin, das mir ein Auftrag (une mission), für den ich zuständig bin und vor dem ich mich letztlich verantworten muss, seitens einer Gemeinschaft anvertraut wird. Ich bin also „verantwortlich vor ..." der Gemeinschaft, die mich beauftragt etwas zu tun und „in dieser Rechtfertigung der Verantwortung liegt die prinzipielle Möglichkeit eines Urteils über mein Handeln, eines Tadels, einer Missbilligung, kurz einer Sank-tion„ (ebd. 79). Die ricœursche Analyse der Entscheidung impliziert also drei Momente: Das Projekt des Handelns, dessen Zurechenbarkeit zu einem handelnden Subjekt als dem verantwortlichen Urheber dieses Projekts, sowie die Motivation dieses Subjektes durch ganz bestimmte Werte, die das Projekt als solches erst rechtfertigen. In seinem Aufsatz „Liberté: responsabilité et décision" aus dem Jahr 1968 siedelt Ricœur die Verantwortungsproblematik nicht mehr auf der Ebene der Entscheidungsproblematik an, sondern bringt sie auf das Niveau der Freiheitsproblematik. Er betont nunmehr die Notwendigkeit, die Konzepte von Entscheidung, Verantwortung und Freiheit, die im ersten Augenblick als verschiedenartig erscheinen, zu einer semantischen Einheit zusammenzufügen. Dies sei jedoch nicht einfach, da sie sich auf drei verschiedenen Ebenen des philosophischen Diskurses befinden. Das Konzept der Entscheidung befindet sich auf der Ebene der philosophischen Psychologie bzw. der Phänomenologie. Ihm entsprechen die klassischen Beschreibungen der subjektiven Fähigkeit, die man liberum arbi-trium bzw. Willkür genannt hat. Das Konzept der Verantwortung befindet sich auf der Ebene der ethischen und der politischen Philosophie und beschäftigt sich mit den Fragen des Zusammenhangs und der Übereinstimmung von individuellem und allgemeinem Willen. Das Konzept der Freiheit hingegen befindet sich auf der ontologischen Ebene und verweist seinerseits auf die Frage nach der Konstitution des menschlichen Seins: Wie muss der Mensch konstituiert sein damit er der psychologische und moralische Urheber seiner Handlungen sein kann? (Ricreur 1968: 155) Ricreur verlagert damit das Problem der Verantwortung auf die Ebene des „objektiven Willens" und nennt Hegel zufolge drei Bedingungen, die den Begriff der Verantwortung als objektiven Willen charakterisieren: Die erste Bedingung ist der Vertrag, welcher einen Willen mit einem anderen Willen in Verbindung setzt. Diese Verdoppelung des Willens enthält einen neuen Bezug, den man nicht aus dem Verhältnis der Wahl zu den Motiven ableiten kann. Hier findet ein Austausch statt, der eine Art gegenseitiger Anerkennung beider Willen voraussetzt, wodurch das Ich „objektiv" wird. Die zweite Bedingung ist die Selbstbegrenzung des subjektiven Willens, der zum objektiven Willen wird, indem er sich einer Norm, einem Gesetz unterordnet. Mit Kant ausgedrückt wäre dann ein verantwortlicher Wille ein Wille, der seine Rechtfertigung in der Universalität seiner Maxime findet. Doch nach Ricreur könne man Kant nicht bis zu Ende folgen, insbesondere dann nicht, wenn er die Pflicht von der Zufriedenheit und dem Glück abspaltet, denn „eine angemessene Handlung, die keinen Grund zur Zufriedenheit bietet, kann auch kein Werk des Willens im vollständigen Sinne [d. h. etwas gewolltes] sein". (ebd. 160) Die dritte Bedingung ist die Gemeinschaft, d. h. die Verankerung in bestimmten sozialen und ökonomischen Gruppierungen, in der Familie, dem Staat usw., in denen sich der Wille realisiert. Diese Bedingung bildet den Kulminationspunkt des Diskurses über die Verantwortung, wobei Ricreur die hegelsche Identifikation zwischen Staat und realisierter Freiheit verwirft. 120 Ricœur zeigt letztlich, dass nur aus der dialektischen Bewegung bzw. aus dem Übergang vom subjektiven Willen, der einen Gegenstand der Phänomenologie bildet, zum objektiven Willen, der in der Dialektik untersucht wird, der Anspruch und die Entwicklung des Verantwortungsdiskurses wirklich verstanden werden kann. 2. Die semantische Klärung: über die politischen und rechtlichen Dimensionen der Verantwortung Der Aufsatz „Le concept de responsabilité. Essai d'analyse sémantique" aus dem Jahr 1995 bildet zweifelsohne Ricœurs umfangreichste Untersuchung über den Begriff der Verantwortung. Ricœur hebt darin hervor, dass sein Interesse am Problem der Verantwortung durch den komplexen und vieldeutigen alltagssprachlichen Gebrauch des Ausdrucks „Verantwortung" motiviert worden sei, der sich ihm als ziemlich verwirrend dargestellt hätte. Das Adjektiv verantwortlich' zieht nach sich eine Mannigfaltigkeit an Ergänzungen: Sie sind verantwortlich für die Konsequenzen ihrer Handlungen, aber auch für die Anderen, für die Sie sorgen oder für die Sie zuständig sind. (...) Sie sind vielleicht sogar für alles und alle verantwortlich. In allen diesen Fällen des unklaren Gebrauchs [des Begriffs der Verantwortung], besteht der Verweis auf die Verpflichtung (obligation); dies bedeutet gewisse Aufgaben erfüllen zu müssen, gewisse Lasten auf sich zu nehmen, gewisse Engagements einzuhalten. (Ricœur 1995: 42) Auch die Polysemie des Verbs „antworten" gibt Grund für verschiedene Deutungen des Wortes Verantwortung: es handelt sich nicht nur um das ver-antwort-lich-sein-für (répondre de), sondern auch um das antworten-auf (répondre à) eine Frage, einen Ruf usw. Ricœur macht nun den Vorschlag, die Klärung des Begriffs Verantwortung nicht mittels der Semantik des Verbs „antworten", sondern des Verbs „zurechnen" (imputer) vorzunehmen. Zurechnen heißt, nach unseren besten Wörterbüchern, jemandem eine tadelhafte Tat, einen Fehler zuzurechnen, d. h. eine Handlung mit einer vorhergehenden Verpflichtung zu konfrontieren oder mit einem Verbot, das diese Handlung verletzt hat. Die vorgeschlagene Definition zeigt wie aus der Verpflichtung oder dem Verbot einer Handlung (...) das Urteil der Zurechnung zum Urteil der Vergeltung führt, welches die Verpflichtung zu einer Gutmachung oder Erduldung einer Strafe impliziert. Doch diese Bewegung, die das Urteil der Zurechnung hin zur Vergeltung orientiert, sollte die entgegen gesetzte Bewegung nicht vergessen, die die Vergeltung (rétribution) zurück zur Zuschreibung (attribution) einer Handlung an einen Urheber führt. (ebd. 44) Die Metapher der Rechnung in der Zurechnung, d. h. „eine Handlung in Rechnung zu stellen", sei - so Ricreur - insofern interessant, als das lateinische Verb putare das Kalkulieren (comput) impliziere und somit die Idee einer Rechnungsführung mit zwei Feldern nahe lege: Einnahmen und Ausgaben, positive und negative Bilanz, Schulden und Verdienste, die moralisch gedeutet als gute und schlechte Taten, Tugend und Laster dargestellt werden können. So komme man zum juridischen Konzept der Verantwortung, das durch eine Verschiebung von der Zurechnung zur Vergeltung gekennzeichnet sei, d.h. der Pflicht einer Gutmachung oder des Erleidens einer Strafe. Im bürgerlichen Recht - betont Ricreur - sei immer noch die Rede von der Schuld, weil man auf die folgenden drei Aspekte nicht verzichten möchte: erstens, dass überhaupt ein Delikt begangen wurde; zweitens, dass der Urheber das Gesetz kannte; drittens, dass er Herr seiner Handlungen war, so dass er auch anders hätte agieren können. Die rechtliche Auffassung der Verantwortung habe sich jedoch dahingehend weiter entwickelt, dass nunmehr der Akzent vom Urheber des Schadens hin zum Opfer, das eine Entschädigung fordert, verschoben wurde. Man ist sogar so weit gegangen, eine Entschädigung auch in denjenigen Fällen vorzusehen, in welchen gar kein Schuldiger festzustellen ist. Dadurch sei die Idee einer „Verantwortung ohne Schuld" entstanden. Die Entwicklung „weg von der Schuld" könnte zwar als etwas Positives angesehen werden, doch habe sie auch negative Effekte hervorgebracht: je mehr man nämlich die Sphäre der Risiken erweitert habe, desto mehr sei es notwenig geworden Verantwortliche zu finden, d.h. Zuständige für die Entschädigung. Der Schutz gegen die Risiken, der anfangs als Solidarität mit den Opfern gedacht war, sei dann mehr und mehr in Richtung auf eine Suche nach Sicher-heitsmassnahmen ausgeufert. Damit werde aber die Problematik des Entschlusses durch diejenige des Schicksals ersetzt, also durch das genaue Gegenteil von Verantwortung, denn „das Schicksal ist Niemand, doch die Verantwortung ist Jemand" (ebd. 60). Die Frage, inwieweit man die Strafe von der Schuld trennen könne, bleibe - nach Ricreur - dabei völlig offen. Konkreter Ausdruck dieser Problematik ist der Fall „Affäre des verseuchten Blutes"2 zu der Ricreur in 1999 als Zeuge in den Gerichtssaal berufen wurde. Die 121 2 Der Fall des mit AIDS verseuchten Blutes gilt als einer der kompliziertesten und langwierigsten in der französischen juristischen Praxis. Anfang 1985 wurden Anomalien im Immunsystem von Homophilen, bei denen Bluttransfusion von französischen Spendern durchgeführt wurde, festgestellt. Zu dem Zeitpunkt, da bereits bekannt war, dass AIDS auch durch Bluttransfusion verursacht werden kann, verzögerte die französische Regierung das Gesetz für die HIV-Tests, das erst seit 1 August 1985 in Kraft trat. Der Grund dafür war die Tatsache, dass die französischen Tests noch nicht fertig gestellt waren und die amerikanischen eine Konkurrenz darstellten. Diese Verzögerung, so wie die Verhinderung von bekannte Maßnahmen für die Deaktivierung des Virus, gaben Anlass für die ersten Klagen in 1988; der Prozess wurde 1991 eröffnet und drei mal neu aufgerollt bevor er in 2004 beendet wurde (mehr dazu: Froguel, Smadja 1999). Aussage der Exministerin für soziale Angelegenheiten Georgina Dufoix „Verantwortlich, aber nicht schuldig" zu sein, hatte eine derartig große Diskussion ausgelöst, dass Paul Ricreur ins Gericht gerufen wurde, um die Aussage zu deuten. Er nutzte diesen Anlass nicht so sehr um sein Verantwortungskonzept auszulegen, sondern vielmehr um ein kraftvolles Plädoyer für ein neues politisches Bewusstsein und eine neue politische Ordnung zu machen. Ricreur betont in seiner Rede, dass er weder Politiker, noch Jurist sei, sondern nur „ein reflektierender Bürger", der an den Entscheidungsprozeduren „in unklaren Situationen" besonders interessiert sei (Ricreur 200i: 289). Danach schlägt er als erstes eine aus drei Sätzen bestehende Arbeitsdefinition der Verantwortung vor: 1. „Ich halte mich für verantwortlich für meine Handlungen." Dies bedeutet, dass ich der Urheber meines Handelns bin und als zurechnungsfähig Rechnung für sie trage. 2. „Ich bin bereit vor einer befähigten Instanz, die von mir [für meine Handlungen] Rechenschaft verlangt, mich zu verantworten." Dies heißt, dass es außer mir selbst noch Jemanden gibt „vor dem" ich mich rechtfertigen muss, dem ich Rechenschaft schuldig bin. 3. „Ich bin verpflichtet das rechtmäßige Funktionieren einer privaten oder öffentlichen Institution zu garantieren." Dieses dritte Moment bekommt, nach Meinung von Ricreur, zentrale Bedeutung, wenn jemand amtlich in eine Position der politischen Macht gelangt. Er hat dann auch für die Handlungen der Untergeordneten vor einer bestimmten Instanz Verantwortung zu tragen. So kommt zu der horizontalen Verantwortung auch eine vertikale, hierarchisch bedingte Verantwortung hinzu. Ricreur weist nun darauf hin, dass die Aussage der Exministerin ein Bekenntnis zur Verantwortung im Sinne des ersten Punktes, d. h. hinsichtlich der Frage der Zurechnung, beinhaltet. Der zweite Punkt, d. h. das sich-verantworten-vor, habe jedoch zu großen Auseinandersetzungen zwischen Juristen, Politikern und Journalisten geführt, denn es sei nicht immer klar gewesen wem man Rechenschaft schuldig sei, wofür man verantwortlich gemacht werden kann und wieweit die Verantwortung reicht und reichen soll. In der Politik könne die Verurteilung einer Person deren „politischen Tod" bedeuten; wenn sie aber rechtlich verurteilt wird, dann könne dies zum Verlust der Freiheit oder zur öffentlichen Schande führen. In vielen Fällen aber sei - so Ricreur - der unterlaufene Fehler sehr schwer zu beurteilen. Juridisch gesehen ist der Fehler individuell und damit sind dann verschiedene Sanktionen verbunden. Politisch gesehen ist es jedoch viel schwieriger die Tatsachen einer „schlechten Regierungsführung" festzustellen, denn anstatt dass die Kriterien vorhergehend bestimmt und festgesetzt wur- den, werden sie erst nach der Anklage zum Objekt einer Untersuchung und eines Prozesses des sich verantworten müssen. Ricreur betont insbesondere die Unklarheit bezüglich der Instanz, vor der man sich zu verantworten hat. Juridisch betrachtet sei es klar: diese Instanz ist der Gerichtshof. Doch politisch sei es nicht so eindeutig, obwohl seiner Meinung nach in einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie dies das Parlament mit seinen Untersuchungskommissionen sein sollte. Und falls es im Parlament noch keine passenden Instanzen für solche Fälle gibt, so sollte man sie eben erfinden. Der Fall der Blutverseuchung datiere - erinnert Ricreur - aus dem Jahr i985, er wurde aber erst i99i durch die Medien aufgerollt und ist im Gerichtshof gelandet, anstatt die damit verbundenen Probleme von Anfang an im Parlament zu debattieren und dort eine Behörde zu schaffen, die eine politische Untersuchung in Gang setzt. Ricreur sieht darin ein zutiefst politisches Problem: da man die politische Dimension der Verantwortung dem Gericht überlassen habe, wurde damit verhindert, das Problem politisch anzugehen. Das breite Feld der Fehlerhaftigkeit und der Schuld infolge schlechter Regierungsführung bleibe jedoch bei dieser strafrechtlichen Verfahrung unthematisiert. Ricreur plädiert deshalb dafür, dass man alles, was infolge eines administrativen Versehens passiert, politisch und nicht strafrechtlich behandelt. Dies bedeute nicht, dass die Politiker, wenn sie ein Verbrechen begehen, ungestraft davon kommen sollten. Aber die Strafverfahren müssten seiner Meinung nach eher auf dem Niveau der großen Verbrechen, d.h. des Dekalogs (!) angesetzt werden und nicht auf diesem der Regierungsfehlern (ebd., 293). Die Schwierigkeiten, die mit den Entscheidungen und den Verantwortlichkeiten der Regierenden zusammenhängen und die mit der hierarchischen Struktur zu tun haben, sollten zwar eingehend analysiert werden, aber zu aller erst müsse das Bewusstsein geschaffen werden, dass es an politischen Instanzen, vor denen sich die Regierenden zu verantworten hätten, mangelt. Alle meine Anmerkungen über die Konflikte der Kompetenzen, der Logik, der Amtsführung, der symbolischen Referenz dienen nur zur Zuspitzung der Frage über unsere politische Kultur, die mir keine Ruhe lässt, nämlich: Welche politische Instanz ist bereit Rechenschaft über das Politische zu verlangen und anzunehmen? Ich lasse diese Frage offen und stelle mir gedanklich (...) eine Instanz vor, die sich mit widersprüchlichen Debatten beschäftigt, deren Ziel die Warnung und die Korrektur der Dysfunktion infolge schlechter Regierungsführung ist. Diese Instanz wäre etwas wie ein für die Zivilgesellschaft offener bürgerlicher Gerichtshof, der die Werte der Aufklärung geltend machen würde, nämlich: die Öffentlichkeit gegen die Undurchsichtigkeit, die Eile gegen die Verzögerung, und insbesondere die Zukunftsorientierung gegen das Beharren in einer Vergangenheit, die nie vergeht (ebd., 296). 123 Ricœur beendet sein Plädoyer mit einer Erinnerung an die Verantwortung für die Opfer. Diese bestünde erstens darin, sich ihre Klage, ihr Leid anzuhören; zweitens, im Versuch sie zu verstehen, denn sie verlangen und schreien nach Gerechtigkeit; und drittens, sie rechtmäßig zu entschädigen (ebd., 297). Er hebt jedoch hervor, dass man nicht vergessen darf, dass all diese politischen und rechtlichen Maßnahmen nie zu unfehlbaren Entscheidungen oder gar zur vollständigen Gutmachung führen können, denn es wird immer etwas irreparables in Hinsicht auf das zugefügte Leid bleiben. 3. Das Versprechen: Die ethische Dimension der Verantwortung In einem Gespräch mit Jean-Christophe Aeschlimann weist Ricœur darauf hin, dass er in Gegensatz zu Lévinas die Verantwortung im ethischen Sinne nicht nur aus dem Ruf des Anderen versteht, der uns auffordert Verantwortung zu übernehmen, sondern aus der Reziprozität und insbesondere aus dem Konzept des Versprechens (Ricœur 1994: 24). Es gibt immer eine Interaktion im Sprechen und im Handeln, die zwischen zwei oder mehreren Personen stattfindet. Diese Interaktion impliziert ein Engagement, das Übernehmen einer Mission, die mit einem Versprechen zusammenhängt. Anders gesagt, jedepromissio ist eine missio (Ricœur 1969: 403). Verantwortlich zu sein - betont Ricœur - bedeutet in diesem Sinne nicht nur sich selbst als der Urheber einer begangenen Tat bezeichnen zu können, sondern als ein Wesen, das sich zu einer Effektivität verpflichtet hat, wobei die Treue des gegebenen Wortes auf die Prüfung gestellt wird (Ricœur 1994: 30-31). Ricœur beschreibt das Versprechen in Soi-même comme un autre als einen Diskursakt, in welchem jemand sich dazu verpflichtet, etwas für einen Anderen unter gegebenen Umständen zu tun (Ricœur 1990: 309). Doch dies allein erklärt nicht das moralische Problem, warum man sein Versprechen auch halten soll. Erst das Konzept der Treue (fidélité) von Gabriel Marcel, das als Disponibilität, als ein „antworten auf' den Ruf, der Bitte des Anderen verstanden wird, gibt den Schlüssel zur moralischen Klärung des Versprechens. Das Prinzip der Treue enthüllt eine gewisse Reziprozität zwischen den moralischen Subjekten: „Ich erwarte von Dir", sagt mir der Andere, „dass Du dein Wort hältst"; Dir antworte ich: „Du kannst auf mich zählen" (ebd., 312). Dieser bündige Dialog wird von Jean Greisch als Ausdruck von Nietzsches Charakterisierung des Menschen als demjenigen Wesen, das die Fähigkeit zum Versprechen besitzt, gedeutet (Greisch 2001: 372). Es scheint mir jedoch, dass Marcels Dialektik von Verrat und Treue hier gewichtiger ist. Denn es handelt sich nicht so sehr um die Fähigkeit, sondern um das Einhalten oder das Nichteinhalten des Versprechens: Das Versprechen nicht zu halten bedeutet, die Erwartung des Anderen und die Institution, welche das Vertrauen zwischen den sprechenden Subjekten vermittelt, gleichzeitig zu verraten. (...) Die Möglichkeit dieser Konflikte ist in der Struktur der Reziprozität des Versprechens enthalten. Wenn die Treue darin besteht, die Erwartung des Anderen, der auf mich zählt, zu erfüllen, so muss ich diese Erwartung als Maßstab für die Anwendung der [moralischen] Regel nehmen (Ricreur 1990: 312). Anders gesagt Ricreurs, Konzept der Reziprozität im Akt der Verantwortung verbindet in gewisser Weise die Ansätze von Marcel und Lévinas. Doch Ricreur erweitert diese Ansätze indem er eine Umdeutung des Anderen im Anschluss an das Werk von Hans Jonas Das Prinzip der Verantwortung unternimmt. Denn die Frage ist, wer ist eigentlich dieser Andere, dem ich mein Versprechen gebe? Vor wem und für wen sind wir im moralischen Sinne denn verantwortlich? Für Lévinas und Marcel handelt es sich um den anderen Mitmenschen, dem ich Angesicht zu Angesicht begegne, wie auch um das „absolute Du" (le Toi absolu) in der Figur der göttlichen Transzendenz (cf. Lévinas, Marcel). Ricreur aktikuliert mit Jonas jedoch einen ganz bestimmten Anderen: den Verletzbaren, den Schwachen, den Zerbrechlichen. Denn wenn Verantwortung notwendig ist, so ist es weil die Welt und die Menschen verletzbar sind. Ricreur betont in diesem Sinne, dass wahrhafte Verantwortung nur dort ausgeübt wird, wo etwas, das zerbrechlich ist, uns anvertraut wurde. 125 Ich bin, zum Beispiel, verantwortlich für ein Kind. Das Wort „verantwortlich" bedeutet hier etwas sehr spezifisches: es ist notwendig, dass etwas oder jemand mir anvertraut wurde, damit ich verantwortlich sein kann. Etwas oder Jemand ist unter meiner Aufsicht oder meinem Schutz. Das Modell der Verantwortung der Eltern ist offensichtlich exemplarisch. Das Kind, das ich verpflichtet bin zu schützen, großzuziehen, ist ein schwaches Wesen und meine Verantwortung besteht darin, es bis zur Volljährigkeit zu betreuen, damit es wiederum später verantwortlich werden kann und Verantwortortung für jemand anders übernehmen kann (Ricreur 1994: 25). Wir sind jedoch nicht nur für die existierenden Mitmenschen, denen man „im Angesicht zu Angesicht" begegnet (Lévinas) verantwortlich, sondern auch für solche denen man nie begegnen wird. Ricreurs Konzept des „chaqun", des Jeden, mit dem ich nur vermittels der Institutionen zu tun habe (Raynova 2003: 674; vgl. Ricreur, Raynova 2004: 89), ist hier aufschlussreich. So auch im Fall des verseuchten Blutes: die Sozialministerin und andere Funktionäre haben die Opfer, die mit Aids angesteckt wurden nicht persönlich gekannt; sie sind jedoch durch die Funktion, die sie ausgeübt haben für sie verantwortlich gewesen. Jonas folgend zeigt Ricreur inwiefern wir auch Anderen gegenüber verpflichtet sind, die noch nicht existieren: Nach diesem Autor [Hans Jonas] sind wir zuständig für die ferne Zukunft der Menschheit, weit über den beschränkten Horizont der vorhersehbaren Konsequenzen einer begangenen Tat hinaus; der Einsatz dieser fernen Zukunft ist die Weiterentwicklung der menschlichen Geschichte. Jonas entdeckt hier einen neuen Imperativ, den er folgendermaßen formuliert: „Handle so, dass eine Menschheit auch nach Dir solange als möglich existiert." Dieser Imperativ ist neu in Hinsicht auf die Idee des Respekts der Person, im Sinne, dass er eine Ethik der Nähe, die auf die Reziprozität aufbaut, überschreitet. (Ricreur 1991: 282-283). Man muss jedoch - betont Ricreur - aufpassen, dass diese Erweiterung des Bereiches der Verantwortung nicht zu weit geht und die Verantwortungen ins Unendliche ausgedehnt wird (ebd., 68). Doch man muss auch die Konsequenzen der Handlungen im technologischen Zeitalter ernsthaft in Betracht ziehen. *** Welche Schlussfolgerungen könnte man aus den vorhergehenden Analysen ziehen? Ricreurs Auslegung der Verantwortung zeigt uns vor allem, dass Verantwortung zeitlich zu denken ist. Wenn man die Verantwortung im Sinne der Zurechnung 126 in Betracht zieht, so wird klar, dass es sich um eine Prozedur handelt, durch welche ein Subjekt als der Urheber einer Handlung identifiziert wird. Diese Identifikation orientiert sich nach der Vergangenheit, d. h. nach einer begangenen Tat, die von einer rechtlichen, politischen oder moralischen Instanz festgestellt wird und für die sich der Urheber der Tat vor dieser Instanz zu verantworten hat. Dieses Konzept der Zurechnung wird erweitert, indem man die Verantwortung im Kontext der Gefahren des technologischen Zeitalters thematisiert und sie mit den Konsequenzen der Handlungen für die zukünftigen Generationen in Verbindung setzt. Da die Zurechnung sich immer auf das jeweilige Moment des Handelns bezieht, das sich bei der Feststellung zwar schon in der Vergangenheit befindet, jedoch im Moment der Vollziehung gegenwärtig ist, setzt Ricreur den Akzent auf die Gegenwart der zu tragenden Verantwortung. Die Aspekte der Zurechnung und des Versprechens ermöglichen schließlich das definieren der Verantwortung als den Willen, sich für etwas moralisch, politisch oder rechtlich einzusetzen, in dem man jemanden verspricht für ihn da zu sein und für seine Handlungen vor ihm oder/und einer befähigten Instanz Rechenschaft zu tragen. Ricœurs Konzeption der Verantwortung ist zweifelsohne eine der komplexesten sowohl in der phänomenologischen Tradition, als auch in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Ich möchte zum Abschluss jedoch auf zwei Punkte, die mir als diskutierbar erscheinen, kurz hinweisen. Der erste Punkt betrifft die Frage, inwiefern es notwendig ist die Verantwortung mit dem Versprechen in Verbindung zu setzen? Wäre es nicht möglich verantwortungsvoll zu handeln ohne explizit ein Engagement einzugehen und ein Versprechen abzugeben? Ricœur hebt mit recht hervor, dass wenn man ein Versprechen gibt und es nicht erfüllt, dieses aufgrund der Zurechnungsfähigkeit als verantwortungslos bezeichnet werden könnte, woraus auch die Schlussfolgerung, dass man keine leichtsinnigen oder/und unerfüllbaren Versprechen machen soll. Damit ist aber das Problem der Verantwortungslosigkeit noch lange nicht geklärt. Es verweist vielmehr auf gewisse Eigenschaften des Handelnden, z. B. Schlamperei, oder auf Motive wie bewusster Betrug, Lüge, oder aber auf äußere, von ihm nicht abhängende Gründe wie ein unvorhergesehenes und unüberwindbares Hindernis. Aufgrund der konkreten Umstände und Motive für das Nichteinhalten des Versprechens wird in einem ethischen oder/und in einem rechtlichen Plan den Umfang des Vergehens festgelegt und folglich eine dementsprechende Sanktion oder Freisprechung erteilt. Die schlechte Erfahrung mit verantwortungslosen Versprechen bedeutet jedoch nicht die Unmöglichkeit der entgegengesetzten Erfahrung - das verantwortungsvolle Handeln ohne Versprechen wie z. B. die fürsorgliche Hilfe gegenüber von Schwachen und Kranken, denen sich jemand spontan annimmt, ohne dafür gebeten geworden zu sein (siehe: Mother Theresa of Calcutta 1987 und 1993). Deshalb ist es für mich bedauerlich, dass in sein Spätwerk, insbesondere in seiner „kleinen Ethik" des Soi-même comme un autre, Ricœur das Konzept der Barmherzigkeit (charité) weggelassen und durch das Konzept der Für-sorge (sollicitude) ersetzt hat. Die Fürsorge ist zweifelsohne eine unentbehrliche ethische Kategorie. Sie weist jedoch eine dialogische Struktur auf, die Ricœur als „gegenseitiger Austausch von Selbstschätzungen" definiert (Ricœur 1990: 268-269). Die Barmherzigkeit hingegen beruht auf einem selbstlosen Geben, das nicht auf Reziprozität basiert. Dass das Konzept der Fürsorge auch bezüglich des Verantwortungskonzepts nicht ausreicht, wird ersichtlich durch die Tatsache, dass Ricœur diese Kategorie durch andere Begriffe wie Großherzigkeit, Rücksicht und Mit-leiden zu erweitern versucht hat (ebd., 269). Man kann, selbstverständlich, auch ohne Mitleid und Solidarität, einfach aus reinem Pflichtgefühl Verantwortung für den Anderen übernehmen; es handelt sich jedoch um einen anderen Willen. Denn es ist ein Unterschied, ob ich etwas aus ganzem Herzen will, oder meinem Willen der „charge" im Sinne von einer Last unterordne. Das wusste der 127 junge Ricreur sehr wohl, als er gegen Kants Pflichtmoral argumentierte. Was er später verkannte als er die Begriffe der Barmherzigkeit und des Nächsten ausließ, welche in sein Frühwerk durch die Figur des Samariters (Ricreur i955, i00-i02), des unbekannten Fremden als Wohltäter, veranschaulicht wurden, ist, dass ich verantwortlich handeln kann auch ohne ein Versprechen abzugeben - unentgeltlich und selbstlos. 128 Der zweite diskutierbare Punkt, der für uns hier gewichtiger ist, betrifft die Frage, ob administrative Versehen und Regierungsfehler ausschließlich auf dem Niveau des Politischen zu behandeln sind? Ricœur artikuliert und beklagt zwar ganz richtig im Fall des verseuchten Blutes den Mangel an politischen Debatten über die Verantwortung der Regierenden und fordert berechtigterweise eine Erläuterung der Kriterien für die Bestimmung der politischen Verantwortlichkeit sowie die Gründung von parlamentarischen und außerparlamentarischen Kontrollorganen. Doch inwiefern ist es berechtigt zu fordern, dass Fehler durch administrative Versehen politisch und nicht strafrechtlich behandelt werden? Die Entwicklungen der Affäre des verseuchten Blutes nach i99i zeigen, meines Erachtens, dass Ricœur in diesem Fall gewisse Aspekte der Verantwortungsproblematik unterschätzt hat. Zum Beispiel, obwohl die Opfer materielle Entschädigung erhielten, blieben sie weiterhin unzufrieden über die Tatsache, dass nur zwei Ärzte und einer von dreißig angeklagten Minister verurteilt wurden (siehe: Pracontal 2003). Aus diesem Grund wurde der Prozess drei mal erneut aufgerollt bis er dann 2003 endgültig geschlossen wurde. Ricœurs Forderung, den Prozess zu beenden und ihn in der Sphäre des Politischen weiterzuführen verkennt eigentlich die dringende Notwendigkeit von Reformen im Rechtssystem sowie im Bereich der Medizin. Hinzugefügt sei, dass Ricœur nicht der einzige war, der diese Position vertrat; auch die Philosophin Blandine Kriegel und der Rechtsprofessor Olivier Beaud waren der Meinung, man solle die politischen Handlungen nicht kriminalisieren, denn dass führt zu Vereinnahmung der parlamentarischen Macht durch die juridische, wobei die Probleme der politischen Verantwortung und der sozialen Dysfunktion ungelöst bleiben (vgl. Kriegel i999 und Beaud 1999). Man kann sich zwar die Frage ersparen, ob die „großen Verbrechen" nach dem Dekalog zu messen sind oder ob es sich bei allen zehn Geboten wirklich um große Verbrechen handelt, aber man kann sich der Frage nicht entziehen, ob die Regierungsfehler tatsächlich von vornherein, d. h. a priori als „kleine" zu gelten haben und daher - wie Ricœur meint - keinem Strafverfahren unterliegen sollten. Dürfte es stimmen z. B., dass Michel Garretta, Exdirektor des Nationalen Zentrums für Bluttransfusion, einen Fehler oder gar Betrug bezüglich der Qualität eines medizinischen Produkts begangen hätte oder, dass Edmond Hervé, ehemaliger Staatssekretär für Gesundheitsahngelegenheiten, unwillentlich den Tod von Men- sehen verursacht habe, dann fragt sich, warum sollten sie nur von einer politischen Instanz und nicht auch vom Gerieht zur Verantwortung gezogen werden? Meines Erachtens, gerade die Weiterführung und die Langwierigkeit der Affäre des verseuchten Blutes ermöglichten in Frankreich die Verbesserung der Gesetzesregelung durch genauere rechtliche und ethisch-medizinische Bestimmungen der Verantwortung. Der neue Code pénal vom Jahr 2000 wurde durch mehrere Artikel ergänzt, welche die Verantwortung und die daraus folgenden rechtlichen Konsequenzen in verschiedenen Fällen wie z. B. dem in Gefahr bringen einer Person (Art. 121-3 und 223-1), der Vergiftung (Art. 221-5), der unwillentlichen Verletzung (Art. 222-19 und 222-20) oder unwillentlichen Tötung (Art. 221-6) genauer festlegen und es den Opfern ermöglichen Klage zu erheben.3 Um solche Probleme in Zukunft besser in den Griff zu kriegen und eine tatsächliche Verantwortung für die Menschheit im 21. Jahrhundert übernehmen zu können, sollten solche Debatten und Klarstellungen der Verantwortlichkeiten der Einzelpersonen und der Amtierenden also nicht nur in einem Gebiet, sondern parallel in mehreren (Politik, Recht, Medizin, Ethik, Axiologie usw.) stattfinden und, folglich, immer wenn notwendig Korrekturen der bestehenden Gesetzgebung vorgenommen werden. 129 Literatur Beaud, Olivier (1999): Le sang contaminé, Paris: Presses Universitaires de France. Froguel, Philippe/Smadja, Catherine (1999): „Sur fond de rivalité franco-américaine, les dessous de l'affaire du sang contaminé", in/ Le Monde diplomatique, 1 février. Greisch, Jean (2001): „Promesse et responsabilité", in: J. Greisch (ed.), Paul Ricœur, l'itinéraire du sens, Paris: Jérôme Millos, 360-371. Kriegel, Blandine (1999): Le sang, la justice, la politique, Paris: Plon. Lévinas, Emmanuel (1961): Totalité et infini. Essai sur l'extériorité, La Haye: Martinus Nijhoff Marcel, Gabriel (1927): Journal métaphysique 191—1923, Paris: Gallimard Marcel, Gabriel (1935): Etre et avoir, Paris: Aubier. Marcel, Gabriel (1940): Du refus à l'invocation, Paris: Gallimard. Mother Theresa of Calcutta (1987): Heart of Joy. The Transforming Power of Self-Giving, ed. by J. L. Gonzales-Balado, Ann Arbor, Michigan: Servant Books. Mother Theresa of Calcutta (1993): My Life for the Poor, ed. by J. L. Gonzales-Balado, J. N. Playfoot, New York: Ballantine Books. Pracontal, Michel de (2003) / „Sang contaminé: le crash judiciaire", in: Le Nouvel Observateur, 26 juin. 3 Siehe: http://www.jurisques.com/jfcsida.htm 130 Raynova, Yvanka B. (2003): „All That Gives Us To Think. Conversations with Paul Ri-coeur", in Between Suspicion and Sympathy. Paul Ricoeur's Unstable Equilibrium, ed. by V. A. Wiercinski, Toronto: Hermeneutic Press, 670-696. Ricœur, Paul (i950): Le volontaire et l'involontaire, Paris: Aubier. Ricœur, Paul (i955): Histoire et vérité, Paris: Seuil. Ricœur, Paul (i968): „Liberté: responsabilité et décision", in: Akten desXIVInternationalen Kongresses für Philosophie,Wien : 2—9 September 1968, ed. by L. Gabriel, Bd. I, Wien: Herder, i55-i65. Ricœur, Paul ^969) : Le conflit des interprétations, Paris: Seuil. Ricœur, Paul (i986): Du texte à l'action, Paris: Seuil. Ricœur, Paul (i986b): „Husserl et le sens de l'histoire", in: P. Ricœur, A l'école de la phénoménologie, Paris: Vrin. 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Diese eigentümlichen Bezeichnungen deuten schon an, dass es im Gegensatz zur Religion des Menschen, die bei Rousseau das bezeichnet, was heute Weltethos genannt wird, keine einzige, etwa globale Zivilreligion gibt oder diese zumindest noch nicht gibt, sondern es herrschen vielmehr auf der Welt mehrere Zivilreligionen. 1 Nähere Analyse des Verhältnisses zwischen diesen drei „Religionen" siehe in meiner Abhandlung „Civilna družba, pravna država in človekove pravice" [Zivilgesellschaft, Rechtsstaat und Menschenrechte], erschienen im Sammelwerk Varstvo človekovih pravic [Schutz der Menschenrechte], hg. von P. Jambrek, A. Perenič, M. Uršič, L. Bavcon, Mladinska knjiga, Ljubljana 1988, S. 276-295. 134 1. Die Begriffe der Zivilreligion und der klerikalen Religion Zivilreligionen gibt es nur im Plural. Sie sind dennoch nicht mehr auf einzelne (National)Staaten eingeschränkt; in ihren Formulierungen sind sie nicht länger an die Verfassung dieses oder jenes Staates gebunden, sondern sie begannen sich durch den Zusammenschluss der Staaten auszubreiten, so dass die europäische Zivilreligion diejenige Religion ist, die die Entstehung der Europäischen Union ermöglichte und zugleich ihr Antlitz, ihre Materialisierung, zumindest ansatzweise, im EU-Verfassungsvertrag fand. Dieser wird, nachdem man ihn - wenn überhaupt - ratifiziert haben wird, d.h. wenn er von allen EU-Mitgliedstaaten verifiziert worden ist, die Europäische Union im nachhinein geistig befestigen und ihre Identität rechtlich bestätigen. Worin liegen nun die grundlegenden Unterschiede zwischen den einzelnen Zivilreligionen, wie sie die amerikanische und die europäische Zivilreligion darstellen? Der Hauptunterschied zwischen den beiden Zivilreligionen geht von der Stellung aus, die in ihnen die Todesstrafe einnimmt. Für die amerikanische Zivilreligion ist die Todesstrafe durchaus akzeptabel, was dagegen für die europäische Zivilreligion nicht gilt. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union legt in ihrem Artikel 2 folgendes fest: „Niemand darf zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden." Dieses Verbot der Todesstrafe bedeutet nicht nur die Niederschreibung eines ethischen Grundsatzes, sondern bildet seine gesetzliche Verankerung, d.h. eine europäische Rechtsnorm. Es bedeutet nicht nur die Achtung und Durchsetzung der Heiligkeit des Lebens als eines der Grundwerte des Weltethos, sondern es erklärt die bislang höchste Strafe für ein Verbrechen wie Menschenmord selbst für verbrecherisch. In der europäischen Zivilreligion und der ihr entstammenden Verfassungsordnung wären somit sowohl der eine Todesstrafe verhängende Richter als auch der Vollstrecker der Todesstrafe als Verbrecher zu ahnden: als Verbrecher gegen die Menschheit. Denn das Recht auf Leben ist das erste unter den aus der Menschenwürde unmittelbar hervorgehenden Rechten. Oder, im Rückblick gesagt, dasjenige, woran die Menschenwürde am ursprünglichsten gebunden ist, ist eben die Heiligkeit des Menschenlebens. Und da die Heiligkeit des Lebens zu den Urwerten aller Weltreligionen gehört, wäre es zu erwarten, dass die Heiligkeit des Lebens auch von Religionsgemeinschaften in Slowenien als Wert geachtet und durchgesetzt wird, als Wert, dem sie absolut verpflichtet sind. Und dadurch würden sie sich nicht nur als jemand verifizieren, der Achtung vor dem Weltethos, diesem kleinsten gemeinsamen ethischen Nenner aller Weltreligionen bzw. -kulturen hat, sondern auch als feste Unterstützer der europäischen Zivilreligion und zuverlässige Verteidiger der europäischen verfassungsrechtlichen Normen. Das bedeutet schließlich, sie sollten, wenn sie ihre ethische Glaubenswürdigkeit und ihre Verbundenheit dem rechtlichen Europa bezeugen möchten, ihre Stimmen gegen jede irgendwo auf der Welt verhängte Todesstrafe und deren Vollstreckung erheben, insbesondere gegen solches verbrecherische Handeln in Ländern, die sich auf die Zehn Gebote berufen, zu denen auch das Tötungsverbot zählt. Aber dem ist leider nicht so! Wenn wir unter den Religionen bzw. Kirchen, die die Bibel befolgen, die in Slowenien zahlenmäßig am stärksten vertretene Römisch-Katholische Religionsgemeinschaft näher betrachten, dann lässt sich allerdings die Tatsache nicht verkennen, dass der Katechismus der Katholischen Kirche die Todesstrafe zulässt. Das heißt, er hält die Heiligkeit des Lebens in Wirklichkeit nicht für einen absoluten und bedingungslosen Wert, ja die Römisch-Katholische Kirche (RKK) legt dabei zweierlei Maßstab an. Indem von der RKK hervorgehoben wird, dass „Abtreibung und Tötung des Kindes verabscheuens-würdige Verbrechen" sind, und somit die formelle Mitwirkung an einer Abtreibung für ein „schweres Vergehen" hält, wobei der mitwirkende Arzt mit „Exkommunikation" zu ahnden ist2, werden mit dieser Strafe weder die Richter noch die Vollstrecker der von diesen verhängten Strafe bedroht, geschweige denn die Politiker, die einen Hinrichtungsbeschluss unterzeichnen. Sie hält also ihr Handeln nicht für ein „verabscheuenswürdiges Verbrechen", obwohl sie es vor dem Hintergrund des Weltethos und der europäischen Zivilreligion, wenn nicht schon wegen ihrer klerikalen Religion, für ein solches doch halten sollte. Jeder, der bei einer Todesstrafe mitwirkt oder mitgewirkt hat, gilt in den Augen der europäischen Gemeinschaft als ein Verbrecher, und zwar nicht nur unter dem ethischen, sondern auch unter dem juristischen Aspekt. 2. Die amerikanische und die europäische Zivilreligion Angesichts dieses Widerspruchs in einem der grundlegenden Texte der RKK ist also nicht besonders verwunderlich, warum sich eben die Politiker aus einigen katholischen Religionsgemeinschaften, z.B. in Polen, so vehement für die Wiedereinführung der Todesstrafe einsetzen, wobei sie sich auf das USA-amerikanische Vorbild berufen. Es handelt sich dabei um eine Situation, die derjenigen anlässlich des militärischen USA-Angriffs auf den Irak analog ist. Der verstorbene Papst Johannes II. hat diesen Anschlag verurteilt, wobei zu den Staaten, die unter den ersten dem Papst in den Rücken gefallen sind, eben diejenigen gehörten, die 135 2 Katekizem katoliške Cerkve [Katechismus der Katholischen Kirche], Slovenska škofovska konferenca, Ljubljana 1993, S. 569. Der Katechismus gibt zwar an, dass das menschliche Leben „absolut zu achten und zu schützen" ist (S. 569), indem er aber behauptet, dass „in schwerwiegendsten Fällen die Todesstrafe" nicht auszuschließen ist (S. 567), dass sie also unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist („Alles hängt von Umständen, Zeit und Ort ab."), bewegt er sich innerhalb eines offensichtlichen Widerspruchs. sich zumeist für katholisch halten: Italien, Spanien und auch Polen, die Heimat des Papstes.3 Zum Glück ist Slowenien dieser Gruppe nur teilweise beigetreten, denn wir haben in den Irak keine Soldaten entsandt. Ich erwarte, wir werden, nämlich als Staat, auch zukünftig dabei bleiben, d.h. dem USA-amerikanischen oder irgendeinem anderen Druck nicht nachgeben.4 Und ich hoffe zudem, es 3 Im Interview Sind Christen bessere Politiker (Die Zeit, 18. 08. 2005) hat Rocco Buttiglione (italienischer Kulturminister und Kandidat für das Amt des EU-Justizkommissars) auf die Behauptung, der Papst Johannes habe dem Irak-Krieg nicht zugestimmt, wie folgt erwidert: „ Hat der Papst diesen Krieg für falsch gehalten? Ich würde eher sagen: Der Papst hält jeden Krieg für falsch. Aber er weiß nach dem Katechismus der katholischen Kirche, dass nicht er das letzte Urteil über diesen Krieg fällt, sondern die Politiker. Der Papst ist wie eine Mutter, die auch niemals sagen würde: „Es ist gut, dass mein Sohn zur Todesstrafe verurteilt wurde." Eine Mutter wird dem Richter immer sagen: „Bist du sicher? Gibt es nicht eine andere Möglichkeit?" Aber wenn ein Politiker keine andere Möglichkeit findet, um gegenüber einer drohenden Gefahr Widerstand zu leisten, was soll er tun? Er muss nach dem eigenen Gewissen handeln. Im Übrigen ist es nicht wahr, dass Italien diesen Krieg im Irak geführt hat. Erst nach dem Krieg haben wir unsere Soldaten geschickt, um am Wiederaufbau teilzuhaben und um dem irakischen Volk zu helfen." Angesichts dieser Ausflüchte und der Verstellung stellt sich einem folgende Frage: Wurde das, was vom Papst erklärt worden war, schon von ihm selbst nicht ganz ernst genommen oder wird dagegen vielleicht der Papst von Christen wie Buttiglione nicht ernst genommen. Battiglione vergisst nebenbei auch die Tatsache, dass die Todesstrafe von der EU abgeschafft worden ist und dass daher keine europäische Mutter in die von ihm dargestellte Lage geraten kann. 4 Leider haben auch wir unterlegen. Gemäß Regierungsbeschluss vom 12. Januar 2006 werden vier Militärausbilder in den Irak entsandt, die — auch laut Staatsoberhaupt Dr. Janez Drnovsek — bei der Stabilisierung der von den USA herbeigeführten Lage im Irak helfen sollten. Unsere Teilnahme ist freilich ohne jedes militärische Gewicht, d.h. unbeträchtlich, wobei es überhaupt nicht um die Teilnahme selbst geht, sondern vielmehr darum, durch diese Entscheidung ohne irgendwelche Ausflüchte, zu denen wir bisher Zuflucht nahmen, den angeblichen Weltherrscher auch als unseren eigenen Herrn anzuerkennen. Ich bin absolut gegen diesen Regierungsbeschluss; nicht wegen unserer zweifelsohne größeren Bedrohung durch die Terroristen, sondern wegen unserer persönlichen Autonomie und unversehrten nationalen Souveränität. Diese Regierungsentscheidung hat nämlich nicht nur die Übertragung einiger Kompetenzen zur Folge, wie es im Verhältnis zur EU der Fall ist, sondern bedeutet auch eine Unterwerfung: dadurch sind wir US-amerikanische Vasallen geworden. Unser Verhältnis gegenüber den USA ist dem ehemaligen Verhältnis gegenüber den Bayern ähnlich geworden: damals ging es um die Christianisierung, heute aber um die Amerikanisierung, die auch die amerikanische Zivilreligion mit sich bringt. Die These, Slowenien hat an der Besatzung des Irak zur Behebung der „negativen Folgen des US-amerikanischen militärischen Eingriffs" (Matej Makarovic: Globalna odgovornost [Globale Verantwortung], Delo, 18. Januar 2006), also der US-amerikanischen Besatzung, teilzunehmen, steht nicht nur im Widerspruch mit sich selbst, sondern auch mit den Tatsachen, denn der Eingriff ist doch immer nicht zu Ende. Die Berufung auf die „globale Verantwortung" und „Ethik" in diesem Zusammenhang ist nichts anderes als Heuchelei. Was bedeutet die ethische Verantwortung angesichts der Tatsache, dass die US-amerikanischen Streitkräfte durch gezielte Bombardierungen ganze Familien zusammen mit Kindern bewusst töten, wenn sie einen angeblich unter ihnen sich verstek-kenden Terroristen umbringen wollen? Und was bedeutet die Zusammenarbeit mit der irakischen Regierung, von der die Todesstrafe wiedereingeführt worden ist? Ich weiß nicht, was noch mehr unethisch ist, wenn nicht eben solches Handeln! In erster Linie geht es keinesfalls um unsere eigene Sicherheit oder die Sicherheit unserer Söldner, sondern vielmehr um das Leben und die Würde der Menschen, die zum Opfer werden sich für diese Haltung mit allen Kräften, d.h. laut, deutlich und klar, zusammen mit der katholischen als der stärksten, größten und einflussreichsten Religionsgemeinschaft in Slowenien auch alle übrigen in Slowenien praktizierenden Religionsgemeinschaften einsetzen. Es wäre noch besser, wenn die Religionsgemeinschaften in Slowenien, zumindest für sich selbst, die Entscheidung treffen würden, kein einziges US-amerikanisches militärisches Abenteuer zu unterstützen, d. h. keinen weiteren gewaltsamen Demokratieexport und keine gewaltsame (weder harte, militärische noch weiche, missionarische) Einmischung der westlichen Kultur in andere Weltkulturen zu akzeptieren. Dies würde schließlich eine konsequente Achtung des ersten weltethischen Urwertes, der Goldenen Regel als eines Rahmenwertes aller anderen Werte des Weltethos bedeuten. „Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg' auch keinem anderen zu." Diese Regel, durch die der Vergeltungsgrundsatz ersetzt und abgeschafft wird, ist Jahrtausende alt; sie kommt in heiligen Schriften aller Weltreligionen vor, einschließlich der Bibel („Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments"; in Anführungszeichen, denn die jüdischen heiligen Schriften erscheinen als alttestamentarische Texte nur vom Aspekt der christlichen Evangelien her). Es gibt aber diese Regel nicht in der amerikanischen Zivilreligion. Im Gegenteil. Diese wird von Harold Bloom - der kein Linker, sondern ein hoch renommierter amerikanischer konservativer Denker ist - in seinem Werk The American Religion — The Emergence of the Post-Christian Nation (1999) wie folgt betrachtet und beurteilt: 137 „Die amerikanische Religion ist an sich keine Gewalt; es wird aber sowohl das eine wie das andere durch einen Wirrwarr begleitet, wobei unsere Haltung eher eine gewaltsame Haltung ist. Die Religion des Ich wird nur schwerlich eine Religion des Friedens sein, denn das amerikanische Ich strebt danach, sich durch den Krieg gegen die Andersheit zu definieren. Und wenn deine Haltung dir schließlich sagt, du bist jenseits der Natur, weil du schon seit jeher über sie hinausgehst, dann können dich deine natürlichen Taten nicht beflecken. Kein Wunder also, wenn die einmal erlangte Erlösung vom amerikanischen Gläubigen, ungeachtet dessen, was er tut, nicht mehr abfallen kann. Wir exportieren unsere Kultur, sowohl die niedrige als auch die hohe, und immer mehr wird auch die amerikanische Religion exportiert. Wird sich zeigen, dass Woodrow Wilson recht gehabt hat und wir dafür bestimmt sind, als führender Geist der Weltnationen zu agie- des Handelns unserer Soldaten fallen werden, und dabei spielt es überhaut keine Rolle, ob wir an einem Krieg teilnehmen, der von den USA begonnen wurde, oder an einem Krieg, der von den USA herbeigeführt wurde, nämlich am Bürgerkrieg. 138 ren, dann wird das einundzwanzigste Jahrhundert gewiss durch die allumfassende Rückkehr zu Glaubenskriegen geprägt sein."5 Es droht uns also ein Rückfall um zwei- oder dreihundert Jahre in die Geschichte, jedoch diesmal nicht auf der europäischen, sondern globalen Ebene. Auf diese Gefahr, die drohende Gefahr einer erneuten Wende von der Goldenen Regel zum Vergeltungsgrundsatz (Auge um Auge, Zahn um Zahn, Terrorismus um Terrorismus - militanter Antiterrorismus), was unausweichlich eine Weltkatastrophe herbeiführen wird, weist auch der Autor des Werkes Der Kampf der Kulturen (i997) hin. Im Gegensatz zur gängigen Meinung seiner oberflächlichen Leser ruft Samuel P. Huntington nicht zur Vorbereitung auf einen globalen Kampf der Kulturen bzw. einen planetarischen Zusammenprall der Zivilisationen auf, sondern versucht nachzuweisen, wie sehr es notwendig ist, im Namen der Erhaltung der Menschheit diesem Zusammenprall auszuweichen, d.h. ihn mit Hilfe der Durchsetzung eines Weltethos zu verhindern. Er hat sich somit zukunftsweisend gegen die gegenwärtige Politik der USA-Regierung gestellt: „In der kommenden Ära ist es also zur Vermeidung großer Kriege zwischen den Kulturen erforderlich, dass Kernstaaten davon absehen, bei Konflikten in anderen Kulturen zu intervenieren. Das ist eine Wahrheit, die zu akzeptieren manchen Staaten, insbesondere den USA, schwer fallen wird. Dieses Prinzip der Enthaltung, demzufolge Kernstaaten sich der Intervention bei Konflikten in anderen Kulturen enthalten, ist die erste Voraussetzung für Frieden in einer multikulturellen, multipolaren Welt."6 Huntington ist sich so wie Bloom darüber im klaren, dass die Grundausrichtung der amerikanischen (Zivil)Religion sowohl für die anderen als auch - wenn nicht insbesondere - für die USA selbst verhängnisvoll ist. Er setzt sich daher für die Erhaltung der einzigartigen westlichen, euroamerikanischen Kultur ein, jedoch mit der Unterstützung für eine auf dem Weltethos und dessen Werten basierenden Multikulturalität/Multireligiosität.7 Huntington 5 Kommentar zu diesem Text von Bloom und entsprechende damit zusammenhängende Daten siehe in: Tine Hribar, Obvladovanje sveta in svetovni etos [Weltbeherrschung und Weltethos], Filozofska fakulteta, Ljubljana 2003, S. 229 ff. 6 Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen, Spiegel-Verlag, 2006/2007, S. 520. 7 „Die menschliche Gesellschaft ist „universal, weil sie menschlich ist, partikular, weil sie Gesellschaft ist". Manchmal marschieren wir mit anderen; meistens marschieren wir allein. Gleichwohl entspringt der gemeinsamen conditio humana doch eine „dünne" minimale Moral, und es sind in allen Kulturen „universale Dispositionen" anzutreffen. Anstatt der vermeintlich universalen Aspekte einer Kultur zu prognostizieren, gilt es, im Interesse der kulturellen Koexistenz nach dem zu suchen, was den meisten Hochkulturen gemeinsam ist. Der konstruktive Weg in einer multikulturellen Welt besteht darin, auf Universalismus zu verzichten, Verschiedenheit zu akzeptieren und nach Gemeinsamkeiten zu suchen. ... Ferner sind, worauf viele hingewiesen haben, den großen Weltreligionen - Westliches Christentum, Orthodoxie, Hinduismus, Buddhismus, Islam, Konfuzianismus, Taoismus, Judentum -, mögen sie auch die Menschheit in einem größeren oder geringerem Maße gespalten haben, doch gewisse zentrale Werte gemeinsam. Falls die Men- stellt sich die Frage: „Gibt es eine allgemeine, säkulare Tendenz - jenseits einzelner Kulturen - zu immer höheren Zivilisationsgraden?" und beantwortet sie bejahend. 3. Projekt Weltethos Das Projekt des Weltethos, einer Religion des Menschen als Menschen, das bereits von Rousseau angedeutet, und vor zwanzig Jahren von Hans Küng wieder ins Leben gerufen und ausdrücklich konzipiert wurde8, gewinnt immer mehr Fürsprecher. Hier braucht man den uns allen bekannten Dalai Lama mit seiner buddhistischen Ethik der Heiligkeit des Lebens aller Lebewesen gar nicht besonders zu erwähnen, sondern vielmehr den UN-Generalsekretär Kofi Annan: Er erklärte das Jahr 2001 zum „Jahr des Dialogs der Kulturen" und berief unter der Schirmherrschaft des UN-Sicherheitsrates eine aus zwanzig renommierten Personen bestehende Gruppe („group of eminent persons") ein, deren Mitglied auch Küng war, und beauftragte sie damit, einen Bericht mit dem Titel „Ein neues Paradigma für globale Beziehungen" bis zum Jahresende vorzulegen. Der Titel des überreichten Berichts lautet „Crossing the Divide: Dialogue among Civilizations"9 und beruht auf dem Welt(Global)Ethos, dessen Werte trotz bestehender Divergenzen eine Konvergenz möglich machen. Die UN-Vollversammlung befasste sich mit dem überreichten Bericht im November 2001 und verabschiedete einstimmig die Resolution A/RES/56/6 mit „Global Agenda for Dialogue among Civilizations".10 Alle Diskussionsteilnehmer stellten fest, das schen je eine Universalkultur entwickeln, wird sie nach und nach aus der Erkundung und Ausweitung dieser Gemeinsamkeiten hervorgehen. So wäre, neben dem Prinzip der Enthaltung und dem Prinzip der gemeinsamen Verhandlung, ein drittes Prinzip für den Frieden in einer multikulturellen Welt das Prinzip der Gemeinsamkeiten: Menschen in allen Kulturen sollten nach Werten, Institutionen und Praktiken suchen und jene auszuweiten trachten, die sie mit Menschen anderer Kulturen gemeinsam haben." (Huntington, ibid, S. 523, 525-26) 8 Hans Küng: Projekt Weltethos, Piper, München 1990. Küng war beim Zweiten Vatikanischen Konzil offizieller theologischer Berater, später wurde er durch die kirchlichen Behörden suspendiert und es wurde ihm zudem die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gründete er in Tübingen die Stiftung Weltethos, in deren Rahmen unter anderen folgende renommierte Personen ihre Reden abgehalten haben: 2000 — britische Premierminister Tony Blair mit seinem Vortrag Werte und die Kraft der Gemeinschaft; 2002 — UN-Hochkommissarin für Menschenrechte und ehemalige Präsidentin Irlands Mary Robinson mit ihrem Vortrag Ethik, Menschenrechte und Globalisierung; 2003 — UN-Generalsekretär Kofi Annan mit seinem Vortrag Gibt es noch universelle Werte?; 2004 — Bundespräsident Horst Köhler mit seinem Vortrag Was gehen uns andere an?. 9 In Buchform ist dieses Dokument zusammen mit Diskussionen erschienen in School of Diplomacy and International Relations, Seton Hall University, New Jersey 2001. 10 Es ist symptomatisch, dass die slowenischen Medien darüber wie über die in Den Haag am 7. September 2004 abgehaltene Konferenz über die Werte in der EU („The Politics of European Values) gar nicht berichteten. Unsere Medien sind für solche Sachen offenbar ebenso taub wie die meisten unseren Politiker. der ii. September 2001 gezeigt hatte, es sei die höchste und eigentlich bereits versäumte Zeit für die Verabschiedung einer solchen Resolution. Auf der Grundlage dieser Resolution und auf die Initiative der Türkei und Spaniens errichtete Annan 2005 das Sekretariat der Allianz der Zivilisationen.11 Die Aufgabe der Allianz der Zivilisationen ist auf der Grundlage des Weltethos („der globalen Ethik"), den Kampf zwischen diesen zu verhindern und einen Dialog zwischen allen Kulturen in der Welt zu ermöglichen. Es gibt verschiedene Konzepte des Weltethos, so dass eine Auflistung, ein Katalog seiner Werte noch nicht zur Gänze vorliegt. Es ist zudem eine solche Auflistung auch schwierig zu erstellen, denn es geht dabei um die unterschiedlichen Theismen und auch den unterschiedlichen Atheismen gemeinsamen Werten. Es ist nämlich nicht jede Gottlosigkeit auch schon Glaubenslosigkeit.12 Dem ur- 11 Zum Direktor des Sekretariats bestellte Kofi Annan den Slowenen Tomaž Mastnak (Wissenschaftliches Forschungszentrum der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Ljubljana). Darüber berichtete in einem Artikel mit dem Titel „Naš človek v Združenih narodih" [Unser Mann bei der UNO] (A. H. Žerdin) die Zeitschrift Mladina vom 28. November 2005 (S 44, 45); Mastnak erhielt diesen Posten wohl aus dem Grund, weil er eine Reihe von Beiträgen veröffentlichte, in denen er unter anderem auch die andere, dunkle Seite christlich-europäischen Auseinandersetzungen mit arabischen und türkischen Muslimen bloßlegte. 12 Am beharrlichsten wird die Gottlosigkeit mit der Glaubenslosigkeit von Kardinal Franc Rode (ehemaliger Erzbischof von Ljubljana und nunmehr der Präfekt der vatikanischen Ordenskongregation) gleichgestellt, der somit auch die Tatsache verkennt, dass einige Atheisten mit Bezug auf die Achtung der Heiligkeit des Lebens und der Heiligung der Toten sogar konsequenter als die Theisten sind. Dass er sogar die Existenz der Atheisten fast gänzlich verneint, ist nichts anderes als Ausdruck einer rücksichtslosen Aneignung der Anderen und Andersdenkenden, deren geistig gewaltsamen Gleichsetzung mit sich selbst. „Hier in Italien kenne ich nur einen Menschen, von dem die atheistischen Gesichtspunkte konsequent vertreten werden - er heißt Umberto Galimberti und schreibt für „La Republica". Dieser Galimberti schlug vor, alle Bestattungen und Friedhöfe abzuschaffen, weil sie schon zu viel Platz einnähmen. Die Verstorbenen sollten laut ihm den Kliniken zu ihren eigenen Zwecken überlassen oder verbrannt werden. Das ist, sehen Sie, ein wahrer Atheismus." (Mene so se lotili s silo, škofa Urana hočejo omrežiti z laskanjem [An mich hat man sich mit Gewalt gemacht, und den Bischof Uran will man mit Schmeicheleien umgarnen], Dnevnik — Zelena pika, Ljubljana, 24. Dezember 2005) Nein, das ist Glaubenslosigkeit, der Mangel an einem achtungsvollen Verhältnis gegenüber dem Heiligen — in diesem Fall gegenüber der Heiligung der Toten, der Mangel, dem man manchmal anheimfiel, als etwa im Falle einer Selbsttötung die kirchliche Bestattung auch seitens der Theisten, der katholischen Priestern, verweigert wurde. Die Studien des Verhältnisses zwischen den Theisten und Atheisten haben übrigens im Hinblick auf ihre Erkennung des Ethischen folgendes gezeigt: „Auf die Frage, warum manche Fälle zulässig und andere verboten seien, antworteten die Teilnehmer entweder ratlos oder boten Erläuterungen an, die die relevanten Unterschiede nicht erklären konnten. Bedeutsam dabei ist, dass Menschen mit religiösem Hintergrund genau so ratlos oder in sich unstimmig argumentierten wie Atheisten. Diese Studien bieten uns einen empirischen Beleg für die Vorstellung, dass wir, so wie mit anderen psychologischen Fähigkeiten des Verstandes einschließlich der Sprache und der Mathematik, mit einem moralischen Vermögen ausgestattet sind, das unsere intuitiven Entscheidungen über Gut und Böse lenkt. Diese Intuitionen sind das Resultat von Jahrmillionen, in denen unsere Vorfahren als soziale Säugetiere lebten, und sind Teil unseres gemeinsamen Erbes. Unsere so entstandenen Intuitionen geben uns da- sprünglichen Buddhismus folgend ist der Zen-Buddhismus atheistisch, ohne Götter, und gilt dennoch als Religion. Der europäische Atheismus des Freiden-kertums lehnt den Glauben an Gott ab, glaubt aber an eine absolute Gültigkeit der Urwerte des Weltethos und steht somit im Gegensatz zum kommunistischen kämpferischen Atheismus, der auf keinen dieser Werte Rücksicht nahm. Ich selber sehe den Kern des Weltethos, den kleinsten gemeinsamen ethischen Nenner aller Menschen, dieses Minimum des Minimums, in folgenden vier Urwerten: Menschenwürde, Heiligkeit des Lebens, Heiligung der Toten und Goldene Regel. Da in zwei von den bezeichneten Urwerten des Weltethos das Heilige unmittelbar vorkommt, handelt es sich beim dargestellten Ethos nicht nur um eine Ethik im gewöhnlichen Sinne, sondern auch - wenn nicht auch vor allem - um Religiosität, jedoch nicht um die klerikale Religiosität im gängigen, konfessionellen oder sogar theistischen Sinne. Da das Weltethos mit seiner ursprünglichen religiösen Dimension sowohl die Theisten im gängigen als auch die Atheisten im bezeichneten Sinne durchdringt, lassen sich nicht alle Gebote/Verbote der Weltreligionen in seinen Rahmen einordnen. Der Weltethos-Katalog kann z. B. die ersten drei Gebote des biblischen Dekalogs, d. h. die auf der ersten Tafel gestandenen Gebote Gottes nicht berücksichtigen, denn diese schließen diejenigen aus, die nicht an (einen) Gott glauben; diese drei Gebote machen sich selbst für einen gemeinsamer Nenner aller Menschen ungeeignet. Sie gehen nicht von dem Menschen als Menschen, sondern von den Menschen eines bestimmten Glaubensbekenntnisses aus. Sie bilden somit die ethische Grundlage einer biblischen Superkultur, nicht aber auch einer möglichen Kultur (im Sinne Huntingtons). Eine zusätzliche, auch unsere Zeit bestimmende Schwierigkeit rührt vom Verständnis des Gottes her, auf den sich das erste der Zehn Gebote bezieht. Die Schwierigkeit beruht auf einigen Eigenschaften Gottes, die im Gegensatz zu Urwerten des Weltethos stehen, oder mit anderen Worten, die sich vom Gesichtspunkt des Weltethos her für nicht ethisch erweisen. Zu diesen Eigenschaften ge- bei nicht notwendigerweise die richtigen oder in sich schlüssige Antworten auf moralische Dilemmata. Was gut für unsere Vorfahren war, ist es heute möglicherweise nicht mehr. Aber Einsichten in die sich wandelnde moralische Landschaft, in der Fragen wie die der Rechte der Tiere, der Abtreibung, Euthanasie und der internationalen Hilfe in den Vordergrund gerückt sind, entstammen nicht der Religion, sondern der sorgfältigen Reflexion unserer Humanität und dessen, was wir als ein gut gelebtes Leben betrachten. Insofern ist es wichtig, dass wir uns des universellen Sets moralischer Intuitionen bewusst sind, damit wir über sie nachdenken und - wenn wir uns dazu entscheiden - ihnen zum Trotz handeln können. Wir können dies tun, ohne eine Gotteslästerung zu begehen, denn es ist unsere eigene Natur, nicht Gott, die die Quelle unserer Moral darstellt." (M. Hauser, P. Singer: Morala nevernikov [Gottlose Moral], Dnevnik - Zelena pika, 2i. Januar 2006). hören der völkermörderischei3 Zug Gottes, sein brudermörderischer Befehl"4 zur Durchsetzung des Dekalogs und noch einige andere die Menschenwürde und die Heiligkeit des Menschenlebens verletzende und zerstörende Eigenschaften. 4. Fundamentalismen Es gibt kein ethisches Problem, bis der biblische Text als ein Dokument einer archaischen historischen Epoche betrachtet wird. Das Problem taucht dagegen sofort auf, wenn religiöse Fanatiker, religiöse Fundamentalisten dieser oder jener an die Bibel gebundenen Religion beginnen, sich auf den Gott mit den dargestellten Eigenschaften zu berufen. Mit einem noch größeren ethischen Problem sieht man sich dann konfrontiert, wenn ein Theologe - insbesondere wenn es sich um einen führenden kirchlichen Theologen handelt - damit beginnt, durch ein Rundschreiben Mordtaten im Namen des Gottes und damit durch Gott selbst zu rechtfertigen: etwa durch die bedingungslose Subsumierung des fünften Gebotes Gottes, das den Bestandteil des Weltethos bildet, unter das ausschließende erste Gebot, wobei das fünfte Gebot als solches durch diese Relativierung entwertet wird. Demgemäss wird ein solcher Theologe nicht den Mörder im Namen Gottes und dessen ersten Gebotes zum Verbrecher erklären, sondern denjenigen, der diesem vom Theologen als Gebot aller Gebote aufgestellten Gebot zuwiderhandelt. Von dem mit seiner monotheistischen Logik ausgerüsteten Theologen werden in diesem Fall nicht nur die religiösen und säkularen Atheisten, sondern auch die Polytheisten zu Verbrechern erklärt. Eine Massakrierung wäre demnach von untergeordneter Bedeutung, denn das ganze damit zusammenhängende Blutvergießen sei nur die Folge einer früheren religiösen Selbsttötung der Ketzer bzw. Gottlosen: „Das Geschehen ist ein Ausdruck dafür, dass 13 Zum Beispiel das Buch Deuteronosmium, 5 Mz 2,3^34: „Zu mir aber sagte der Herr: Hiermit fange ich an. Ich liefere dir Sihon und sein Land aus. Du fang an, in Besitz zu nehmen! Fang mit seinem Land an! Sihon rückte mit seinem ganzen Volk gegen uns aus, um bei Jahaz zu kämpfen. Der Herr, unser Gott, lieferte ihn uns aus. Wir schlugen ihn, seine Söhne und sein ganzes Volk. Damals eroberten wir alle seine Städte. Wir weihten die ganze männliche Bevölkerung, die Frauen, die Kinder und die Greise der Vernichtung; keinen ließen wir überleben." So sprach Mose - und berief sich dabei aufJahwe. 14 Das Buch Exodus, Ex 32,25-29: „Mose sah, wie verwildert das Volk war. Denn Aaron hatte es verwildern lassen, zur Schadenfreude ihrer Widersacher. Mose trat an das Lagertor und sagte: Wer für den Herrn ist, her zu mir! Da sammelten sich alle Leviten um ihn. Er sagte zu ihnen: So spricht der Herr, der Gott Israels: Jeder lege sein Schwert an. Zieht durch das Lager von Tor zu Tor! Jeder erschlage seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nächsten. Die Leviten taten, was Mose gesagt hatte. Vom Volk fielen an jenem Tag gegen dreitausend Mann. Dann sagte Mose: Füllt heute eure Hände mit Gaben für den Herrn! Denn jeder von euch ist heute gegen seinen Sohn und seinen Bruder vorgegangen und der Herr hat Segen auf euch gelegt." So sprach Mose - und berief sich dabei auf Jahwe. Das Paradox liegt darin, dass Moses durch die beschriebene Erschlagung eben die bedingungslose Einhaltung der Zehn Gebote Gottes - einschließlich des fünften Gebotes: „Du sollst nicht tötenf - begründen wollte. der, der von Gott abfällt, der sich nicht nur aus dem Bund, sondern aus dem Raum des Lebens weggibt, des Leben selbst zerstört, und insofern bereits in die Todeszone hineingetreten ist."15 Er beging Selbstmord. Gemäß der biblischen Mahnung: entweder „wähle das Leben"16, mich, den Gott, oder bereite dich auf den (ewigen) Tod vor. Da der Katechismus der Katholischen Kirche einerseits die Abtreibung als ein ver-abscheuenswürdiges Verbrechen brandmarkt und andererseits die Todesstrafe zulässt und da der ehemalige Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation und der aktuelle Papst jede Missachtung bzw. Nichteinhaltung des ersten der Zehn Gebote Gottes für ein Verbrechen hält, gibt es einen offenbaren Unterschied schon zwischen der klerikalen Religion der Katholiken und der europäischen Zivilreligion, geschweige denn zwischen dem Katholizismus und dem Weltethos, d. h. der Religion des Menschen als Menschen. Die katholische klerikale Religion steht eher der amerikanischen als der europäischen Zivilreligion nahe. Die RKK wäre somit wohl viel zufriedener, wenn der EU-Verfassungsvertrag statt des Todesstrafenverbots das Abtreibungsverbot enthalten würde und der Vertrag selbst auf dem ersten Dekaloggebot und nicht auf den aufklärerischen Grundsätzen Europas gründete. 15 Joseph Ratzinger Benedikt XVI.: Gott und die Welt, Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart, München, 2005, S. 182. Es handelt sich um den Schlusssatz der Antwort Ratzingers auf die Frage, die samt Erläuterung wie folgt lautet: „Als Moses vom Heiligen Berg zurückkehrt, tanzt das Volk um das berühmte Goldene Kalb. Voller Zorn über den Götzendienst zertrümmert der Gottesstreiter die Gesetzestafeln. Nur die Leviten, die Nachkommen von Levi, die später Priesterkaste bilden, scharen sich um ihn und stellen sich damit auf die Seite Gottes. ,Zieht hin und her im Lager, von Tor zu Tor!', befiehlt Moses, ,es töte ein jeder selbst den Bruder, Freund und Nächsten.' Die Geschichte der Zehn Gebote begann also im Grunde mit einem riesigen Frevel gegen Gebot Nr. 5: Du sollst nicht töten. Moses müßte es eigentlich besser gewußt haben." Die ersten Sätze der Antwort Ratzingers lauten nun wie folgt: „Sie begann zunächst mit einem Frevel gegen das erste, das tragende Gebot: Du sollst keine fremden Götter anbeten. Der Mensch ist dann im Lot, wenn er Gott als Gott anerkennt und in der Anbetung Gottes lebt. Und er begibt sich in die Verkehrung, in die Perversion seines Daseins, wenn er das, was nicht Gott ist, anbetet. Wenn er sich selber Gottheiten macht und damit letztlich sich selber anbetet. Von diesem Grundfrevel her ist das Volk zerfressen und innerlich entstellt. Es hat sich in den Tod hineingegeben. Denn von Gott weggehen, der die Quelle des Lebens ist, heißt ja, aus dem Leben weggehen." Es scheint, dass auf der Grundlage einer solchen Auffassung des von Moses anbefohlenen Blutbads und der dazu führenden Gründe kein Weg zum Weltethos gefunden werden kann, d.h. zu den sowohl den Polytheisten als auch den Monotheisten und Atheisten gemeinsamen Werten. Die Kluft zwischen der klerikalen Religion und der Religion des Menschen als Menschen ist un-überwindbar, und ins Visier des ersteren wird auch jede Zivilreligion genommen. Dass es in die Präambel des EU-Verfassungsvertrags kein Gottesbezug aufgenommen worden ist, muss für Ratzinger eher ein Verbrechen darstellen. 16 Es ist symptomatisch, dass die Slowenische Bischofskonferenz zum Leitspruch der Synode eben diesen alttestamentarischen Spruch gewählt hat, und nicht einen neutestamentarischen, nicht eine Anweisung aus den Evangelien, denen die christlichen Konfessionen am meisten verbunden sein sollten. Es besteht daher ein latenter Wertkonflikt zwischen der europäischen Zivilreligion, in der auch die Verfassung der Republik Slowenien ihre Grundlage hat, auf der einen Seite und der katholischen klerikalen Religion sowie, in einem größeren oder kleineren Maße, auch den klerikalen Religionen anderer Religionsgemeinschaften in Slowenien auf der anderen. Von rechtgläubigen Katholiken wird der „verbrecherische" Verfassungsartikel über „freie Entscheidung über die Geburt eines Kindes" nur schwerlich ertragen. Auf der anderen Seite wird von den Atheisten und zugleich Fürsprechern der Gewissensfreiheit, d.h. der Menschenwürde, der Entzug des Rechtes alleinstehender Frauen auf Zeugung eines Kindes mit Hilfe der Biomedizin schwerlich akzeptiert. Unseres Erachtens ging es bei der Kampagne zum gesetzlichen Verbot derartiger Hilfe um einen aus kirchlichen Dogmen hervorgehenden Missbrauch der Medizin oder sogar um den Verstoß gegen eine dieser Dogmen, denn das Verbot steht im Gegensatz zur Heiligkeit des Lebens als einem Wert, der auch vom Katholizismus stark unterstrichen wird. Es handelt sich dabei zugleich auch um einen Angriff auf die Gewissensfreiheit, weil diese durch das gesetzliche Verbot unter Anwendung der Rechtsgewalt aberkannt wird, indem die Verfassungsnorm über die freie Entscheidung über die Geburt eines Kindes dies nicht tut: sowohl eine gläubige Frau als auch ein gläubiger Arzt wird nach eigenem Gewissen und/oder eigenem Glauben die eine oder andere Entscheidung treffen. Die im ersteren Fall durchgesetzte Rechtsgewalt ist somit der Ausdruck des Unglaubens, des Misstrauens gegen die Glaubensfestigkeit eigener Glaubensgenossen, wobei eine kleine Gruppe alleinstehender Frauen zur Zeit der Kampagne zunächst zum Sündenbock, Gegenstand der Verhöhnung geworden ist und noch weiterhin das Opferlamm des traditionellen Patriarchalismus und modernen Klerikalismus bleibt.17 Aus den angeführten Beispielen ist auch schon ersichtlich, an welchem Punkt der Konflikt zwischen den klerikalen Religionen und der europäischen Zivilreligion bzw. dem Weltethos sich zuspitzen und vom latenten zum akuten übergehen 17 In diesem Falle gilt fast wörtlich die für heutige Zeit übrigens zu strenge Rousseausche Bestimmung der klerikalen Religion: „Dazu tritt eine dritte, noch seltsamere Religionsweise, die dadurch, dass sie den Menschen zwei Gesetzgebungen, zwei Oberhäupter und zwei Vaterländer gibt, sie widersprechenden Gesetzen unterwirft und es ihnen unmöglich macht, gleichzeitig fromme Glieder der Kirche und gute Staatsbürger zu sein. Zu dieser Klasse gehört die Religion der Lamas und der Japanesen sowie der Katholizismus. Man kann letztere eine Priesterreligion nennen. Aus ihr geht ein gemischtes, jeder Gesellschaft widerstreitendes Recht hervor, das sich mit keinem bestimmten Namen bezeichnen lässt." (Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Reclam, Stuttgart 1991, 4. Buch, 8. Kapitel.) Es ist hier die Rede von der Vorherrschaft der klerikalen Religion, der Priesterreligion, über die Zivilreligion, die bürgerliche Religion, zu der bei uns in Slowenien zwar auf einem verfassungsmäßig festgelegten Gesetzgebungsweg (Volksentscheid) gekommen ist, was jedoch noch kein Beweis für die Sittlichkeit des Resultats ist: durch einen Volksentscheid könnte „im richtigen Augenblick" bei einer vergleichbaren, oft stark irreführenden populistischen Propaganda wohl auch die Wiedereinführung der Todesstrafe erzielt werden. kann. Der Grad der Konflikthaftigkeit hängt davon ab, in welcher Bedeutung der Verbrechensbegriff von den Theologen (und Repräsentanten anderer Religionsgemeinschaften) verwendet wird, wenn sie vom Verbrechen sprechen. Solange die Verwendung des Verbrechensbegriffs auf einer rein religiösen Ebene, d. h. intern bleibt, gibt es in der Tat noch keinen Konflikt. Er taucht dagegen auf, wenn dieser Begriff auf die ethische Ebene verschoben wird und zutage tritt. Wenn er auf die rechtliche Ebene überspringt, nimmt er erheblich zu, denn es gibt kein Recht ohne Gewalt (von der gerichtlichen bis hin zur polizeilichen). Die Toleranzschwelle wäre vom Gesichtspunkt der Zivilreligion abgeschafft, wenn eine Religionsgemeinschaft tatsächlich mit der Exkommunikation der bei der Abtreibung mitwirkenden Ärzte beginnen und im Apell einer Unterstützung seitens des Staates stehen würde, so dass die Exkommunizierten auch vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen wären bzw. ihnen die weitere Ausübung des ärztlichen Berufs untersagt wäre. Das würde eine völlige Vorherrschaft der klerikalen Religion über die Zivilreligion und die Religion des Menschen als Menschen sowie die Herrschaft der äußersten Intoleranz, also einen religiösen Bürgerkrieg zur Folge haben, d.h. einen Krieg, der uns von den im Namen des Lebens tötenden amerikanischen und anderen Fundamentalisten bereits jetzt aufgedrängt wird. 145 Rainer Thurnher DOMESTIZIERTE, LATENTE UND ERUPTIVE GEWALT IM AKTUELLEN KONTEXT. Die nachfolgenden Ausführungen haben, wie ich gleich vorausschicken möch- 147 te, experimentellen Charakter. Es handelt sich um die Erprobung von Thesen, und so wird das Gebotene zwangsläufig rudimentär und unfertig sein. Es geht mir darum, mittels einiger Thesen Schlaglichter zu werfen auf die Phänomene Gewalt, Solidarität und mediale Vermittlung derselben, aber auch auf den Zusammenhang zwischen diesen Phänomenen. So werden meine Ausführungen zwangsläufig unvollständig, rhapsodisch und sprunghaft sein, wofür ich im vorhinein um Nachsicht bitte. Vielleicht ist aber gerade eine solche dialektische und polyperspektivische Darstellungsform die der Thematik einzig angemessene. Es könnte immerhin sein, daß ein wohlgerundeter Traktat über diese Themen, eine fortlaufende Abhandlung im Ausspinnen eines einheitlichen argumentativen Fadens, an der Oberfläche bliebe, während man mit einer jäh wechselnden Beleuchtung von Aspekten hier eher in das zutiefst Ambivalente und Abgründige dieser Zusammenhänge einigen Einblick gewinnt. Ich möchte im folgenden, und dies ist meine erste These, die Entwicklung der Zivilisation interpretieren und rekonstruieren als Prozeß der Domestikation von Gewalt; als einen Versuch ihrer Bannung und Eindämmung. Für sich allein genommen wäre diese These freilich reichlich trivial und wenig originell. Ich füge ihr deshalb sogleich, als mephistophelischen Kommentar sozusagen, weitere Thesen hinzu, so zunächst die, daß der Prozeß der zivilisatorischen Bändigung von Gewalt stets begleitet war von einem Prozeß der psychischen Verdrängung von Gewalt, einem Prozeß der Lenkung menschlicher Wahrnehmung im Sinne einer Ausblendung oder Abschwächung des Phänomens der Gewalt. So kann man auch die These wagen (es wäre dies meine dritte), die mentale Verdrängung von Gewalt habe wesentlich dazu beigetragen, daß das zivilisatorische Konzept der Bändigung von Gewalt sich bisher als ein erfolgreiches Unternehmen darstellen konnte. Denn meine vierte These lautet, daß jede Form der Bändigung von Gewalt nur unter Gewaltanwendung und in einem äußerst heiklen und delikaten Umgang mit Gewalt möglich ist; einem Umgang mit Gewalt, der potentielle oder aktuelle Gegengewalt evoziert. Anders formuliert: Jedes Eindämmen von Gewalt ist begleitet von einem (autorisierten) Einsatz von Gewalt und einem reaktiven (anarchischen) Rückfluten von Gewalt. These fünf lautet: der eben beschriebene Umgang mit Gewalt ist, neben anderen, einer der Bereiche, und zwar ein nicht unwesentlicher, in dem eine gezielte mediale Vermittlung von Gewalt von alters her statthat. Bei alledem haben wir den Gedanken der Solidarisierung, das Prinzip der Solidarität noch nicht berücksichtigt. So formuliere ich abschließend die These, nicht weniger versuchsweise als die vorangegangenen, daß ohne den Solidarismus die ohnehin stets labile Domestikation von Gewalt gänzlich undenkbar wäre und gewesen wäre. Bevor ich auf einzelne dieser Thesen eingehe, möchte ich den Begriff bzw. das Phänomen der Gewalt zunächst ins Auge fassen. Gewalt stellt sich naheliegenderweise unter zwei Aspekten dar: Unter dem Aspekt dessen, der Gewalt hat und Gewalt ausübt und unter dem Aspekt dessen, der sich der Gewalt gegenübersieht und sie erleidet. Gewalt zu haben oder auszuüben vermittelt ein anderes Selbstwertgefühl, als sich der Gewalt gegenüberzusehen und sie erdulden zu müssen. Es zeigt sich in der Wahrnehmung und Bewertung von Gewalt somit eine signifikante Asymmetrie. Der Gewalt Erleidende ist trivialerweise, was die Wahrnehmung von Gewalt betrifft, empfindlicher als der aktive Part. Dies gilt vor allem für jenen Bereich, wo wir es nicht mit manifester Gewalt, die physische Spuren hinterläßt, zu tun haben, sondern mit latenter Gewalt, die Verletzungen im Bereich des Seelischen zur Folge hat. Wo der Gewaltsame unter Umständen längst nicht mehr die Empfindung hat, Gewalt auszuüben, nimmt das Opfer sehr wohl die Verletzungen des Stolzes, des Selbstwertgefühls, der persönlichen Integrität, seiner Überzeugungen usw. wahr. Und zur Empörung darüber, daß es verletzt wird, gesellt sich die Empörung über die Unempfindlichkeit dessen, der die Gewalt ausübt. Hier entsteht in der Folge beim Gekränkten die Neigung, sich bemerkbar zu machen. Eine zielführende verbale Kommunikation scheint indes in einer solchen Konstellation nur schwer möglich zu sein - eben deswegen, weil die Wahrnehmungsweisen der beiden Parteien aufgrund der genannten Asymmetrie inkommensurabel sind, und sodann auch deswegen, weil das Interesse an einer solchen Verständigung zwischen ihnen ebenfalls ungleich verteilt ist - anfänglich mindestens. Wo aber ein Dialog unmöglich zu sein scheint, ist eine der nächstliegenden Artikulationsformen (wenn dieses Wort dafür überhaupt angebracht ist) - Gewalt, und zwar möglichst auffällige Gewalt, Gewalt mit einem Knalleffekt sozusagen, der - unter den Bedingungen der modernen Kommunikationsgesellschaft - auch medial wahrgenommen und millionenfach verstärkt wird. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Wir kennen das Phänomen mittlerweile leider zur Genüge. Wenn wir von Gewalt reden, blicken wir nur allzugern von uns weg. Die Gewalt ist immer die Gewalt der anderen. Sprechen wir über die menschliche Gewalt im allgemeinen, so blicken wir gerne auf die Tierwelt. Es schmeichelt dem Menschen als animal rationale, zu sagen, nicht er als Vernunftwesen sei gewaltsam, sondern der unbewältigte Rest von Natur in ihm. Blicken wir auf die Tierwelt, so nehmen wir zahme, jeder Gewalt entbehrende Gattungen wahr. Da sie nur begrenzt über Mittel verfügen, sich zu wehren, sind sie, wie schon von den antiken Autoren bemerkt, besonders schnell oder von hoher Reproduktionsfähigkeit. Es gibt die Parasiten, die zwar räuberisch sind, in ihrem eigenen Interesse aber auf eine gemäßigte Weise, so daß der Wirt daran nicht zugrunde geht. Und es gibt die wilden Tiere, die sich von anderen ernähren und sich durch Gewalt gegen andere behaupten. Sie folgen darin ihrem Selbst- und Arterhaltungstrieb. Sprechen wir von der Bestie im Menschen, so haben wir wohl diese Tiere im Auge. Indessen sollte man hier vorsichtig sein. Die Gewalt, die Tiere gegen Artgenossen ausüben, hat ihre Grenzen. Bei Tieren, die in Rudeln leben, gibt es zwar die Hackordnung und innerhalb derselben den ,Prügelknaben'. All dies hat, wie die Zoologen versichern, seine Funktion. Die Hackordnung bewirkt, daß nur die stärksten Tiere sich reproduzieren, und jenes Tier, das die im Rudel bestehenden Aggressionen auf sich zieht, ist unentbehrlich für dessen Zusammenhalt und damit für das Überleben des gesamten Verbandes. In der Tierwelt gibt es aber vor allem weithin die Tötungshemmung gegenüber Artgenossen. Der Mensch scheint sie nicht zu kennen. Jedenfalls kann er sie ausschalten. Der Mensch kann seinesgleichen töten, und er tötet nicht nur aus Notwehr und im Affekt, sondern auch mit nüchterner Berechnung. Die Grausamkeit, die das Tier kennt, ist zielgerich- tet und zweckgebunden. Zwar gibt es auch in der Tierwelt das Phänomen eines sich hinziehenden, qualvollen Verendens des Opfers, aber nicht bedingt durch Rachegelüste oder ein sadistisches Wohlgefallen, die an dem Leiden als solchem sich weiden. Dergleichen delikate Dinge bleiben dem Menschen vorbehalten, und an ihnen ist seine Ratio wesentlich beteiligt. Instrumentalisiert leistet sie bereitwillig ihren Beitrag. Auch darüber muß nicht länger gesprochen werden. Wir kennen es, weniger aus unmittelbarer Anschauung, glücklicherweise, aber vom Hörensagen und aus der (leider auch jüngeren) Geschichte - oder aus gefilterter Anschauung, wie sie die Medien heute einem Publikum darbieten, das an solchem Konsum offensichtlich Gefallen findet. 150 Mit diesem Exkurs über den Blick des Menschen von sich weg zur Tierwelt hin waren wir zugleich bei den Verdrängungsstrategien von These zwei. Die soeben besprochene jedenfalls erweist sich bei näherem Hinsehen als zweischneidig. Zu seiner Demütigung muß der Mensch erkennen, daß er nicht nur über das Tier sich erheben, sondern auch unter das Niveau des Tieres sinken kann. Gewalt ist im Deutschen ein mehrdeutiger Begriff und meint - ähnlich wie das italienische forza - einerseits die Macht, das Vermögen, die Stärke (etwa wenn von der Regierungsgewalt oder der Staatsgewalt die Rede ist) und andererseits die Gewaltsamkeit, die Gewaltanwendung, die Verletzung anderer. Die Mehrdeutigkeit des Begriffs ist nicht zufällig, denn Gewalt im Sinne von Macht, von potestas bedeutet latente, gebündelte Möglichkeit - die Möglichkeit nämlich, jederzeit und überall, wo es zur Erhaltung und Entfaltung der potestas erforderlich ist, Gewalt anwenden zu können: potestas ist potentia violandi. Und: das Maß der Macht ist, wenngleich nicht ausschließlich, so doch wesentlich bestimmt durch den Umfang dieser Potenz, durch die efficacitas und die ubiquitäre Präsenz ihrer möglichen Aktualisierung. Und noch etwas gilt es zu beachten: es scheint ein Gesetz folgenden Inhalts zu geben: Je größer die potentia violandi, um so weniger wird sie actualiter zur Anwendung kommen müssen. Macht verschafft sich Respekt, der verhindert, daß sie in Frage gestellt und zur Anwendung von Gewalt herausgefordert wird. Dieses Gesetz allerdings dürfte nur bedingt gültig sein. Trifft unsere vierte These zu, daß die Domestikation von Gewalt stets begleitet ist von einem Rückfluten von Gewalt, dann muß dieses Gesetz durch Berücksichtigung zusätzlicher Faktoren wohl modifiziert werden. Jedenfalls sind wir über die Untersuchung der Mehrdeutigkeit des Wortes Gewalt zum Thema der „Kultur der Gewalt", zum Thema der Bändigung und Kanalisierung von Gewaltpotentialen geführt worden. Wir kommen so auf unsere erste These zurück, die Entwicklung der Zivilisation lasse sich interpretieren und rekonstruieren als Prozeß der Domestikation von Gewalt. Bei Giovanni Bat- tista Vico heißt es in der „Scienza Nuova" sinngemäß: Die Vorsehung, die sich der Leidenschaften der Menschen als eines natürlichen Mittels bedient, hat die Dinge so eingerichtet, daß im Übergang zum mondo civile aus der Grausamkeit die Kriegskunst, aus dem Ehrgeiz die Staatskunst und aus der Habgier der Menschen der Handel entstand/ So gesehen ist die Staatsgewalt transformierte, gebändigte und im Zuge dieser Bändigung akkumulierte und gebündelte Gewalt. Nach Martin Luther gründet sich alle Gewalt auf die göttliche Ordnung. Er ist Vertreter der Zwei-Reiche-Lehre, wonach die weltliche, im Schwert sich darstellende Gewalt ebenso auf Gott zurückgeht wie die geistliche, im Wort sich ausdrückende Gewalt. Aufgabe der erstgenannten ist es, den rechtschaffenen Bürger zu schützen, d.h. die Einhaltung der Gesetze zu erzwingen und den Staat nach außen zu sichern. So steht Luther in der Tradition des theologischen Rechtfertigungsmodells politischer Gewalt. Dieses konnte sich im Bereich des Christentums auf Worte der Schrift berufen, etwa auf die Bezeichnung Jahwes als Herr der Könige.2 Inthronisierungsrituale, wie beispielsweise die Salbung und die Entgegennahme von Insignien, wurden als Zeichen göttlicher Legitimation in der Nachfolge Davids verstanden. Wie der Herrscher die Gewalt, die er ausübt, Gott zu verdanken hat, wird er diesem gegenüber dereinst auch Rechenschaft über sein Gebaren abzulegen haben. Der Übergang vom theologischen zum vertragstheoretischen Rechtfertigungsmodell brachte, was die Auffassung politischer Gewalt betrifft, einen grundlegenden Paradigmenwechsel. Initiiert durch Hobbes und Spinoza steht er am Beginn des neuzeitlichen Denkens und ist ebenso Ausdruck wie Teil desselben. Dem Individuum wird ein ursprüngliches und natürliches Recht auf Selbsterhaltung zuerkannt. Im Naturzustand führt die Ausübung dieses Rechts zum Krieg aller gegen alle (bellum omnium contra omnes) und dazu, daß der Mensch dem Menschen mit offener Gewalt, bildlich gesprochen als Wolf (homo homini lupus) gegenübertritt. Dem Vorteil, ohne Zwang seine Willkür ausüben und sich des anderen und seiner Güter uneingeschränkt bemächtigen zu dürfen, steht der Nachteil gegenüber, sich im Genuß der eigenen Güter sowie seiner Freiheit und Unversehrtheit ständig bedroht zu sehen. Aus wohlverstandenem Eigeninteresse unterwerfen sich daher die Individuen einem die staatliche Gewalt konstituierenden Vertrag, mit welchem der Naturzustand beendet und der bürgerliche Zustand begründet wird: Jedes Individuum tritt einen essentiellen Teil seiner Willkür, nämlich das 151 1 Cf. Giovanni Battista Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausgabe von i774 übersetzt und eingeleitet von Erich Auerbach, Allgemeine Verlagsanstalt, München i924; photomechanischer Nachdruck, De Gruyter Berlin i965, S. 77. 2 Cf. Altes Testament, Buch Daniel 4, 22 u. 29. In: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Die Bibel. Gesamtausgabe, Katholische Bibelanstalt, Stuttgart i980, S. i002. Recht der Gewaltausübung, an den Souverän ab, der dafür dem Individuum sein Eigentum, seine Unversehrtheit und seine Freiheit garantiert. Der so gewonnene sichere Genuß des Eigentums, der Freiheit und der Integrität steht allerdings unter Einschränkungen, die im Gesetz definiert sind. Der Sinn des Gesetzes besteht darin, die Freiheit des einzelnen so zu begrenzen, daß sie, wie Kant es formuliert, „mit der Freiheit anderer bestehen"3 kann. Bei Popper findet sich eine humoristische und sehr anschauliche Umformulierung dieses Grundsatzes, die sinngemäß lautet: „Die Freiheit, mit den Fäusten um Dich zu schlagen, ist begrenzt durch die Position der Nase Deines Nachbarn."4 Die Einschränkungen durch das Gesetz sind ohne Zweifel schmerzlich: Was mein Eigentum betrifft, so habe ich Steuern zu entrichten. Liegt es im allgemeinen Interesse, kann ich partiell auch enteignet werden. Meine Freiheit ist durch eine Vielzahl von Regelungen eingeschränkt. Verletze ich das Gesetz, kann sie mir entzogen werden. Was die Integrität betrifft, kann ich im Kriegsfall gezwungen werden, meine Unversehrtheit und mein Leben aufs Spiel zu setzen. So ist es klar, daß das Gesetz zu seiner Durchsetzung der Gewalt bedarf, der potentiellen latenten zunächst und im Bedarfsfalle der aktualisierten und manifesten. 152 Hier besteht für die Staatsgewalt ein Interesse an medialer Präsentation. Strafen sollen bewirken, daß sie in Hinkunft gar nicht mehr verhängt werden müssen, weil die Bürger durch deren abschreckende Wirkung sich an das Gesetz halten. Das statuierte Exempel, die staatliche Gewalt in actu, muß also öffentlichkeitswirksam in Erscheinung treten. Frühere Zeiten kannten den Pranger, den Schauprozeß, die Hinrichtung als öffentliches Spektakel, die tagelange, auf erhöhtem Orte gut sichtbare Präsentation der abgetrennten Häupter, der Gehängten und Geräderten. Die Frage, wie in unseren Tagen die mediale Präsentation aussieht, die diesem Bedürfnis der Staatsgewalt (und mehr noch dem Bedürfnis des besorgten Spießbürgers) entspricht, sei hier nur in den Raum gestellt. Nach Kant gewährleistet der bürgerliche Zustand im Staat jenen inneren Frieden, der unerläßlich ist für die individuelle und kollektive Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten. An dieser Entfaltung, so meint Kant, habe die Natur selbst ein Interesse. Um sie zu erreichen hat die Natur, wie Kant ausführt, in den Menschen das gelegt, was er in einer paradox anmutenden Formulierung als „ungesellige Geselligkeit"5 bezeichnet. Der Mensch ist ein geselliges Wesen. Er kann nicht ohne die Gemeinschaft mit anderen sein (möglicherweise ist er, diesem Be- 3 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 5. Satz, A 395, in: Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden, ed. Weischedel, Bd. VI, 5. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstad i998, S. 39. 4 Cf. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. II, Francke, Bern i958, S. i53. 5 Kant, op. cit., 4. Satz, A 392, a.a.O. S. 37. dürfnis folgend, auch bereit für die anderen Opfer zu bringen, dann wäre hier die Stelle, wo bei Kant der Solidarismus seinen Ort hat). Gäbe es im Menschen nur diesen Hang zur Gemeinschaft, dann liefe er Gefahr, sich einem bequemen, dösigen Leben hinzugeben, in welchem seine Talente zu verkümmern drohten. So hat die Natur in den Menschen auch eine gegenläufige Neigung zur Dissoziation, zur Unterscheidung, zur Konkurrenz gelegt. Ihr verdanken sich die Errungenschaften des Kunstfleißes und des Handelsgeistes.6 Das bellum omnium contra omnes findet somit in sublimierter, gesetzeskonformer und dem Staatswohl außerordentlich zuträglicher Weise darin eine gewisse Fortsetzung. Kant sah diesbezüglich noch kein Problem. Es aufzuzeigen blieb anderen vorbehalten. Das Problem besteht darin, daß das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte die abundant, aber dennoch im ganzen nur begrenzt zur Verfügung stehenden Güter sehr rasch ungleich verteilt, und zwar so, daß die Akkumulation von Gütern einen zusätzlichen Konkurrenzvorteil bewirkt. Verschärfend kommt hinzu das Machtgefälle innerhalb des politischen Gefüges, insbesondere seit der politischen Emanzipation des Bürgertums. Die Industrialisierung schafft neue Umbrüche, beschleunigt den Prozeß ungleicher Verteilung zusätzlich und generiert eine wachsende Zahl von Menschen, die nichts weiter besitzen als ihre Arbeitskraft. Wo sie sie verlieren oder bei mangelnder Nachfrage gar nicht erst zum Einsatz bringen können, sind sie dem drohenden Untergang ausgeliefert. In Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts" finden wir bereits die Vorwegnahme der Marxschen Verelendungstheorie: „Wenn die bürgerliche Gesellschaft", so heißt es dort, „sich in ungehinderter Wirksamkeit befindet, so ist sie innerhalb ihrer selbst in fortschreitender Bevölkerung und Industrie begriffen. [Es] ... vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer ... auf der einen Seite, wie auf der anderen Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse" sich zeigt. Ein „Pöbel" bildet sich, und es ist absehbar „daß bei dem Übermaß des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist ... dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern". „Durch diese ihre Dialektik", so fährt Hegel fort, „wird die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben..."7 Bei der zuletzt zitierten Wendung denkt Hegel8 an den Kolonialismus und Imperialismus, d.h. der Weltgeist und seine „List der Vernunft" nutzt das hier sich abzeichnende Aggressionspotential, um die bürgerliche Gesellschaft und die abendländische Zivilisation über die ganze Erde zu verbreiten. In anderer Lesart allerdings führt 153 6 Cf. ibid., A393f., a.a.O. S. 38: „Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben, oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unterentwickelt schlummern!" 7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 243 — 246, in: G.W.F. Hegel, Werke, ed. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 7, Suhrkamp Frankfurt/M. 1970, S. 389®. 8 Cf. ibid. § 248, a.a.O. S. 292f. 154 der Hegelsche Satz geradewegs zu Marx und zu seiner Theorie von der Unvermeidbarkeit der proletarischen Revolution, welche der bürgerlichen Gesellschaft ein Ende setzt. Für Marx sind Staat und Recht ebenso wie Religion, Philosophie und Kunst nur der ideologische Überbau, in dem sich die ungleichen Besitzverhältnisse spiegeln. Er dient dazu, diese zu legitimieren und durch List und Gewalt aufrechtzuerhalten. Gelingt es, die ökonomische Basis zu verändern und durch die „Expropriation der Expropriateure" den gesellschaftlichen Antagonismus zu beseitigen, dann, so meinte Marx, würde auch der Überbau und mit ihm die Staatsgewalt entbehrlich. Ich führe dies aus, nicht um im Auditorium philosophiehistorische Kenntnisse aufzufrischen, sondern um die These zu illustrieren, daß die Kultur der Gewalt als Bändigung und Bündelung derselben im Zusammenspiel mit zusätzlichen Faktoren leicht zu massiver struktureller Gewalt, zur Verletzung berechtigter Ansprüche von Menschen führen kann, wodurch Potentiale der Gegengewalt, aber auch, wie bei Marx, utopische und verhängnisvolle Delirien generiert werden. Außerhalb einer sinnvoll organisierten und von der Mehrheit der Bürger akzeptierten Staatsgewalt gibt es nämlich nicht die klassenlose Gesellschaft, sondern nur die Anarchie und das Chaos und den Weg in neue, barbarische Formen der Diktatur. Was Anarchie bedeutet, haben wir vor einigen Jahren ansatzweise in Albanien vorgeführt bekommen. Und es wird uns vorgeführt in jenen Territorien von Entwicklungsländern, die wegen besonderer Umstände der staatlichen Kontrolle entzogen bleiben und somit der Willkür von Banden und lokalen Kriegsherren ausgeliefert sind. Es darf aber auch nicht übersehen werden, daß sich selbst im Inneren demokratischer Rechtsstaaten insulare mafiose Strukturen bilden können, die sich dem Durchgriff staatlicher Gewalt erfolgreich entziehen. So entstehen in den Staaten selbst Inseln der Anarchie, in welchen Mord, Erpressung, Menschenraub, Sklaverei und Menschenhandel, im ganzen also massive Formen von Gewalt, sich breitmachen können. Auch dort kann es in den Rechtsstaaten zu Strukturen einer schleichenden Anarchie kommen, wo infolge des rasanten technischen Fortschritts die Materien so komplex werden und sich dermaßen ständig verändern, daß ihre rechtliche Regulierung mit dem Tempo der Entwicklung nicht Schritt halten kann. Das kontraktualistische Rechtfertigungsmodell politischer Gewalt geht von der prinzipiellen Gleichheit der Rechtssubjekte aus. Wenngleich diese niemals Realität werden kann, sollte sie doch als regulative Idee im Politischen stets wirksam sein. Der drohenden krassen Ungleichheit durch einen ungehemmten Wirtschaftsliberalismus im Verein mit politischer Machtkonzentration begegneten die Staaten der westlichen Hemisphäre mit geeigneten Maßnahmen, wie etwa der Gewaltenteilung, dem Aufbau demokratischer Strukturen und Kontrollmechanismen, dem allgemeinen Wahlrecht, der Herstellung von Chancengleichheit im Bereich der Bildung, durch Umverteilung im Wege der Steuerpolitik, durch soziale, ausgleichend wirkende Gesetzgebung, durch Definition der Bedingungen, unter welchen allein legal gearbeitet werden darf, und anderes mehr. All diese Errungenschaften der entwickelten Demokratien europäischen Zuschnitts sind gegenwärtig allerdings durch die Globalisierung und den Anpassungsdruck an den Wirtschaftsliberalismus amerikanischer Prägung gefährdet. Die Steuerleistung, die Einhaltung von Umweltstandards, die Respektierung von Schutzbestimmungen für Arbeitnehmer können von den weltweit operierenden Konzernen umgangen werden durch Auslagerung der Produktion in Gebiete mit unterentwickelter Gesetzgebung oder lückenhafter Überwachung der Einhaltung bestehender Gesetze. Von wirksamen Gegenstrategien, die sowohl die Gefährdung der sozialen Errungenschaften in den entwickelten Industriestaaten als auch ausbeuterische Arbeitsverhältnisse in Entwicklungsländern unterbinden würden, ist noch wenig zu sehen. Das Problem liegt hier darin, daß im zwischenstaatlichen Bereich den innerstaatlichen politischen Strukturen vergleichbare Strukturen und Organisationsmöglichkeiten nicht gegeben sind. Sie sind vielleicht nichteinmal wünschenswert, denn ihre Einführung würde die Etablierung einer weltumspannenden Staatsgewalt bedeuten. Es wäre dies die Realisierung einer höchst problematischen und fragwürdigen Vision. Fassen wir die Auswirkungen extremer wirtschaftlicher Ungleichheit als Gewalt auf, so sehen wir auch in diesem Fall das Projekt der Domestikation von Gewalt begleitet, ja im innersten gefährdet, vom Phänomen eines reaktiven Rückflutens von Gewalt. Das neuzeitliche vertragstheoretische Rechtfertigungsmodell politischer Organisation geht in der Regel von isolierten Individuen aus, die ausschließlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Ihr Eigeninteresse, ihr Egoismus veranlaßt sie dazu, sich den rechtlichen Normierungen zu unterwerfen und an deren Durchsetzung durch die Staatsgewalt interessiert zu sein. Kant bringt den Gedanken auf den Punkt, wenn er in zugespitzter Weise formuliert: „Das Problem der Staatserrichtung ist ... selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar ..."9 Ob dies freilich eine ausreichende Basis darstellt für das tatsächliche Funktionieren eines Gemeinwesens, ist fraglich. Jedenfalls ließe sich dem die Einsicht Platons entgegenhalten, daß die Staaten - und nicht nur sie, sondern jede Solidargemeinschaft, ja selbst eine Räuberbande10 - nur dann Bestand haben und etwas ausrichten können, wenn die Mitglieder sich selbst in der Gewalt haben. Es ist nach Platon für das Funktionieren des Staates unabdingbar, daß 9 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Zusatz, B 61, a.a.O. S. 224. 10 Cf. Platon, Politeia, 351c ff, in: Platon, Sämtliche Dialoge, ed. Otto Apelt, Bd. V, Der Staat, Meiner, Hamburg 1988, S. 4iff. 155 156 die Bürger in sich gewissermaßen ein Regime errichten und aufrechterhalten, das eine ungehemmte Entfaltung der Begehrlichkeiten ebenso unterbindet wie ein Ausleben der Neigung zur Gewalt. Platon wußte sehr wohl Bescheid um die Dynamik, die sich ergeben kann, wenn Menschen sich zusammenrotten und als Masse den niederen Instinkten freien Lauf lassen. Gibt der einzelne dem Hang, sich in der Masse zu verlieren und die Kontrolle über sich preiszugeben nach, dann verletzt er sein Gefühl der Selbstachtung, sein Scham- und Ehrgefühl.11 Nur ein Zusammenwirken desselben mit der Vernunft vermag nach Platon den Menschen davor zu bewahren, ein Getriebener seiner sinnlichen Neigungen und zuletzt auch ein Vollstrecker der in ihm schlummernden verbrecherischen Anlagen zu werden. In dem Maße, in dem die einzelnen sich zu beherrschen vermögen und die bürgerliche Tugend der Gerechtigkeit erlangen, ist nach Platon auch die Stabilität des Staatsgefüges gewährleistet. Ich möchte aber abschließend die These wagen, daß weder eine kluge und entwickelte, d.h. auf Gewaltenteilung und Ausgleich bedachte, mit angemessenen Mitteln auf ihre Einhaltung dringende Rechtsordnung allein, noch diese im Verein mit einer weithin verbreiteten Bürgertugend, die für den Bestand unserer Gemeinwesen, wie ich meine, ebenfalls unerläßlich ist, für sich genommen schon ausreichend wäre, um deren gegenwärtigen, im ganzen doch stabilen Zustand zu gewährleisten. Ich meine, daß das letztlich doch beträchtliche Maß an freiwillig erbrachten Solidarleistungen der Menschen ebenfalls eine tragende Säule des Bestandes unserer Gemeinwesen darstellt. Man kann sich leicht davon überzeugen, wenn man in Gedanken gewissermaßen die ,Gegenprobe' darauf macht: Man denke sich in unseren Staaten all jene Organisationen und Gemeinschaften weg, die, auf der Opferbereitschaft und dem selbstlosen Einsatz einer großen Zahl von Mitgliedern der Gesellschaft basierend, für das Gemeinwesen und innerhalb desselben gerade für die Bedürftigsten hilfreich tätig sind — man denke sich all dies weg und stelle sich die Frage, ob unsere Gemeinwesen dann so funktionieren könnten, wie es der Fall ist, ja ob sie überhaupt bestehen könnten. ii Cf. ibid. 439 e - 440, a.a.a.O. S. i65. Vakhtang Kebuladze PHÄNOMENOLOGIE DER ÖFENNTLICHKEIT. Politische Anthropologie der Öffentlichkeit von Hannah Arend in den Strukturen der alltäglichen Erfahrung von Alfred Schütz und Thomas Luckmann Eine grundlegende Bedeutung für die philosophisch-politische Konzeption der 157 Öffentlichkeit von Hannah Arendt ist die Unterscheidung zwischen dem Haushalt und Polis bzw. zwischen Oikos1 und Polis im Zeitalter der Antike. Die Sphäre des Haushalts ist die Sphäre der privaten Angelegenheiten (privacy), demgegenüber ist die Sphäre von Polis, d. h. die politische Sphäre die Sphäre der Öffentlichkeit. Versuchen wir, in einer Reihe von kurzen Zitaten die Hauptunterschiede dieser beiden Sphären der menschlichen Existenz voneinander wiederzugeben, die Hanna Arendt feststellt: „The distinctive trait of the household sphere was that in it men lived together because they driven by their wants and needs ... Natural community in the household therefore was born of necessity, and necessity ruled over all activities performed in it. 1 Der Begriff „oikos" ist die Quelle des modernen Begriffs „Ökonomie". Solche Abstammung dieses Begriffs hat eine besondere Bedeutung für Hannah Arendt, insofern sie die Politik als in erster Linie öffentliche Tätigkeit der Ökonomie bzw. der Wirtschaft, als der Sphäre der Verwirklichung der privaten Interessen gegenüberstellt. Aber aus dem Begriff „oikos" stammt auch der Name der anderen modernen Wissenschaft, und zwar der Ökologie, in der das ökonomische Moment dieses Begriffs überhaupt keine Rolle spielt. 158 The realm of polis, on the contrary, was the sphere of freedom, and if there was a relationship between these two spheres, it was a matter of course that the mastering of the necessities of life in the household was the condition of freedom of the polis."2 „The polis was distinguished from the household in that it knew only equals, whereas the household was the center of the strictest inequality."3 „The ... outstanding non-privative characteristic of privacy is that the four walls of one's private property offer the only reliable hiding place from the common public world, not only from everything that goes on in it but also from its very publicity, from being seen and being heard."4 Wir können die Hauptzüge der privaten und öffentlichen Sphären auf diese Weise wie folgt zusammenfassen: Die Privatsphäre (privacy) ist die geheime, intime Sphäre der Notwendigkeit und Ungleichheit, in der die Leute in erster Linie ihre wirtschaftliche (d. h. ökonomische) Tätigkeit entfalten. Die Öffentlichkeit ist die offene Sphäre der Freiheit und Gleichheit, in der die Leute in erster Linie ihre politische Tätigkeit entfalten. Zuerst ist es zu bemerken, dass so eine Konzeptualisierung des gesellschaftlichpolitischen Lebens auf der unkritischen Annahme des autonomen Subjektes sowohl der wirtschaftlichen als auch der politischen Tätigkeit beruhen. Der Mensch wird betrachtet als Wesen, das entweder in der Unfreiheit und Ungleichheit der Privatsphäre bleiben oder zu der Freiheit und Gleichheit der Öffentlichkeit übergehen kann. Der Übergang selbst ist nur von der Entschlossenheit des Menschen bedingt, von der geheimen Sphäre der Notwendigkeit zu der offenen Sphäre der Freiheit überzugehen. So eine Entschlossenheit bedarf die Tapferkeit, die gerade dadurch als öffentliche Haupttugend des Menschen betrachtet sein sollte. Gerade deswegen ist die öffentliche Sphäre (laut Arendt) die exklusive Sphäre, in der es überhaupt einen Sinn hat, über die Tugenden zu sprechen. Das zweite wichtige Moment dieser Ansicht ist die unkritische Reduktion der privaten Angelegenheiten auf die wirtschaftliche bzw. ökonomische Tätigkeit. 2 Hannah Arendt, The Human Condition, The University of Chicago Press, Chicago & London 1958, S. 3°. 3 Ibid., S. 32. 4 Ibid., S. 71. Arendt anerkennt freilich, dass die deutliche Grenze zwischen dem privaten als vor allem wirtschaftlichen bzw. ökonomischen Sein und dem öffentlichen als politischem Sein nur für die Antike und teilweise für das Mittelalter charakteristisch war; für die Neuzeit ist demgegenüber typisch eine Expansion der wirtschaftlichen bzw. ökonomischen Tätigkeit in die öffentliche bzw. politische Sphäre. Sie betrachtet jedoch diesen Prozess als Verzerrung des ursprünglichen sozialpolitischen Raums, den im Polis strukturiert wurde. Die Gleichsetzung der Sphäre der Öffentlichkeit mit der Sphäre der Offenheit, die für die deutsche Sprache typisch ist, hat sehr wichtige positive Folgen für die Möglichkeit der Analyse der Sphäre der Öffentlichkeit. In dieser Hinsicht kann man verstehen, wieso die Gesellschaft des Mittelalters weder eine Gesellschaft im Sinne vom Polis der Antike, noch eine Gesellschaft im Sinne der Neuzeit war. Denn sie wurde nach den Prinzipien einer Familie organisiert: „The structure of communal life was modeled on the relationships between the members of a family because these were known to be non-political and even antipolitical. A public realm had never come into being between the members of a family, and it was therefore not likely to develop from Christian community life if this life was ruled by the principle of charity and nothing else".5 Aber die Barmherzigkeit kann nicht ein Organisationsprinzip der offenen Sphäre der Öffentlichkeit sein. Denn die Güte, um wirklich die Güte zu bleiben, sollte jegliche gesellschaftliche Äußerung vermeiden, d. h. die Öffentlichkeit und Offenheit. Gerade in diesem Sinne sollte man Machiavelli verstehen, wenn er schreibt, dass er den Leuten beibringen will, nicht gut zu sein. Das bedeutet nicht, dass er will, den Leuten beizubringen, böse zu sein, denn sowohl die Böse, als auch die Güte, gehört sozusagen zur geheimen Sphäre der privaten Intimität. „Machiavelli's criterion for political action was glory .. ,"6 Der Ruhm jedoch ist nur in der öffentlichen Sphäre möglich, wo die Taten den allen bekannt werden, oder der Mehrheit der Glider der Gesellschaft. „Badness that comes out of hiding is impudent and directly destroys the common world; goodness that comes out of hiding and assumes a public role is no longer good, but corrupt in its own terms and will carry its own corruption wherever it goes."7 Gerade deswegen sind solch geschlossene Gemeinschaften, wie z. B. religiöse Orden, nicht nach den Prinzipien der Öffentlichkeit gegründet wurden, dementsprechend der Ruhm als Belohnung für die Errungenschaften das Hauptkriterium der Tätigkeit ist. Arendt zeigt es am Beispiel einige Orden, in denen die 5 Ibid., S. 53-54. 6 Ibid., S. 77. 7 Ibid., S. 77. 160 Mönche ihren Beruf, den sie perfekt ausgeübt haben, aufgeben sollten. Dieses Prinzip kann man auf alle geschlossene Gemeinschaften und sogar Gesellschaften ausdehnen. An diesem Punkt meiner Ausführungen schlage ich vor, von der Analyse der privaten und der öffentlichen Sphären zur Untersuchung des Zusammenhangs der Begriffe der Öffentlichkeit und der Macht überzugehen. Arendt schreibt: „Was einen politischen Körper zusammenhält, ist sein jeweiliges Machtpotential, und woran politische Gemeinschaften zugrunde gehen, ist Machtverlust und schließlich Ohnmacht. Der Vorgang selbst ist ungreifbar, weil das Machtpotential, im Unterschied zu den Mitteln der Gewalt, die aufgespeichert werden können, um dann im Notfall intakt eingesetzt zu werden, überhaupt nur in dem Maß existiert, als es realisiert wird. Wo Macht nicht realisiert, sondern als etwas behandelt wird, auf das man im Notfall zurückgreifen kann, geht sie zugrunde, und die Geschichte ist voll von Beispielen, die zeigen, dass kein materiell greifbarer Reichtum der Welt diesen Machtverlust auszugleichen vermag."8 Jürgen Habermas kommentiert diese Ansicht von Hannah Arend im Rahmen seiner kommunikativen Philosophie auf folgende Weise: „... Hannah Arendt besteht darauf, dass eine politische Öffentlichkeit nur so lange legitime Macht erzeugen kann, wie sie Strukturen einer nicht verzerrten Kommunikation zum Ausdruck bringt."9 In diesem kurzen Kommentar deutet Habermas die Macht als Ausdruck einer normalen Kommunikation in der öffentlichen Sphäre aus. Auf diesem Grund können wir die Entstehung der Macht wie folgt beschreiben: Macht wird generiert in der nicht verzerrten, d. h. normalen öffentlichen Kommunikation. Habermas führt den Begriff der Kommunikation ein, und zwar einer unverzerrten Kommunikation, der eine weitere Erklärung benötigt. Um den Begriff der Kommunikation zu erklären, sollte man freilich zwei Fragen beantworten: 1. Wer ist das Subjekt einer Kommunikation? 2. Was ist das Kriterium der Verzerrtheit bzw. der Normalität der Kommunikation? 8 Hannah Arendt, Vita Activa oder vom tätigen Leben, Kohlhammer, Stuttgart i960, S. i93. 9 Jürgen Habermas, Philosophisch-politische Profile, Suhrkamp, Frankfurt/M. i98i, S. 234. Lassen wir diese Fragen vorläufig unbeantwortet und lenken statt dessen unsere Aufmerksamkeit auf den Begriff der Gewalt. Dieser Begriff ist in einer paradoxen Weise einerseits dem Begriff der Macht komplementär, anderseits widerspricht er den Begriff der Macht, denn die Gewalt entsteht gerade da, wo ein Mangel an der Macht oder sogar ein totaler Verlust der Macht vorhanden ist. Um die Ursachen des Machtverlustes zu verstehen, sollten wir die Bedingungen ihrer normalen Generierung aufdecken. Arendt beschreibt und illustriert sie am Beispiel der Entwicklungsgeschichte der europäischen Zivilisation: „The only indispensable material factor in the generation of power is the living together of people. Only where men live so close together that the potentialities of action are always present can power remain with them, and the foundation of cities, which as city-states have remained paradigmatic for all Western political organisation, is therefore indeed the most important material prerequisite for power."10 Die Hauptbedingung der Machtgenerierung ist demnach das Zusammenleben der Menschen oder - phänomenologisch gesagt - die Intersubjektivität der Erfahrung, denn das bloße Nebeneinandersein im Raum und in der Zeit darf man keinesfalls das echte Zusammenleben nennen. Das physische Nebeneinandersein der großen Mehrheit der Menschen ohne normale intersubjektive Beziehungen kann zum fast völligen Machtverlust bzw. zur Ohnmacht führen, die in einer politischen Ordnung, wie der Tyrannei, durch die Gewalt kompensiert wird: „Montesquieu realised that the outstanding characteristic of tyranny was that it rested on isolation - on isolation of the tyrant from his subjects and isolation of the subjects from each other through mutual fear and suspicion - and hence that tyranny was not one form of government among others but contradicted the essential human condition of plurality, the acting and speaking together, which is the condition of all forms of political organisation. Tyranny prevents the development of power, not only in a particular segment of the public realm but in its entirety; it generates, in other words, impotence as naturally as other bodies politic generate power."11 Die Gewalt ist der Ausdruck der Ohnmacht und des Machtverlustes. Gerade deswegen „(can) violence ... destroy power, (can) it ... never become substitute for it."12 Die Bedingung eines solchen Machtverlustes ist die Zerstörung der normalen intersubjektiven Interaktionen der Gesellschaftsglieder untereinander sowie mit den Machtinstitutionen. Der empirische Ausdruck dieses Prozesses ist die Kom- 10 Hannah Arendt, The Human Condition, Chicago & London, The University of Chicago Press, Chicago & London 1958, S. 200. 11 Ibid. S. 202. 12 Ibid., S. 202. 161 162 munikationsverzerrung in der Gesellschaft. Hier kehren wir zu den oben gestellten Fragen nach dem Subjekt der Kommunikation und nach den Kriterien ihrer Normalität zurück. Ich möchte mit der Antwort auf die zweite Frage anfangen, indem ich den Begriff der allgemeinen These der wechselseitigen Perspektiven aufgreife, die jegliche Kommunikation ermöglicht . Die wechselseitige Perspektive besteht aus zwei Idealisierungen: 1. Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standpunkte: „Wäre ich dort, wo er jetzt ist, würde ich die Dinge in gleicher Perspektive, Distanz, Reichweite erfahren wie er; und wäre er hier, wo ich jetzt bin, würde er die Dinge in gleicher Perspektive erfahren wie ich."13 2. Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme: „Ich und er lernen es als gegeben hinzunehmen, dass Unterschiede der Auffassung und Auslegung, die sich aus der Verschiedenheit meiner und seiner biographischen Situation ergeben, für seine und meine, für unsere gegenwärtigen praktischen Zwecke irrelevant sind, dass ich und er, dass wir so handeln und uns so verständigen können, als ob wir die aktuell und potentiell in unserer Reichweite stehende Objekte und deren Eigenschaften in identischer Weise erfahren und ausgelegt hätten."14 Die normale bzw. unverzerrte Kommunikation ist in der öffentlichen Sphäre unter den Bedingungen der Vertauschbarkeit der Standpunkte und der Kongruenz der Relevanzsysteme möglich. Hier sollte man allerdings danach fragen, zu wem diesen Standpunkt und diese Struktur gehören. Diese Frage ist eine Umformulierung unserer ersten Frage nach dem Subjekt der Kommunikation. Wenn wir das Subjekt im Sinne von Kants autonomes Subjekt verstehen, verlieren wir seine Verankerung in der Lebenswelt des Alltags, in dem, was man mit dem altgriechischen Begriff „Ethos" bezeichnen könnte. Infolgedessen bekommen wir anstatt des lebendigen Subjektes der intersubjektiven Interaktionen eine künstliche Konstruktion, die uns als starre Karkasse aller Tugenden und Sünden dient. Demgegenüber sollten wir in unserer Analyse nicht aus dem künstlichen autonomen Subjekt, sondern vom „Ethos" als Quelle der Konstitution der Tugenden ausgehen: „Auch in einer künftigen ,global' zusammengewachsenen Menschheit wird die Humanität auf einem Ethos beruhen, d. h. auf einem Zusammenhang der Tugenden. Diese Überzeugung steht im Gegensatz zu einer heute von vielen Philosophen vertretenen Auffassung: Sie glauben, das, was in der alten europäischen Tradition ,Ethos' genannt wurde, werde in der ,globalisierten' Welt ver- 13 Alfred Schütz, Thomas Luckmann. Strukturen der Lebenswelt, Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied und Darmstadt 1975, S. 74. 14 Ibid. schwinden; denn jedes Ethos sei an eine bestimmte Kultur gebunden. Weil damit zu rechnen sei, dass in der künftigen Welt auf lange sicht alle Unterschiede zwischen den Kulturen eingeebnet werden, sei nur noch eines zu verlangen und vielleicht zu erwarten: die Befolgung schlechthin allgemeiner, für alle Kulturen gleichermaßen verbindlicher moralischen Normen."15 Es ist darauf hinzuweisen, dass in der modernen Gesellschaft, der die verschiedenen untraditionellen Organisationsformen des alltäglichen Lebens eigen sind, unser Verständnis des Begriffs „Ethos" etwas modifiziert sein sollte. In einer paradoxen Weise kann man sagen, dass in der modernen postindustriellen Gesellschaft die untraditionelle Art und Weise des alltäglichen Lebens sehr oft zur traditionellen wird. Am besten kann man das am Beispiel solch einer klassischen Form vom Ethos wie der Familie zeigen. Denn heute werden die alternativen Organisationsformen der Beziehungen zwischen den Vertretern einer Generation und zwischen den Vertretern verschiedener Generationen typisch: große Menge der einsamen Männer und Frauen, die ihre Kinder selbständig erziehen, die Institution der Adoptierung der Kinder, die homosexuellen Ehepaare, die in einigen demokratischen Gesellschaft offiziell anerkannt wurden etc. Im Vergleich zu dieser Transformation der klassischen monogamen europäischen Familie sieht die traditionelle muslimische Polygamie nicht so exotisch aus. In dieser Hinsicht schlage ich vor, in der Interpretation des Begriffs „Ethos" die Begriffe „Umwelt" und „Mitwelt" von Alfred Schütz und Thomas Luckmann zu benutzen, die sie als Hauptstrukturen der Lebenswelt der alltäglichen Erfahrung beschreiben. Die Umwelt ist die Welt der unmittelbaren intersubjektiven Interaktion, die Schütz und Luckmann mit dem Begriff „face-to-face situation" bezeichnen. Diese Situation ist durch den höchsten Grad der Intimität der intersubjektiven Beziehungen gekennzeichnet. Das Ich als Subjekt der sozialen Beziehungen hat hierbei nichts zu tun mit den abstrakten sozialen Typen, sondern mit den lebendigen Akteuren der sozialen Realität, die freilich die verschiedenen sozialen Typen vertreten. Diese Typen konstituieren aber in einer solchen Situation nur den Hintergrund der sozialen Interaktion. Unsere soziale Beziehung hat in diesem Fall den Charakter der Wir-Beziehung, die durch die Verschränkung der Du-Einstellungen der Teilnehmer der Interaktion konstituiert wird. Wir können die gewöhnlich gewordenen Formen solcher sozialen Beziehungen als verschiedenen Formen des Ethos bezeichnen, darunter selbstverständlich die Familie (freilich in aller, sogar untraditionellen Formen), aber auch alle andere soziale Organisationsformen der alltäglichen intersubjektiven Erfahrung. Gerade 15 Klaus Held , „Zur phänomenologischen Rehabilitierung des Ethos", Eröffnungsvortrag an der Tagung „Europe, World and Humanity in 2ist Century: Phenomenological Perspectives", Ljubljana, 16—19. November 2006. 163 164 diese Formen der alltäglichen Erfahrung verkörpern die oben genannten Idealisierungen der Vertauschbarkeit der Standpunkte und der Kongruenz der Relevanzsysteme mit den höchsten Grad ihrer Aktualisierung. Deshalb ist hier eine wirklich unverzerrte Kommunikation möglich. Aber die Sphäre solcher Beziehungen ist in erster Linie die private Sphäre. Die intersubjektive Mitwelt der alltäglichen Erfahrung ist demgegenüber durch die Typisierung und infolgedessen durch die hohe Anonymität gekennzeichnet. Es ist die Sphäre der Ihr-Beziehungen, die durch die Ihr-Einstellungen der Teilnehmer der Interaktionen konstituiert werden. Deswegen ist die Verwirklichung der Idealisierungen der der Vertauschbarkeit der Standpunkte und der Kongruenz der Relevanzsysteme in dieser Mitwelt viel mehr problematisch als in der Umwelt. Infolgedessen ist das Risiko der Verzerrung der Kommunikation auch hier ziemlich hoch. Die wirkliche Verzerrung der Kommunikation passiert dort, wo die Grenzen zwischen der Umwelt und der Mitwelt zerstört werden. In diesem Fall werden die intimen und fast untypisierten Wir-Beziehungen in der Mitwelt, d. h. in der Sphäre der anonymen und fast ganz typisierten Ihr-Beziehungen, durch die Gewaltinstitutionen imitiert und auf solche Weise verzerrt. Anderseits wird die Umwelt, die Sphäre der intimen, privaten Beziehungen durch die Expansion der öffentliche Mitwelt zerstört. In der totalitären Gesellschaften, z. B., wo die stattliche Gewalt die Rolle des Vaters der Familie imitiert und alle Beziehungen der Gliedern der Gesellschaft als die Beziehungen innerhalb der großen Familie darzustellen versucht, verschwindet die Grenze zwischen der Umwelt und der Mitwelt, zwischen den privaten und öffentlichen Angelegenheiten. Es führt zur Zerstörung der normalen privaten und öffentlichen Beziehung zwischen den Gliedern der Gesellschaft, zur Verzerrung der Kommunikation, zur Vergessenheit des Ethos als Sphäre des Privatlebens und Korruption der Öffentlichkeit als Sphäre der öffentlichen Leistungen der Menschen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen schlage ich eine breitere Interpretation des Begriffs „Ethos" vor. Ethos ist die festgestellte Weise der alltäglichen Existenz einer Gemeinschaft der Menschen innerhalb des Horizontes ihrer intersubjektiven Interaktionen miteinander, d. h. innerhalb der intersubjektiven Umwelt, und mit den Vertretern der anderen Gemeinschaften, d. h. innerhalb der intersubjektiven Mitwelt. Dieser allgemeine intersubjektive Horizont aller möglichen Um- und Mitwelten ist die Sphäre der Öffentlichkeit. Ihre Akteure sind nicht atomare Subjekte, sondern bestimmte Gemeinschaften bzw. Vertreter dieser Gemeinschaften, die in ihrer intersubjektiven Tätigkeit durch die Besonderheit des eigenen Ethos bzw. der eigenen Umwelt, bedingt sind. Die Vielheit der atomaren Subjekte sollte durch die Vielheit der Ethostypen bzw. Umwelten, ersetzt werden, von denen in der Kommunikation die Macht als Alternative zur Gewalt konstituiert wird, denn ein Anspruch des einzelnen Subjektes auf die allgemein gültige moralische Position wird oft zum totalitären Anspruch im sozialpolitischen Diskurs. Den anderen Standpunkt, der dem meinen widerspricht, sollte ich nicht deswegen achten, als er Ausdruck einer allgemeinen menschlichen Position sein könnte, sondern deswegen respektieren, weil er eine menschliche Position ist, die auch falsch sein kann. Deshalb verschwindet die Freiheit des atomaren Subjektes nicht, sondern sie transformiert in einem anderen Kontext, insofern das Format meiner Tätigkeit nicht eine allgemeine Gesetzgebung, sondern das flexible Gleichgewicht der verschiedenen Gesetzgebungen ist. 165 Rok Svetlic DAS PROBLEM DER ZEiTGENÖSSiSCHEN POLiTiSCHEN PHiLOSOPHiE. Der Transfer der individuellen Verantwortlichkeit Das Symposium „Europa, Welt und Humanität im 2i. Jahrhundert" fordert die 167 Teilnehmer dazu auf, sich der Probleme des zeitgenössischen Europas und der Welt bewusst zu werden und diese zu thematisieren. Mit anderen Worten, es lädt dazu ein, sich mehr der Orientierung im noch offenen Horizont zu widmen, als alte philosophische Schriften zu analysieren. Das Ergebnis eines solchen Nachdenkens stellt somit eher ein Aufspüren als eine vertiefte Studie dar, wobei darauf hingewiesen werden soll, dass der vorliegende Beitrag nur als ein Versuch zu verstehen ist. Es ist besonderes erfreulich, dass solche Themen im Rahmen der Phänomeno-logie eröffnet werden, weil diese, zumindest meiner Meinung nach, noch viele nicht ausgeschöpfte Potentiale auf dem Gebiet der praktischen Philosophie in sich bergen. Aufgrund meines Betätigungsfeldes, der Rechtsphilosophie, fühle ich mich vor allem durch die Frage der Humanität angesprochen, die der Titel des Symposiums beinhaltet. Im Rahmen dieses Beitrags möchte ich mich einem Phänomen widmen, das mir in Slowenien sowie in Europa aufgefallen ist, und mir, was die Frage der Humanität anbelangt, als eines der bedeutendsten Probleme im zeitgenössischen Europa erscheint. Hierbei handelt es sich um die Beeinträchtigung der individuellen Verantwortlichkeit - genauer genommen um einen Transfer, durch den die Verantwort- lichkeit vom Einzelnen auf den Staat übertragen wird/ Die Ursache für diesen Transfer basiert nicht etwa auf dem Standpunkt, dass das Individuum nicht etwa verantwortungsvolle Beziehungen einzugehen bräuchte, sondern auf der Überzeugung, dass dieses (aufgrund äußerer Umstände) zu diesen nicht fähig ist. Die Tatsache, dass der Handelnde von seiner Verantwortlichkeit entbunden wird, kann auf den ersten Blick als eine willkommene Entlastung des Individuums interpretiert werden. Obwohl dies für den Betroffenen zuträglich sein könnte, muss darauf beharrt werden, die Frage der Humanität auf einer anderen Ebene zu thematisieren, die sich vom Nutzkalkül streng unterscheidet. Beim erwähnten Verantwortlichkeitstransfer unterscheidet man zwischen verschiedenen Intensitätsstufen, wobei auf der extremsten Stufe das Individuum seine moralische Kompetenz zur Gänze verloren hat und sogar einem unmündigen Kind gleichgestellt wird. Demnach soll folgende These aufgestellt werden: Obwohl das Konzept der Humanität durchaus kontrovers bleibt, ist die Vorstellung eines verantwortungsvollen Menschen, der seiner Handlungsautonomie beraubt wurde, undenkbar. Denn der Standpunkt, dass Handlungen und deren Folgen nicht dem Handelnden, sondern dem zugeschrieben werden können, der für diesen Menschen verantwortlich ist, erinnert eher an die Vormundschaft über einen Unmündigen als 168 an ein respektvolles Verhältnis einem handlungsfähigen Wesen gegenüber. Wie zuvor erwähnt, kann das Ausmaß der Verantwortlichkeit, die dem Handelnden genommen wird, variieren. In Hinsicht auf einige vor kurzem geschehene Ereignisse in Europa scheint es, dass die Intensität dieses Transfers eher zunimmt. Dieser Transfer soll in verschiedenen Bereichen der staatlichen Politik untersucht werden, wobei an dieser Stelle angemerkt werden muss, dass der Verantwortlichkeitstransfer nur im Rahmen der politischen Moral problematisiert wird. Ob der Einzelne in seinem Privatleben die Verantwortlichkeit eines Anderen tragen möchte (oder umgekehrt, ob jemand seine eigene Verantwortlichkeit auf jemand Anderen übertragen möchte), bleibt indes eine Frage des privaten Kompetenzbereichs. Es ist aber unzulässig, wenn die öffentliche Moral die Handlungskompetenz des Individuums einschränkt oder gar zur Gänze unmöglich macht. Auf Grundlage des Angeführten wird sich der Beitrag näher mit der Sozial- und Strafpolitik befassen. i Dieser Transfer soll anhand zweier Beispiele näher erläutert werden. II. Zunächst soll das provisorische Konzept der Verantwortlichkeit eingeführt werden, wobei im Rahmen dieses Beitrags folgende Definition als ausreichend angesehen werden soll: Einen Menschen als ein verantwortungsvolles Wesen zu behandeln, bedeutet, dass man die Handlungen und deren Folgen dem Handelnden zuschreibt. Die Verantwortlichkeit ist also die Bindung, die mit der Entscheidung für eine Handlung zwischen dem Handelnden und der Handlung entsteht. Diese Common-Sense-Definition wird von zahlreichen philosophischen Entwürfen übernommen, obwohl diese unterschiedlich begründet wird. Am häufigsten verweist das Problem der Verantwortlichkeit an das Problem der Freiheit. Die Frage der Freiheit des Handelnden steht in der Antike nur im Hintergrund des Problems des tugendhaften Lebens. So schreibt Aristoteles, dass das tugendhafte Leben zwar nicht selbstverständlich, aber durchaus zu erlernen ist. Weil dieses zur Glückseligkeit führt, nach der jeder strebt,2 impliziert die Möglichkeit des Scheiterns des glückseligen Lebens das Problem der Unerreichbarkeit des Gewollten. Dies veranlasst aber Aristoteles auf keinen Fall zum Schluss, dass der Mensch in seiner Freiheit irgendwie eingeschränkt wäre, sondern er sieht die Ursache für die Unfreiheit ausschließlich in äußeren Umständen, durch welche die Handelnden unmittelbar gestört werden. Eine besondere Stellung in der philosophischen Tradition der Freiheitsdiskussion nimmt Immanuel Kant ein. Seiner aprioristischen Optik gemäß fragt Kant nicht: „Was ist die Freiheit?", sondern „Wie ist die Freiheit möglich?". Er stellt fest, dass die Freiheit nicht als Gegenstand einer gültigen Erkenntnis, d.h. in der Anschauung, auftreten kann. Deswegen kann sie nur ein aprioristischer Bestandteil unserer Vernunft sein, d.h. eine bzw. die Idee. Es gibt aber genauso viele „Vernunftbegriffe" wie diesen Begriffen entsprechende Verhältnisse, die sich der Verstand mittels folgender Kategorien vorstellt: „.. .es wird also erstlich ein Unbedingtes der kategorischen Synthesis in einem Subjekt, zweitens der hypothetischen Synthesis der Glieder einer Reihe, drittens der disjunktiven Synthesis der Teile in 2 „Wenn es nun überhaupt ein Geschenk der Götter an die Menschen gibt, so kann folgerichtig auch das Glück eine Gabe der Gottheit sein und zwar um so eher, als es unter den menschlichen Gütern das wertvollste ist. (...) Doch ist soviel klar: selbst wenn uns das Glück nicht von den Göttern gesandt wird, sondern durch ethisches Handeln und in gewisser Weise durch Lernen und Üben zuteil wird, so gehört es doch zu den göttlichsten Gütern. Denn als Kampfpreis und Ziel der ethischen Trefflichkeit ist es ein höchstes Wert, göttlich und selig." (Aristoteles, Nikomachische Ethik, Akademie Verlag, Berlin 1969, 1099b.) 170 einem System zu suchen sein." 3 Diese drei Arten des Unbedingten sind die Seele, die Freiheit und Gott. Damit wird auf Ebene der reinen Vernunft die Freiheit als etwas nur Mögliches eingeführt und ihre Wirklichkeit wird die Vernunft nie erkennen imstande sein. Jedoch kann der Mensch auf gewisse Weise die Freiheit erkennen, wobei es sich natürlich nicht um die Erkenntnis im theoretischen Sinn handelt: „Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennet, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrücke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst eines Teils Phänomen, anderen Teils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibiler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann."4 Dies bedeutet, dass der Mensch die Freiheit in seiner praktischen, nicht aber in seiner theoretischen Betätigung erkennt. Hier setzt die kategorische Moral an, wie sie Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und in der Kritik der praktischen Vernunft entwarf. Kants Gedanken stellen den Höhepunkt der Philosophie der Aufklärung dar, die auf dem Vertrauen in die Vernunft und in das Subjekt baute. Diesem Vertrauen folgten die Enttäuschung und die Erkenntnis, dass man das „Evangelium der bloßen Vernunft" nicht schreiben kann. Wenn einmal eine auf dem Subjekt und auf der Vernunft gegründete Philosophie als Irrweg angesehen wird, ist das andere Extrem nur einen Schritt entfernt: Die Auseinandersetzung mit den rationalistischen Konzepten beginnt somit als selbstverständliches Legitimationspotenzial und als Devise des Postmodernismus zu fungieren. Dem unbegrenzten Glauben an die Vernunft und an das Subjekt folgt grenzenloses Misstrauen. Auf die Gefahr eines solchen extremen Standpunktes macht H. M. Baugarten im Aufsatz „ Welches Subjekt ist verschwunden?"5 aufmerksam. Schon der Titel verrät, dass der Begriff „Subjekt" keinesfalls eindeutig zu verstehen ist. Von den verschiedenen Bedeutungen erwähnt Baugarten zu Beginn die Personalpronomina als unvermeidliche Selbstreferenzen des Sprechenden. Zweitens kann das Subjekt auch im Sinn des kantschen „Ich denke" verstanden werden, das alle Vorstellungen des Erkennenden zu begleiten fähig sein muss, ohne dass damit das Subjekt substantialisiert wird. Drittens kann das Subjekt als ein Moment der Per- 3 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Felix Meiner Verlag, Hamburg i998, A 323. 4 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Felix Meiner Verlag, Hamburg i998, A 546. 5 Hans Michael Baumgarten, Welches Subjekt ist verschwunden? Einige Distinktionen zum Begriff der Subjektivität, in: Schrödter Hermann (Hg.), Das Verschwinden des Subjekts, Könighausen & Neumann, Würzburg i994, S. 67-86. sönlichkeit verstanden werden, wobei nach Kant der Mensch zur Persönlichkeit wird, wenn er sich dem kategorischen Imperativ unterwirft. Die vierte Bedeutung hebt den Aspekt der intersubjektiven sprachlichen Kommunikation hervor, während erst in der fünften Bedeutung „Ich denke" und „Ich will" auf die Einheit der Substanz und des Subjekts zurückgeführt werden. Ein solches Subjekt versteht die Natur als die Veräußerlichung seiner selbst und stellt die Geschichte als Selbstverwirklichung des Geistes dar. Baumgartner betont, dass nur das fünfte Subjekt - das Instrument zur Erklärung der Natur und der Geschichte - „verschwunden" ist. Die übrigen „Subjekte" bestehen indes fort, weswegen durch die Auflösung des absoluten Subjekts nicht verhindert wird, den Menschen als verantwortungsvolles Wesen zu behandeln. In diesem Sinn bleibt der Mensch die Grundlage (Subjekt) seiner Handlungen. Es hat den Anschein, dass zumindest auf dem Gebiet der praktischen Philosophie - trotz der nüchternen Distanz zum rationalistischen Optimismus - auf einigen Begriffen der Aufklärung beharrt werden muss. Obwohl auf ontologi-scher Ebene mit dem „Subjekt", der „Vernunft" und der „Freiheit" nicht mehr die Wirklichkeit beschrieben werden kann, kann jedoch das Verantwortlichkeitskonzept nicht ohne Subjekt gedacht werden, das frei ist und rationale Entscheidungen für seine Handlungen trifft. Somit ist das Verantwortlichkeitskonzept nur als Ganzheit dieser drei Elemente möglich. In erster Linie muss ein verantwortungsvoller „jemand" existieren, der die Grundlage seiner Entscheidungen darstellt. Selbstverständlich ist damit seine ontolo-gische Beschreibung nicht erschöpft, noch weniger ist damit „cogito sum' ausgesprochen. Aber die Kategorie der Verantwortlichkeit muss die Kommunikation mit „jemandem" voraussetzen. Das handelnde Subjekt muss noch frei und imstande sein, rationale Überlegungen zu verschiedenen Handlungsoptionen anzustellen. Alles Erwähnte beruht aber auf Kategorien, die aus der Aufklärung stammen. Aus postmoderner Perspektive mag ein derartig ausgeprägtes Verantwortlichkeitskonzept anachronistisch und zu rigoros wirken. Doch ohne ein derartiges Konzept ist eine demokratische politische Moral unvorstellbar. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass eine derart entworfene Verantwortlichkeit auch eine Schutzfunktion ausübt. Einerseits verlangt die Verantwortlichkeit bedingungslos vom Handelnden, Rechenschaft abzulegen, andererseits gewährt sie ihm aber auch die so wichtige Sicherheit. Mit der Einführung des Subjekts als Träger der Verantwortlichkeit wird die Individualität der Verantwortlichkeit bei Strafverfahren eingeführt: Die Zugehörigkeit zu einer kollektiven Entität (z.B. Nation) darf nie die Anwendung von Zwangsmitteln legitimieren. Darüber hinaus haftet das Freiheitskonzept der Aufklärung für den säkularisierten Verantwortungsbegriff, nach dem die freie Entscheidung die einzige Referenz für den moralischen Status einer Handlung bleibt. Damit ist die durch die Erbsünde korrumpierte menschliche Natur ausgeschlossen. Das Element der Vernunft gewährleistet, dass die Verantwortlichkeit nur durch einen Rationaldiskurs bewiesen werden kann. In gewissem Sinn bleibt die praktische Philosophie somit der Tradition verpflichtet, wodurch nicht impliziert wird, dass die Bedeutigkeit, mit welcher der Mensch lebt, mit Vernunft- und Subjektkonzepten erfasst werden kann. Diese Erfahrung spiegelt sich auf dem Gebiet der Phänomenologie in der Hervorhebung der Welt wider, in welcher der Mensch Mitmenschen und Dingen begegnet. Die provisorische Definition der Verantwortlichkeit als eine Bindung zwischen dem Handelnden und der Handlung setzt zwar die erwähnten traditionellen Kategorien voraus. Da aber das Rationalparadigma, in dem diese Kategorien entworfen wurden, seine Geltung verloren hat, bleibt diesen Kategorien nur noch ihre „technische" Funktion. Denn diese sind nicht mehr imstande, den Horizont zu beschreiben, in welchem dem Handelnden seine Handlungen als etwas Sinnvolles zugänglich wären — die Welt als ontologische Bestimmung des Menschen. An dieser Stelle soll aus folgenden Gründen an das Denken von M. Heidegger erinnert werden. Erstens geht sein philosophisches Konzept über das Vernunftparadigma hinaus — Heideggers Denken stellt einen radikalen Bruch mit der „Metaphysik" dar, weil er das überlieferte Denken nicht mit verschiedenen Korrektiven zu sanieren versucht, sondern alles auf den „anderen Anfang" legt. Der zweite Grund, der für die praktische Philosophie von besonders großer Tragweite ist, liegt darin, dass das „neue Denken" mit dem traditionellen nicht kollidiert, da es sich auf einer durchwegs anderen Ebene bewegt. Der Vorwurf Tugenhats, dass Heideggers Wahrheitsbegriff den spezifischen Sinn der Wahrheit verfehlte, weil er nicht das Richtige vom Falschen zu unterscheiden fähig war, ist bekannt. Es trifft zwar zu, dass Aletheia einen derartigen Maßstab nicht gewährleistet, aber Heidegger untersucht das Problem der Wahrheit gar nicht in diesem Sinne. Er beschäftigt sich nicht mit den Korrespondenz-, Konsens- und Kohärenztheorien der Wahrheit, sondern er fragt nach dem Wesen der Wahrheit. Dieses Wahrheitsverständnis bewegt sich nicht auf gleicher Ebene wie die erwähnten Theorien, konkurriert nicht mit diesen und versucht diese auch nicht aufzuheben. Dasselbe gilt auch für die Ethik. Wie S. Bacca betonte, ist auch Heideggers Kritik an der praktischen Philosophie nicht banale Gegnerschaft. Die ursprüngli- che Ethik steht mit den traditionellen Ethiken „in dem selben Verhältnis"6 wie sein alethiologischer Wahrheitsbegriff mit den traditionellen Theorien der Wahrheit. Dies bedeutet nicht, dass Heidegger die traditionelle Ethik verwirft, sonders „dass diese ihren Grund erst aus der ursprünglichen Ethik erhält." 7 Obwohl Heideggers Entwurf weit über das traditionelle Denken hinausgeht, folgt daraus nicht zwangsläufig die Verbannung jeglicher traditioneller Kategorien. Zugleich erschließt er aber den Horizont, in welchem eine Handlung für den Handelnden erst ihre Bedeutung erhält. Das ist die ontologische Einordnung des Mensches in die Welt. In Sein und Zeit betont Heidegger, dass das Da-sein Inder-Welt-sein bedeutet, was eine ursprünglichere Bestimmung des Menschen als das „Denken" oder das „Wollen" ist, die erst aus der Position des In-der-Welt-sein verstanden werden können. In den Schriften, die Sein und Zeit folgten, begegnet man dem Existential In-der-Welt-sein nicht mehr, das nun als Eingebundenheit des Menschen im vorgegebenen Bedeutungshorizont artikuliert wird. In diesem Zusammenhang kommt dem Phänomen der Offenheit besondere Bedeutung zu, die Heidegger als Freiheit bezeichnet, wobei diese klar vom klassischen Freiheitsbegriff (facultas elegendi) zu unterscheiden ist. Heidegger versteht die Freiheit als etwas, wodurch jede Erfahrung wie auch die (freie) Entscheidung erst ermöglicht werden, als den Ort, in welchem der Mensch ontologisch überhaupt irgendetwas begegnen kann, und zwar nicht als einen neutralen (naturwissenschaftlichen) Raum, sondern als lebendige Entschlossenheit. Nur weil sich der Mensch an diesem Ort befindet, kann er sich auch praktisch orientieren8 und seine Handlungen als die seinigen begreifen. Wie bereits erwähnt, behandelt dieser Artikel das Problem des Verantwortlichkeitstransfers im Zusammenhang mit der Humanitätsfrage, und wie bereits postuliert, stellt die individuelle Verantwortlichkeit ein notwendiges Element eines jeden Humanitätskonzepts dar. Selbstverständlich darf diese Konzeption nicht zum einzigen9 Inhalt erklärt werden, durch den die Humanität begründet wäre, da in diesem Fall einige Gruppen, z.B. Geisteskranke, ausgeschlossen wä- 6 Luis Santiesteban Baca, Die Ethik des „anderen Anfangs " — zu einer Problemstellung von Heideggers Zeitdenken, Ergon Verlag, Würzburg 2000, S. 226. 7 Ebd. 8 Dieses Sich-Orientieren reicht weit über das Erkenntnisvermögen des Subjekts und der Vernunft hinaus. Denn Stimmungen z.B. können einen viel reicheren Bedeutungshorizont erschließen als die zwischen dem Subjekt und dem Objekt gefangene Vernunft. (Siehe auch: Janko Lozar, Posluh za izročilo. Na poti k razpoloženju, Phainomena. XII/43—44, 2003, S. 151—174.) 9 Dieser Beitrag möchte nicht alle Fragen der Humanitätsfrage diskutieren, sondern es sollen nur die Beziehungen erarbeitet werden, die zwischen dem Verantwortlichkeitstransfer und der Humanitätsfrage bestehen. ren. Man könnte jedoch nur schwer verneinen, dass die Menschenwürde verletzt wird, wenn eine öffentliche Institution einem mündigen Menschen a priori seine Handlungen, für die er sich entschieden hat, aberkennen würde. Selbst im Fall, wenn ihm das zugute käme. Der Mensch bleibt, in gewissem Maß, das handelnde Subjekt: „Für die Rückkehr des Menschen zum eigenen Da-sein ist nicht (...) das Negieren seiner selbst als Subjekt notwendig, sondern nur die Distanzierung von der Absolutisierung des Subjekts."10 Nur das Beharren auf der freien und rationalen Subjektivität ermöglicht den Einstieg in den Horizont des verantwortlichen Handelns. Denn wenn dem nicht so wäre, würde der Mensch ein amoralisches Wesen bleiben, und zwar nicht jenseits, sondern vielmehr diesseits des Guten/Rechtmäßigen und Bösen/Rechtswidrigen - wie ein unmündiges Kind. Aus diesem Grund kann der Verantwortlichkeitstransfer, metaphorisch ausgedrückt, als ein Prozess der Infantilisierung, d.h. der Ver-Kindlichung, eines mündigen Menschen angesehen werden. Die Auflösung der Verantwortlichkeit des Einzelnen bedeutet nicht einen Abschied von der Verantwortlichkeit als solche, sondern nur die Übertragung dieser auf ein anderes Subjekt. Dem Prozess der Infantilisierung entspricht, auf anderer Seite, der Prozess der Paternalisierung: d.h. die Schaffung einer „elterlichen" Position, wohin die dem einzelnen Menschen genommene Verantwortung abgelegt wird. Diese Rolle ist dem „Staat" zugekommen. Der Staatsbegriff wird inkonsequent verwendet. Es handelt sich eher um eine unklare Erbschaft der (post)marxistischen Kritik an einer ungerechten Gesellschaftsordnung. Mit dem Ausdruck „der Staat" kann entweder eine konkrete (politische, wirtschaftliche etc.) Ordnung bezeichnet werden, der die Legitimität aberkannt wird, oder „der Staat" kann auch wortwörtlich verstanden werden, wenn die Kritik in der anarchistischen Radikalität wurzelt. Auf jeden Fall impliziert der Staatsbegriff aber einen defekten Modus des Soziallebens. Das Prädikat dieser Defektivität ermöglicht gemeinsam mit der soziologischen Lehre von der sozialen Bedingtheit des Mensches den behandelten Verantwortlichkeitstransfer: Da jeder Einzelne durch das Gesellschaftliche wesentlich determiniert ist, macht diese Defektivität zwangsläufig eine optimale Lebensführung unmöglich. Somit wird der „Staat" zu einer Entität, in der stets die Ursache für die moralische, rechtliche und soziale Pathologie des Individuums zu finden ist. 10 Tine Hribar, Pustiti biti — kriza evropskega nihilizma, Založba Obzorja, Maribor 1994, S. 28. Zu Beginn wurde der Verantwortlichkeitstransfer als eine der größten Herausforderungen für die zeitgenössische Humanitätsfrage bezeichnet. Obwohl man an dieser Stelle verschiedene postmoderne Autoren anführen könnte, die sowohl die Voraussetzungen als auch das Verantwortlichkeitskonzept selbst infrage stellen, fände man aber nur schwer eine derart radikale Auflösung der individuellen Verantwortlichkeit, wie man sie in den kürzlich gehaltenen öffentlichen Diskussionen über einige aktuelle Probleme findet. Deswegen ragen vor allem die Straf-und Sozialpolitik heraus. Erstere, weil sie das Sanktionieren der obersten ethischen Regeln (z.B. Mordverbot) betrifft, bei denen jegliche Relativisierung und folglich der Transfer der Verantwortlichkeit des Täters besonderes delikat ist. Die zweite indes deswegen, weil die Sozialpolitik angesichts der letzten Ereignisse zu einem Ort geworden ist, in dem der Verantwortlichkeitstransfer in radikalster Weise durchgeführt wird. iii. Zunächst zur Strafpolitik. Obwohl das Recht und die Moral als zwei voneinander getrennte Regelsysteme existieren, beinhaltet das Strafrecht die wichtigsten moralischen Regeln - wie z.B. das Mordverbot, das Verbot der Körperverletzung usw. Aus diesem Grund handelt es sich beim Sanktionieren von Vergehen gegen derartige Verbote unausweichlich (auch) um die Moral betreffende Phänomene. Obwohl davon ausgegangen werden kann, dass jeder Mensch zur Befolgung solcher Verbote imstande ist, weisen soziologische Studien darauf hin, dass die Kriminalität in gewissem Maß durch die sozialen Verhältnisse in der Gesellschaft bedingt wird. Diese Erkenntnis kann als willkommene Ergänzung zur staatlichen Strafpolitik auf Ebene der Prävention fungieren. Wird aber dieser empirische Ansatz zur einzigen Betrachtungsweise, führt dies unvermeidlich zum Verantwortlichkeitstransfer. Die Strafproblematik wird von der Ebene der freien Entscheidung auf die Ebene der sozialen Bedingtheit des Individuums verlagert - die Empirie ersetzt die Moral. Da eine Handlung eines Täters wesentlich durch die gesellschaftlichen Verhältnisse determiniert ist, ist er somit in erster Linie (passives) Opfer und nicht (aktiver) Täter. Dies bedeutet, dass der Täter eher ein missbrauchtes Werkzeug in den Händen einer kranken Gesellschaft denn ein Akteur einer Handlung ist, von der er weiß, das sie verboten ist, sie aber trotzdem begeht. Daraus folgt der Schluss, dass ein Täter resozialisiert statt bestraft werden soll. Die Sanktionen werden nicht mehr als Vergeltung, sondern als Erziehungs-, Aus-bildungs- und Besserungsmaßnahmen verstanden. Ziel dieser Maßnahmen ist es, auf den Täter derart einzuwirken, dass er imstande ist, die sozialen Regeln zu befolgen. Dahinter steht die stille Voraussetzung, dass der Handelnde als jemand 175 angesehen wird, der nicht fähig ist, die grundlegenden moralischen Normen zu respektieren. Diese unausgesprochene These steckt hinter der gefälligen These Hilfe statt Rache,ii Mitleid statt Hass. Angesichts der Humanitätsfrage meine ich, dass es unzulässig ist, die Handlungskompetenz des Einzelnen so zu schwächen, dass dieser nicht mehr imstande ist, die grundlegendsten moralischen Regeln zu respektieren/2 Indes ist es natürlich zulässig, dass infolge bestimmter physischer oder psychischer Umstände dem Täter nicht immer die Verantwortlichkeit zugeschrieben werden kann - was aber die Frage der Zurechnungsfähigkeit betrifft. Etwas ganz anderes indes ist, in das Konzept der strafrechtlichen Verantwortlichkeit das Element der Verantwortungsunfähigkeit einzubringen, auch wenn jemand von der ungerechteni3 Gesellschaftsordnung zutiefst überzeugt ist. Das zweite Beispiel des Verantwortlichkeitstransfers kann auf dem Gebiet der Sozialpolitik gefunden werden. Vor zwei Jahren erschütterten Demonstrationen 11 Diese Alternative ist unangemessen. Schon Kant, der als theoretischer Urheber des retributivistischen Strafmodells gilt, machte in seiner Tugendlehre darauf aufmerksam, dass eine Strafe nie aus Hass verhängt werden darf. 12 Neben der Strittigkeit der Voraussetzung, dass der Handelnde nicht verantwortungsfähig ist, bleibt angesichts der Humanitätsfrage auch das Konzept der Sozialisation selbst fraglich. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, dass der Einzug des pragmatischen Arguments in das Gebiet der Strafpolitik vorteilhaft ist. Denn es steht in Aussicht, sich vom starren Beharren zu trennen, dass die Pflicht zur Bestrafung Sache der abstrakten Moral ist. Dabei wird aber vergessen, dass das Konzept der Resozialisierung ohne einen moralischen Referenzrahmen zahlreiche Schwierigkeiten in sich birgt. Denn ist der Hauptzweck die Resozialisierung, so gäbe es z.B. keinen Grund mehr, die grausamsten Verbrechen zu sanktionieren, wenn der Täter in der Zeit bis zu seiner späten Verhaftung ein tadelloses Leben geführt hat. Dem gegenüber ermöglicht dieses Konzept auch unverhältnismäßig schwere und ungerechte Strafen: Wären alle Maßnahmen auf die Prävention von Straftaten gerichtet und würde man der Resozialisierung geringe Erfolgschancen einräumen, so schienen auch für Bagatelldelikte extrem lange Freiheitsstrafen gerechtfertigt. Mehr noch, es bestünde auch kein Hinderungsgrund mehr dafür (im engeren Sinn dieses Konzepts), Präventivsanktionen zu verhängen, wenn z.B. eine Person Spuren asozialen Verhaltens und ein hohes kriminelles Potential aufweisen würde. Man sieht, dass eine Rhetorik, die auf der Auseinandersetzung mit der Vergeltungstheorie als bloße Rachelegitimation baut, nicht selbstredend milde Sanktionen und den Vergebungsgedanken impliziert. Es hat den Anschein, dass die moralische Dimension in der Strafpolitik unabdingbar bleibt. 13 Nach der marxistischen Kritik ist das Recht in seiner Gesamtheit (gemeinsam mit dem übrigen Überbau) ein Klassenprodukt, durch das auch seine Illegitimität und Ideologität begründet wird. Gegen diese These spricht die Erkenntnis, dass in allen Kulturen, seien sie noch so verschieden, etwas wie Strafrecht zu finden ist und sich auch die zu ahndenden Straftaten überraschend ähneln. So macht O. Höffe auf Folgendes aufmerksam: „Die heute üblichen Klassen der Delikte (Strafrechtnormen) finden wir aber so gut wie in allen Kulturen: Tötungsdelikte, Eigentumsdelikte, strafbare Handlungen gegen die Ehre, Sexualdelikte, Brandstiftung, Maß-, Gewicht-, und Geldfälschungen, Urkundefälschung (bzw. Grenzsteinversetzung)." (Otfried Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, Suhrkamp, Frankfurt/M. i999, S. 67.) in französischen Vorstädten ganz Europa. Das Ausmaß und die Dauer der Ausschreitungen können mit keinem anderen Ereignis im Nachkriegseuropa verglichen werden. Die Vorfälle lösten unverzüglich eine Reihe von Spekulationen unter der kritischen Öffentlichkeit aus, die dieses Phänomen zu beschreiben und zu erklären versuchte. Wahrscheinlich waren die Demonstrationsteilnehmer noch nie so radikal aus der Diskussion wie in diesen Erklärungsversuchen ausgeschlossen. Lässt man die populistischen und beleidigenden Äußerungen einiger Politikern bei Seite, kommt man zum Schluss, dass diese Diskussionen durchwegs im Verantwortlichkeitstransfer gefangen waren, wobei ausschließlich „der Staat" für die eskalierte Situation verantwortlich gemacht wurde. Die meisten Kritiker führten ein Staatskonzept ins Feld, nach dem der Staat nicht weniger als omnipotente Ursache für alle sozialen Phänomene fungiert, wobei die Diskussion mit diesem Standpunkt sowohl begann als auch endete. Lässt man zu, dass eine totalitäre Begründung ins Feld geführt wird, so beinhaltet diese somit ausreichend Deutungspotenzial, mit dem alles a priori erklärt werden kann. Dies hat zur Folge, dass keine anderen möglichen Ursachen des Ereignisses diskutiert werden können. Selbst bei einem wissenschaftlichen Symposium/4 das von der Abteilung für Soziologie an der Philosophischen Fakultät in Ljubljana organisiert wurde und an dem zahlreiche namhafte Soziologen teilnahmen, ließ die Diskussion keine anderen Gründe zu, nicht einmal auf Ebene der „Bedingungen der Möglichkeiten". Die staatliche Politik stellt mit Sicherheit einen überaus bedeutenden Faktor dar, der zur Lösung solcher Probleme beitragen kann. Dem Verständnis, die staatliche Politik als alleinigen Grund für alle sozialen Phänomene zu sehen, widersetzt sich jedoch der Grundgedanke der Demokratie als solchen - die Demokratie als eine Gesellschaftsordnung, die - auf welchem Gebiet auch immer -unvereinbar mit dem Konzept der totalitären Politik ist. Soll der Mensch als verantwortungsvolles und würdevolles Wesen betrachten werden, muss ihm eingeräumt werden, dass er sein Schicksal zumindest mitbestimmen kann. Deswegen ist es in diesem Fall unabdingbar, eine Reihe von Fragen zuzulassen, die auch die Teilnehmer der Demonstrationen betreffen -Fragen/5 durch die erörtern werden soll, in welchem Ausmaß die Teilnehmer zur eigenen Situation beigetragen haben. Es darf sogar vermutet werden, dass das staatliche Monopol über die Verantwortlichkeit zur Vertiefung und Verbreitung 14 Das Symposium wurde am 24. ii. 2005 an der Philosophischen Fakultät in Ljubljana abgehalten. 15 So könnte z.B. die Frage gestellt werden, ob sich die Demonstranten den Ausbildungsprozess im selben Umfang wie die übrigen Bürger zunutze gemacht haben. 178 der Krise beiträgt, da dieses Monopol ein gefährliches und sich schnell verbreitendes Denkinstrument bietet, das die Exculpation jeglicher Verantwortlichkeit ermöglicht. IV. Obwohl der Versuch der Aufhebung des Subjekts in allen seinen Aspekten als postmodern gilt, tragen derartige Versuche überraschenderweise auch einige vormoderne Züge, die sich am offensichtlichsten bei Handlungsproblemen zeigen. Man könnte sogar von einer Integration religiöser Elemente in die zeitgenössische politische Moral reden. Aufschlussreich ist z.B. die Abneigung gegen die Vergeltungstheorie, die durch die postmoderne Resozialisierungstheorie ersetzt wurde, was die Nähe zu den christlichen Werten der Vergebung und des Beistands dem Sünder verrät. Für den vorliegenden Beitrag ist aber die Hauptvoraussetzung für den Verantwortlichkeitstransfer von Interesse: die Unfähigkeit, sich grundlegenden moralischen Regeln zu unterwerfen. Dadurch wird die Vorstellung der Aufklärung von einem autonomen Menschen negiert und durch die (metaphorisch ausgedrückt) Lehre von einer von außen verdorbenen menschlichen Natur ersetzt. Wenn das Christentum auf der Verantwortlichkeit des Menschen beharrt, obwohl seine Entscheidungsfähigkeit eingeschränkt ist (A. Augustinus sagte, dass der Mensch nur noch die Freiheit für das Böse besitzt), so stellt der Verantwortlichkeitstransfer die Verantwortlichkeit selbst in Frage. Wird neben den Menschen eine alles bestimmende Entität (Gott oder „der Staat") eingeführt, wodurch der Mensch ohne Möglichkeiten für seine eigene Welt bleibt, so handelt es sich im praktisch-philosophischen Sinn um ein vormodernes Konzept. Man könnte auch von einem Transfer des Prädikats der Omni-potenz Gottes auf den Staat sprechen. Ein so geprägter Staatsbegriff schließt jede Bedeutungsautonomie der sozialen Phänomene aus und die Verantwortlichkeit eines derartigen Staates wird allumfassend, was bedeutet, dass kein moralisches Phänomen existiert, das außerhalb dieses Rahmens bestehen würde. Es handelt sich um eine interessante Perversion des Gedankens von Emanuel Levinas, und zwar des Gedankens über die absolute Verantwortlichkeit für den Anderen mit folgendem Unterschied: Die Erfahrung der Verantwortlichkeit verpflichtet nicht den Erfahrenden, sondern den Dritten, d.h. den Staat, der für den Bürger und auch für dessen Unverantwortlichkeit die absolute Verantwortung trägt. Dieser Staatsbegriff fungiert auf aitiologischer Ebene als einzige Ursache für alle sozialen Phänomene, auf Ebene der Moral aber als Deponie für jegliche Verantwortlichkeit des Individuums. Die Achtung der Humanität des Menschen ist demzufolge nur durch die Auseinandersetzung mit totalitären Elementen in der (politischen) Moral und durch die Rehabilitation der individuellen Verantwortlichkeit möglich. Denn der Mensch ist u.a. ein Wesen, das durchaus fähig ist, richtige und falsche Entscheidungen zu treffen. 179 Jesús Adrián Escudero DAS PHÄNOMEN DER „GLOKALiSiERUNG". Globalisierung und Identität in der vernetzten Gesellschaft Die Revolution der Technologien der Information und die Redefinierung des 181 Kapitalismus bilden eine neue Gesellschaft: die vernetzte Gesellschaft (net-society). Diese Gesellschaft charakterisiert sich hauptsächlich durch die zunehmende Globalisierung der ökonomischen Sphäre, eine flexible Organisation der Arbeit und eine von den Mass-Media stark abhängige Kultur. Dieses neue soziale Organisationssystem entfaltet sich planeterisch, in dem es Institutionen wechselt, Kulturen transformiert und technologische Innovationen mit sich bringt. Aber dieses System veranlasst nicht nur Reichtum und neue Erkenntnisse sondern auch Armut und eine zunehmende Differenzierung zwischen sozialen Schichten.1 Doch trotz der steigenden Verbreitung der technologischen und ökonomischen Globalisierung verbreitet sich gleichzeitig eine kraftvolle Vielfältigkeit von kollektiven Identitätsbewegungen in Namen des Multikulturalismus, des Nationalismus, des Integrismus oder des Feminismus. Anders gesagt, ethnische, linguistische, nationalistische, religöse oder sexuelle Identitätsbewegungen leisten der Globalisierung Widerstand.2 1 Siehe Joseph Stiglitz, El malestar de la globalizacion, Taurus, Madrid 2002. 2 Siehe dazu die zwei umfangreiche und stark dokumentierte Bände von Manuel Castells, The Information Age. Economy, Society and Culture (Volume 1: The Rise of the Network Society and Volume 2: The Power of Identity), Blackwell Publishers, Cambridge 1997. Und in Manuel Castells, „Globalisation and Identity. A Comparative Perspective", Transfer, Journal of Contemporary Culture 1 (2006), S. 56—66 kann man eine kurze Zusammenfassung seiner Hauptargumente finden. Man versucht auf vrschiedenen Weisen die kulturelle Einzigartigkeit und die Individualität der einzelnen Personen aufzubewahren. In diesem Sinn, kennzeichnen wir das Phänomen, in dem sich die globale Dimension mit der lokalen verbindet, mit dem Begriff „Glokalisierung". Auf der einen Seite sehen wir wie sich die technologische und ökonomische Zwecksrationalität überall verbreitet. Aber auf der anderen Seite stehen wir vor verschiedenen Identitätsmanifestationen, die die geistliche Nivellierung und die soziale Homogenisierung nicht einfach akzeptieren. Dies erklärt, zum Teil, ihre Widerstandsraft wie es folgende Beispiele zeigen: die aufbewahrende Kulturpolitik Frankreichs, die Diskussionen im Rahmen der Gender Studies über eine Redefinierung der Geschlechterverhältnisse, die allmähliche Expansition des ökologischen Bewusstseins, die Verteidigung der religiösen Spezifizität im Islambereich oder die Anerkennung sprachlicher Rechte (wie in Baskenland, Katolonien oder Quebec). Internet und die durch ihre veranlasste Kommunikationsmöglichkeiten spielt in diesem Kontext natürlich eine wichtige Rolle, sowohl für die Kritik der offizielen Öffentlichkeit als auch für die Artikulation der jeweiligen politischen, religiösen, ethnischen oder ästhetischen Alternativen. 182 Anhand dieser neuen „glokalen" Wirklichkeit stellen wir verschiedene Formen der Rekonstruktion der kollektiven Identität zur philosophischen und soziologischen Diskussion dar. Im Rahmen dieser Debatte wollen wir zwei Themen im Blick nehmen. 1) Einerseits bieten wir eine skizzhafte Analyse der Hauptch-arakteristika des Phänomens der Globalisierung und 2) andererseits schildern wir drei verschiedene Rekonstruktionsmöglichkeiten der Identität. Im ersten Fall konzentrieren wir uns auf die wichtigsten Merkmale des globalen Wirtschaftsparadigma, besonders auf dessen Konsequenzen in der Struktur des Arbeitmarktes. Im zweiten Fall werden die Bewegungen des Feminismus, des Multikulturalismus und des Ökologismus als verschiedene Identitätsbeispiele in Anspruch genommen. I. unterscheidungsmerkmale der Globalisierung In den letzten zwanzig Jahren hat sich ein neues Wirtschaftsmodell festgesetzt, dass auf spezifische technologischen Kenntnissen und auf einem internationalen Markt beruht. Die Produktion wird nicht mehr von den einzelnen Staaten kontrolliert, sondern hängt immer mehr von einem globalen Produktions- und Konsumnetz so wie von einem transnationalen Kapital- und Warenverkehr ab. Aber die Globalisierung, trotz ihrer Kritiker und Verteidiger, ist eine Tat, ein Faktum, das uns direkt und tief betrifft, das teilweise ausser unser Kontrolle liegt, das ihre innere Dynamik hat.3 Wir stehen also vor neuen Situationen, zum grossen Teil unbekant, die von uns eine Antwort verlangen. Die Globalisierung bringt mit sich neue Risikosituationen (Klimawechsel, Verwüstung, Rohstoffmangel ...), die sich planetarisch verbreiten, egal wo man lebt, egal ob man reich oder arm ist. Die Globalisierung provoziert auch eine Redefinition der Familie, der Sexualität und der interpersonalen Beziehungen. Sie hat auch einen grossen Einfluss auf die kulturellen und religiösen Traditionen, wie es der Aufstieg von ethnischen Identitäten, Fundamentalismus und Nationalismus zeigen, die sich gegen die ökonomische und kulturelle Kolonisation währen. Und zuletzt leuchtet es auch ein, dass die Globalisierung zu einer Reformulierung der Staatsnationen führt. Die Staaten gehorchen immer mehr der Logik einer transnationalen Wirtschaft. Oder, wie ese Foucault ausdrücken würden, sie stehen unter dem Druck von polimorphen, anonymen und vielfältigen übernationalen Machtstrukturen. Doch wir wollen kurz auf den Einfluss eingehen, die die Globalisierung mit Hilfe von Internet auf die neue Wirtschaft hat. Es handelt sich nämlich um die Art und die Weise wie die neue Wirtschaft mit und durch Internet ihre Aktivität organisiert. Wir stehen vor einem ganz neuen Organisationsmodell der Unternehmen. Man spricht häufig vom elektronischen Kommerz B2C (Busines to Consumer). Doch dies bestimmt nur den 20 % der Transaktionen. Der restliche 80 % der Operationen verläuft zwischen den Unternehmen selbst in der Formel B2B (Business to Business). D. h. die ganze Arbeit eines Unternehmens und die Beziehungen und Kontakte mit anderen Unternehmen realisiert sich hauptsächlich durch Internet.4 ZARA, eine grosse Kleidungsmultinationale wie Benetton Colours, Lacoste oder Gucci, ist ein prototypisches Beispiel dieser neuen Verkauf- und Produktionsorganisation. ZARA, dass über 1 Billion Euros jährlich bewegt und mehr als 2000 Geschäfte in der ganzen Welt hat, funktioniert online. Die Anzahl der verkauften Produkte wird täglich on-line zur Zentral übermittelt. Man hat also sofort eine genaue Stadistik der täglich meist verkauften Produktes und der Kauftendenzen der Kunden, so dass man sich sehr schnell auf die Konsumbedürfnisse adaptieren kann. Im Hintergrund dieses neuen Organisationsmodells liegt ein tiefer Wechsel der Unternehmungstruktur: die klassische pyramidale Struktur, die man auch mit dem Fordismus identifiziert, verliert Gewicht gegenüber den flexiblen und netzorganisierten Sturkturen, die schnell auf die ständigen Markfluktuationen reagieren können. Dieser Modelwechsel hat natürlich verschiedene Folgen, wie die Segmentierung der Arbeitskraft, der globale Wechsel der Wahren und eine fast 3 Siehe dazu das interessante Buch von Anthony Giddens, Runaway World, Profile Books, London 1999. 4 Siehe dazu Manuel Castells, „E-business and the New Economy", in ders., The Internet Galaxy: Reflections on Internet, Business and Society, Oxford University Press, Oxford, 2001, S. 77ss. 183 184 anonyme Konzentration von Kapital. Die Reichweite dieses Paradigmawechsels lässt sich anhand der Gegenüberstellung von dem klassischen und dem gegenwärtigen Arbeitsmodell darstellen. Wie Richard Sennett zeigt, beruht das klassische Modell auf der Routine während sich das gegenwärtige Modell nach Flexibilität orientiert.5 Was unterscheidet nun diese zwei Modelle? Welche soziale Typologie enthält jeder dieser Modelle? 1. Hinter dem klassichen Arbeitsmodell finden wir normalerweise ein stabiles und arbeitständiges Ehepaar, wo der Mann das Geld gewinnt und die Frau für die Hausarbeit und die Pflege der Familie verantwortlich ist. In diesem Sinn bewegt sich das Leben des Ehepaars in Rahmen einer linearen und homogenen Zeitauffassung, wo die Möglichkeiten ihrer Existenz relativ klar definiert sind (wie, zum Beispiel, der Kauf einer neuen Wohnung, das Anschaffen eines neuen Autos, die Plannung der Ferien, die Sparsamkeit in Hinblick auf die Pension, die Studiumfinanzierung ihrer Kinder, usw.). Wir stehen vor einer Arbeitseinteilung, die prinzipiell auf die Routine beruht. Die tägliche Wiederholung derselben Arbeitstätigkeit und die strikte Arbeitsteilung ermöglicht, wie schon Diderot sah, eine höhere Produktion, dank der steigenden Spezialisierung der Arbeiter. Denken wir kurz an der Herstellung einer Kutsche in einer französischen Manufaktur des 18. Jahrhunderts oder an den heutigen Arbeitsketten der Sportwahren- und Autoproduktion. 2. Im Fall des aktuellen Arbeitsmodell haben wir es mit dem folgenden sozialen Prototyp zu tun, nämlich die Töchter und Söhne des klassischen Ehepaars, die meistens durch Hochschul- bzw. Universitätsstudium die jeweilige Position verbessert haben (z. B. Ärzt/in, Ingenieure, Informatiker/innen, Rechstanwalt/ innen____). Doch sie stehen vor einer hohen Arbeitsinstabilität, die emotionale Konsequenzen mit sich bringt: von Identitäts- und Ehekrisen, Misstrauen zu den Anderen bis soziale Einsamkeit und gemeinschaftliche Entwurzelung. Die Arbeit und der Arbeitsmarkt stützen sich auf der Flexibilität. Die Arbeitskraft ist also kontingent und wechselnd, man hat schnelle Gewinnerwartungen im Horizont (wie zum Beispiel die Börsespekulation), d. h. die grosse pyramidal strukturierte Firmen (wie Ford oder IBM) lassen den netzorganisierten Unternehmungen den Vorrang. In diesem neuen Kontext gewinnt die Information eine Hauptrolle als Motor der Entwicklung. Die für die technologische Entwicklung benötigte Information ist jetzt die wichtigste Ware, nicht so sehr die Arbeitskraft. Zum Beispiel, 80% der Herstellungskosten eines Computers werden in Software angelegt ge- 5 Siehe Richard Sennett, The Corrosion of Caracter. The Personal Consequences of Work in the New Capitalism, Norton & Company, New York, 1998. gen den restlichen 20 % in Hardware. Ähnliche Beispiele finden wir in der Herstellung von Telephone, Fernseher, Stereoanlagen, Elektrogeräte, Autos, usw. Die rasend und atemberaubende Entwicklung der Technologien modifiziert ständig die Produkte, die massiv von den Konsumenten gekauft werden. Das zwingt den Firmen zu einer konstanten Anpassung und Erneurung. In anderen Worten, die Firmen müssen sehr flexibel sein, falls sie nicht von der Konkurrenz verschlingen werden wollen. Doch was veranlasst die Einführung dieses Flexibilitätskriterium? Ein dezentralisiertes und netzorganisiertes Unternehmen passt sich besser und schneller als ein hierarchisches an den konstanten Wechseln des Marktes. Denken wir, zum Beispiel, an der einfachen Reprogrammierung der Industriemaschinen, an den vielfältigen Kommunikations-möglichkeiten, die einen unmittelbaren Zugang zur Information und eine flexible und personalisierte Einteilung der Arbeitszeit (Büroarbeit, Fernarbeit, Teilarbeit) erlauben. Gerade die steigernde Einführung der flexiblen Arbeitszeit hat die Eintritt der Frauen in den Arbeitsmarkt stark stimuliert, vor allem im Bereich von: Manufaktur (Fleisch-, Fisch- oder Obstkonserve, Arbeitsketten in der Montage von elektronischen und mechanischen Teilen in der Automobil- oder Informatikindustrie, usw.) und Dienstzweig (Verwaltungs-, Verkauf-, Hausdienst, usw.). Natürlich existiert noch eine Diskrimination der Frauen bezüglich des Gehalts, der Arbeitschancen, der Promotion und der beruflichen Anerkennung. In diesem Kontext kann man die verschiedene feministische Bewegungen einordnen. Die neuen Technologien bieten nun unvorstellbare Identitäts- und Rechtszurückforderungen für die Frauen. ii. Die Frauen und die neue Gesellschaft der information 185 Die allmähliche Enführung der Frauen im Arbeitsmarkt hat eine progressive Entkräftung des patriarchalen Modells mit sich gebracht. Während den letzten Dekaden stehen wir vor Stadistiken, die die männliche Herrschaft in Frage stellen. Die Scheidungsziffern, die Single-Wohnungen, das Zusammenleben jenseits des traditionellen Familienparadigmas und die Aufenthaltsverlängerung bei den Eltern sind weitere Faktoren dieser Krise, in der folgende Prozesse streng verbunden sind: Der Eingang der Frauen im Arbeitsmarkt, die Krise des traditionellen Familienparadigmas und die Verbreitung der feministischen Bewegungen. 1. Der Eingang der Frauen im Arbeitsmarkt. Die Transformation der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes, so wie die generalisierende Verbreitung der Erziehungsmöglichkeiten der Frauen, bietet ihnen - trotz der ökonomischen Ungleichhei- 186 ten und beruflichen Diskrimination - einen massiven Arbeitszugang, in einer wirtschaftlichen Wirklichkeit, die die Kommunikationsfähigkeiten und die bessere Adapation der Frauen am flexiblen Markt sehr hoch schätzen. Das Einkommen der Frauen ist in der heutigen Lage sehr wichtig, wenn nicht unvermeidlich für die ökonomische Haushaltung. Das verstärkt ihre Verhandlungsmacht gegenüber den Männern, d. h. die Frauen gewinnen einen grösseren Freiheits- und Entscheidungsraum. 2. Krise despatriarchalen Familienmodells. In den neunziger Jahren gibt es mehrere stadistischen Daten dieser Krise, wie eine beachtenswerte Zunahme der Scheidungsrate: 30 % in Deutschland, 38 % in Kanada, 49 % in Dänemark und 54 % in den Vereinigten Staaten. Die Rekombination von Familien, wo geschiedene Männer mit Frauen und deren Kinder zusammeneleben, ist auch im Steigen begriffen. Man kann auch die Bildung von Single-Wohnung in den Grosstädten als Indiz dieser Krise des klassischen Familienmodells in verschiedenen Zonen nachverfolgen: in Nordamerika rund 25-30 % von Single-Wohnungen, 25 % in Skandinavien, i2-i5 % in Mitteleuropa und i0 % in Südeuropa. Hier spürt man einen drastischen Rückgang der verheirateten Ehepaare mit Kindern. In den Vereinigten Staaten, zum Beispiel, registrierte man in i960 44 % dieser Ehepaare; in i990 nur noch 26 %. In i960 nur ein 4 % der Männer und ein 8 % der Frauen lebten allein; in i990 schon ein 26 % der Männer und ein i5 % der Frauen. Dazu hat sich das Zusammenleben ohne zu heiraten auch sehr verbreitet. Die Ehepaarbildung verzögert sich auch (entweder wegen Studiummotiven oder Arbeitslosigkeit). Diese kurz skizzierten statistischen Tendenzen zielen auf die Entkräftung des klassischen Familienmodells. 3. Feministische Bewegungen. Die Zerstreung der feministischen Bewegungen ab den sechziger Jahren erzeugte ein neues Sozialbewußtsein und öffnete die Türen zur einer Redefinition der Geschlechtsverhältnisse. In diesem Sinn kann man den Feminismus als einen Kompromiss verstehen, der sowohl mit der männlichen Herrschaft beenden will als auch die Identität und Rechte der Frauen redefinieren möchte (wie, zum Beispiel, Arbeits-, Scheidungs-, Abtreibungsrechte oder sexuelle Freiheit). Das sind weitere Elemente, die die ofiziell vorgeschriebene Heterosexualität, die sexuelle Unterdrückung und die asymetrische Beziehungen der Geschlechtern in Frage stellen. Diese Krise der männlichen Legitimität erweckt auch die Redefinition der Persönlichkeitstrukturen. Eine neue soziale Atmosphäre, in der Ehe, Familie und Sexualität getrennt auftauchen können, erleichtert die Erscheinung flexibler Persönlichkeiten in einer postpatriarchalen Welt. III. Ökologische Bewegung In den letzten zwanzig Jahren ist das ökologische Bewußtsein stark gestiegen. Politische Parteien und internationale Firmen, Fernseh- und Erziehungsprogramme, Gemeinschafts- und Bürgerbewegungen kümmern sich in verschiedener Art und Weise um ökologische Themen. Trotz allem, die meisten Problemen unserer Umwelt bleiben ohne eine Lösung, da man die Produktion- und Konsumtendenzen des Kapitalismus nicht so einfach aufheben kann. Ausserdem darf man die Kakophonie der ökologischen Stimmen nicht vergessen. Man spricht von Umweltbewußtsein, Ökologismus, Ökofeminismus, Greenpeace, Die Grünen, die Gegenkultur, wobei jeder einen bestimmten Gegner im Kopf hat (wie Tech-nokratie, Patriarchat, politischer Establishment, technologisch unkontrollierter Fortschritt) und auch andere Ziele such: Ökoutopie, Aufbewahrung der Natur, Verbesserung der Lebensqualität oder eine haltbare Produktion. Die erste Frage, die sofort auftritt, ist: Wie transformiert sich der Ökologismus anfang der siebziger Jahren in einer Massenbewegung, die sich weltweit verbreitet? Zuerst ist es klar, dass man die ökologische Bewegungen mit Technik und Wissenschaft in Verbindung setzen muss. Die Verbindung mit Wissenschaft und Technik ist stark, aber auch ambivalent. Zum einen vertsteht man Ökologismus als eine Gegenbewegung und Kritik der durch die Wissenschaft veranlasste Zerstörung der Umwelt und des menschlichen Lebens (wie, zum Beispiel, im Fall des Umweltschmutzes, der sozial-ökonomischen Ungleichheiten, der Polarisierung des Reichtums oder der militärischen Herrschaft). Zum anderen aber benutzen die ökologische Bewegungen technische Instrumente und wissenschaftliche Theorien, um diese oben genannten Phänomene zu studieren und Alternativen zu konstruieren. Ökologismus, also, wurzelt in einem wissenschaftlichen Boden und ernährt sich von der Technik. Doch sein politisches Ziel ist natürlich nicht die absolute Herrschaft und Kontrolle der Natur und des Menschen, sondern die Humanisierung der Welt und ein harmonisches Zusammenleben der Menschen mit der Natur. 187 Und zuletzt sollte man seine Beziehung zur Kommunikationssphäre nicht vergessen. Ein grosser Teil der erfolgreichen Verbreitung der öklogischen Bewegung ist streng mit der inteligenten Benutzung der Medien verbunden. Die pazifistische Presse- und Fernsehkampagnen erwecken in den Leuten humanistische Werte, die mit Hilfe von Internet planetarisch verbreitet werden können. So kommt es langsam zu einem transnationalen ökologischen Bewusstsein, das sich allmählich in den öffentlichen Institutionen eingenistet hat. Von hier aus ensteht zum ersten Mal die Möglichkeit mit den Staaten und den multinationalen Unternehmen Umweltmaßnahmen in Gang zu setzen. 188 IV. Multikulturalismus: ethnische Minderheiten im Netzbereich Die Entwicklung der Kommunikationstechnologien durch die kapilare Verbreitung von Internet öffnet auch neue Perspektiven für die Forschung im Bereich der Sozialwissenschften. Man ist der Meinung, dass die einfache Zugangsmöglichkeiten an Internet und die Vielfalt von Information, die durch dieses Kommunikationskanal zur Verfügung steht, die Teilnahme derjenigen Personen und Gemeinschaften gewährleistet, die wegen kulturellen, religiösen und sozialen Gründen von der „wirklichen" Gesellschaft in die Enge getrieben werden. Doch in welchem Mass bildet Internet einen neuen Ausdrucksbereich für diese Kollektive? Wandelt sich Internet etwa in einen virtuellen Stellvertreter der wirklichen Welt? Nein, das Virtuale soll das Wirkliche auf keinen Fall ersetzen, sondern nur ergänzen. Internet ist vielmehr ein Instrument, um uns besser selbstvorzustellen und uns so auch besser verstehen zu können. Die Verwechslung dieser beiden Bereiche — Internet/reale Wirklichkeit- könnte zur Bildung einer idealisierten Agora führen, die im virtuellen Kontext den Teilnehmern die Türen nur scheinbar öffnet, doch kaum eine effektive Wirkung auf die soziale Wirklichkeit hat. Die erste Aufgabe bringt zu einer Reformulierung des soziologischen und anthropologischen Begriffes „Wirklichkeit". Die Mannigfaltigkeit der kulturellen Referenten, die in den europäischen Gesellschaften existiert, stellt das Prinzip einer neutralen Wirkichkeit in Frage. Eine multikulturelle Gesellschaft, wie die unsere, fordert gerade eine Redefinition dieser Wirklichkeit, die sich huaptsächlich in zwei Richtungen orientiert: Zuerst in Richtung einer Verbreitung, die die Einbeziehung verschiedener sozialen Gruppen, die bis zur Zeit ausgeschlossen worden sind, ermöglicht; dann in Richtung einer Modifikation ihres Inhalts, so dass die Verschiedenartigkeit der neuen Mitgliedern letzlich auch anerkannt wird. Internet, d. h. die vernetzte Gesellschaft, ist in der Lage diese Debatte zu veranlassen. Die Teilnahme und Integration verschiedener Gruppen verändert die institutionalisierte Verhältnisse zwischen Minder- und Mehrheiten. Wer könnte in einem idealen, nicht verkörperten Bereich wie Internet noch als Minderheit betrachtet werden? Transportieren wir vielleicht nicht diese Etikette der Minderheit von der „wirklichen" Gesellschaft und wenden sie im virtuellen Bereich an bestimmte Kollektive an? Diese Fragen sind von Gastarbeitergemeinschaften und ethnischen Minderheiten gestellt worden. Internet wandelt sich in einem neuen Bereich um, der die Grenzen von der Ein- und Ausschliessung, der Zugehörigkeit und Anders-heit, des „wir" und des „sie" reformuliert. Schlussbemerkend noch einmal auf die active Rolle, die Internet in verschiedenen Lebensbereichen spielt, aufmerksam machen. Internet soll nicht nur auf ihre merkantilistische und Unterhaltungsdimension reduziert werden, sondern man sollte auch ihre kulturelle, bildungshafte und emanzipatorische Dimension im Blick halten. Natürlich bleiben noch Probleme offen, wie die Geographie von Internet und das schwierige Thema des digitalen Bruches (digital divide). Doch hier wollten wir hauptsächlich auf die fruchtvolle Dialektik von global und lokal hindeuten. Die Globalisierung bewegt sich nicht nur auf der finanziellen und ökonomischen Ebene der großen wirtschaftlichen Systemen, sondern es enthält in sich eine enthropische Kraft. In anderen Worten, die Globalisierung drückt auch nach innen, so dass sie z. B. die Verbreitung von kulturellen, ethnischen, politischen, ökologischen und religiösen Identitäten ermöglicht. Also, wie wir am Anfang unseres Vortrags behaupteten, leben wir in einer „glokalen" Wirklichkeit. Obwohl wir alle in einer wirtschaftlich-technologisch globalen Real-itä wohnen, konstruieren wir unsere Identität hauptsächlich im Rahmen lokaler Gemeinschaften, die schwerwiegend unsere geschichtliche, sprachliche, geographische und kulturelle Zugehörigkeit determinieren. 189 izar Lunacek CARNIVAL TODAY Picturing Utopia 191 The trouble starts with the question. An essential trait of carnival is that it is by no means merely a beautiful fantasy waiting to be realized by social reform. Utopia itself is already lived out in its fullness within the carnival festivities; it is a real and actual, albeit temporary crossing over into the utopian realm. Carnival has no need for social reform to "realize" the ideal it all too concretely, grotesquely incorporates. Carnival purports to paint the "end of history", but its full reality is always actual, the end of history emerging as a break in the line of history or as a non-historical core around which history revolves and where its final goal is already achieved in its entirety as a festive living picture. Carnivalesque celebrations invariably claim to be a "return of the lost Golden Age" - but the only livable reality of the Golden age is in its full pictorial repetition. Carnival subscribes to a logic - described by many anthropologists of "primitive" or "archaic" consciousness -where the only true; festive; non-everyday reality lies in a pictorial enactment or repetition of an absent ideal, that is itself merely phantasmatically posited and whose "original reality" is, strictly speaking, irrelevant. The ancients' festivities were not merely rituals of remembrance or anticipation of "the Dream-time", the chronotopos of myths - they were its true and only form of reality. If, as it has often been said, the heathen doesn't merely "take part" on the holy sphere - as the lesser reality of things "take part" on the higher reality of forms in the metaphysical universe - but actually fully embodies it in the ritual masquerade, this holds consequences not only for the heathen's seemingly miraculous direct access to the backstage of the world; it alters even more dramatically the way in which this backstage itself should be viewed. For if the carnival masquerade is indistinguishable from the original reality of the Golden age it claims to be repeating, does that not imply that the Holy sphere itself, the "Dream-time" that gives sense to all actuality, is a pictorial masquerade itself? If the repetition is perfect, the reality of the original state the ritual claims to be repeating, is irrelevant: paradise regained, utopia in the flesh is here and now -does it really matter whether it was ever lost or even fully actual in the past? The Dream-time was "just a myth" even for the ancients. It was a working fantasy whose only function was to provide a formal reference for its pictorial realization. Our quarrel with the ancients lies not in taking the myth for "merely a story", while they presumably believed to be an accurate account of reality - rather it lies in missing the possibility of taking a consciously fictitious mere "story" seriously: not as a "good reflection" of reality but as a factor in its creation. While is true that carnival cannot support itself without reference to fantasy, it tolerates it exclusively as that ghostly, half-visible and intangible material that is necessary to give birth to fully-visible, ambivalent and wholly livable pictures. Fantasies are necessary prerequisites of their own creative realization as living pictures. But they have to be realized as pictures. Ideology mobilizes fantasy by failing to do just that in two opposite directions: on one hand, it openly claims to intend to realize the fantasy in reality, "not merely as a temporary picture" but as a new, permanent social order to end all social orders, and on the other - completely fails to do so, because each real state of affairs fails to reproduce the phan-tasmatic vision in full and so stays a fantasy, a ghostly lure of an infinite march of improvement and sacrifice made in the name of the final attainment of its "reality". Carnival consciousness can effectively disarm ideology by instantly realizing its fantasies as living pictures, at once making them embarrassingly concrete and ambivalent, fused with their own opposites and thus robbing ideology of its excuse for subjugation by proclaiming the goal attained. This was the role of carnival in relation to mediaeval catholic ideology: the extravagant carnival feasts embodied the return of the Golden age, which graphically mixed iconography of both heaven and hell. This debases both the fantasy of the prize and of the punishment needed for effective ecclesiastic rule and thus renders the latter obsolete, for "the kingdom-come has come already". Yet, as has already been hinted above, although carnival is livable and cannot be reduced to a mere fantasy, it is not realizable as the banal reality of a stable social order either. One part of ideology is failing to realize ghostly fantasy in a fully visible, ambivalent and livable picture. Another twist of ideology is insisting on the necessity of realizing the livable, festive picture as everyday, common sense reality. It is a twist that the great Frazer fell prey to in the main thesis of his magnum opus, The Golden Bough. There he insists that the modern carnival ritual of burning a "mere representation" of the king of carnival (usually a doll or a mask) is a more civilized, milder version of the primary, barbaric ritual which was centered around the ritual murder of a living scapegoat and can be documented in descriptions of cyclic rituals in the Roman and pre-hispanic American empires. In my view, it could not be clearer that the latter is a mere vulgar "realization" of the pictorial ritual - found not only in modern-time local folklore but also in ancient tribal cultures - tipically practiced via secondary usurpation of tribal religion by an emerging imperialist state (e.g. the Aztec and Roman empires). The original sacrifice is the pictorial one, for, while the sacrificed slave of saturnalia merely represents god, the doll or mask of tribal ritual quite non-metaphorically is god. Within the carnival world-view, the higher realm of the holy is only present in the pictorial. From the perspective of the tribal masquerade, the ritual murder isn't "fulfilling in reality" what they merely represent - rather it is seen as a technical mistake, as painting (i.e. producing pictorial utopia) with the wrong material of unpractical, messy flesh and blood. It would be like phallic singers of ancient Greece displaying actual erections. Carnival is pictorial, but it is definitely more than an art-object. It is something that doesn't merely produce utopia as an object of aesthetic contemplation, but as an actual parallel world in which to live, fully embodied - as a living picture. Carnival procedure internalizes aesthetic distance keeping us out of the work of art and shoves it in-between components making up man and world and turns the world itself into a picture, a picture that does not represent anything outside itself, but is an artistic installation made up of hacked up pieces of man and world. This is also the way Claude Levi-Strauss describes turning the world into livable mythography with the South-American Indians: myth isn't a description of the world, it is an un-referring picture made up of artificially dissected world parts. The world isn't the referent of the myth, it is the signifying material that makes it up. Carnival utopia thus emerges whenever someone puts on a mask and he and the mask become god and cross over into the golden age of man. The Golden age is a masquerade; an objective world, hacked to pieces by so many small distances objectified in heavy, wooden masks and thus turned into a living picture, where enjoyment may take place. But this doesn't mean carnival utopia is bound to a ritual or to a special festive time and holy place. It is a potentially permanent state of the whole world and the whole humanity. It is not even necessarily bound by the ritual usage of a mask and the use of a mask does not necessarily call it into being. A mask only works if it is conceived as the real face, as a truer identity of the person wearing it than the one he "actually is" in everyday life. And this festive displacement of the ego into the palpable object of the mask only serves to be able to construe all true identity as mask-like, as embodied in a tangible external object. In short -to construe oneself and the world as a dynamic picture. What we are talking about here is not the new-romantic approach to the world as raw material for the ingenious subject to mold into his work of art. The latter is based in a deep and fascinating metaphysics of creative subjectivity, with the world - its things and subjects - being violently manipulated into a dirigible object in order to be recreated as a sublimely beautiful art-work from which its maker as an infinite source of ingenious, subjective creativity is radically and tragically excluded. Although the world has to be hacked to pieces in order to make a carnival picture too, the multitude of objects that form it are by their nature the very opposite of being manageable: they are "objects" precisely by their virtue of hard-headed insistence and unpredictability. The transcendent effect of excessive sense that never stops being produced in the grotesque plane of the carnival picture - in sharp contrast to the sublime beauty of the romantic Work - has its source not in the genius of an external creative subjectivity but in the internal, contingent and unpredictable crossings of wandering comical objects. Laughter holds a central place in the carnival world-view precisely because to enter the pictorial reality of its world one first has to become identical with a terribly tangible, comical object. Managing Enjoyment There is good reason to believe that the mind-frame of late consumer-oriented capitalism somehow represents the return of the carnival worldview. There is a gross multiplication in entertainment practices that seem by their outer form only too fit to call carnivalesque, the laughs are a dime a dozen and even politicians seem to favor playing the people's fools to appearing rationally enlightened. If the most basic social systems demanded renouncement of excessive enjoyment as destabilizing for the state and thus condemned themselves to a meltdown resulting from the boiling-over of the energy of forbidden pleasures, the wiser ones devised an escape-valve mechanism, which would, by temporarily allowing excessive enjoyment, keep the system safe from overloading. This was the case with the role of carnival in catholic society of the middle ages. Towards the beginning of the twentieth century, however, a revolutionary new idea on managing enjoyment in capitalism began to emerge. In contrast to the former solutions of excessive enjoyment management, which only sought to dispose of its destabilizing energy, consumerism found a way to harness it as a motor of its own proliferation. Now, excessive enjoyment is not merely permitted but actively encouraged. "Unnatural needs" are multiplied because they make up the stuff of badly needed new markets. The pursuit of pleasure is no longer seen as an opposing force to cultural conformation, but is openly admitted as its goal. This radically decreases tension between state and individual and renders all rebellion obsolete. If this seems too constrictive, one is even given freedom to rebel without a cause, an activity that is welcomed as yet another "customer demand" and met with appropriate consumer-oriented offers such as teenager malls, anarchist web-pages and communist bookshops. Free pursuit of personal ideals is welcomed both at the input and output ends of this self-replicating system: idealistic projects with "personal creative visions" have long become a hot item for long-term investment and the market is all too open for meeting increasingly diverse and personalized demand1. Why is this model not only nowhere close to the spirit of carnival utopia but also an increasing danger to its even episodic existence? There are several reasons, not immediately obvious. One is that this feeding back of excessive enjoyment into the functionality of the system, makes excessive enjoyment lose its edge, defined precisely by its dysfunctional character. Carnival utopia isn't a program of rational enjoyment management, it is a no-space of unmanageable, unharnessed enjoyment, a universe where energy is excessively wasted, gifted, and anarchically 1 To be precise, this is the second model of positive management of excessive enjoyment. Its precedent is, of course, the already mentioned ritual organization of fascist imperialism found not only in ancient Roman and Aztec empires but also in their modern-day reconstruction-efforts, namely Hitler's Third Reich and Mussolinni's Italy. With fascist imperialism, however, excessive enjoyment is vulgarized into bloody reality of the ritual murder and used as a public spectacle fueling the reigning power of the Empire. spilled in witness to its bottomless and inexhaustible nature. This of course is precisely the sort of attitude of profitless dedication capitalism demands of its top producers: selfless giving out in endless creation is an investor's dream, the chance creation of original products that results as its side effect are the ideal cannon-fodder for an expanding market. But the number that the investor puts on cyclic creation is never adequate; its effort is immeasurable, at once worthless and invaluable. Consumerism needs the carnivalesque spirit like a parasite needs its host, but -like a parasite - it always risks taking just a bit too much from it and wages losing both it own and the host's life. Functional harnessing undoubtedly has a crippling effect on non-operational creative enjoyment, because its fate is precisely to be non-operational, unusable, not to "function", not to "work"- it is not meant to be banal reality but a festive living image. The "breath of life" consumerism has given to the "merely imaginary" and "merely temporary" carnival world by turning it into permanent functioning "reality" has caused it to lose the much higher reality of the pictorial and of the festive it once possessed in favor of the ever-present but banal reality of common, everyday pursuit of "personal pleasures". The point of carnival's pictorial status is precisely that the picture plane is the only true reality there is, and that what poses as "reality" in everyday life is actually a construction based on the fantasy of a "banal real base" of pictorial presentation. The carnival world-view is free even of this phantom of reality as a base; it lives fully in the floating, freely suspended imaginary, where the Real is constantly present as a shift, flash or crack of sense-producing nonsense in the midst of pictorial life. Life in the pictorial plane is permanently festive, because it is bound together by the omnipresent matter of the procreative holy hole. That is the reason for carnival's proliferation in the middle ages, when it was merely permitted. This should however, not mislead us to the view that carnival needs a restrictive society in order to oppose it. Carnival utopia in its historical occurrence is normally local and temporary and has no need for totality in order to reap the full harvest of its enjoyment. However, carnival by its nature does not rely on its status of an exception, but, rather, tends to a non-aggressive totalization of its world-view. It does not need normality and everyday life to sustain itself as their rebellious opposite - but rather, non-aggressively yet determinedly, tends to establish itself as a permanent state of the world as a whole. The expansion to which it gravitates is entirely non-imperialist - it is non-abstract - based in concrete bodily contact - and nonviolent - spreading with the unwillful contagiousness of laughter. Consumerism puts carnival in such peril because it creates a superficial illusion that its totalizing goal has already been achieved. Medieval carnival thrived, because a minimal space undetermined by the system was all it needed to carry out its plan of imposing pictorial utopia as a permanent state of the world. Carnival did not agree with the government's view of its role merely as a release-valve: it carried with it a deep and all-embracing worldview of a permanent festivization of mankind. Its golden age was reached when the festivities had already taken up a good third of the working year with new holidays sprouting up like mushrooms. The crackdown was imminent and it was decisive. Public festivity was monopolized by the state and the only unofficial side of a holiday became its private domain. Carnival spirit, according to Bakhtin, sought refuge in the newly emerging private sphere of the bourgeois individuality, where it lost most of its utopian, universal and liberating meaning. "Popular" festivity had turned into the family holiday. Privatizing Pleasure This brings us to the other problematic point of consumerism's alleged carnival spirit. Not only has excessive enjoyment been harnessed into the reigning system of power, by way of its privatization it has also been denied access to any universal truth-value. Because the more primitive models of society mentioned above are so restrictive about their members' conduct, leaving almost no space for privacy (see, for instant, Plato's or Thomas Moore's authoritarian visions of a utopian state), all of their citizens' conduct, carried out under the watchful eye of the state apparatus, has an air of universality about it. Late liberal capitalism effectively minimizes the restrictive role of the state and opens up a large space for virtually uninhibited activity within the domain of the private, whose content is, however, restricted by a complete lack of universal significance. Formally, the pursuit of personal happiness is the highest of liberal holies, but each concrete personal vision is absolutely denied any privileged access to the realm of the sacred and banned from imposing itself as a universal truth. Anything goes - vampire-wannabe gatherings, swinger societies, Star-trek fan-clubs - as long as it takes place between consenting adults and remains discrete, hidden from view in order not to cause offence with other personal visions that might oppose it. All personal visions are naturally urged to enter the public market and circulate as goods, where their sole value is the market value, fixed with profitability and blind to the immanent quality of their content. The naturalizing effort of capitalist ideology insists on a democratic link of sense between the market value and the truth content of a worldview, arguing that this way the highest value will be attained by "what most people want". This however is based on a myth of the pri- vate domain of personal taste as a real base of authentic desire independent of the universal domain occupied by the market and minimally restrictive state. Personal desire is far from being a terra firma and taking the definition of desire as "the desire of the Other" seriously starts with appreciating the ideological power of conformation with a preferable worldview residing in marketing. Our own current private universes of desire were inevitably structured by various figures of authority during our upraising - Bildung works with transference - and the only chance for freedom lies in the active gesture of creatively taking onto ourselves the misunderstood gifts of other peoples' desires, thus claiming the Other as our own product. Marketing plays on the same process, making it possible to non-violently implant prefabricated, Other's desires into subjects by way of ped-agogically suggestive images. This is why Plato doesn't ban art completely from the state but merely subdues the communicative power of its sensuality to state ideology. Art in general has the ability to make private visions into carriers of universal truth, to communicate the particular fetish as bound with the holy. We can, for instance, watch an Almodovar movie and feels his contingent personal fixations on ever recurring transvestites, loving mothers and bound, raped women temporarily stick onto us. But while marketing ends in successful transplantation of desire, pure art (its purity being merely its greater consistency with the principle of fetish migration underpinning marketing as well) results in a radical desub-stantialization of all personal desire. The experience of migrating personal particulars of the artist opens me up for a view of the contingency and unfixedness of my own personal particulars: desires, fetishes the whole lot, become radically that of no particular other. Through art all "personal taste" comes loose from its subjective fixation and enters a universal domain uncontrolled by any "official" universality of the market or state. Utopia is not letting us "do what we want to", condemning us to solipsistic hell of being stuck with our own random desire, utopia is an open, unofficially public space of mutual interaction where we might formulate our particularity in constant contact and friction with equally set particularities of others. This is what carnival is: a becoming-art of life, a space of utopian universality where all personal fixations, desires and fetishes meet in open communication, mock-war and collective feasting. In everyday life, glimpses of this world are offered through relations of love and friendship. In factual modern society the model for the ideal social unit lies not with the private club of "people with a common interest" but with a feast of friends with enormously diverse interests and beliefs, gathered purely by the always contingently based fact of friendship. Incidentally, in my view this is also the desired model of philosophical discourse: not effectively separate cliques of phenomenologists, lacanians, analitics, etc but an impossible common space of festive meeting, where we all agree merely to be talking about the same thing: the truth. Carnival functions as a spreading of this principle of friendly familiarity to the potential totality of an entire world. The insistence on the "people" as the subject of carnival is not to be taken as a sign of vulgar populism on Bakhtin's side. Bakhtin's "people" is not a particular social class, but an impossible, utopian totality of the world's humanity, an "other scene", where every individual regardless of social class invariably takes festive part. "The people" serves precisely to signify this seemingly lost space of unofficial sociality, of universal particularity, where each man may participate with a ridiculously tangible part of his most intimate being. "The people", normally a term of exclusion, signifying the opposite of "me", is here a name for that opaque spot at the core of my individuality, where I am "everybody", where "the I is someone else". While carnivalization of the world, as opposed to the externality of social reorganization, can be said to have the status of an internal mind-shift, it cannot be reduced to mere "individual enlightenment" as far as the shift itself consists precisely in identification of the most intimate with the de-individualized, public and even more radically external dimension of the "people". It is a dimension of unofficial sociality where all particulars may meet on the flat plane of a pre-capitalist, mediaeval market that was the scene of carnival. The carnival market is a concrete, material public space, where everything is visible and where there is "no privacy", but which also lacks a unified judging eye condemning some and blessing others. Like on the capitalist market, everything that enters this mythical plane of the people is deemed contingent, rootless, beyond good and evil. But in its case this debasement is not itself based in reduction to market value. The particulars entering the picture plane of the carnivalized market are utterly baseless and at once irreducible; based in themselves and thus universal in their own partial, hol(e)y content. It is a space-time of constant festivity as the only true, pictorial reality. It is a space where enjoyment, neither banned, allowed or dictated, but entirely free in its uselessness can ecstatically give itself, free of charge, in abundant excess, and, superfluously pouring over the edge of the pictorial world - unreduced either to a measurable market value or to a private particularity - give birth to universal, yet creatively produced; grotesquely palpable and only in ridiculous, laughable form transmittable truth. world /welt world/ welt 201 world/ welt Mario Ruggenini WAHRHEiT, iDENTiTÄT, DiFFERENZ i. Die Wahrheit Europas und des Abendlandes - die Wahrheit, wie sie die grie- 203 chisch-christlich-moderne metaphysische Geschichte der Welt gedacht hat - ist die Wahrheit des Identischen : eine einzige Wahrheit für alle, ohne die es nichts als Zersplitterung und unlösbare Konflikte gäbe. Noch am Höhepunkt der Moderne wird Kant darüber klagen, dass sich die Metaphysik im Unterschied zur Wissenschaft immer noch als Schauplatz unendlicher Kämpfe darstellt. Noch für ihn, der das substanzialistische Paradigma, das die vorausgehenden Epochen prägte, in den Fundamenten erschüttert, steht die Wahrheit unter der Identität und nicht umgekehrt die Identität unter der Wahrheit. Dies bedeutet, dass die von der metaphysischen Tradition vorausgesetzte Verwandlung des Wahren in Identität noch nicht zum Problem werden kann, sondern vielmehr außer Diskussion steht, und zwar auch für die kopernikanischen Revolution, dass die Wahrheit entweder für alle identisch ist oder überhaupt nicht ist. Durch die Transzenden-talisierung der Subjektivität wird die Identität der Vernunft vor der Gefahr der empirischen und damit unkontrollierbaren Vervielfältigung bewahrt. Die Wahrheit Kants beansprucht also noch, das Identische der universellen Vernunft zu sein, und das zu einem Zeitpunkt, wo das Zur-Sprache-Kommen der Erfahrung des Wahren gemäß den drei Kritiken die Identität der Vernunft als reiner Vernunft brüchig werden lässt. 204 In der Zwischenzeit hat allerdings die europäische Geschichte hinreichend erfahren, zu welchen Ausmaßen an Gewalt und Trennung der Geltungsanspruch der Wahrheit als absoluter Wahrheit führt, einer Wahrheit, zu der sich alle Menschen als christliche, allein Heil und Erlösung bringende Wahrheit zu bekennen hätten. Ich werde überblickshaft einige wesentliche Momente nachzeichnen, über die sich das metaphysische Schicksal des Identischen erfüllt, das mit den kantischen Gedanken, und d. h. mit der Erfahrung der unhintergehbaren Endlichkeit der Vernunft, unwiderruflich in die Phase der Krise mündet. Kant selbst widersteht dieser Krise noch, indem gerade er den Weg zur Metaphysik der Versöhnung öffnet, d.h. den Weg zu den Wiederherstellungsversuchen des klassischen deutschen Idealismus. Nach dem Scheitern dieser letzten Unternehmungen kommt der Phänomenologie die extreme Aufgabe zu, an die Universalität des Geistes zu appellieren, was jedoch nur mit Mühe die äußerste Anstrengung der europäischen Menschheit verbirgt, sich als Bewahrerin eines universellen Sinns von Vernunft zu präsentieren, trotz der unwiderruflichen, unumkehrbaren Krise, in der sich Europa bereits befindet, und trotz der tragischen Schatten, die die auf ihm liegen. a) Die griechische Metaphysik fasst die Wahrheit als Wahrheit des Identischen, außerhalb derer sich der Bereich des Geschwätzes, der Verbreitung von Meinungen, deren unlösbaren Widerstreits, d. h. in den Worten der antiken Problematik, der Bereich der Sophistik und des Skeptizismus, in moderner Begrifflichkeit der Bereich des Relativismus und Nihilismus auftut. Das antike substanzialisti-sche Paradigma der Wahrheit setzt das Sein als dauerhafte Anwesenheit und Präsenz an und dementsprechend Wahrheit als das Anwesendbleiben des Anwesenden. Dieses Verständnis wird in der christlich-theologischen Auffassung von Sein als vollkommene Anwesenheit an und für sich selbst noch radikalisiert, in dessen Augen alles in vollkommener Transparenz offen liegt. In der vollkommenen Selbstidentität dieses Seins versammelt sich die unendliche Vielfalt der Bestimmungen und alles wird eins. Das Sein ist in diesem Sinne Wahrheit, weil es Einheit ist, und es ist Einheit, weil es Wahrheit ist. Ens, unum, et verum convertuntur. Die griechische Theologie mit ihrem offensichtlichen Polytheismus und ihrem naturalistischen Fundament (Aristoteles: die Natur ist göttliche Vernunft) kann diese mächtige, für die christliche Theologie charakteristische Vereinigung des Wirklichen und des Wahren noch nicht hervorbringen.1 Nicht einmal der erste 1 „ho theos kai hephysis ouden mdtenpoiusin", De Caelo,I,4,2ji a 33 (Aristotle, De Caelo, edited by D.J. Allan, Clarendon Press, Oxford 2005); Protrepticus, B 50 (Der Protreptikos des Aristoteles, Einl., Text, Übers. u. Komm. von Ingemar Düring, Klostermann, Frankfurt/M, 1969). In Phys., II,i98 a 10-13 (Aristotelis Physika, recognovit brevique adnotatione critica instruxit W. D. Ross, Clarendon, Oxford 1950) behauptet Aristoteles, dass nous und physis die Ursachen der Weltphänomene sind und nicht der Zufall. In seiner Monographie über Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Winter Verlag, Heidelberg 1966, schreibt Beweger bei Aristoteles kann als Denken des Denkens die grundlegende Allergie überwinden, die ihn von der Welt der Bewegung trennt; diese bleibt nämlich dem sich selbst denkenden Gott äußerlich. Diese für das griechische metaphysische Denken konstitutive Schwierigkeit, den Bezug zwischen dem Sein, das die Bewegung übersteigt, und den vielfältigen, dem Entstehen und Vergehen unterworfenen Wirklichkeiten zu fassen, findet ihren extremsten Ausdruck im Denken des Einen bei Plotin. Hier findet sich nämlich sowohl die endgültige Anerkennung der irreduziblen Dualität, die das Sinnliche dem Intelligiblen gegenüberstellt, als auch die Bejahung der grundlegenden Einheit des Ganzen in seinem transzendenten Ursprung (Urgrund, Prinzip), den die christliche Theologie begierig zu erlangen sucht, um das höchste Seiende in seiner Absolutheit zu denken. Auf der einen Seite also das Seiende in Bewegung, d. h. das Sein als ghenesis, nicht als ousia; auf der anderen das Sein, das immer ist, to de on aei, unsichtbar, unveränderlich, immer sich selbst gleich, unentstanden und unzerstörbar.2 Plotin prägt so die Idee des Einen, numerisch Identischen, das überall ist und zugleich ein Ganzes ist: „to hen kai tauton arith-moi pantachou hama holon einai „. Er bezieht diese Idee auf das, was die Menschen vom Sein Gottes denken sollen, „der in uns allen ist", der aber durch seine Allgegenwart nicht vervielfältigt werden kann.3 Die Selbstidentität des Einen ist von der unveränderlichen Transzendenz seines Seins in dem Moment ausgedrückt, in dem es sich als Ursprung der Vielheit setzt und damit ein Bedürfnis nach Einheit radikalisiert, das die große Metaphysik vor ihm nicht zu stillen wusste bzw. in dieser Dringlichkeit nicht wahrgenommen hatte. Dennoch greift Plotin gerade auf ein platonisches Motiv zurück, nämlich auf das „epekeina tes ousias" der Politeia, VI, 508-509, um die Einheit des Einen mit sich selbst als „das stärkste Prinzip von allen" zu denken: „panton bebaiotate arche". Dieses Motiv treibt das Denken über die Dimension des Seins als Substanz hinaus zur radikalen Differenz des Einen gegenüber der Gesamtheit des Seienden; nichtsdestotrotz wird das Eine in seiner Eigenschaft als erstes und letztes Prinzip gerade durch das Streben aller Dinge, die Einheit des eigenen Seins zu verwirklichen und zu bewahren, offenbar: „Der Wunsch nach dem Guten [...] führt wirklich zum Einen: jede Natur strebt nach dem Einen, d. h. zu sich selbst. Darin nämlich besteht das Gute für eine Natur: sich selbst zu gehören und sie selbst zu 205 Ingemar Düring, dass der Philosoph die göttliche und vernünftige Ordnung in den Naturprozessen sieht und bemerkt, dass diese Überzeugung über Platon hinaus auf Vorstellungen des antiken Griechentums zurückgeht. 2 Plotin, Enneaden (Plotins Schriften. Grie.-dt., übers. v. R. Harder, 7 Bde., Meiner, Hamburg 2004), VI, 5, 2, 10-15. 3 Plotin, V, 5, i,ie 5, 4, 1-13. 206 sein; und das bedeutet: eins zu sein." Wenn für jedes Seiende demnach das Gute im eigenen Sein besteht, ergeben alle Dinge in diesem Streben nach der Einheit des Seins eins: hen árapánta ta ónta.4 Das Eine, das sich nicht vervielfältigt, steht somit am Anfang und am Ende der Vielheit der Seienden. Daher kann es auch kein Seiendes sein, und daher steht auch die Erinnerung an die rätselhafte Stelle bei Platon im Mittelpunkt des Denkens von Plotin, der sich jedoch mehr in Richtung einer notwendigen Integration bewegt als in Richtung einer Infragestellung des griechischen Substanzialismus mit seinem grundlegend Ungedachten. Dennoch aber führt die irreduzible Differenz des Einen - die man in mehr als einer Hinsicht im herakliteischen Verständnis des lógos und der Wahrheit als sophón, d. h. im Denken des hen pánta einai, vorweggenommen sehen kann - in das abendländische Denken eine Möglichkeit ein, jenseits des Seins des Seienden zu denken, die von Plotin selbst auf sehr doppeldeutige Weise wahrgenommen wird, oder vielmehr ganz fallen gelassen wird, und die in ihrer radikalen Tragweite auch für die christlichen Theologen undenkbar bleibt.5 Diese sehen vielmehr in der Differenz des Einen, oder besser in seiner gleichsam absoluten Abgeschiedenheit, eine äußerste, von der griechischen Metaphysik eröffnete, aber über sie hinausgehende, ja gegen sie und auch Plotin gerichtete Denkmöglichkeit, die Abstammung aller Wirklichkeit von einem einzigen, höchsten, in sich subsistierenden Prinzip im Sinne eines radikalen Schöpfungsgedanken zu fassen.6 Der christliche Schöpfungsgedanke bricht - mit der simplifizierenden Gewalt eines irreversiblen Bruchs - in das Lebendige dessen ein, was er als Unsicherheiten der griechischen Metaphysik in Bezug auf das Verhältnis zwischen Gott und Welt, und vor allem zwischen dem Gott und dem Göttlichen wahrnimmt. Getrennt von der Welt in einer Weise, wie kein griechischer chorismós es je zu denken imstande war, unterhält der Schöpfergott ohne Störungen den Bezug zu den Geschöpfen, die er aus dem Nichts geschaffen hat, immunisiert (und unangreifbar gemacht) durch die unendliche ontische Differenz zwischen dem, was abso- 4 Ibid., VI, 5, i, 8-26. 5 Heraklit, Fragmente (hrsg. von Bruno Snell, Heimeran, München 1989), 10, 32, 41, 50 DK Porphyrius sagt vom Einen, dass es „Nicht-Sein jenseits des Seins" ist, in dem Sinne, dass es kein endliches Seiendes ist. Später wird es Skotus Eriugena als „Nichts" bezeichnen. 6 Andere namhafte Experten vertreten hingegen die Auffassung, dass das Eine Plotins bereits Schöpfer ist. Plotinus, The road to reality, Cambridge University Press, Cambridge i967(Neudruck 1980). Dass das Eine „jenseits des Seins" ist, heißt nach Rist nämlich, dass es unendlich ist und insofern der Urgrund für alles endliche Sein. Die Unendlichkeit des Einen markiert in den Augen Rists die „enorme Differenz zwischen Plotin und Platon" (pp. 26-27). Ungeklärt bleibt dabei allerdings der entscheidende Punkt, ob nämlich die Stellung des Einen als universeller Urgrund bei Plotin auch den Gedanken der Schöpfung des Seienden aus dem Nichts einschließt. lut in sich und für sich ist, und dem, was absolut von anderem und für anderes ist, weil es an sich nichts ist.7 Diese typisch substanzialistische Differenz zwischen dem positiven Absoluten und dem negativen Absoluten wird vom Bedürfnis der Theologie und der Offenbarungsmystik, Gott als das ganz Andere gegenüber den von ihm im Sein abhängigen Wirklichkeiten zu denken, nicht angegriffen. Das Motiv der namenlosen Transzendenz des Einen, das im Mittelpunkt der metaphysisch-religiösen Erfahrung Plotins steht, wird vielmehr vom Substanzia-lismus der christlichen Metaphysik aufgenommen, d. h. von der Gründung der totalen Positivität des Wirklichen in seinem ersten Prinzip; auf diese Weise wird die beunruhigende Aporetik unter Kontrolle gehalten, die von dem dichten Netz an Negationen entfesselt wurde, mit dem Plotin die Alterität der arche zu schützen sucht. Man muss allerdings sehen, dass diese Alterität durch das Seiende unwiderruflich kompromittiert ist aufgrund des metaphysischen Bedürfnisses, aus ihr das Prinzip der unendlichen Abstammung von allem Wirklichen zu machen. Das Eine nimmt so die erste Ursache der christlichen Theologie vorweg, jedoch noch ohne die Macht der Hervorbringung des Seienden aus dem Nichts zu verwirklichen. b) Die moderne Konzeption des Verhältnisses von Identität und Wahrheit zersetzt das substanzialistische Paradigma und löst es schließlich auf, behält aber die Identität als Instanz auf der Ebene des Seins des Subjekts als Selbstgewissheit bei, als Prinzip und Fundament der Welterkenntnis, die als Bildung und Vorbereitung des Wirklichen für das Tätigwerden der wissenschaftlichen Vernunft verstanden wird. Die Tatsache, dass sich diese Gewissheit im Selbstverständnis des absoluten Subjekts als Weltgeist vollzieht, oder im Unendlichen der Teleo-logie des Sinns im Geschichtsverständnis des späten Husserl, verwandelt zwar den Grundgedanken der Wahrheit als Wahrheit des Identischen, in dem sich alle Vielfalt auflöst und seine Rechtfertigung erhält, behält ihn aber prinzipiell bei. Die Identität einer grundlegenden Selbsttransparenz rechtfertigt jede Dunkelheit und jede Grenze, indem sie deren ungewisses Schicksal offenbart. Die Krise Europas als Krise der Philosophie, „die Krise der europäischen Menschheit", von der Husserl in Wien im Mai i935 spricht, ist die Krise der abendländischen Auffassung von Vernunft, deren voluntaristischen Grundzug er mit dramatischer Deutlichkeit zum Ausdruck bringt. Dieser Grundzug kommt nämlich versteckt zum Vorschein als letzte Substanz einer Rationalität, die in Wahrheit 207 7 Thomas von Aquin drückt sich diesbezüglich in De aeternitate mundi, contra murmurantes (Sancti Tho-mae de Aquino. Opera omnia iussu Leonis XIIIP. M. edita, t. 4, Editori di San Tommaso, Rom i976, S. 4989) in aller Klarheit aus: „Das Geschöpf hat kein Sein, wenn nicht von anderem, sich selbst überlassen und für sich genommen ist es nichts: daher liegt in ihm seiner Natur nach zuerst das Nichts und nicht das Sein [...] seine Natur ist so, dass sie nichts wäre, würde sie sich selbst überlassen." 208 an ihrer Aufgabe gescheitert ist. Der Wandel, den Husserl beschwört, fordert das Subjekt auf, endlich und voll umfänglich Subjekt zu sein. Auf diese Weise behauptet sich die Vernunft als solche, die er sich als Bewegung ständiger Selbstklärung vorstellt, nur aufgrund eines Willens zur Rationalität, dem nichts anderes übrig bleibt, als auf eine unendliche Teleologie der Vernunft zu rekurrieren. Vernünftig sein bedeutet nach Husserl zuerst und vor allem, es wollen, insofern es vernünftig sein sollen ist: „vernünftigsein im Vernünftigsein wollen". Das ist das wesentliche Schicksal des Menschen: „Menschsein ist ein Teleologischsein und Sein-sollen", und die Verantwortung, die der Philosophie daraus erwächst, ist die, im europäischen Bewusstsein die teleologische Bestimmung zur Vernunft wieder zu erwecken, die Europa dank der Phänomenologie zu verstehen in der Lage ist und zu deren Förderer sie sich machen muss: „Die Philosophie ist Rationalität [...] im Erringenwollen der wahren und vollen Rationalität."8 Das Ideal, das die Vernunft im Sinne einer unendlichen Anstrengung antreibt, ist das einer Wahrheit, auf die die Bewegung der Selbstbehauptung der Subjektivität als Bestimmung der planetarischen Menschheit unaufhaltsam zuläuft. Der Sinn der Geschichte ereignet sich so durch die Inanspruchnahme der Würde als Subjekt seitens des Menschen, das deren vernünftiges Wesen erfüllt. Aber die Wahrheit des Subjekts ist bei Husserl die Bejahung der modernen europäischen Idee der Rationalität, in der sich jeder Versuch, die historische Aufgabe der Menschheit zu verstehen, wiedererkennen müsse. Aus diesen Hinweisen wird ersichtlich, dass der Grundzug, den die Philosophie durch ihre Geschichte hindurch beibehält, der eines Denkens ist, das im Identischen das notwendige Maß der eigenen Wahrheit sucht, sowohl auf der Ebene der Ontologie als auch der Theologie und zuletzt der Teleologie. Ebenen, die sich stets als ineinander verwoben zeigen, oder als solche, die sich wechselseitig aufeinander beziehen, und nicht so sehr als klare Gliederung von Instanzen des Denkens, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Kant, der eine wesentliche Vervielfältigung der Ebenen des Urteils vorschlägt, weicht selbst, wie bereits angedeutet, vor den erschütternden Implikationen der eigenen Kritik zurück, indem die von ihm hervorgehobene Vervielfältigung sich aus einem Element des Bruchs zu einem Faktor des Kompromisses verwandelt. Denn das, was auf der einen Seite wegfällt - nämlich die Möglichkeit der theoretischen Vernunft, die letzte theologische Sanktion der Ordnung der Welt zu erreichen - wird auf der anderen Seite, im Reich der praktischen Vernunft, wieder eingeholt aufgrund eines fundamentalen Sinnpostulats, das noch einmal den Rückgriff auf den meta- 8 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hus-serliana VI, Nijhoff, Den Haag 1962, S. 273-276 physischen Gott rechtfertigt. Die grandiose Rückkehr des transzendenten Gottes, dessen kategorische Behauptung von der theoretischen Vernunft ausgesetzt wurde, wird begründet im Willen zum Sinn der Vernunft des Subjekts (bzw. einer Vernunft, die subjektivistisch gefasst wird, wenn auch in transzendentalem Sinn). Die Kritik der Urteilskraft arbeitet noch weiter an dieser Wiederherstellung, die der große metaphysich-spekulative Einsatz, der im deutschen Idealismus zum Ausdruck kommt, in einer regelrechten Versöhnung dessen, was als untragbare Trennung zwischen Subjekt und Wirklichkeit erfahren wird, aufzulösen sucht. Aufgrund dieser Trennung ist, wie Hegel sarkastisch anmerkt, Gott selbst auf die Seite des Noumenon gefallen. Die äußerste Konsequenz dieser radikalen Ausgrenzung des Göttlichen aus dem Reich der theoretischen Vernunft, deren Fre-velhaftigkeit Kant selbst nicht wahrnimmt, wird kurz darauf der Verlustschrei des „tollen Menschen" sein: Gott ist tot, was den Einbruch des Nihilismus als Ende der modernen Metaphysik bedeutet. Trotz Nietzsche schreitet der Gang der aufklärerischen Vernunft - von Kant zu Hegel und Husserl - dennoch weiter in Richtung der Reduktion des empirisch Vielen der anthropologischen Standpunkte auf die Einheit der spekulativen Erfassung, d.h. der transzendentalen Konstitution der Welt. Aufgrund dieser Letztgenannten verwirklicht das Subjekt-Ich seine eigene Absolutheit durch die Unterwerfung der Natur selbst, sowie noch einmal als Weltgeist seinen letzten Triumph über die Geschichte und deren unkontrollierbare Irrationalität. Trotz des Scheiterns des Hegelianismus und trotz der dramatischen Anklage des unaufhaltsamen Fortschreitens des Nihilismus bei Nietzsche, die wahrzunehmen Husserl nicht Zeit hatte, obwohl seine Analyse der Sinnkrise, in die die europäische Menschheit geraten war, im Kern davon spricht, kann der Meister der Phäno-menologie noch einmal in tiefem Gleichklang mit dem spekulativen Idealismus an die letzte Bestimmung des Geistes appellieren: „Die ratio ist nichts anderes als die wirklich universale und wirklich radikale Selbstverständigung des Geistes in Form universaler verantwortlicher Wissenschaft [...] Die Universalität des absoluten Geistes umspannt alles Seiende in einer absoluten Historizität, welcher sich die Natur als Geistesgebilde einordnet." Auf der vorangehenden Seite hält Husserl feierlich fest: „Der Geist und sogar nur der Geist ist in sich selbst und für sich selbst seiend, ist eigenständig und kann in diesem Eigenstand, und nur in diesem, wahrhaft rational, wahrhaft und von Grund auf wissenschaftlich behandelt werden [...] Nur wenn der Geist aus der naiven Außenwendung zu sich selbst zurückkehrt und bei sich selbst und rein bei sich selbst bleibt, kann er sich 209 210 genügen."9 Also besteht das Problem, das sich wegen der heimtückischen Reduktion des Wahren auf das Identische gar nicht stellt, darin, ob das Schicksal des Geistes die Wahrheit ist, oder ob das Wesentliche vielmehr ist, dass er die Identität mit sich selbst verwirklicht, d. h. die eigene Selbstbehauptung auf planetarischer Ebene. Behauptung eines äußersten Selbstbewusstseins, eines äußersten Bewusstseins der eigenen Aufgabe, und daher auch der eigenen Macht der europäischen Vernunft, und nicht Gehorsam einer Wahrheit gegenüber, die in der Lage wäre, der Vernunft ihre unüberschreitbaren Grenzen aufzuzeigen. Und dennoch geschieht etwas Wesentliches in den spekulativen Unternehmungen des modernen Denkens, das sich zugespitzt im Nietzscheschen und Husserl-schen Sinn der Krise des metaphysischen Europas und im Appell an einen extremen Willen zum Sinn vollzieht. In dieser Richtung konvergieren auf paradoxe Weise die Zerstörung der absoluten Werte durch Nietzsche in seiner „Philosophie mit dem Hammer" und das gewagte Programm einer Neugründung der Philosophie von Grund auf, das Husserl mit Nachdruck verfolgt. Was geschieht, ist die Auflösung des Substanzialismus der traditionellen Metaphysik, und sei es, um dadurch Platz zu schaffen für die Selbstbehauptung des Subjekts als Prinzip des Sinns. Dieses Geschehen erfordert eine neue Erfahrung von Wahrheit und macht sie möglich, ja notwendig, jenseits der äußersten Inanspruchnahme der Ressourcen des Prinzips der Subjektivität, die sich sowohl in der nihilistischen Konzeption der Wahrheit als fixe Scheinvorstellung des Willens zur Macht als auch in der transzendentalen Konstitution der Wahrheit als subjektiv gesicherter Sinn ereignet. Zugleich mit der Wahrheit als Substanz gerät auch die Identität in Krise, die sich nicht mehr auf eine Ontologie der physischen Präsenz des Seins stützt, sondern aus der Macht des Subjekts/des Willens hervorgeht, aus der Macht, den Sinn, den es/er braucht festzusetzen, um sich seinerseits — zumindest im Fall Husserls — jede bestimmte Realität als transzendente Identität zu konstituieren. Bei Nietzsche nimmt der äußerste Wille zur Identität die tragische und unmögliche Gestalt der ewigen Wiederkehr des Gleichen an. Und noch einmal wird die Wahrheit in Abhängigkeit von der paradoxen Identität des Willens zur Wiederkehr gefasst, anstatt dass sie sich als Maß setzt, dem jede Identitätsbehauptung unterstellt ist. 2. Die Möglichkeit einer erneuten Problematisierung des Verhältnisses von Wahrheit und Identität muss über den Weg einer Hermeneutik der Endlichkeit führen und dabei das metaphysische Vorurteil beseitigen, das aus der Endlichkeit die Grenze macht, die den Menschen von der Wahrheit trennt. Eine radikale Hermeneutik der Endlichkeit schließt vielmehr die metaphysische Idee einer ab- 9 Husserl, Krisis, Hua.VI, S. 345-346. soluten Wahrheit aus - die Wahrheit des christlich-metaphysischen Gottes, der vollkommenen Reduktion des Vielen in der Welt auf die grundlegende Identität, die es im Sein hält; für die Modernen: die Wahrheit des Seins, die sich als Subjektivität besitzt oder sich als Wille und Hervorbringung von Sinn verwirklicht, in immer dramatischeren Alternativen zum Gott als dem „höchsten Seienden" der christlichen Theologie. Jenseits der theologisch-metaphysischen Umformung des Wahren und Identischen, die auch im Falle der modernen metaphysischen Systeme der Subjektivität vollzogen wird als Transzendenz des Prinzips, das Einheit stiftet gegenüber der chaotischen Zerstreuung des Vielen, öffnet die Endlichkeit die Existenz für das Ereignis der Welt und damit für die ursprüngliche irdischweltliche, d. h. existenzielle Dimension der Wahrheit. Die hermeneutische Erfahrung kann sich nicht gegen eine endliche Wahrheit stellen, weil sie als Wahrheit nur jene denken kann, die sich im weltlichen Gespräch der Existenzen zeigt und behauptet. Keine Wahrheit, die trennt, wie die metaphysische Wahrheit im Namen ihrer angeblichen Einzigartigkeit und Absolutheit; keine unversöhnliche Wahrheit, die sich anmaßt, sich mit der Gewalt von nicht widerrufbaren Ausschlüssen zu behaupten; sondern vielmehr eine gastfreundliche Wahrheit, zumindest soweit sie sich sagen und sich nicht auf ein geschlossenes System endgültiger Aussagen reduzieren lässt. Eine Wahrheit, die -gerade weil sie nicht trennt - Differenzen zwischen den Gesprächsteilnehmern aufkommen lässt, die sie zum Gespräch ruft und die sie in ihrem wechselseitigen Sich-voneinander-Unterscheiden bleibend aneinander bindet. Eine EreignisWahrheit, nicht reduzierbar auf irgendeine als Verharren in der Präsenz gefasste Identität (nach der Art dessen, was vor den Augen liegt und was gemäß einer grundlegenden Selbigkeit dem Wandel gewisser ihm innewohnender Grundzüge widersteht); ebenso nicht reduzierbar auf irgendeine System-Wahrheit, die in ihrer Anmaßung auf Endgültigkeit von jedem neuen Wort widerlegt wird, das unvorhergesehen auftritt und ihre angebliche Herrschaft stört. Im Ereignis der Wahrheit, in der Eröffnung von Welt, die in der Sprache geschieht, kommen wir alle notwendigerweise überein, um miteinander zu reden, und d. h., um im Gespräch miteinander die Differenzen zu erfahren, die jedem ein eigenes Schicksal zuweisen (und zwar ein Lebensschicksal und nicht das eines abstrakt theoretischen Denkens). Das Paradox der Wahrheit des Gesprächs als einer endlichen Wahrheit liegt demnach in der Tatsache, dass sie diejenigen zusammenhält, die sie voneinander unterscheidet. Denn als Wahrheit erlaubt sie es niemandem, sich auf Kompromisse einzulassen, sie lässt sich also nicht mit einem konfusen Konsens verwechseln, im Gegenteil verlangt sie jedes Mal sorgfältige Berücksichtigung und verantwortliche Unterscheidungsvermögen. Da sie im Gespräch geschieht, lässt die 211 212 Wahrheit des Gesprächs keinerlei abschließende Anmaßung zu, sondern verlangt vielmehr nach weiteren Worten, die dazukommen, um die Konsistenz des Wahren zu prüfen, das sich sagen lässt gegenüber dem, was verschwiegen, weil noch zu denken oder notwendigerweise ungedacht bleibt. Allein in diesem Spiel von Entbergung und Verbergung, nur weil sich das Wahre, indem es sich sagen lässt, zugleich dem Schweigen übergibt, nur deshalb lässt es enthüllende, gleichwohl nie endgültige Worte entstehen. Die Wahrheit fordert nämlich immer neue Gesprächsteilnehmer, aber nicht deshalb, weil sie als schon vollkommen enthüllte Wahrheit noch eine Widerspiegelung bräuchte, sondern weil sie stets zugleich verborgen und offenbar ist und daher notwendigerweise als Wahrheit im Gespräch all jener geschieht, die das Ereignis der Welt zur Sprache ruft. Nun ist aber eine Wahrheit, die geschieht, die sich ereignet, die ankommt, im eigentlichen Sinne einer Ankunft (ad-ventus), wenn sie keine beständige Wahrheit ist, dann auch keine Wahrheit, die wird, im präsentischen Sinne des Seins als Anwesenheit, der die griechische Erfahrung prägt und dabei dem Sein selbst rein ontische Prädikate zuschreibt wie Wandel und Unwandelbarkeit, in Ruhe oder in Bewegung sein, eins sein oder in rein physischem Sinne verschieden sein, schließlich überhaupt sein oder nicht sein. Bezogen auf diese tiefe Erfahrung, die das metaphysische Denken beherrschte, „ist"die Wahrheit nicht, wie auch die Existenzen im Gespräch nicht „sind", aber nicht deswegen, weil sie im Gegensatz dazu „werden", sondern weil sich das Schicksal des Verhältnisses zwischen Wahrheit und Existenz nicht ausschließlich im kontrollierten Raum der paradigmatischen Instanzen der auf das Sein des Seienden gerichteten Analysen abspielt. Das Sein der Wahrheit ist kein Bleiben, ebensowenig wie das Sein der Existenz Werden ist, weil weder die eine noch die andere einfach anwesend oder abwesend ist. Wem es an Wahrheit mangelt, dem fehlt es nicht an etwas Ontischem, sondern an dem, was die geheimnisvolle Notwendigkeit seines Sprechens mit anderen birgt, am Ende seines Existierens. So wie auch der, der die Wahrheit findet, nicht einfach Dinge findet, auch kein System von Aussagen und Behauptungen, sondern vielmehr eine Verständnismöglichkeit, eine Antwortmöglichkeit auf Fragen, die ihn umtreiben, einen Grund, um seinerseits andere Fragen aufzuwerfen und so im Gespräch zu bleiben mit anderen Existenzen. Denn niemand besitzt die Wahrheit in den eigenen Reden, sondern sie geschieht in ihnen, wobei sie sich gleichzeitig auch entzieht und so auf weitere Gespräche verweist. Wenn sie also gesucht werden muss, wenn sie die Unruhe eines Wunschs hervorruft, der sich nicht stillen lässt, wird sie zur Bestimmung der Existenz, ist aber nicht das Produkt der Bestrebungen der Existenz - sie ist nicht Werk oder Frucht des menschlichen Genies - sondern vielmehr das Andere, das unerreichbar 1 und dennoch stets zu erwarten ist, solange es jeder Existenz gegeben ist, am Gespräch der Welt teilzuhaben. Nicht reduzierbar auf das Sein der Existenz, ist die Wahrheit dennoch nur Wahrheit für die endliche Existenz. Von einer absoluten Wahrheit, von einer feststehenden Identität im Vollbesitz ihrer selbst oder einer Identität, die sich umgekehrt auf fatale Weise in der Geschichte der Welt zu verwirklichen sucht und den vernichtenden Nicht-Sinn der menschlichen Ereignisse unter ihre wissende Kontrolle zu bringen sucht, kann die Philosophie überhaupt nichts wissen und nichts denken. Was die Philosophie versteht, ist, dass der Mensch existiert, weil er zu sprechen hat und er im Sprechen die Wahrheit und Gerechtigkeit seiner Worte und Taten zu verantworten hat. Seine Endlichkeit entzieht ihn nicht der unerschöpflichen Herausforderung der Wahrheit, sondern bringt ihn erst zu dieser Herausforderung, setzt ihn der Herausforderung einer Wahrheit aus, die in den Gesprächen der Menschen geschieht, ohne sich je auf eine unmögliche Summierung all ihrer Meinungen zu reduzieren. Und ohne sich je von der Initiative der Menschen zuvorkommen zu lassen: im Gegenteil, die Menschen werden zur Notwendigkeit geboren, sich zwischen Wahrheit und Irrtum zu orientieren, und zwar von dem Augenblick an, in dem sie dem ersten Wort Gehör schenken, das sie zum Gespräch mit den anderen Existenzen ruft. Dieser ursprüngliche Bezug zur Wahrheit wird also offenbar im Bedürfnis, das die Existenz in den verschiedensten Formen beunruhigt. Dieses Bedürfnis öffnet das Sein des Menschen auf die Wahrheit hin, die - ihm vorausgehend - auf ihn zukommt, und steht nicht umgekehrt am Ursprung einer Wahrheit, die als Versicherung gegenüber dem Leben gesucht wird. In diesem Licht versteht man auch, dass der grundlegende Sinn des Heils, den die Wahrheit den Menschen verheißt, und den zu verlangen diese sich auch berechtigt fühlen, sich in die Möglichkeit zu existieren, und nicht einfach zu leben, übersetzt, in eine Möglichkeit, die die Wahrheit dem Menschen eröffnet, sobald er sie findet, jedoch nur, um sie immer wieder von neuem zu suchen. Existieren heißt nämlich nichts anderes, als sich ständig über das Kommen und Gehen auf den Wegen der Freiheit Fragen zu stellen, Wege, die dem Menschen durch die Worte der Wahrheit eröffnet sind, die zu verstehen ihm zufällt oder die vorzubringen ihm gegeben ist. Die Existenz spricht also mit anderen auf der Suche nach Worten der Wahrheit. Sie übernimmt dadurch die Verantwortung der wechselseitigen Differenz. Das Ereignis der Kommunikation zwischen den Existenzen ist, wie schon gesagt, nichts weniger als das Ereignis des Paradoxen, demgemäß die Gesprächsteilnehmer zwar übereinkommen und sich verstehen müssen, aber nur, um jeder für sich die eigene Verantwortung und sein eigenes Schicksal zu finden. Die Kommunikation „gelingt" also nur, wenn sie die Differenzen eint, die sie zugleich bewahrt und fördert. Niemand, und am allerwenigsten die Betroffenen, vermögen 213 die Grenzen dieses Gelingens zu ermessen. Aber dieses Gelingen ist wesentlich für das Gespräch, das die Homo-logie der Differenzen hervorbringen muss, d. h., die Möglichkeit eines jeden, mit anderen zu sprechen, um sein eigenes Schicksal irreduzibler Individualität zu erkennen und jedes Mal von neuem auf die Probe zu stellen. Das Schicksal einer Individualität, die man nie „ist", aber die man jedesmal aufs neue ins Spiel bringen muss. „Homologein sophon estf, sagt Hera-klit, weise ist die Übereinkunft im Hören auf den logos, nicht auf die idia phro-nesis eines jeden: also auf den logos, der xynon ist, nicht weil er aus allen Reden eine einzige machen würde, die alle zu wiederholen hätten, sondern weil er den Raum öffnet, in dem jedem die Möglichkeit gegeben ist, in den anderen die Gesprächsteilnehmer zu erkennen, die er braucht und die vom Gespräch zur Begegnung dazu bestimmt sind, nach der jeder - ob er es nun weiß oder nicht - auf der Suche ist.ro Im Gespräch des logos erfährt also jeder die Worte, die er als an ihn gerichtete wahrnimmt, weil sie seine Aufmerksamkeit verlangen, nicht nur als Worte einer anderen Existenz, sondern als Worte der Wahrheit, die über sein Leben entscheidet, der gegenüber sich sein Leben zu entscheiden hat. 3. Die Perspektive der notwendigen Pluralität des Wahren - einer Wahrheit, die sich als solche nicht aufgrund irgendeines transzendenten Intellekts oder Subjekts behauptet, sondern sich im Gespräch der Existenzen ereignet - erlaubt es, das Gespenst der Orthodoxie in Schach zu halten, das das metaphysische Denken mit einer zerstörerischen Macht ausgestattet hatte und vor dem man sich auch heute noch in Acht nehmen sollte, ebenso aber auch vor dem verwerflichen Schatten des Relativismus, dem man geneigt ist, mit allzu exzessiver Überstürzung immer mehr Platz einzuräumen. Da aber die Pluralität des Wahren kein gegebenes Faktum ist und auch die Wahrheit nie ein solches ist, hebt das hermeneutische Verständnis einer Wahrheit, die allein in den Worten der Menschen geschieht, zugleich auch die Voraussetzungen des Relativismus auf. Die Apologeten der Wahrheit als Identität können nicht wahrhaben, dass gerade die Trennung zwischen der Wahrheit und der Existenz - zwischen der Transzendenz und der dinghaften Festgesetztheit des Wahren einerseits und der grundlegenden gegenseitigen Fremdheit der menschlichen Subjekte andererseits, die als in ihr Selbst- i0 Heraklit, Frg. 50 DK, der im vollen Wortlaut sagt: „Ouk emou allä tou logou akousantas homologein sophon esti hen pdnta einai: Wenn sie nicht auf mich, sondern auf den logos hören, ist es weise zu sagen, dass alles eins ist." Fragment 2 weiß aber auch, dass wenn „der logos gemeinsam ist, die Vielen aber dennoch so leben, als ob sie über eine eigene Weisheit verfügten". Fragment 80 warnt allerdings: „Man muss wissen, dass Krieg (polemos) gemeinsam ist und Gerechtigkeit Streit und dass alles geschieht auf Grund von Zwist und Notwendigkeit." bewusstsein eingeschlossene Entitäten gefasst werden, das den Bezug zu Anderen ausschließt bzw. sekundär macht, dass diese Trennungen also nichts anderes zulassen als einen privaten und damit einen unvermeidlich relativistischen Bezug zur Wahrheit. Die Wahrheit, die das Endliche auf das Jenseits seines Seins projiziert, wird für das Endliche zum Absoluten. Und es kann zu dieser Wahrheit nur unter der Voraussetzung gelangen, dass die Wahrheit die Hindernisse seiner Endlichkeit aufhebt. Gegenüber der Transzendenz des Wahren wird die Wahrheit, zu dem das Endliche fähig ist, nichts anderes sein als Irrtum und Trugbild. Relativismus eben. Die Pluralität des Wahren, von der die Hermeneutik der Endlichkeit Zeugnis ablegt, ist zugleich die Notwendigkeit des Wahren. Die Hermeneutik öffnet auf diese Weise nicht jener zerstreuten Toleranz die Tore, die häufig nur die Maske der Indifferenz wird, die jeder im Innersten seines Herzens gegenüber dem, was der Andere zu sagen hat, empfindet. Die Hermeneutik legitimiert also nicht jede Meinung, indem sie sich zufrieden gibt mit den ehrlichen Bemühungen, die der Gesprächsteilnehmer bisweilen an den Tag legt, sondern verlangt im Gegenteil vielmehr, dass die Konsistenz jeder Überzeugung am Maß der Wahrheit geprüft wird, das im Gespräch festgelegt wird. Sie idealisiert deshalb aber nicht die Möglichkeit der intersubjektiven Kommunikation im Sinne der Diskursethik, um sich eine paradiesische Gemeinschaft der Subjekte auszumalen, die in perfekter Reziprozität der Intentionen die volle Transparenz suchen, die von der Wirklichkeit stets negiert wird. Im Lichte dieses normativen Bezugs versucht Habermas bekanntlich die Bedingungen zu formalisieren, die die ideale Kommunikationssituation umschreiben, vergisst aber, dass die Wahrheit als Welteröffnung den guten Veranlagungen der Subjekte vorausgeht, um ihnen die Bedingungen ihres Sich-ereignens vorzugeben, das sich allerdings nur aufgrund ihrer Antworten vollzieht. Daher ist die Wahrheit der Gespräche, die die Menschen miteinander führen, die wirkliche, geschichtliche (oder wenn man will: schicksalhafte) Wahrheit ihrer endlichen Existenz und nicht der unmöglichen Möglichkeit, ohne Grenzen miteinander zu kommunizieren. Habermas versäumt es u. a. auch in Erwägung zu ziehen, dass auch die Grundvoraussetzungen jeder wahrheitsfähigen Kommunikation im Gespräch diskursiv definiert werden. Welches ist also die Wahrheit des Diskurses der „idealen Sprechsituation"? Er konzipiert Wahrheit als Verwirklichung des universellen und freien Konsenses aller Sprechenden, ohne zu bedenken, dass dies nur durch die Aufhebung der für die Existenz des Menschen konstitutiven Endlichkeit erreicht werden kann, also gerade durch die Aufhebung der Notwendigkeit des Miteinander-Kommunizierens der Existenzen. Das Ideal von Habermas ist demnach der Traum einer unendlichen Wahrheit, die in der Hand der Subjekte guten Willens liegt. Ihnen und nicht mehr dem Gott der metaphysischen Tradition ist die Aufgabe übertragen, die Wahr- 215 216 heit als Wahrheit des Einen und Identischen zu garantieren. Aber war das nicht letztendlich schon der Traum Husserls? Die These von der notwendigen Pluralität des Wahren setzt die Wahrheit hingegen dem Paradox des Endlichen aus, das der Wahrheit, die es anspricht, zu antworten hat, und zwar gerade indem es von der eigenen Endlichkeit und damit von den notwendigen Grenzen jeder seiner Antworten Rechenschaft gibt. Nur das explizite Annehmen der Grenze erlaubt es, die Endlichkeit der Wahrheit, die sich ihm zu denken gibt, nicht zu verraten, d. h., die Wahrheit des Wahren auf endliche Weise zu denken, ihr Sich-Ankündigen als solche innerhalb der Grenzen des Endlichen, und sich jede Extrapolation zu versagen, die vorgibt, sie in den Rang eines nur postulierten meta-physischen Unendlichen zu erheben. Auf der einen Seite bedeutet Meta-Physik also im wahrsten Sinne des Wortes das Bedürfnis der endlichen Vernunft, das absolute Fundament, von dem sie glaubt, dass es ihr fehlt, auf das Jenseits ihrer eigenen Endlichkeit zu projizieren. Dieses Bedürfnis offenbart aber vielmehr die Leichtigkeit, mit der die Vernunft irrt und sich verliert, und ist keine stichhaltige Rechtfertigung für die Flucht vor dem Endlichen. Also ein Argument für ihre Endlichkeit und nicht für ihr positives Sichberufen auf das Absolute. Auf der anderen Seite hebt das Bewusstsein des Endlichen nicht seine Endlichkeit auf, gemäß der bekannten metaphysischen Argumentationsstrategie, sondern lässt vielmehr die Übernahme von Verantwortung zu, die der Existenz das Geheimnis der irreduziblen Alterität des Wahren eröffnet. Wenn sich die Wahrheit nur als Wahrheit der Existenz ereignet - jeder andere Diskurs über die Wahrheit verliert sich in der meta-physischen Illusion -, ist die Existenz dennoch nicht die Wahrheit, vielmehr überkommt die Wahrheit stets die Existenz und schreibt sich ihr vor, indem sie Gehorsam verlangt, oder entzieht sich ihr, um sie zur Suche anzuregen oder gelegentlich auch, um sie in der Enttäuschung eines leeren Irrens zu lassen. Daher wird die Wahrheit auch in der berühmten Stelle von Sein und Zeit noch unvollständig, d. h. subjektivis-tisch gedacht, wenn es heißt: „Wahrheit „gibt sich" nur, sofern und solange Dasein ist".11 Diese Feststellung ist zu ergänzen durch die komplementäre These, die ihr die subjektivistische Einseitigkeit nimmt, nämlich dass sich auch das Dasein, die Existenz, nur gibt, wenn und solange die Wahrheit ist, d. h. also, sie die Existenz zum Da-sein in der Welt ruft. Darüber hinaus kann diese These die Bedingung der Wahrheit der ersten These umfassen, die immer noch die wesentliche Relativität des Wahren beinhaltet, indem sie jede Möglichkeit ausschließt, das „Sein" des Wahren im Sinne eines unabhängigen, absoluten Seins zu verkennen, das schlechthin undenkbar wäre. 11 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Niemeyer, Tübingen 1967, S. 226. Das endliche Denken des Endlichen ist jedenfalls in der paradoxen Situation, die Wahrheit, die sich ihm vorschreibt, nicht nicht festhalten zu können, trotz des unüberschreitbaren Wissens um ihre Vorläufigkeit. Jede Wahrheit ist nämlich immer auf die Aneignung angewiesen, durch die sie zum Ereignis wird, und auf die ständige Neuinterpretation, die sie vor dem Vergessenwerden bewahrt; auf diese Weise bleibt sie lebendig aufgrund der unfassbaren Kontinuität des Diskurses, die sie zugleich unvermeidlich als stets andere erscheinen lässt. Daher bleibt das endliche Denken fest in der Wahrheit verankert, der es so weit teilhaftig wird, wie es ihm erlaubt ist, die von ihm sogar verlangt wird als Antwort auf den dringenden Anruf, dem es Gehör geschenkt hat. Die Anstrengung des Begriffs, die Mühe, die dem Denken auferlegt ist, ist also nicht jene, die Wahrheit hervorzubringen, sondern beständig ihrer vorläufigen Stabilität zu vertrauen. Es ist auch nicht zu denken, dass das Endliche mit der Wahrheit irgendwie übereinkommen könnte; gerade weil es endlich ist, geht es nicht aus Eigeninitiative auf sie zu, sondern geht vielmehr die Wahrheit ihm immer voraus und wird es erreichen; die Existenz begegnet der Wahrheit nämlich als Alterität an der Grenze der eigenen Endlichkeit. Endlich verwirklicht sich das Feststehende an ihr als immer wieder aufs neue unvorhergesehene Beweglichkeit, über die das Denken selbst nur überrascht sein kann; denn immer wieder aufs neue überrascht die Wahrheit durch ihre unerwarteten Ansprüche selbst das Denken, das sich treu an die Wahrheit hält, sie bringt es immer wieder aus dem Konzept, indem sie es in eine instabile Situation versetzt, die es immer wieder neu in Bewegung setzt. Die Identität des Wahren zeigt sich so viel eher in seiner Unerfassbarkeit als in seiner beruhigenden Verfügbarkeit. Es ist nämlich weder, wie man sagte, die Identität von etwas Bleibendem noch das Werden eines Subjekts, das a priori, ausgehend von seinem Subjekt-Sein, weiß, welches sein Schicksal sein muss. Es ist die Identität eines Ereignisses, das sich als unscheinbare, nicht berechenbare, unbestimmbare Einheit einer irreduziblen Vielheit von Diskursen, Erfahrungen, Existenzen, die immer neuen und anderen Dingen und Existenzen begegnen, realisiert. Die Dinge offenbaren ihre vielfältigen Bedeutungen nach Maßgabe der vielfältigen Bezüge, die die Existenzen mit ihnen unterhalten, und zwar auf Grund der Tatsache, dass die Existenzen als solche ihrerseits von einer Art Bedürfnis der Dinge, sich als bestimmte Wirklichkeiten, eben als Dinge zu realisieren, angespornt werden, und dies auf Grund der Rezeptivität und der Bedürfnisse der Existenzen selbst. Diese wiederum kommen in der Anerkennung einer gemeinsamen Wahrheit überein, oder sie trennen sich, wenn diese schwindet, je nach der Veränderung ihres Bezuges zu den Dingen. In diesem Geschehen wechselnder Relationen erfüllt sich das Schicksal, dem die Existenzen zu entsprechen haben, indem sie Mal für Mal die Verantwortung für ihr Sein übernehmen. Wenn sich etwas in diesem Geschehen als bleibend erweist, dann ist das nicht das Feststehen einer 217 218 bloß angenommenen substanziellen Wirklichkeit, oder die Selbstidentität eines Bewusstseins, das sich in Wahrheit nie besitzt, sondern die Treue der Existenz zu ihrem eigenen Schicksal. Diese Treue gehört weder in die Ordnung des Seins noch des Werdens, noch lässt sie sich an äußerlich festgesetzten Kriterien messen. Sie gehört zu dem Geheimnis der Antwort, die die Existenz ständig der Al-terität schuldet, die sie sein lässt. Daher lässt sie sich nicht nur nicht in die Kategorien der Ontologie der Präsenz übersetzen, die das Sein und die Veränderung der Dinge als physische Wirklichkeit fasst und aus der Existenz selbst ein Ding macht; sie lässt sich auch nicht ausgehend von der Sinnforderung denken, die die unendliche Teleologie der Subjektivität beherrscht, d. h. seine immer wieder aufgenommene Spannung zur unerreichbaren Selbstbehauptung. Die Identität des Wahren, die sowohl die Ontologie als auch die Teleologie jeweils auf ihre Weise voraussetzen, ist notwendigerweise allergisch gegen die Alterität des Wahren, die sich der ontischen Alternative zwischen dem Einen und Vielen entzieht, und ebenso jener zwischen dem Bleibenden und dem Werdenden. 4. Das Andere der endlichen Existenz kann auf Grund der „Transzendenz", die als ein nicht auf das Einverständnis zwischen den Existenzen reduzierbares Ereignis eingefordert wird, nicht als Stütze einer restaurativen Allianz zwischen der Hermeneutik des Endlichen und der Metaphysik der Substanz oder des Subjekts fungieren, die es erlauben würde, die grundlegende Identität des Wahren wieder aufleben zu lassen. Im Gegenteil, das Andere ist das Prinzip, das das Sein eines jeden zum Bezug mit den Anderen bestimmt, weil es zur Existenz als Sprache kommt; als solches ruft das Ereignis des Anderen die Existenzen zum Gespräch, in dem jeder den Anderen Rechenschaft über die Wahrheit zu geben hat, die zu suchen sein Schicksal ist. Die endliche Existenz hat so in Anderem den Grund, der sie strukturell befreit vom Beharren im eigenen Sein und in der eigenen Wahrheit (in der idia phronesis, nach den Worten Heraklits), ein Verharren, das als Fundament einer universellen Wahrheit — der Wahrheit als Gewissheit des Identischen — von der Philosophie des Bewusstseins oder des cogito hingegen vorausgesetzt ist. Auch dem, was Heidegger mit großer Klarheit in Sein und Zeit festhält, dass nämlich Dasein Mitsein ist, fehlt es an der Dimension der radikalen Alterität, die den Rückfall in den Solipsismus verhindert, vor dem nicht einmal das große Eingangswerk verschont bleibt — trotz der Sprengkraft, mit der es in die Debatte der Blütezeit der Phänomenologie einbricht. Denn das Dasein entdeckt die Anderen in sich, soweit es Subjekt bleibt und noch nicht Ek-sistenz wird, so wie es die Welt in sich als Existenzial entdeckt, statt umgekehrt, sich in der Welt, d. h. sich in Anderem und daher immer mit Anderen zu finden: die Anderen, die dem Sein eines jeden immer vorausgehen, wie die Eltern dem Sein der Kinder, um ihnen das Leben und das Wort zu schenken, auf Grund der gemeinsamen Zugehörigkeit zum Ereignis der Welt als das Andere jeder Existenz ge- genüber.12 Noch genauer und konkreter bedeutet das, dass sich das Sein mit Anderen immer auf Grund vom Anderem ereignet, das als Sprache waltet und die Situation der Endlichkeit der Existenz de-finiert, im Sinne einer wesentlichen Um-grenzung und Ein-grenzung. Das ist nichts anderes und nichts weniger als die Notwendigkeit eines jeden, im Angesicht der Anderen zu sprechen und zu denken durch die Kraft der Wahrheit, die sich von allen suchen lässt, sich aber niemandem zur Verfügung stellt und auch nicht die ideale Belohnung der Anstrengungen des guten Willens der Gemeinschaft der Subjekte darstellt. Die Offenheit der Welt als das Anderes geschieht nämlich nur im Gespräch der Ek-sis-tenzen. Das Denken der Endlichkeit zielt damit nicht auf eine ideale Philosophie des Dialogs, weil es vielmehr sein Anliegen ist, den sozusagen heteronomen Charakter des Miteinander-Sprechens der Menschen aufzuzeigen. Es trägt den Grund seiner selbst nicht in sich, also in der Selbstbegründung einer pluralen und gemeinschaftlichen Subjektivität (der Paradigmenwechsel nach Habermas vom Solipsismus zur Intersubjektivität), sondern in der Wahrheit, die jeden Diskurs und jede Übereinkunft in Schach hält, indem es sich jedes Mal das Vorrecht sichert, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Im Gespräch geht es nämlich in erster Linie um die Wahrheit, nicht um die Gemeinschaft der Sprechenden: dieser ordnet sich die Wahrheit nicht unter, und dennoch geschieht die Wahrheit nicht anderswo als im Miteinander-Sprechen der Existenzen. Aber gerade weil sich die Wahrheit, die im gemeinsamen Diskurs entsteht, nie auf das in diesem Diskurs Gesagte reduziert, sondern ohne Unterlass neue Worte fordert und dadurch das Ungenügen alles Gesagten gegenüber dem immer Ungesagten offenbart, hat das Gespräch notwendigerweise einen polemischen, streitbaren Charakter, der nicht verschwiegen werden kann. Die Worte und Gedanken treffen nicht nur aufeinander im Sinne des Austauschs und der Ergänzung der Perspektiven, sondern 12 In der Vorlesung des Sommersemesters 1927 Die Grundprobleme der Phänomenologie hält Heidegger fest: „Welt ist eine Bestimmung des Seins des Daseins. [...[ Sie gehört zur Existenzverfassung des Daseins. Welt ist nicht vorhanden, sondern Welt existiert." Alles klärt sich also auf Grund des Verständnisses des Seins des Daseins: Welt, Mitsein mit Anderen, Sein bei den Dingen. Trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen wiederholt Heidegger das subjektivistische Unvermögen der leibnizschen Monaden, aus sich selbst hinauszukommen, und gewinnt so ein Außer-sich-sein der Existenz, das nicht über den Horizont ihrer konstitutiven Entwürfe hinausgeht, da die Alterität der Welt fehlt und aus der Existenzialisierung der Welt („Welt existiert, d. h. sie ist nur, sofern Dasein da ist") die strukturelle Bedingung der Transzendenz des Daseins gemacht wird: „Die Welt ist das Transzendente, weil sie zur Struktur des In-der-Welt-seins gehörig das Hinüberschreiten zu ... als solches ausmacht." In Wahrheit aber kann sich die Existenz nur dann „aus einer Welt verstehen", wie Heidegger es möchte, wenn die Welt ihr unfassbarer Ursprung ist, in diesem Sinne also das Andere, von dem her es mit Anderen zu sein hat, das aber seinerseits nichts Absolutes ist, das unabhängig von der Existenz sein könnte. (Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie , GA. 24, Klostremann, Frankfurt/M. 1975, S. 420, 422, 425). auch im Sinne der Auseinandersetzung und Konfrontation, die zwar durchaus zuweilen zu einer wechselseitigen Bereicherung der Positionen führen kann, oft jedoch die Härte des Widerstreits nicht vermeiden und auch aufgrund der Unmöglichkeit sich zu verstehen zur Verhärtung der Differenzen führen kann, die sie schließlich wechselseitig undurchdringbar macht. Nicht immer ist es den Gesprächsteilnehmern möglich, die Argumente der jeweils anderen anzunehmen. Dies schließt allerdings nicht aus, dass die Wahrheit, die keinen Anspruch auf Absolutheit und auf das Bleibende des absolut Identischen mehr erheben kann, aus Prinzip aufgrund ihrer Endlichkeit eine gastfreundliche Wahrheit bleibt, wie man sagte, der es nicht erlaubt ist, die Wahrheit des Gesprächsteilnehmers absolut auszuschließen. Aber es zeigt auch, dass der Grund dieser Liberalität, dieser notwendigen Anerkennung der Pluralität des Wahren im dramatischen, paradoxen Charakter des Schicksals der Endlichkeit liegt. Das Endliche kann nicht anders, als der Wahrheit, über die es nicht verfügt, zu gehorchen. Aber gerade weil sich die Wahrheit auf endliche Weise offenbart, würde das Endliche die eigene Endlichkeit verraten, wenn es um jeden Preis die Schlichtung oder Vermittlung der Wahrheit suchte, der es Gehorsam schuldet, mit der der Erfahrung der Anderen. Oder wenn es der versöhnlichen Versuchung einer Wahrheit nachgeben würde, die am Ende alles und alle umschließen müsste. Die Existenz kann nicht ignorieren, dass die Situation der Endlichkeit, die ihr auferlegt ist, nach der Wahrheit zu suchen und die Wahrheit, die sich ihr offenbart, zu verantworten, sie zugleich beständig der Möglichkeit des Irrens aussetzt. Mehr noch, der Irrtum ist gleichsam das zweite Gesicht jeder Wahrheit, der sie Folge leistet, gerade weil nichts je ein für alle Mal definitiv ist und die Bedingung, um ein Wort zu verstehen, immer die ist, das Ohr für viele andere zu verschließen. Und dennoch ermächtigt diese Relativierung jeder Wahrheitserfahrung die Existenz nicht zu einem indifferenten Relativismus, sondern gibt ihr auf, die Wahrheit zu hüten, die sich ihr unerbittlich zuschreibt und die in jedem Fall - da sie nicht aus einer ihrer Entscheidungen hervorgeht - über den Bezug zu jeder anderen Wahrheit entscheidet, indem sie ihre Treue verlangt. In der Tat begreift die Existenz nur dank der Wahrheit, von der sie vielmehr umgriffen wird, dass sie einen Bezug zu den unterschiedlichen Erfahrungen haben kann, sei es, dass sie sich von der Möglichkeit zu fruchtbarem Austausch angezogen fühlt, sei es, dass sie die Inkompatibilität der jeweiligen Positionen einsieht oder sie als unüberwindlich fremd wahrnimmt. Jedenfalls können auch die unterschiedlichen Positionen, die sich zumindest an einem gewissen Punkt der Auseinandersetzung als falsch erweisen, nicht aus dem Gespräch ausgeschlossen werden dürfen und können, auch wenn sie deshalb in der Folge vielleicht nicht mehr bevorzugt in Betracht gezogen werden, denn im Gespräch zu bleiben mit allen am Gespräch Beteiligten, gehört zum Schicksal der Suche nach einer endlichen Wahrheit. Diese kann nämlich morgen schon den bisher unverstandenen Reichtum einer Position offenbaren, die man heute nur ablehnen kann oder deren Zugehörigkeit zur Sache man nicht wahrhaben mag. Die Pluralität des Wahren zeigt sich somit notwendigerweise als liberal und konfliktreich zugleich, gerade weil sie das Gegenteil der relativistischen Indifferenz darstellt und damit die Erfahrung der dramatischen und unauflöslichen Spannung zwischen Wahrheit und Irrtum unausweichlich macht. Was sich am Ende also als unhintergehbar erweist, ist der Gedanke, dass die Wahrheit des Gesprächs nur eine endliche Wahrheit sein kann. Sie führt nicht zur Synthese, in der alle Differenzen aufgehoben werden können, sondern im Gegenteil: sie geschieht als das Ereignis, in dem die Differenzen bestimmt werden. Sie bringt nicht die höhere Einheit eines transzendenten Blicks hervor, der das Ganze, das dem Blick des einzelnen entgeht, zu überblicken imstande ist, sondern eröffnet in der Auseinandersetzung für jeden die Möglichkeit, seine eigene Wahrheit unter Beweis zu stellen, und zwar nicht, um sie aufzugeben, sondern um möglichst treu ihren Hinweisen zu entsprechen. Wenn wir also davon ausgehen müssen, dass die Wahrheit aufgrund ihrer Endlichkeit anders ist als jede Übereinkunft und jeder Konsens, ist die Wahrheit aufgrund ihrer Alterität endlich. Einerseits ist die Übereinkunft nur unter der Bedingung der Auslöschung der Differenzen möglich, die das Schicksal der Endlichkeit, das das Ereignis der Wahrheit bestimmt, unüberwindlich macht. Daher ist jede Übereinkunft vorläufig (und erfüllt nur eine untergeordnete Funktion im Verhältnis zur Notwendigkeit für jede Existenz, nach der Wahrheit zu suchen, für die er im Gespräch mit den Anderen verantwortlich wird). Andererseits braucht die Wahrheit die Existenz, für die und durch die sie geschieht, denn ohne die Existenzen reduziert sie sich auf den Fetisch eines in sich ruhenden Seins, das ohne Leben und ohne Denken ist, weil es jenseits von allen Gesprächen ist und nur dank des Gesprächs sich die Wahrheit als Leben und als Denken hervorbringen kann. Aber nur aufgrund des notwendigen Sich-voneinander-Unterscheidens der endlichen Existenzen, und daher aufgrund des notwendigen Sich-Vervielfältigens der Wahrheit, wird die Erfahrung der tiefsten Übereinkunft möglich, die jedem Übereinkommen und jedem Divergieren vorausgeht und das immer schon geschieht als Möglichkeit des Miteinander-Sprechens der Menschen, also aufgrund des Ereignisses von Welt in Sprache. Diese immer waltende, aber dennoch nicht verifizierbare Übereinkunft offenbart die tiefe Einheit, aus der jedes Gespräch hervorgeht und in der es übereinkommt. Diese Einheit bleibt aber unfassbar, weil es die unbegreifliche Einheit eines notwendigen Sich-Unterscheidens ist. Vielleicht spricht Heraklit von dieser Einheit, wenn er anhand des Bildes von Bogen und Leier jene tadelt, die - vielleicht in Bezug auf den logos? - „nicht verstehen, wie Sich-Unterscheidendes mit sich selbst übereinkommt". Auch sagt er, dass die „verborgene Einheit stärker ist als die offenbare"*3, stärker wegen ihrer Unscheinbarkeit, unberechenbar, weil sich unterscheidend, so dass sie allein auf unbegreifliche Weise die Einheit des unendlichen Sich-Unterscheidens des Endlichen rechtfertigt. Also Identität als Differenz oder Differenz als einzig denkbare Identität. 222 i3 Heraklit, Frg. 5i e 54 DK. Mirko Wischke OHNE VERMÄCHTNIS. Zur Phänomenologie von Tradition, Gedächtnis und Sprache Ist die Erfahrung von Traditionen möglich? Gehen Erinnerungen verloren, wenn 223 das Erfahrungsgedächtnis mit den Zeitzeugen erlischt? Beide Fragen scheinen bereits am Einwand zu scheitern, dass Traditionen ein Gedächtnis voraussetzen, das seinerseits ohne Erfahrbarkeit weder mit den Erinnerungen anderer verschmelzen noch Fremdes integrieren könnte. Traditionen sind Erinnerungen anderer Generationen, die uns durch den zunehmenden zeitlichen Abstand fremd werden. Im Übergang vom individuellen zum sozialen Gedächtnis werden eigene Erfahrung ebenso im Lichte der Erinnerung anderer bestätigt (oder widerlegt) wie sie andere Erfahrungen aufnehmen können. Im Übergang zum kulturellen Gedächtnis gewinnt dieser Vorgang an Komplexität, ohne jedoch die Möglichkeit der Erfahrung von Traditionen auszuschließen; insofern nämlich, als Gedächtnis und Erfahrung im Übergang vom sozialen zum kulturellen Gedächtnis sich voneinander lösen, um erneut zusammengefügt zu werden, sollen die objektvierten Inhalte des Gedächtnisses nicht in Vergessenheit geraten. Traditionen werden mittels des kulturellen Gedächtnisses nur insofern tradiert, als sie immer wieder erneut mit individuellen und sozialen Gedächtnissen verbunden und von diesen angeeignet werden,1 um nicht verloren zu gehen. 1 Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, C.H. Beck Verlag, München 2006, S. 34. Lässt sich aus diesen Überlegungen folgern, dass die Frage, ob Traditionen zu erfahren möglich ist, mit dem Verdacht der Trivialität behaftet ist? Nach dem Dargelegten drängt sich ein solcher Eindruck auf, zumal eine Phänomenologie des Gedächtnisses zu berücksichtigen hat, was Aleida Assmann beschreibt, wenn sie betont, dass das „soziale Gedächtnis eine durch Zusammenleben, sprachlichen Austausch und Diskurse hervorgebrachte Koordination individueller Gedächtnisse" ist, von der sich das kulturelle Gedächtnis dadurch unterscheidet, dass es auf einem „Fundus von Erfahrungen und Wissen" aufruht, „der von seinen lebendigen Trägern abgelöst und auf materielle Datenträger übergegangen ist".2 Was folgt daraus für die eingangs gestellten Fragen? Entfällt die Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung von Traditionen vor dem Hintergrund der dargelegten Überlegungen zum Gedächtnis? Wenn es als erwiesen gilt, dass Traditionen erneut Erfahrungen auslösen bzw. zur Erfahrung werden, und zwar für das an Lebensrhythmen gebundene individuelle wie soziale Gedächtnis, damit das in externen Medien wie Texten, Bildern und Denkmälern ruhende kulturelle Gedächtnis Erinnerungen 0 oder besser gesagt: Wiedererinnerungen zu erzeugen vermag -, scheint die Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung von Traditionen gleichsam offene Türen einzurennen. Denn auch wenn das soziale Gedächtnis gleich den es stützenden Menschen dem Vergehen und Vergessen ausgesetzt ist, findet das kulturelle Gedächtnis Schutz vor diesem Schicksal, und zwar in Schriftwerken, Bildern und Denkmälern. Dieser Aspekt ist jedoch alles andere als unproblematisch, wenn man die Bedenken berücksichtigt, die sich stellen, sobald das lebendige Verständnis von Texten verlorengegangen ist - ein Verständnis, das, auch wenn es lebendig ist, bereits bei Bildern und Denkmälern moderner Kunst problematisch zu werden beginnt. Dieser Aspekt soll im dritten, abschließenden Teil meiner Ausführungen zu Worte kommen. Im ersten Teil erörtere ich die Annahme von der Unübersetzbarkeit von Tradition in Erfahrung, die die Frage, ob Tradition zur Erfahrung werden kann, des Verdachts der Trivialität enthebt. Sodann ist zweitens die aus der Soziologe stammende These von der Enttraditionalisierung, die die Moderne charakterisieren soll, genauer zu betrachten. I. Ist es denkbar, dass das, was sich wiederholt und deshalb erinnert wird, nicht zur Erfahrung wird? Lässt sich die Behauptung rechtfertigen, dass Tradition unübersetzbar in Erfahrung ist? Diese Fragen stehen quer zu den dargelegten kulturwis- 2 Ibid. senschaftlichen Erörterungen zum Gedächtnis. Freilich nicht ohne Grund. Ist Erfahrung in bezug auf Tradition „Einverleiben und damit Neuverlebendigung", nicht jedoch „bloßes [.] Hinnehmen",3 folgt daraus, dass Tradition sich auf die Erfahrung des Wiedererwerbs gründet, um als Tradition „gegenwärtig" zu bleiben. Laut Gadamer eignet sich jedes Gedächtnis an, „was ihm begegnet, um sich in der ständigen Bereicherung des Überlieferten selber fortzubewegen".4 Ist diese Vorannahme haltbar? Die Möglichkeit des Wiedererwerbs der Tradition setzt die Erfahrbarkeit ihrer „erinnernden Aneignung" voraus.5 Wenn es aber keine entsprechende Erfahrung gibt? Was geschieht mit dem Bleibenden und Beständigen, mit dem Gadamer das Gedächtnis verbindet, wenn im Tun des Menschen der Erfahrungsverlust dominiert? Glaubt man der zeitdiagnostischen These von Giorgio Agamben, dann ist es alles andere als evident, dass „der Alltag des zeitgenössischen Menschen" überhaupt etwas enthält, was in Erfahrung übersetzbar wäre. Agamben bezweifelt dies, wenn er die erdrückende Alltäglichkeit des modernen Menschen beschreibt, dessen Vielzahl von Beschäftigungen ebenso reich an Erlebnissen wie arm an Erfahrungen ist: „Der zeitgenössische Mensch kehrt abends nach Hause zurück und ist völlig erschöpft von einem Wirrwarr von Erlebnissen [...], ohne daß auch nur eines davon zu Erfahrung geworden wäre"; weder „die an Neuigkeiten so reiche Zeitungslektüre [...], noch die Minuten am Steuer, die (der moderne Mensch) im Stau verbringt, noch die Hadesfahrt in der Untergrundbahn, noch die Demonstration, die plötzlich die Straße blockiert, [...] noch die Schlange vor den Schaltern, noch der Besuch im Schlaraffenland des Einkaufszentrums" werden zur Erfahrungen.6 An was erinnert sich der moderne Mensch am Ende seines beschäftigungsreichen Alltag? An seine Erlebnisse. Aber sind Erinnerungen allein auf Erlebnisse zentrierbar? Können wir uns allein an das erinnern, was wir auch erlebt haben? Die Frage, ob Tradition unübersetzbar in Erfahrung sind, lässt ich mit Agamben insofern beantworten, als Erlebnisse durchaus auch Erfahrung freisetzen können, die dann allerdings als erlebniszentrierte Erfahrungen zu präzisieren sind. 3 Paul Natorp, Die Weltalter des Geistes, Eugen Diederichs Verlag, Jena 1918, S. 5. 4 Hans-Georg Gadamer, „Wort und Bild — ,so wahr, so seiend'", Mohr Siebeck Verlag, Tübingen, Gesammelte Werke (im Folgenden: GW), Bd. 8, S. 373-399, hier: S. 377. 5 Gadamer, „Die Aktualität des Schönen", GW 8, S. 100 f. Zu diesem Problem: Charles Scott, „Überlieferung jenseits von Bildern und gestohlenen Erinnerungen", in: Günter Figal, Jean Grondin und Dennis J. Schmidt (Hrsg.), Hans-Georg Gadamer zum Hundertsten, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2000, S. 1-34; Nicholas Davey, „Mnemosyne und die Frage nach dem Erinnern in Gadamers Ästhetik", in: G. Figal, J. Grondin und D. J. Schmidt (Hrsg.), Hans-Georg Gadamer zum Hundertsten, S. 35-62. 6 Giorgio Agamben, Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte, Suhr-kamp Verlag, Frankfurt/M. 2001, S. 23. Was Agamben beschreibt, lässt sich dem individuellen Gedächtnis zuordnen, freilich in einer Weise, dass in der Konsequenz fraglich zu werden beginnt, ob es so etwas wie eine „Koordination individueller Gedächtnisse" gibt, wie es für das soziale Gedächtnis typisch sein soll. Das ist nicht das einzige Problem. Ist bereits das Verhältnis von individuellem und sozialem Gedächtnis problematisch, wie ist es dann um das kulturelle Gedächtnis und seinen „materiellen Datenträgern" bestellt? Bereits der junge Hegel musste schmerzlich erkennen, dass die in Rituale und Dogmen erstarrte Tradition christlichen Glaubens lediglich in Erinnerung an ihrem Begründer, nicht aber im lebendigen Glauben fortgeführt wird. Seine Kritik gilt der Anverwandlung der Erinnerungen an die herrschende Lehre infolge der Sicherung möglicher Interpretationsrahmen durch dogmatische Textexegese, die der Klerus übernimmt. Nicht nur wenn Texte außer Gebrauch kommen, werden sie zu einem Grab für den Sinn, der in ihnen bewahrt und vergegenwärtigt werden soll. Der Sinn kann auch durch Exegese fraglich werden. Hinter Hegels Assoziation von Schrift mit Totem und Erstarrtem steht nicht allein nur die Aufgabe einer Auflösung der begrifflichen Erstarrung, in die Schriftzeugnisse durch Exegese und dogmatische Interpretationen verfallen zu drohen, sondern auch das Problem der Übersetzbarkeit von Inhalten des kulturellen Gedächtnisses in Formen des individuellen und sozialen Gedächtnisses. Hegels Einsicht in die Probleme der Möglichkeit der Erfahrbarkeit von Traditionen im Horizont wechselseitiger Übertragungen des individuellen, sozialen und kulturellen Gedächtnisses lassen sich mit Hilfe von Agambens dargelegter These zu der Annahme von der Unübersetzbarkeit von Traditionen in Erfahrung verdichten: Traditionen sind unübersetzbar in Erfahrung, nicht weil Traditionen nicht mehr über genügend Autorität verfügen, um eine Erfahrung zu garantieren, sondern weil deren Übersetzbarkeit von erlebnisorientierten Erfahrungen und Erinnerungen abhängig gemacht wird. Auf die Probleme, die sich aus der Orientierung der Erinnerung an das Erlebnis ergeben, gehe ich im letzten Teil meiner Ausführungen ein. Vorerst beschränke ich mich auf einen Aspekt hinzuweisen, der aus der Abhängigkeit der Erinnerung von erlebnisorientierten Erfahrungen folgt: dass nämlich Traditionen, wenn sie sich nicht mehr vom kulturellen Gedächtnis in das soziale und individuelle Gedächtnis übersetzen lassen, nicht länger mehr Formen der Überlieferung, sondern Gegenstände historischer Forschung oder musealer Aufbewahrung sind. Diesem Schicksal sind Traditionen freilich auch dann ausgesetzt, wenn es zur einer Übersetzung der Inhalte des kulturellen Gedächtnisses in das individuelle und soziale Gedächtnis kommt. Zu diesem Schluss gelangt Lyotard mit seiner Überlegung, dass im Zeitalter der Informationstechnologien „all das, was vom überkommenen Wissen" nicht in Informationsquantitäten „übersetzt ist, vernachlässigt werden wird".7 Ungeachtet ihrer Verankerung in Texten, Bildern und Bauten entschwinden Erfahrungen früherer Generationen aus dem individuellen und sozialen Gedächtnis, weil das kulturelle Gedächtnis im Zeitalter des „Merkantilismus des Wissens" Schüben an informationstechnologischen Evaluierungen ausgesetzt ist. Positiv evaluiertes kulturelles Gedächtnis transformiert zu entsprechenden Informationen, Wissensbeständen in Form materieller Datenträger modernster Informationstechnologie; negativ evaluierte Inhalte des kulturellen Gedächtnisses entschwinden aus dem sozialen Gedächtnis, weil es keine Rückkopplung mehr zwischen beiden Gedächtnisformen gibt. Erinnerungen gehen auch dann verloren, wenn das Erfahrungsgedächtnis noch nicht mit den Zeitzeugen verloschen ist. II. Was folgt daraus für das Problem, ob Texte, Bildwerke und Denkmäler Garanten für die Dauer des kulturellen Gedächtnisses sehen, im Unterschied zum sozialen Gedächtnis, das mit den es tragenden Menschen vergeht? Unter kulturwissenschaftlichen Prämissen unterscheidet sich das kulturelle „Gedächtnis vom Familien- und Generationengedächtnis durch solche symbolische Stützen, die die Erinnerung in die Zukunft hinein befestigen, indem sie spätere Generationen auf eine gemeinsame Erinnerung verpflichten". Als Beispiele nennt Aleida Assmann Monumente und Denkmäler, Jahrestage und Riten, die die „Erinnerung transgenerationell durch materielle Zeichen oder periodische Wiederholung" befestigen und auf diese Weise späteren Generationen ermöglichen, „ohne eigenen Erfahrungsbezug in eine gemeinsame Erinnerung hineinzuwachsen".8 Ob diese Annahme stimmt, lässt sich insofern nicht frei von Zweifel beantworten, als Soziologen wie Anthony Giddens wiederholt auf ein der Moderne eigentümliches Phänomen hingewiesen haben: nämlich der Enttraditionalisierung. Habermas stimmt darin zu, dass dieser Vorgang nicht selten „Ängste vor der gewaltsamen Entwurzelung traditioneller Lebensformen" auslöst, deren Verfall eine aus „ihren kulturellen Traditionen herausgerissenen Bevölkerung im Laufe radikal beschleunigter Modernisierungsprozesse erleidet".9 Auch man nicht gewillt ist, diese Charakteristik für überzeugend zu halten, so ist die These von der 7 Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, Passagen Verlag, Wien i986, S. 23. 8 Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 35. 9 Die abwehrende Reaktion auf diese Ängste bezeichnet laut Habermas eine der entscheidenden Ursachen des islamistischen Fundamentalismus. Jürgen Habermas, Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, Enttraditionalisierung nicht ohne Folgerungen für die Beantwortung der Frage, ob die Erfahrung von Traditionen möglich ist. Assmann unterstellt eine ungestörte Wechselbeziehung zwischen individuellem, sozialem Gedächtnis auf der einen und dem kulturellen Gedächtnis auf der anderen Seite. Im Horizont des Verfalls von Traditionen entfallen wesentliche Inhalte, die individuelle Gedächtnisse am kulturellen Gedächtnis im Horizont der Identitätskonstruktion wahrnehmen; der Vergangenheitsbezug erfolgt ohne einen vermittelnden Bezug zur Identität, hingegen sich beides - Vergangenheitsbezug und Identitätskonstruktion - bei einer intakten Wechselbeziehung zwischen individuellem, sozialem Gedächtnis und kulturellem Gedächtnis überschneiden. Daraus folgt, dass entgegen der kulturwissenschaftlichen Annahme von Assmann symbolische Stützen der Erinnerung, wie Texte, Monumente, Denkmäler, Jahrestage und Riten weder Garanten für die Dauer des kulturellen Gedächtnisses sind, noch spätere Generationen auf eine gemeinsame Erinnerung verpflichten. Relativiert sich in der Perspektive von Agambens These die kulturwissenschaftliche Annahme, wonach Symbole und Zeichen eine dauerhafte Stütze für das soziale Gedächtnisses darstellen, erscheint mir das kulturelle Gedächtnis aus der Sicht der soziologischen Annahme eines Vorgangs der Enttraditionalisierung nicht minder problematisch, wenn es um die Erfahrbarkeit der von seinen lebendigen Trägern abgelösten und auf materielle Datenträger übergegangenen Erfahrung geht. Denn wie mir scheint, ist es alles andere als evident, dass mit diesem Übergang „Erinnerungen über die Generationenschwelle hinweg stabilisiert werden" können,10 wenn die „entkörperten und zeitlich entfristeten Inhalte des kulturellen Gedächtnisses", wie Assmann es nennt, „immer wieder neu mit lebendigen Gedächtnissen verkoppelt und von diesen angeeignet werden" müssen, damit die in den Träger des kulturellen Gedächtnisses repräsentierte „entkörperte" Erfahrung „von anderen wahrgenommen und angeeignet werden kann, die diese Erfahrung nicht selbst gemacht haben".11 Ist die zeitliche Reichweite der objektivierten Träger des kulturellen Gedächtnisses nicht wie beim individuellen und sozialen Gedächtnis auf die menschliche Lebensspanne der Träger beschränkt, mögen die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses „zeitlich entfristet" sein, keineswegs jedoch sind sie deshalb auch immunisiert gegen Erinnerungsverlust.12 Die Möglichkeit des Verlustes ist in der Enttraditionalisierung begründet, wenn man geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, S. 57. 10 Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 34. 11 Ibid., S. 34. 12 Ibid., S. 34. darunter nicht vordergründig den Verfall von traditionellen Lebensformen versteht, sondern den Verlust von Sprache,13 der sich in unterschiedlichen Formen manifestieren kann: als Verarmung von Bedeutungen, den in Folge des Sprachwandels in Vergessenheit geratenen Redewendungen und nicht mehr gebrauchten Wörtern oder das Aussterben von Sprachen. Das soziale Gedächtnis ist bedingt durch Sprache; man wächst nicht schlechthin in eine soziale Gemeinschaft hinein, sondern auf dem Weg des Erlernens ihrer Sprache: „In dem Maße, wie wir sprechen lernen", so Assmann, „lernen wir auch die Interaktionsformen bzw. den Sprechakt des ,memory talk' oder ,con-versational remenbring'; es sind ganz wesentlich diese Bezüge und Bindungen, die [ ] die Voraussetzungen dafür sind, dass wir überhaupt ein Gedächtnis aufbauen können".i4 Auf dieser Ebene scheint der kulturwissenschaftliche mit dem hermeneutischen Diskurs zusammenzufallen, nicht jedoch im Hinblick auf das Verhältnis der materiellen Datenträger des kulturellen Gedächtnisses zum individuellen und sozialen Gedächtnis. Ist das soziale Gedächtnis bedingt durch Sprache, folgt daraus, dass der Wandel der Sprache den Zugang zu den objektivierten Trägern des sozialen Gedächtnisses erschwert, wenn nicht gar blockiert, was im Falle des Verlustes der Sprache evident ist. Auf diese Weise werden objektivierte Datenträger des sozialen Gedächtnisses zu deutungsbedürftigen Erinnerungsresten, wie bei Dilthey zu erfahren ist. III. Die Assoziation von Schrift mit Totem und Erstarrtem, die Hegel gebraucht und die in der philologisch-hermeneutischen Tradition bei August Boeckh und Friedrich Schleiermacher die Form einer unhintergehbaren Prämisse annimmt, ergänzt Wilhelm Dilthey um die Assoziation von Schrift mit Rest und Überbleibsel. Unter den Prämissen von Hegels Historismus durchdenkt Dilthey das hermeneutische Erbe dergestalt, dass der Bruchteil und der Rest für das Gedächtnis bestimmend wird, während es zuvor die Einschreibung und die fragile Bewahrung gewesen ist; Texte werden als Spuren bzw. als Reste des Gedächtnis- 13 Das dokumentiert die Geschichte des Verbots der Sprachen von Minderheiten in Nationalstaaten. So schreibt mit Blick auf das Baskenland Atxaga: Die „Wahrheit war, dass bereits damals — 1963, 1964 — die Menschen aus Iruain, Bewohner einer früheren Welt, das Gedächtnis verloren. Die Namen, die sie für die verschiedenen Apfelsorten hatten oder [...] oder die verschiedenen Schmetterlingsarten [...] gingen verloren, wie Schneeflocken fielen sie und schmolzen, sobald sie den Boden der Gegenwart berührten. Und wenn es nicht die Namen selbst waren, die verlorengingen, dann ihre verschiedenen Bedeutungen, ihre Nuancen, die sich im Laufe von Jahrhunderte ausgebildet hatten. Im schlimmsten Fall wird die Sprache selber ausgelöscht." Bernado Atxaga, Der Sohn des Akkordeonspielers, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2006, S. 82. 14 Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 206. 230 ses gedeutet. An die Stelle der Autorität tradierter Texte, die in der philologisch-hermeneutischen Tradition nie unproblematisch gewesen ist, rücken die Bruchteile, die Lücke und das Vergessen; Texte werden zu Spuren (unwillkürlichen Erinnerungen) und Resten (willentlich produzierte, jedoch fragmentarisierte Erinnerungen) des Gedächtnisses.15 An die Stelle der Autorität tradierter Texte treten die Bruchteile, die in Texten enthaltenen „Reste menschlichen Daseins", wie Dilthey es nennt.16 Welche Folgerung ist aus der Assoziation der Schrift mit Totem und Rest im Hinblick auf die Schrift zu ziehen, die als das bedeutendste Medium gilt, über das das kulturelle Gedächtnis wesentlich konstituiert ist? Verliert die Schrift ihre Bedeutung für das Gedächtnis? Oder muss die Frage lauten: Was folgt für das Gedächtnis aus dem fragil werdenden Speichermedium der Schrift? Die vorläufige Antwort lautet: Eine Relativierung der Vorstellung, dass die Schrift ein Speicher bzw. eine personenungebundene Objektivierung des Wissens ist. Da Erinnerungen wiederholt werden müssen, auch in neuen Kontexten, die aus der Wiederholung resultieren, vermögen die ursprünglichen Absichten der schriftlichen Benennung in der Wiederholung neuartige Kontexte auf sich zu ziehen, die das Erinnern als Wiedererkenntnis zum Andersverstehen werden lässt. Es ist somit nicht allein der Wandel der Sprache, so ist mit Gadamer zu ergänzen, der einen Verlust der früheren Verständlichkeit und der daraus resultierenden Auslegungsbedürftigkeit von Texten nach sich zieht, sondern auch der Bezug auf neue(re) Kontexte im Vollzug der Erinnerung. Als ein Bruch mit früheren Kontexten ist die andersverstehende Wiedererinnerung an frühere Erfahrungen ebenso eine Abkehr und Vergessen wie eine Rückkehr und eine Aneignung. Das Vergessen, an das Gadamer denkt, ist freilich nicht das von Dilthey: Vergessen ist nicht das Ausbleiben der Erinnerung und der daraus folgende Verlust; vielmehr ist Vergessen bedingt durch das Dazwischentreten anderer Erinnerungen, die sich um die ursprüngliche Erinnerung gleichsam wie eine sprachliche Kruste legen, so dass Nuancen, Bedeutungen hinzutreten, die die einstige Erfahrung ursprünglich nicht zur Sprache brachte. Was Wiedererkenntnis in der Charakteristik Gadamers auszeichnet, umfasst jedoch mehr, als nur den Aspekt des Hinzutretens neuartiger Bedeutungen: Anam- 15 Vgl. Mirko Wischke, „Das Erlebnis und seine vertiefende Erkenntnis. Zum Horizontbegriff bei Dilthey", in: R. Elm (Hg.), Horizonte des Horizontbegriffs. Hermeneutische, phänomenologische und interkulturelle Studien, Academia Verlag, Sankt Augustin 2004, S. 119—136. 16 Wilhelm Dilthey, „Die Entstehung der Hermeneutik", B. G. Teubner Verlagsgesellschaft und Vanden-hoeck & Ruprecht Verlag, StuttgarrGöttingen 1990, Gesammelte Schriften (im Folgenden: GS), Bd. V, S. 319. nesis ist weniger die Wiederaneignung von etwas Verlorengegangenem als vielmehr das Aufdämmern von etwas anderem; nicht die Wiederkehr eines Selbigen, sondern die „Hervorholung" und Verschiedenheit sind typisch für die Wiederholung ursprünglicher Erinnerungen/7 Was „Wiedererkenntnis ihrem tiefsten Wesen nach ist", wird laut Gadamer verkannt, „wenn man nur darauf sieht, daß da etwas, was man schon kennt, von neuem erkannt wird, d. h. daß das Bekannte wiedererkannt wird". Das Wiedererkennen ist mehr als das erneute Erkennen des Bekannten, insofern in der Wiedererkenntnis „das, was wir kennen, gleichsam wie durch eine Erleuchtung aus aller Zufälligkeit und Variabilität der Umstände, die es bedingen", heraustritt;'8 in der Erinnerung enthüllen sich die Dinge, nicht jedoch so, wie sie bereits erkannt worden sind. Diese Verbindung von Vergessen und neuer Aneignung erlaubt es Gadamer, die memoria nicht mehr als rein reproduktive, wie bei Dilthey, sondern schöpferische Fähigkeit zu verstehen, und zwar in Form der „Anverwandlung der Überlieferung", die Gadamer als die Grundcharakteristik des Gedächtnisses bezeichnet/9 Da der Sinn des in Schriftwerken Mitgeteilten allein in der „Sprachwelt" der Gegenwart verstanden werden kann, nicht aber der Vergangenheit, muss dieser Sinn auf „neue Weise zur Geltung kommen".20 Diesen Vorgang vergleicht Gadamer mit einer „Übersetzung", um deutlich zu machen, dass Wiedererkennen primär nicht rekonstruierend verfährt, sondern insofern schöpferisch ist, als im Verstehen „etwas Totes" aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinübergesetzt wird, um auf neuartige Weise hervorzutreten bzw. zum Vorschein zu kommen." Auf diese Weise wird die Überlieferung „anverwandelt", kommt es zur „Erfahrung steigender Vertrautheit" beim Wiederkennen.22 Die in der philologischen und hermeneutischen Tradition aufkommenden Zweifel an der Rechtmäßigkeit abweichender Auslegungen und dem Unbehagen gegenüber dem Problem der Mehrdeutigkeit löst Gadamer insofern auf, als er im Rekurs auf die Sprache im Erinnern und Wiedererkennen das Moment des Vergessens einzuschließen vermag. In der Perspektive des Vergessens erscheint das, was Hegel bzw. Dilthey als tot, d. h. leblos und stumm bezeichnen, als ein dem Gedächtnis Entfallenes, mehr noch aber der Erinnerung nicht mehr Gegenwärtiges, das der (anders)verstehenden Wiedererinnerung harrt. Dass vergessene Er- 231 17 Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 120. Vgl. Davey, Mnemosyne und die Frage nach dem Erinnern in Gadamers Ästhetik, S. 45. 18 Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 119. 19 Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 286 f. 20 Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 388. 21 Gadamer, „Wie weit schreibt die Sprache das Denken vor?", GW 2, S. 199-206, hier: S. 201. 22 Gadamer, „Kunst und Nachahmung", GW 8, S. 25-36, hier: S. 32. innerungen wieder in Gedächtnis zurückrufbar sind, und zwar in einer Weise, dass in der Erinnerung Ereignisse und Sachverhalte sich nicht so enthüllen, wie sie bereits erkannt worden waren, geschieht nicht kraft erlebnisfundierter Erinnerungen, sondern auf der Grundlage der „Virtualität des Wortes" als Garanten der Wiederbelebbarkeit der in der Schrift kodierten Mitteilungen:23 „Ein jedes Wort läßt das Ganze der Sprache, der es angehört, antönen und das Ganze der Weltansicht, die ihm zugrundeliegt, erscheinen. [ ... ] Reden (bringt) ein Ganzes von Sinn (ins Spiel), ohne es ganz sagen zu können."24 - Was folgt daraus für die Ausgangsfragen? iv. 232 Ist es möglich, Traditionen zu erfahren? Haben wir eine Antwort auf diese Frage erhalten? Entgegen der kulturwissenschaftlichen Zuversicht, ist diese Frage - wie meinen Darlegungen zu entnehmen ist - alles andere als trivial. Traditionen sind ohne Vermächtnis, sie sind lediglich das poröse Gesamt von Erinnerungen. Lässt sich mit Hilfe der Ausführungen Agambens und Lyotards nachweisen, dass die Rückkopplung des individuellen und sozialen Gedächtnisses an der kulturelle Gedächtnis keineswegs stö runempfindlich ist, wie der kulturwissenschaftliche Diskurs idealtypisch anzunehmen scheint, vertiefen die zeitdiagnostischen Überlegungen von Giddens und Habermas den Verdacht, dass die von lebendigen Trägern auf materiellen Datenträgern übergegangenen Erinnerungen unübersetzbar in Erfahrung sind, wenn deren Übersetzbarkeit von erlebnisorientierten Erinnerungen abhängig gemacht wird. Gadamer teilt den Zweifel an der Vorstellung, dass objektivierte Formen des Gedächtnisses gleichsam als ein fester Bestand von Erinnerungen anzusehen sind, ohne die Überlegung zu teilen, dass solche objektivierte Formen unübersetzbar in Erfahrung wären. Gadamers Erfahrungsbegriff liegt keine emphatische Vorstellung von Erfahrung zugrunde. Was Erfahrung auszeichnet, kommt für ihn in der Feststellung zum Ausdruck, dass es so ist: Der Befund „so ist es" kennzeichnet eine Wahrnehmung von etwas, was zuvor nicht auf diese Weise wahrgenommen wurde, und genau das ist charakteristisch für das, was laut Gadamer Erfahrung auszeichnet. Die neuartige Weise, wie sich Dinge und Sachverhalte präsentieren (können), ist kennzeichnend für die Erfahrung, die der Umgang mit Zeugnissen der Vergangenheit freisetzen kann. Die Betonung liegt weniger auf das Neue schlechthin, sondern 23 Gadamer, „Destruktion und Dekonstruktion", GW 2, S. 36^372, hier: S. 370. 24 Gadamer, Wahrheit und Methode, GW i, S. 462. auf das überraschend Andersartige, in der sich uns objektivierte Formen des Gedächtnisses neuartig zu enthüllen vermögen. Die Fixierung menschlicher Erfahrungen insbesondere in jenen Formen des kulturellen Gedächtnisses, die wir als Schriftwerke zu bezeichnen gewohnt sind, ist keineswegs beständig, und zwar deshalb, weil zum einen durch den Sprachwandel jene Erfahrungen anfällig für das Vergessen werden können; und zum anderen, weil die Kontexte, in denen die stummen Datenträger des kulturellen Gedächtnisses wieder zur lebendigen Erinnerung werden, andere als die sind, in denen sie einst errichtet (und interpretiert) wurden. Was gegen die wiedererkennende Erinnerung zu sprechen scheint, begründet jedoch deren Möglichkeit: Da Erinnerungen wiederholt werden müssen, auch in neuen Kontexten, die aus der Wiederholung resultieren, vermögen die ursprünglichen Absichten der Errichtung von Denkmälern und schriftlichen Benennungen in der Wiederholung neuartige Kontexte auf sich zu ziehen, die das Erinnern als Wiedererkenntnis zum Andersverstehen werden lässt. Es ist nicht allein der Wandel der Sprache, der einen Verlust der früheren Verständlichkeit und der daraus resultierenden Auslegungsbedürftigkeit von Texten, Monumenten, Bildern und Jahrestagen nach sich zieht, sondern auch der Bezug auf neue(re) Kontexte im Vollzug der Erinnerung. Als ein Bruch mit früheren Kontexten ist die andersverstehende (Wieder)Erinnerung an frühere Erfahrungen ebenso eine Abkehr und Vergessen wie eine Rückkehr und eine Aneignung, nicht jedoch im Horizont von Erlebnissen qua Erfahrungsgedächtnis, sondern der Sprache.25 Denn nicht nur das Erfahrungsgedächtnis geht unweigerlich mit den immer weniger werdenden Zeitzeugen verloren, sondern auch das auf Erlebnisse zentrierte Erinnern. 233 25 Hierzu vgl. Mirko Wischke, „Platon und der Historismus. Ein neukantianisches Interpretationsmotiv bei Hans-Georg Gadamer", Méthexis. Revista Internacional de Filosofia Antigua XV (2003), S. 125—143; „Hans-Georg Gadamer und die Phänomenologie der Traditionsaneignung", in: Helmut Vetter & Matthias Flatscher (Hg.), Hermeneutische Phänomenologie — phänomenologische Hermeneutik. Reihe der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie Bd. 10., P. Lang Verlag, Frankfurt/M. 2005, S. 210-221; „Sprache und Wahrheit. Zum Verhältnis von Rhetorik und Philosophie bei Hans-Georg Gadamer", spanische Übersetzung in: Hans-Georg Gadamer: „El Logos de la era Hermeneutica", Revista Endoxa 20 (2005), S. 357—378. Dimitri Ginev COGNiTiVE EXiSTENTiALiSM AND PHENOMENOLOGY OF SCiENCE'S THEORETiCAL OBJECTS i. 235 The existential conception of science developed in Section 69b of Being and Time focuses on the genesis of scientific theorizing out of the everyday mode of being-in-the-world. At issue here is the transformation of the "locations" of things that are "ready-to-hand" in the (pre-scientific) everyday practices into "world-points" which are released from specific "environmental confinements". (Briefly, this is a transformation of what is practically and instrumentally ready-to-hand into what becomes objectified as a presence-at-hand.) Heidegger is preoccupied with the analysis of the constitution of thematic objects of scientific research. In this regard, he elaborates on a particular paradigm of transcendental analysis. The genesis of thematic objects becomes possible through the way in which a domain of doing research is mathematically projected. The mathematical projection discloses a structure of "world-points" that is a priori. (For instance, by projecting the structure encoded by partial differential equations which establish relations connecting space, time, and the electromagnetic field-magnitudes, one delineates the domain of classical electromagnetism. Similarly, by projecting the structure encoded by the Navier-Stokes equation, one constitutes the research domain of classical hydrodynamics, where all terms describing the dynamics of fluids are satisfying the Galilean invariance.) The mathematical projection provides the "transcendental conditions" for articulating thematic objects within the domain that it delineates. This articulation is carried out by executing research practices like observation, calibration, calculation, experimentation, instrumentation, measurement, and so on. The transcendental conditions concern the construction of theoretical concepts (and models) and their empirical interpretations, the choice of themes, the clues of methods, the possibility of epistemic truth and objectivity of what is thematized, and the epistemic rationality of all practices employed in the articulation of thematic objects. By fulfilling the conditions posed by mathematical projection, scientific research objectifies. The transcendental analysis of science in terms of hermeneutic ontology addresses the process of objectifying as "the thematizing of the presentat-hand". In a highly sophisticated manner, Heidegger relates the mathematical projection (and the constitution of thematic objects of scientific research) to the temporal problem of the transcendence of the world. The thematizati-on that objectifies "entities" and "items" within-the-world presupposes transcendence. More specifically, the transcendence of the world (a transcendence which is grounded in the "ecstatical unity of temporality") makes it possible to sketch out the way of objectifying. Speaking not in strictly Heideggerian terminology, the transcendence of the world designates the fact that there are no objects (including all thematic objects of science) beyond the horizonal temporality (or, the horizon of tempora-lizing the constitution of meaning within the totality of all possible practices) of human existence. From a perspective that avoids a naturalistic postulation of an "independent reality out there that is opposed to the mind", the world is the unity of all practical relationships characterized by the moments of circumspective concern: the "in-order-to", the "towards-which", the "towards-this", and the "for-the-sake-of". Deviating again from Heidegger's terminology, the world is the complexity of organized equipment and practices in which human beings are involved. (While the world, from the viewpoint of epistemology, is the external totality of entities which is standing over against the mind of the epistemic subject, the world from the viewpoint of hermeneutic ontology does not have an essence behind the organized equipment and practices.) Yet the same unity of practices and equipment is the existential-ontological meaning of temporality. This is why Heidegger ascribes to three of the moments of circumspective concern within-the-world the role of "horizonal schemata" of ec-statical temporality. (The reason why Heidegger is using the term "ecstasies" is that to each temporalizing involvement in the organized equipment and practices belongs a "whither" to which one is carried away.) On Heidegger's summarizing formulation, the "world is already presupposed in one's being alongside the ready-to-hand concernfully and factically, in one's thematizing of the present-at-hand, and in one's discovering of this latter entity of objectification ... Having its ground in the horizonal unity of ecstatical temporality, the world is transcendent." (Heidegger 1962: 417) According to this formulation, the problem of transcendence consists in establishing the ontological possibility for "entities" to be encountered within-the-world and objectified thematically. The problem of transcendence is the main transcendental problem of Being and Time. To a certain extent, the "existential genesis" of the thematization that objectifies is due to an atemporalization of a peculiar involvement within-the-world. This involvement is the "theoretical attitude", by means of which one is making-present a domain's subject-matter of thematic objects. As a theoretical kind of making-present the thematization that objectifies is not simply an "isolation" of the horizonal scheme of the present from the "ecstatical unity of temporality". This making-present that belongs to scientific research is rather "the kind of discovering which ... awaits solely the discoveredness of the present-at-hand" (Heidegger 1962: 415). The most important merit of Heidegger's attempt to develop an existential conception of science is the way in which he is figuring out relations between the existential-ontological problem of transcendence, the horizon of temporality, and the cognitive structure of scientific research. Nevertheless, Being and Time does not offer a coherent conception of the constitution of scientific objects in terms of hermeneutic ontology. There are several reasons for this failure. First, Heidegger's picture of science's cognitive structure is underdeveloped. Second, the paradigm of constitutional analysis being employed depends heavily on the (hidden metaphysics of) the ontico-ontological difference. Third, there is a number of missing links between scientific thematization that objectifies and the solution of the problem of transcendence. Fourth, the intrinsic horizon of the temporality of scientific research is completely ignored. (The making-present of thematic objects is a process distinguished by its own temporal dynamics. Heidegger conflates in an inappropriate manner two essentially different issues: the atemporalization of what is made-present in scientific thematization and the proper temporality of scientific research as a specific mode of being-in-the-world.) Finally, the contrast between the pre-scientific modes of "cirscumspective concern" and the scientific constitution of thematic objects is exaggerated. The basic shortcoming of Heidegger's existential conception (as recognized against the background of the aforementioned five points of criticism) consists in ignoring the "intrinsic everydayness" of science. By implication, the interre-latedness of discursive practices of the research process does not play any signifi- 237 238 cant role in the analysis of objectifying thematization. Heidegger focuses chiefly on the "existential genesis" of science (as "theoretical attitude" and "mathematical projection of nature") from the everyday concernful mode of being-in-the-world. What he basically does not take into consideration is the fact that scientific research is characterized by its own everydayness, which exhibits important similarities to what Kuhn calls "normal science". (See Ginev 2003) Like the pre-predicative (pre-thematic) "average" everydayness, the "secondary everydayness" of objectifying entities within-the-world through scientific research is predicated on its own hermeneutic fore-structure as a horizon of possibilities that can be worked out by effectuating practices of experimentation, measurement, constructing theoretical models, constructing systems of differential equations, and so on. The working-out of these possibilities constitutes a domain of scientific research. Accordingly, many important distinctions of Daseinsanalytik are to be applied not only to the inquiry into the "existentially primordial" mode of pre-thematizing (pre-objectifying, pre-epistemic) dealing with things that are ready-to-hand, but to the intrinsic discursive-practical fore-structuring of the cognitive structure of scientific research as well. In particular, the distinction between the "pre-predicative as-structure of seeing of the ready-to-hand" and the "thematic-predicative as-structure of seeing of the present-at-hand" is applicable to the interpretation of the intrinsic dynamics of scientific research. The transition from "hermeneutic as" to "predicative as" does not form a privileged point of reference in studying the existential genesis of scientific ob-jectification. In opposing Heidegger's scenario of this genesis, the contemporary programs of hermeneutic phenomenology of the natural sciences advocate rather the view that there is a continuous interplay of hermeneutic as and predicative as in normal scientific research. (A view essentially anticipated by the pioneering projects for a "hermeneutic logic" developed in the 1920s by Georg Misch and Hans Lipps.) Let me now briefly focus on the principal revisions of the existential conception of science in the post-war period that promulgated the program of cognitive existentialism. II. A common denominator of the programs of hermeneutic phenomenology of science developed in the second half of the last century is the search for a post-metaphysical identity of the natural sciences achieved through certain revisions of "Heidegger's philosophy of science". (On this programs, see Ginev 2006: 65-85.) This common denominator informs some important tendencies in the studies into hermeneutics of science and phenomenology of scientific objects. Let me mention three of them. (1) While criticizing the hypostatization of an indepen- dent transcendental position, the programs retain a transcendental dimension. This sort of "de-transcendentalization" brings into play attempts at closing the gap between ontical and ontological in "Heidegger's philosophy of science" (as a part of hermeneutics of facticity). (2) While suggesting paradigms of analysis of the constitution of science's cognitive content, these programs reject any representational model of scientific knowledge. On the programs of hermeneutic phenomenology of the natural sciences, the cognitive content is not the outcome of an already fixed subject-object relation. (See Kockelmans 1985, 1993, 1997, 2002; Heelan 1983, 1994, 1997, 1998; Kisiel 1976) On the contrary, all types of epistemic cut that objectivist and representationalist theories of knowledge take for granted are "produced" within the constitution of cognitive content. The very constitution takes place within the hermeneutic fore-structures of scientific research. Furthermore, the interplay between configurations of research practices and horizons of theorizing informs the dynamics of this constitution. (3) While discarding all forms of the ideology of scientism and objectivism, the programs defend the autonomy of scientific research and the cognitive specificity of the natural sciences. In another formulation, the programs of hermeneutic phenomenology of the natural sciences put forward various non-essentialist ways of defining (and defending) this cognitive specificity in terms of an "existential analytic" of the interrelatedness of research practices (or, the modes of scientific communities' being in the worlds of scientific research). The strategy and politics of the philosophy of science based upon this existential analytic should be called a cognitive existentialism. Basically, it is an outcome of the principal revisions of Heidegger's existential conception of science. Its task is to reveal the specific her-meneutic situations, on which the research processes in the natural sciences are predicated. According to cognitive existentialism, a hermeneutic fore-structure of scientific research is not to be confused with a theoretical framework imposed upon the research practices. Such a fore-structure is rather a horizon of projected possibilities for scientific inquiry. Yet these possibilities are not constantly given to the participants in the research process. If the horizon of possibilities is always out there, then the hermeneutic fore-structure would be only another kind of a "cognitive essence". The possibilities are opened up only within the changing configurations of scientific practices. They are contextual and situational possibilities, which do not exist per se. However, the horizon of possibilities "always already" transcends the particular configurations. Furthermore, neither the horizon nor the particular configurations in which the possibilities become appropriated has/ have a temporal priority. They are mutually dependent. There is no causal relationship but a hermeneutic circle of co-dependence. It is this circle that informs the proper temporality (in the sense of hermeneutic phenomenology) of scienti- fic research. On cognitive existentialism, the circle between the horizon of projected possibilities and the particular configurations of research practices has a transcendental status with respect to the empirical dynamics of science. Paraphrasing Heidegger, the main task of a hermeneutic philosophy of science is how to enter into this circle. To stress again, the horizon of possibilities is always already transcendent as regards the actual situations of scientific research. These situations come into being as a result of an appropriation of possibilities projected (in their totality) as a horizon of doing research in a scientific domain. For the sake of illustration, consider the research process on the borderline between biochemistry and molecular biology at the time when the central issue was the acceptability of the suggestion that amino acids should become substrates for peptide bond formation. Examples of actual situations of scientific research at that time are the inquiry into the role of adenosine triphosphate as an energy supplier in protein synthesis; the inquiry of enzymes which are necessary for protein synthesis in vitro; the search for theoretical models of polypeptide synthesis based on already revealed mechanisms of acid synthesis; the verification of the view that new protein within the bacterial cell was made from the pool of free amino acids; the inquiry into connections between cytoplasmic RNA and protein synthesis; the inquiry into the structure of microsomes as an integral part of the subcellular morphology; the inquiry into the structure of DNA as a generator of the code for protein synthesis. In all these situations, the appropriation of possibilities of doing research widened in turn the horizon of new possibilities regarding inquiries into genes whose activity might exercise a control over the activity of cytoplasmic messenger (mRNA), the ways of relating changes in protein structure to changes in protein activity, the kinetic parameters of regulated protein activity, and so on. For several reasons, the appropriation of these new possibilities proved to be impossible in the period under discussion - the late 1950s. The constant widening of the horizon of new possibilities, while there is a scientific domain's growing conceptual articulation, epitomizes an important aspect in which this horizon is transcendent. Yet there are other aspects which I will take into account as well. In hermeneutic phenomenology, the appropriation of projected possibilities is conceived as a constitution of meaning. Each mode of existence (distinguished by a characteristic everydayness of routine practices) is a being-towards-possibi-lities. An existential mode articulates its meaningful world by means of the ongoing working-out (appropriation) of possibilities projected in the horizon of self-understanding. The very articulation takes the form of interpretation. Thus, the nexus of understanding (projected horizon of possibilities) and interpretation (articulation of a world of everyday practices) informs the constitutional ana- lysis of meaning in hermeneutic phenomenology. Since the reflection upon this nexus shows how the world of everyday practices is transcendent, it has a character of a transcendental reflection. In Being and Time, Heidegger specifies the nexus of understanding and interpretation by stressing three principal moments of the constitution of meaning: meaning we have in advance (a fore-having of possibilities), meaning we see in advance (a fore-sight of possibilities), and meaning we grasp in advance (a fore-conception of possibilities). He calls the unity of these moments the "existential fore-structure" of each and every mode of being-in-the-world. It is not difficult to see that the notion of "hermeneutic fore-structure of scientific research" is a specification of the notion of "existential fore-structure". As a transcendental reflection, the constitutional analysis of meaning reveals the existential fore-structure without presupposing any essence that determines the appropriation of possibilities within the world of everyday practices. In this regard, hermeneutic phenomenology provides a radical (much more radical than any empiricist position) form of anti-essentialism. According to this form, the unity of a given mode of being in a world of everyday practices, in which the possibility of the meaningful articulation of that world rests, is a unity that consists in the interpretative appropriation of the projected horizon of self-understanding. As a mode of being-in-the-world, scientific research "projects its being upon possibilities". There is an ongoing appropriation of these possibilities in the normal scientific everydayness of interrelated practices. Through this appropriation an ongoing articulation of a domain's research objects comes into being. (Classical hydrodynamics, quantum electrodynamics, molecular biology, ecosystems ecology, geochemistry, and nonlinear thermodynamics are few typical examples of domains with established conceptual structure where an everydayness of scientific practices takes place.) The research objects in such areas are constantly undergoing small changes in normal scientific research due to their "recontextualiza-tion" in new configurations of practices. The everydayness of this appropriation of possibilities ("inscribed" in the configurations of practices) and articulation of a domain of research objects is characterized by both a horizon of anticipations, expectations and orientations and a horizon of projected self-understanding. Their unity within normal scientific everydayness informs the "horizonal-temporal integrity" of a community-being-in-a-domain-of-scientific-research. As a hermeneutic fore-structure of domain's structure, this unity is not behind or beyond the interrelatedness of practices. Now, there is an important component that has to be added to this picture. A domain's research objects are always related to theoretical objects that are not present at hand in normal scientific everyday-ness. Like the horizon of projected possibilities of doing research, the theoretical objects always already transcend the actual configurations of practices. There is always a "content" of these objects that cannot be exhibited by the models constituted by the configurations in progress. This observation makes as it were plausible the hypothesis that the theoretical objects are "cognitive essences" which are not only independent of the dynamics of practices of normal scientific research but even determine this dynamics. Following this line of reasoning, one might state that the research practices serve only the function of "operationalizing" the invariant theoretical objects (conceived as quasi-Platonic entities) by transforming them into research objects that are ready to hand and present at hand in normal scientific everydayness. It is exactly this view that hermeneutic phenomenology of scientific research strongly opposes. The theoretical objects do not exist per se. They are rather "inscribed" in the horizon of projected possibilities. These objects project its existence upon possibilities. In other words, the theoretical objects do only exist through their possible readings within the "horizonally open" interrelatedness of research practices. This doctrine about the status of science's theoretical objects constitutes the kernel of cognitive existentialism. The latter can be read as a program that aims at giving an account of the status of science's theoretical objects without presupposing (or appealing to) any kind of essentialism about scientific rationality, scientific method, scientific truth, or objectivity of scientific knowledge. Science's theoretical objects are embedded both in the hermeneutic fore-structure of scientific research and in the structure of a scientific domain. Thus, for instance, regulatory genes and structural genes are theoretical objects postulated by the operon theory and the theory of allosteric regulation. By taking part in different theoretical scenarios of the control of gene expression, they play an important role in the conceptual structure of the domain of molecular genetics. At the same time, these theoretical objects are "partially" present at hand and ready to hand in the research practices of this domain. Within the "practical everyday-ness" of molecular genetics, they exist through various anticipations, expectations, and orientations assigned to them. Anticipations of heritable patterns of gene expression, expectations of the activity of the lactose-metabolizing enzymes, and orientations towards the isolation of protein repressor are cases in point. By implication, the status of science's theoretical objects has to be revealed by the same transcendental reflection that unfolds the hermeneutic circle between fore-structure of interpretation and explicit structure as the very circularity is mediated by the interrelated practices of normal scientific research. Prima facie, the theoretical objects are predicated on a double status. Upon a closer inspection, however, the theoretical objects do have a unitary existence that is to be spelled out in ontological terms. Science's theoretical objects exist, on the one hand, in the possible models of their reading. The set of these models is potentially infinite. Technically speaking, the notion of a theory's possible model can be explicated in terms of a certain formalized semantic conception of scientific theory. (In this case, one is preoccupied with finding possible empirical systems that provide models satisfying a theory's postulates. Notoriously, if at least one of the possible models provides an actual interpretation of the theoretical scenario, then the theory is semantically consistent.) From a phe-nomenological point of view, however, the expression of the "possible models of reading science's theoretical objects" refers in the first place to the horizon of projected possibilities. On the other hand, the theoretical objects exist in various spaces of representation in normal scientific everydayness. Roughly speaking, to each particular configuration of practices corresponds a space of representation (e. g., graphically and linguistically recorded experimental results, computer-designed simulations, data-models obtained by measurements of characteristic parameters, statistical models of stochastic processes, mathematical patterns of research objects' behavior, and so on). I entirely accept Hans-Jörg Rheinbergers view that the spaces of representation do not exist as separate systems of symbolic copies of independent referents. Since this view plays an essential role in my understanding of cognitive existentialism, I will pause for a brief comment on it. Rheinberger (1997: 104) succinctly notes that "anything represented, any referent, as soon as we try to get hold of it, and, concomitantly, as soon as we try to shift it from subsidiary to focal awareness, is itself turned into a representation. As a result, the term loses its referential meaning". The claim of the constant de- and recontextualization of referential meaning in scientific research is a counterpart of the picture of normal scientific everydayness as inextricably interconnected and crisscrossing configurations of research practices. The never-ending interplay of representations and represented objects in normal scientific everydayness does not allow to draw a firm demarcational line between the research process and the reality under inquiry. There is no external referent for this interplay. Scientific representation arising out from Kuhn's "puzzle-solving activities" is an interconversion of signifiers. Thus considered, representation of research objects is an integral part of their constitution. Such an object is represented in being constituted. More specifically, this constitution involves engaging in the potentially endless production of traces that emerge from the permanent replacement of presumed signified objects by other signifiers. Like the ongoing interpretative constitution of research objects within the interrelated- ness of scientific practices, scientific representation is to be conceived as a process without assignable starting points and final referents. The reality of a domain's research objects is a world of traces. This claim has much to do with the discussion of the status of science's theoretical objects. Rheinberger treats the growing dispersion of traces (of represented objects of inquiry) in the everydayness of scientific practices on the analogy of the gramm-atoloical conception of ecriture. (For Derrida, the latter expresses the unity of the writing, the written, and the "how to be written". Ecriture constitutes a sort of machine which is productive in turn, regardless of the future disappearance of its producers.) By the same token, the recordable marks produced by scientific practices become themselves productive. According to Rheinberger (1997: 111), the whole experimental arrangement "has to be taken as a graphematic articulation. Written tables, printed curves, and diagrams are further transformations of a graphematic disposition of pieces of matter, a disposition that is embodied in the design of the experiment itself ... Fractions, centrifugal pellets, and supernatants are a partition of the cytoplasm. They are handled as inscriptions. The scientific object itself is shaped and manipulated 'as' a traceable confirmation. Temporally and spatially, the object is a bundle of inscriptions. It displays only what can be handled in this way." A representation of a particular research object (e. g., a chemical reaction that under given conditions demonstrates sustained oscillations) is identified by all traces left by practices of experimentation, measurement, formalization, calculation, and so on, through which the object is actualized. These are traces representing actualized (appropriated) possibilities in scientific everydayness. Their matching gives that sense of reality which a scientific community ascribes to the particular objects under investigation. Yet with regard to the theoretical objects, they are traces of something that constantly goes beyond the actual presence of research objects. In other words, these are traces of possibilities that are still not appropriated. For the theoretical objects are inscribed in the horizon of understanding and interpretation, their traces are referring to the hermeneutic fore-structure of scientific research as well. (To take up again one of the previous examples, structural genes and regulatory genes are objects that refer to the her-meneutic fore-structure of doing research in molecular genetics, whereas the lactose-metabolizing system is a research object that has no other being but the traces it leaves by accomplishing certain scientific practices.) In saying this, I am not going to claim that there is a crucial dividing line between the particular research objects and the theoretical objects. Quite the contrary, the dispersal of traces exhibits the common being of what is actually present in a domain's scientific everydayness and what always already transcends the latter. With respect to this claim, the ambiguity of science's theoretical objects (their double status) can be conceived as a kind of "immanent transcendence". These objects remain always beyond the everydayness of routine research practices. In other words, their meanings can never be revealed totally (or, can never be "exhausted") within the interrelatedness of these practices. However complete are domain's theories and however advanced is the research process, there is an open horizon of possibilities for their appropriation in normal scientific research. The theoretical objects of a given domain are "transcendent" with respect to (the particular situations and contexts of) normal science. Yet these objects are domain's "most immanent entities" since all traces left by the interrelatedness of a domain's practices "make them present". The "immanent transcendence" of science's theoretical objects is actually the expression for their unitary being behind the prima facie double status. To sum up, the changing configurations of practices in normal scientific everydayness is a production of traces as (in Rheinberger's words) "a game of re-presentation/depresentation". The being of traces (like the being of ecriture) is a dynamic unity of presence and non-presence. Against the background of the foregoing considerations, to follow the traces of the interplay signifying representations and signified objects means to be engaged in searching for the existenti-al-ontological unity of hermeneutic fore-structure of scientific research, normal scientific everydayness, and domain's conceptual structure. It also a unity constituted by that complementarity of transcendental circularity and hermeneutic circle. In conclusion, let me stress once again the chief ideological tenet of cognitive existentialism: The hermeneutic phenomenology of science's theoretical objects has important consequences for discussing the autonomy of scientific research. Roughly speaking, cognitive existentialism defends this autonomy without presuming whatever kind of epistemological justification of science's authority. By stating that scientific research is autonomous when it moves within the room of possibilities projected by the interrelatedness of its own practices, cognitive existentialism champions the ethos of scientific research without succumbing to scientism. Literature Ginev, Dimitri (2003): "Rereading Normal Science", Critica 35(4), 41-80. Ginev, Dimitri. (2006): The Context of Constitution. Beyond the Edge of Justification, Boston Studies in Philosophy of Science, vol. 237, Dordrecht/Boston: Springer. Heelan, P. 1983. "Natural Science as a Hermeneutic of Instrumentation", Philosophy of Science 50, 181-204. Heelan, Patrick (1994): "Galileo, Luther, and the Hermeneutics of Natural Science", in: T. Stapleton (ed.), The Question of Hermeneutics, Dordrecht/Boston/London: Klu-wer, 342-376. Heelan, Patrick (1997): "Context, Hermeneutics, and Ontology in the Experimental Sciences", in: D. Ginev and R. 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The epoche, this time, indicates a sort of "resistance", a going against the current compared to the progressive nature of the movement that characterizes what Sloterdijk calls, relative to this philosophical episode, "everything else" or, as an approximation, everything, the whole, the world, humanity in its now global and self-globalizing totality. "The task of reflection", which Sloterdijk prefaced a few lines to, "consists of predisposing desired disinhibitions". By this, meaning, along with "everything else", that reflection, too, now finds itself at the service of a wide-spread and unlimited action (but not for this lacking a specific finality) which Sloterdijk in his most recent and successful work, describes, in a good deal of passages, the motivations, the provenance, and current as well as ostensibly future effects. For reflection, then, there would be no other function than to ease individual disinhibition (singular- i Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals: für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Suhr-kamp, Frankfurt/M. 2005. ly or collectively understood) to give in to it. It is about a vision of our current situation, here we can only summarily draw the outline, of contemporaneity; in this situation, nothing (or almost nothing) that detracts from the totality in progressive movement of the action, seems to be tolerated. Not even one thing from the order of the "principle" of this same action, since it is about an action in the name of action itself, of an action that lacks any type of motivation or external starting point, which each inhibition or hesitation of a reflective character would be an obstacle. And inside of this type of vortex, only some thing would seem to be able to resist. Here are the words which Sloterdijk uses to delineate the situation: The dominant figure of Modernity is absolutely not, therefore, the excess of inner reflection as some authors have suggested, nor is it a halting inhibition which it achieves: rather, it is a pragmatic indecision, which mainly arrives within an observable period of time, independent of whether alone or with others. It becomes manifest that the task of reflection consists of predisposing desired disinhibitions. Only in rare and exceptional cases does thought of the Modernity have the function of procrastinating the action on the basis of principle, we can for the rest conclude that in modern times, nothing is more improbable than the attitude of contemplative philosophy. This does not mean refuting the fact that at the beginning of the xxth century phenomenologists after Husserl, with their doctrine of the epoche, knew how to show 248 how to use this action; the "step back" made possible for philosophy is made explicit precisely at the moment in which everything else is concentrated on steps forward.2 This type of description from passages which are otherwise authoritative, is not up for discussion here. We can also accredit it in the further proposed images, those for example of a theory that is no longer conceived as a static contemplation of the thinker but as an "active construction of sufficient, successful motivations"3 and so on. I would like to stop a moment on what is now already appearing as a double character in philosophy. Or at least of a certain way of acting in and through "theory", a kind of "making theory". Or, what seems an inescapable finding oneself again at the service of a more ample, imperious and unmanageable action and, along with that (maybe in this implicit?) capacity of resistance, of subtraction, of self-exclusion of the action that reminded Sloterdijk of the gesture of the epoche, his teacher, the students of that teacher, at least the most important ones: surely Heidegger, evoked in the "steps back", but surely also others and maybe even in more recent generations. 2 Ivi, Chap. xi. 3 Ibidem. It is in question, then, a sort of capability, of potential of resistance of a philosophical gesture like that in the epoche and, especially beyond its thematic or critical content. A gesture that was not established for motivations of this kind. It is certainly not for creating resistance, or flux in the countertrend compared to certain planetary drifts that Husserl inaugurated, in phenomenology, in his phenomenology, this way of proceeding. At least at first there is nothing further from his intentions. Even if, as noted, in later texts, in particular those collected in Krisis, clarifying some "European" (a term that could equal "global" or "worldly" today) tendencies relative to the sciences and to the crisis of their total tendency is faced with great preoccupation. But it is not about assuming a position relative to action; the struggle, if that is what it is about, is fought in the area of knowledge; even, we can say, with those who are defined as "functionaries of humanity". It is on this plane that, according to Husserl, destiny plays a role, at his time European, of every knowledge and consequently of each action. The brief observation of Sloterdijk, seemingly inessential because it is deliberately exemplary and in that way also gratuitous, has in any case the merit of unhinging this order and state of things in a strong and efficient manner. The epoche mentioned in the example no longer seems a gesture that derives its own specificity in a philosophical area and has a relatively precise theoretical context, but indicates instead how a certain type of philosophy or potentially all philosophy, specifies itself as an explicit and almost thematic countermovement compared to "everything else", which, in its totality, is confirmed more and more in the tendency towards progress, as fast as it is wide-spread and vice versa. Relative to the texts of Sloterdijk, it is not about a fleeting consideration and even less a sort of hapax. In his writing, at least in those most directly theoretical,4 the shifting of the philosophical from the context of "knowledge" to a context where this would enter directly into a relationship (of subordination?) with action, is particularly explicit, visible and at times insistent. But it is neither necessary nor indispensable to credit this operation to the presumed and explicit intention of the author. No one disregards the fact that we find ourselves in the presence of a remodelling of philosophy in light of a series of considerations that concern the area of anthropology, or a vast and radical rethinking of the internal philosophy of anthropological coordinates or of anthropological derivations; on the other hand, such a total plan may, at least temporarily, be stopped and ignored. Because what seems to follow more closely, beyond the "explanations" or the theoretical constructions even if wide-ranging (which 4 As well as Im Weltinnenraum des Kapitals, see Peter Sloterdijk, Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Suhrkamp, Frankfurt/M. 200i. 250 are recognized by Sloterdijk without reservations like the rest), is rather the distinguishing of the symptom. The symptom that would indicate a drift from the "philosophical" (of quote obligation, implicit are various instances not necessarily in harmony among themselves: the scientific or meta-scientific, the reflective, the critical and still others) towards an anthropological or anthropogenet-ic root. This means that if becoming a man from man is nothing other than a process linked to action,5 the action itself takes its place in a sort of original position from which characteristics and human faculties including language, truth, thought etc., would derive, to be considered secondary elements or derivatives or simply tools.6 Apart from the relevance of questions in terms of "origin" or to a chronology of the acquisition of abilities and skills, the fact of reconsidering the "philosophical" in light of the "anthropological" would contribute (or would have contributed) to lead almost in a sort of epochal or destined fulfilment, to a sooner or later definitive subordination of the "philosophical", like action, to its job and for the "steps forward" of an action that would be indispensable or only useful, a series of systems able to carry out an inhibitorial or disinhibitorial function relative to the opportunities of undertaking an action. In a similar context, any kind of undertaking would therefore be traceable to ends and purposes, to "usefulness" or "advantage". A prospective not unlike that proposed in some of the works of Nietzsche for which a biologistical perspectivism, where conditions of preservation and enhancement the living count most of all,7 would obviously be a foundation of the conscious action of man. In a similar context, the "step back" that, according to Sloterdijk, is completed with the gesture of the epoche would clarify or make more "explicit" how much is "made possible for philosophy". It is then necessary to ask: How is it possible that in a situation which, in its totality, is "concentrated on steps forward" philosophy would be conceded a sort of extraterritoriality or surprising immunity? Or a type of escape route? And, precisely when, as Sloterdijk observes several times, 5 See Nichtgerettet, Chap. iii. 6 In Nicht gerettet, Chap. iii, we can see how explicit is Sloterdijk about this subject; he affirms that "the look that follows the throw of a stone is the first form of a theory", that "the feeling of getting the target [...] is the first degree of a post-animal function of truth", that "to hit the target is the primitive form of the sentence. The successful throw is the first synthesis of subject (stone), copula (action) and object (animal or enemy)", that in "the actions of throwing, hitting and cutting [...] the truth is originally read as correctness" and finally, according to these comments, "language is only the second house of being". 7 For example, see Friedrich Nietzsche, The Will to Power, Kroner, Leipzig 1911, § 715: "The standpoint of 'value' is the standpoint of conditions of preservation and enhancement for complex forms of relative life-duration within the flux of becoming"; this is only one of the several examples we can find in Nietzsche's work, in which this kind of thought is affirmed. the "theory" is no longer understood as an "attitude of contemplative calm of the thinker faced with the icons of being", but as an "active construction of motivations sufficient for successful actions?"8 Definitively, it would not be about a prerogative conceded to that which, all things considered, becomes unimportant and for that reason uninfluential. It would instead be about depriving oneself of a real resource relative to the disinhibitions turned to action, not at all, therefore, a negligible or irrelevant resource of little importance. It would be difficult for an answer, even a thoughtful and articulated one, to come from pretending there is a sort of concession by decree for some individuals and their occupations in virtue of their non-dangerous position, or of an even less belligerent behaviour not capable of actively damaging that "everything" concentrated "on steps forward". Also because, for "everything else", that is part of the whole, any privation of a resource is a direct threat, in the sense that it is a empowering of the same "whole", and therefore endangers the overwhelming and unstoppable character of what constitutes its own end. On the other hand, I do not believe as do others, that the "step back made possible for philosophy" could mean through personal initiative and self-determination deciding to subtract oneself from an environment that is the environment itself of his survival, his life, his own action; and that to dedicate oneself to a kind of counter-action, of counter-action, represented and exemplified in the "attitude of contemplative philosophy". As if one had a way of organizing a kind of resistance, in terms of "thought" as well as in terms of "life conduct" in a kind of quasi asceticism. Perhaps the answer could be found in another direction. And, maybe, what is "made possible for philosophy" should not be read in terms of something that is conceded to "philosophy" from the outside, whether it is a question of outside represented by that everything else subtracted from the totality that is "concentrated on steps forward", or a question of that outside, maybe closer but still extrinsic portrayed by the behavioural initiative (even if supported by ethical, pragmatic, psychological etc. motivations) of one or more individuals determined to create a sort of extraterritoriality or immunity or escape route compared to a totality that is decidedly more powerful and determined not to deprive itself of human or, even less, of "theoretical" resources, that is, in the sense that we have seen, the motivational one. Why then should something like a subtraction from totality, from a determined whole motivated to dominate through more and more disinhibited and efficient action, be made possible for "philosophy"? If it is not a question of privilege, if a convincing response cannot come from extrin- 251 8 P. Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals: für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Chap. xi. 252 sic motives and characteristics in the "philosophical" area, the question must be turned inwards, to philosophy itself. A step of this kind, that is, to have asked a question about the strange and at first incomprehensible extraterritoriality of "philosophy" compared to the "whole" of the "steps forward", is perhaps able to point to a sort of answer. Not so much a theoretical answer as an answer of the clinical kind to say: "philosophy", whether or not represented by the epoché, would seem able to subtract from something; not something determined; but from the totality itself; in "philosophical" terms we could translate: it would be able to subtract itself from the being in its totality in its being and becoming. Said like this, the thing seems decidedly relevant, to the point that it could almost lead us to a sort of gigantomachy to prepare in epic keys. In effect, however, there is none of this, nor should a definition of "philosophy" constructed in these terms, as a capacity, a possibility of subtraction from the being of its totality, in its being and in its becoming, be surprising. In fact, a similar description or definition of "philosophy" could be okay for any époque, for any moment, for any gesture relative to the being in its totality, in its being and becoming that is not a priori traceable to this same totality. The same thinkability of the being, in itself and its totality, in its being and becoming, expresses an outward appearance, that which seems to be what is "made possible for philosophy". Maybe you sense a heideggerian atmosphere. This is not an accident, and not only because of the assiduous presence of that "step back" with which Sloterdijk indicates that which for "philosophy" is "made possible". But probably for the fact that in this discourse there are notions put into play, even if not at all explicit, that have something to do with Heidegger. This does not exclude the exemplary references to the epoché, a philosophical gesture which is surely not very close to the theoretical intentions and sensibilities of Heidegger, but is in any case useful to indicate a precise question that surely has more to do with him. It is the question that has been alluded to of "outwardness" or "extraterritoriality" of philosophy compared to a notion like that of the totality of the being, which can overlap with the notion of the globalized world, as it definitely happens in these analyses of Sloterdijk. In that way, Husserl, when he takes up of the gesture of the Cartesian cogito already outlines a sort of annihilation of the mundane dimension, a Weltvernichtung that, far from aiming at a negation of existence in the worldly sense, presents a sort of leak of the ego from the mundane dimension. As for it not being the exact task of the gesture of the epoché, in none of its articulations does such a gesture in any case seem to act as an index, even less of a possibility of a "leak". And for the rest, in terms of a "possibility", Sloterdijk mentions it as well. But relative to the distinguishing of such a "possibility" and its reintroduction on an even more radical plane, some of Heidegger's observations are even more efficient and authoritative; I am referring, although it may seem paradoxical, to the observations about character of being-in-the-world that are brought to light by Heidegger in the analysis of existence. It is surely not possible to talk in detail about these analyses, but it should be sufficient to bring to light a fundamental implication that is involved in our relationship with the world understood in the terms of being-in-the-world. It is the fact that expression does not mean our being closed in or contained in the world and "present" and "subsisting" into this, but that the opposite is true, that our relationship with the world is in terms of an opening, that is, and always of a transcendence.9 Transcendence, or outwardness, relative to the world in which we do not stop being, even if through diverse modalities: from a maximum of coincidence with its objectivity in the situation that Heidegger defines with the term "inauthentic existence" to the modality in which is manifest the character of opening to the world itself. That in brief, man has the possibility to consider his "belonging" to the world differently than belonging to any object (that by definition can only find itself in the sense of the world itself as a place of objectivity) is how much Heidegger does not tire of showing, in the early pages of his work Being and Time, the definition of the being as "pure and simple transcendens".10 There is no need to continue in this direction, inside Heidegger's thought. This is certainly not about refuting the affirmations of one with those of another or vice versa. It is also in no way to refute Sloterdijk when he affirms that "for philosophy" is "made possible" a "step back", but it is about the opposite of confirming these intuitions, maybe trying to support it and accredit it further with other considerations. Or simply, trying to clarify that verb, or, better, the subject of the verb, the subject of the verb "to make", the subject of the proposition in which something like a "step back" is "made possible" for that which we call "philosophy". And if something similar, an even partial release of the total movement of everything which is from its progress in determined directions imposed by planetary conjuncture, because of which, have empowered the force of inertia which is included, obviously, its own progress, is possible for "philosophy", it is probably only in virtue of "philosophy" itself. I don't intend by this either a 253 9 See, in reference to the animal, in this way Heidegger intends the being closet in a world, limited by his own environment kept from any sort of transcendence or freedom. M. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt — Endlichkeit — Einsamkeit, Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt/M. 1983, § 47: "Right through his entire life, the animal is captured in its environment just like in a tube which does not stretch nor narrow". 10 M. Heidegger, Sein und Zeit, Niemeyer, Tübingen 1927, § 7. 254 definite discipline, or a definite segment of history composed of this discipline, nor a particular or capital episode of that discipline, and even less some of the few episodes just mentioned; upfront and in spite of the starting example of the epoché, I tried to avoid any specificity, any character or configuration extrinsic to that would be understood as "philosophy". The regular use of quotation marks is the expression of this intention. What do we mean then, by "philosophy", that which seems to maintain or have within the possibility to subtract itself, at least in part, from everything else, everything, totality? I believe it is necessary to be careful of just any definition, of a positive response, of a positive acceptation of "philosophy". At least here, at least now. Let's limit ourselves to gathering this indication from Sloterdijk, and try to contextualize it in a more precise manner. Because this indication appears in a book, in a work in which a certain philosophical plan is perhaps abandoned. Once more, we can look again at one of the more theoretically decisive and explicit texts, where Sloterdijk picks up, to modify it, the question of the plane, of a certain and peculiar plane, that "plane" that in one of the most famous Heidegger texts, the Letter on "humanism" is mentioned, in French, in an answer to Sartre that Heidegger wanted to write in French, with the same words but also with the same language as his distant interlocutor. "Précisément nous sommes sur un plan où il y a seulement des hommes" wrote Sartre in L'existentialisme est un humanisme,11 and after repeating this phrase, Heidegger responds: "if, however, we want to think about it as in Sein und Zeit, we should say: précisément nous sommes sur un plan où il y a principalement l'Être. But where does le plan come from and what is it? L'Être et le plan are the same'V2 The perspective from which Sloterdijk reads the answer is clear: "What I would like to show is the fact that here we meet a Heidegger who manifestly no longer reflects on the equivalence between time and being that he made famous. The author of this passage, rather, is concerned with a group of different problems that without great interpretive efforts can be identified in those of being and space."13 Towards an examination of the question of space, interpreted starting with the notion of plan that Sloterdijk places next to the others of heideggerian "space": "house, proximity, country, living, staying, dimension"/4 This represents a critical gesture of great importance, especially in that it contributes to "founding" all of the successive reflections of Sloterdijk on the special dimension, included in the various volumes of Sphären. In this way there would be nothing to object to. 11 Jean-Paul Sartre, L'existentialisme est un humanisme, Nagel, Paris i946, p. 36. 12 M. Heidegger, Brief über den Humanismus, Wegmarken, Vittorio Klostermann, Frankfurt/M. i976, p. 3". 13 P. Sloterdijk, Nicht gerettet, Chap. iii. 14 Ibidem. A doubt comes up at the moment in which, "temporality", seems to become secondary, in deuxième plan, as well as that dimension that I would be tempted to hasten an call "philosophy". Not because time would be more "philosophical" than space, as much as because that plan, that is the same as the Être, transforming itself in space seems to leave behind being itself, that being that continues to show up in the texts of Heidegger as a dimension of transcendence, the tran-scendens pure and simple. On the plan now there is not just the Être, but seulement l'espace. And les hommes? Have they disappeared too? Maybe not. It is not only a shifting of time to space that matches this interpretation of Heidegger by Sloterdijk. Maybe it is not the most important shift. In a text famous for having triggered more than a little stir, at a certain point while recounting the heideggerian notion of Lichtung, we find the following: "the staying of man in Lichtung - Heidegger said the being in or man's being contained in the Lichtung of being - is not at all a primal ontological relationship, inaccessible to further interrogation. There is a story there, resolutely ignored by Heidegger, of man entering into Lichtung, a social story of how the question of being implicit in man and it is a historical movement in the opening wide of ontological difference".15 A few years later, Sloterdijk formulates the question to which how much we have just felt constitutes the response: "Utilizing the metaphor of living in the house of being as a guide for the process of anthropological thought, we ask ourselves how a still pre-human living being, an animal that lives in a pack and from that point of view ontological on the evolutionary scale, has to be placed somewhere between post-ape and presapiens, we wonder how this animal can be put on the road that leads to the 'house of being'."16 The terms of the question at this point are very clear. With the translation of the heideggerian question about being and time on the plan of space, not only is a modification of a (or the) ontological structure fundamental, but it is con-textually reformulates the question of man, the position of those hommes that Heidegger didn't want to leave alone on the plan of Sartre but which, approaching them to the Être, perhaps he also wanted to highlight the external position one more time, eccentric and ex-isting with compared to everything else. Once again: the anthropological key in light of which Sloterdijk rereads some (many, and important) pages of Heidegger is considered in his notable way of provocation and demystification. Mostly, it allows a wide-reaching vision symptomatic of the present and the instances of its provenance, not to mention the lines of tendency which ostensibly support further development. It should be noted as 255 15 Ibidem. 16 Ibidem. 256 well that an alternative that could continue to maintain a level of radicalism, and thanks to the determination of which, in some texts of Sloterdijk, emerge the forms, it is possible to face in a decisive manner. And it is the alternative, not only methodological, between taking on what is a declared anthropological perspective (or anthropogenetical, or anthropologico-philosophical) or take on a "philosophical" perspective. Again, with no further specification. That perspective against which Heidegger stands with continuity and resolve, "the adversary of all known forms of anthropology", that is capable of "offering us the key words for a new configuration of anthropology and of the thought of being".17 I don't think the question can be placed in the area of a choice between equivalent disciplinary options. Resistance to any form of anthropology, which is nothing other than a "part for the whole" of that resistance to translation in scientific terms of "philosophy", for Heidegger's part is not fought in the name of belonging to a discipline. Rather, maybe it is fought in the name of something that resembles the opposite of belonging to a discipline, to some thematic place pre-constructed from a particular (and important) "objectivity". Maybe it is fought for a non-specific or anti-specific "specificity" of the "philosophical". This does not mean in any way lacking a certain rigor, of a certain order for proceeding, with caution or attention. But on the contrary, it means an even more observed behaviour in order so that not all action is englobed in the totality of the being in its being and becoming, in order to guard the outwardness, a thinkability, the possibility that a "step back" that, to be clear, is not made possible for but because of "philosophy". 17 Ibidem. Cathrin Nielsen WIRKLICHKEIT ALS UNENDLiCHER PROGRESS „Und es scheint beim Unbegrenzten das 257 ,in der Möglichkeit' dasselbe zu sein wie das ,in der Wirklichkeit'. Denn das Wirklichsein des Unbegrenzten als solchen ist das ,Immer noch etwas mehr können" (Aristoteles, Phys. III, 6) Wenn man versucht, zentrale Grundzüge im Hinblick auf die Frage nach Humanität, Europa und Welt im 2i. Jahrhundert herauszustellen, treten vor allem zwei, zunächst scheinbar gegenläufige Tendenzen in den Blick: zum einen eine wachsende Tendenz zur Einförmigkeit, Homogenität und Uniformierung, zum anderen ein merkwürdiges, scheinbar unaufhaltsames Auseinandergleiten aller gewachsenen Gestalten und Verhältnisse. Diese untergründigen Bewegungsvorgänge betreffen das Humane wie die Welt gleichermaßen. So ist schon seit längerem von der schleichenden Atomisierung die Rede, die die sozialen, die politischen, aber auch die familiären Zusammenhänge erfasst hat. Aber auch die Dinge und Körper, die kulturellen und geschichtlichen Tatsachen scheinen in diesem allgemeinen Wegsinken befasst zu sein; jedes Ereignis wird, wie Jean Baudrillard einmal schreibt, „durch einen totalen Verbreitungs - und Zirkulationsschub freigesetzt - jede Tatsache wird zum Atom, wird nuklear, und folgt ihrer Bahn ins Leere". Während das Homogene kategorial leicht fassbar scheint, drän- gen das Indifferente und Diffuse die Möglichkeiten der Sprache gewissermaßen an den Rand ihrer Aussagekraft. Sie hinterlassen ihre Spuren nur in einer unruhevollen Rastlosigkeit, einer latenten Bedrohung und Angst sowie jenen Formen eruptiver Gewalt, die in brutaler Abkürzung dasjenige zu Tage bringen, was untergründig bereits alles zu erfassen beginnt. Was hat es mit dieser „Freisetzung ins Leere" genauer auf sich? Was ist es, das durch jenen „totalen", Mensch und Ding gleichermaßen betreffenden „Verbreitungs- und Zirkulationsschub", von dem Baudrillard spricht, „freigesetzt" wird, und was bedeutet dieser „Schub"? Und inwiefern fallen in ihm auf eigentümliche Weise Diskretion (Atomisierung) und Kontinuität (Homogenisierung) zusammen, also die Tatsache, dass der Auseinanderfall ein Gesicht trägt, in dem alles eins, ewig und unaufhörlich zu sein scheint, anstatt uns in seiner implosiven Leere den Boden unter den Füßen wegzuziehen? 258 Ich möchte im Folgenden versuchen, mich dieser Frage unter dem Aspekt der Unendlichkeit im Sinne des infiniten Progresses zu nähern. Mit ihm ist eine philosophische Grundproblematik angesprochen, die ein spezifisches Merkmal der neueren Philosophie darstellt und doch zugleich so alt ist wie die Philosophie selbst. Die Antike thematisierte das potenziell Unendliche als das apeiron, also das, was von sich her keine Grenze (peras) hat. Inbegriff eines solchen Grenzenlosen ist etwa das Wasser, dem nach Aristoteles weder Anfang, Mitte noch Ende eignet, und dem von dieser Grenzenlosigkeit her kein eigentlicher Wirklichkeitscharakter zugesprochen werden kann, sondern nur ein gewisser, schwer zu bestimmender Charakter der Möglichkeit. Der Modus der Möglichkeit, den Aristoteles hier im Auge hat, unterscheidet sich von einem Möglichsein (dynamis) im Hinblick auf eine ,noch nicht' seiende Wirklichkeit (energeia) - der Möglichkeit des Steines etwa, Statue zu werden oder derjenigen des Keimes, zur Frucht. Es handelt sich vielmehr um eine merkwürdig sich in sich zurückbeugende und darin gewissermaßen erstarrende Sukzession einander ablösender Momente. Als erstes Kennzeichen hält Aristoteles fest: das in Frage stehende Unendliche ist das, was seiner grundsätzlichen Verfassung nach immer noch etwas außer sich hat. In diesem Sinne spielt das Unendliche bereits im Platonischen Denken eine zentrale Rolle, nämlich als pleonexia, als das Immer-mehr-haben-wollen, das in den Phänomenen der Macht oder der Begierde „wirklich" wird, aber auch in der Zahl, die sich als Reihenzahl rein expansiv fortsetzt, weshalb der späte Platon die „unbegrenzte Zweiheit" (aoristos duas) auch als zahlenerzeugende Potenz bestimmt. In der Moderne greift Hegel das Problem des unendlichen Progresses unter dem Terminus der „schlechten Unendlichkeit" wieder auf, die sich dadurch bestimmt, dass sie „ein Wiederholen von einem und demselben" darstellt, „eine Ohnmacht des Negativen, dem das, was es aufhebt, durch sein Aufheben selbst als ein Kontinuierliches wiederkehrt". Sie tritt im Zusammenhang des quantifizierenden Verstandes auf, der darauf zielt, alles Seiende unter dem Aspekt seiner Berechenbarkeit zu nehmen und aus seiner endlichen Bestimmtheit herauszuschicken in ein Jenseits, das wiederum nichts anderes darstellt als die Kontinuität seiner Berechenbarkeit. In diesem ziellosen Hinausschicken über sich ist der quantitative Progress näher betrachtet nichts als monotone Wiederholung eines und desselben, eine Form des erstarrten Stillstands, die auch der Phäno-menologe Eugen Fink anspricht, wenn er schreibt, in der Übersetzung der „Weltunendlichkeit von Raum und Zeit" in die mathematische „ Unendlichkeit infinitesimaler Teile" habe sich die Unendlichkeit immer schon vollzogen und stehe nun als „perfekte Unendlichkeit" in sich selbst. Die implosive Leere, die alles in sich hineinziehen will, ist hier gleichsam „das apeiron im Felde des raum- und zeithaft Quantitativen". Lassen sich also Zusammenhänge herstellen zwischen dem Kontinuum des Quantitativen und der eigentümlichen Gegenwart des unendlichen Progresses, seinem Übergang aus einer (antik gedacht) ontologischen Unmöglichkeit zur Wirklichkeit gegenwärtiger Vernunft und Welt? Erhebt vielleicht all das, was sich für die Antiken im Modus der bloßen Möglichkeit zeigte, gegenwärtig so nachdrücklich Anspruch auf Wirklichkeit, dass uns dagegen, wie Baudrillard nahelegte, der Modus der Wirklichkeit zunehmend unbemerkter einfach verschwindet? Eine Art „umgekehrte Anziehung durch die Leere anstelle der Anziehung des Vollen durch das Volle"? 1 Für Aristoteles ist das Unendliche Ausdruck des unbestimmt-formlosen Werdens, das alles Sein aus sich ausschließt und darin ewig unvollendet bleibt. Es kann deshalb allein im Modus der bloßen Möglichkeit gedacht werden, weil alles in die Wirklichkeit übergetretene Sein eine Grenze (peras) hat, nicht als Grenze von außen, sondern als Wesensgrenze oder in sich bewahrten Anfang, von dem alles weitere seinen Ausgang nimmt. Sofern das Unendliche diese Wesen-sumgrenztheit, und damit die Möglichkeit des Anfangen- und Endenkönnens, aus sich ausschließt, zeigt es sich sogar genauer als etwas, das überhaupt nur im Hinblick auf ein Anderes bzw. als ein in Anderem Enthaltenes ausgesagt werden kann, an ihm selbst (kath' auto) hat es - wie auch die Materie - keinen Bestand und ist darin ebenso unerkennbar wie unbestimmbar. Und dass etwas Unerkennbares und Unbestimmtes (aoriston) eine umgrenzende, und das heißt wirklichkeitsbestimmende Funktion übernehmen können soll, das hält Aristoteles (wie die ganze klassische Antike) für vollkommen widersinnig. Die Welt (kosmos) ist eine notwendig begrenzte Welt. 260 Alle versuchten Bestimmungen des spezifischen Möglichkeitscharakters, die Aristoteles in Bezug auf das Unendliche vornimmt, stehen also unter dem grundsätzlichen Vorbehalt, dass das Unendliche negativ (im Sinne einer Privation) vom Ganzen und Umgrenzten her und damit in einer gewissen Abhängigkeit von ihm gefasst werden muss. Diese grundsätzliche Endlichkeit erstreckt sich auch auf die drei Phänomene, an denen das apeiron, wie Aristoteles sagt, doch auf eine bestimmende Weise zu Tage tritt: auf die unbegrenzte Teilbarkeit einer Ausdehnungsgröße (beispielsweise der Linie), auf die Unendlichkeit der Zahlenreihe und zuletzt auf die Zeit. Das Phänomen der potenziell unbegrenzten Teilbarkeit eines gegebenen Ganzen, also die Möglichkeit der ins je Kleinere gehenden Unendlichkeit spielt beispielsweise in den Zenonschen Bewegungsparadoxien und dem hier ins Feld geführten Argument der „Dichotomie" eine Rolle: Eine Strecke AB wird in C halbiert, die Hälfte CB wiederum in C' und unbegrenzt so weiter; addiert man diese unbegrenzten Teilstrecken jedoch, bleibt ihre Summe stets unter 1, das heißt die Bewegung kommt nie ans Ziel, sie findet gleichsam von sich her nicht mehr in ein Ganzes zurück. Während Zenon daraus schließt, dass es so etwas wie bestimmte Bewegung nicht gibt, hält Aristoteles dem den spezifischen inneren Zusammenhalt der Strecke entgegen; diese Strecke selbst ist kein nachträgliches Aggregat aus Punkten, von denen sich fragen lässt, wie sie zu einem Ganzen zueinander kommen können (wenn nicht durch eine ganz äußerliche Anhäufung), sondern umgekehrt zunächst ein von sich her ungebrochener Verlauf, an dem dann Grenzen, Punkte, Schnitte, Teilungen usw. vorgenommen werden können, ohne damit dieses Kontinuum selbst in Frage zu stellen oder zu gefährden. Denn die Kontinuität einer Sache ist kein ihr äußerlich Zukommendes, sondern ihre Sachheit selbst, insofern sie sich von innen her „als die Ener-geia des Einswerdens bzw. des Einigens erweist". Das Unendlichkeitsmoment in Form seiner potenziellen unendlichen Teilbarkeit (apeiron dihairesei) weist demnach nicht auf einen sachlich inhärenten Progress, sondern lediglich auf eine im Wesen dieser Sache selbst nicht angelegte, wenn auch von außen betrachtet nicht unmögliche Möglichkeit. Auch wenn demnach die unendliche Teilbarkeit ein echtes apeiron darstellt, bleibt es eines bloß der Möglichkeit nach (apeiron dynamei), und zwar einer solchen Möglichkeit, die den Übergang in die Wirklichkeit radikal aus sich ausschließt, die also schlechthin nicht in der Lage ist, an irgendeinem Punkt ihrer selbst wirklich und geschlossen da zu sein (die Strecke ist zwar unbegrenzt teilbar, aber niemals unbegrenzt geteilt). Analog dazu verhält sich die Unendlichkeit der Zahlenreihe: wenn es die Möglichkeit gibt, eine Ausdehnungsgröße unendlich zu teilen, dann gibt es ja auch jene, diese endlosen Teilungsschritte endlos zu zählen. Die an einer bestimmten Sache von außen mögliche Operation des unendlichen Weiterzählens, ihre Zähl^arkeit, impliziert jedoch ebenso wenig wie ihre Teilbarkeit die Wirklichkeit einer solchen unendlichen Zahlenreihe (apeiros arithmos), auch sie gibt es nur potenziell im Zählen und nie als aktuale Unendlichkeit der Reihe. Mit anderen Worten: nicht das ape-iron dynamei bildet das Kontinuum, an dem eine Sache ihren Wirklichkeitscharakter messen muss, sondern umgekehrt ist die zugrundeliegende Kontinuität nichts anderes als die jeweilige, im inneren Vollzug zusammengehaltene Sache selbst. Für beide Unendlichkeitsphänomene gilt also in Bezug auf die aristotelische Konzeption: den unendlichen Progress sowohl ins Kleinere wie ins Größere gibt es nur in Bezug auf die endliche Gestalt. Er ist im Gegensatz zu ihr als das, „was immer noch etwas außer sich hat" gewissermaßen verurteilt dazu, als ewig unvollständiges Werden niemals in die Wirklichkeit übertreten zu können. Die Zeit ist das letzte und zugleich primärste Phänomen der Unendlichkeit. Ihr Verhältnis zur Zahl wie zur Linie auf der einen Seite wie andererseits zum menschlichen Denken überhaupt ist freilich zu komplex, um im vorliegenden Zusammenhang angemessen aufgegriffen werden zu können. Ich werde mich daher auf bloße Andeutungen beschränken, wohl wissend, dass sich hier das offene Zentrum auch des vorliegenden Themas verbirgt. Die Charakterisierung des Unendlichen als das, wovon wir immer noch etwas wegnehmen oder hinzufügen können und das dadurch niemals geringer wird oder verschwindet, ist nämlich durch die zeitlichen Aspekte sowohl des „immer" wie des „niemals" bestimmt, und gerade diese paradoxe Doppelbestimmung scheint für den eigentümlich beständigen Möglichkeitscharakter des progressiv Unendlichen zuständig zu sein. Das Sein des apeiron ist kein konkretes Dieses-da (tode ti) wie ein Mensch oder ein Haus, sondern eines wie der Tag oder das Spiel, wie Aristoteles sagt, denen das Sein nicht wie eine ousia geworden ist, sondern beständig wird im Werden und Vergehen. Simplicius kommentiert dieses merkwürdige Sein-im-Werden so, dass es „immer zusammen mit dem in der Möglichkeit Seienden" ist und „immer die Erstreckung im Werden hat", weil es „nirgends von dem ,in der Möglichkeit' abgelöst wird"; denn das, was überhaupt abgelöst werden kann, hat notwendig eine Grenze. Die Aporie, die darin steckt, ein durch seine Wirklichkeit als Möglichkeit in einem tieferen Sinne von sich selbst ewig unablösbare Beschaffenheit zu sein, deutet einerseits auf die radikale Veräußerung alles Seienden im Kontext des unendlichen Progresses (der immer und zugleich niemals ins Sein tretenden Zeit), und es wird dieser Aspekt sein, der die folgenden Überlegungen zum empirischen Regress (Kant), zur „quantitativen Unendlichkeit" (Hegel) und zum „Gestell" (Heidegger) und die dahinter stehende Frage nach den Konsequenzen der Umwendung des unendlichen Progresses von einer kategorialen Möglichkeit zur phänomenalen Wirklichkeit maßgeblich leiten wird. Andererseits liegt in dem eigentümlichen Zusammenhang der Zeit mit dem Zählen und dem hier verborgenen Unendlichen ein Hinweis auf die Zeitgebundenheit des menschlichen Daseins überhaupt, der ihre scheinbar bloß kategorialen Aspekte in ein grundsätzlich anderes Licht rückt. Wenn es die Seele ist, die zählt, wie Aristote- 261 262 les festhält, die zwei Jetzte auseinanderhält und so die Zeit sich in ihrem diskreten Verlauf, ihrem Vorher, Nachher und Jetzt bekunden lässt, zeigt sich die Zahl durch ihre äußere Relationalität hindurch als eine ursprünglich zeugende Tätigkeit der Seele. Wenn Kant die Zeit als die Form des inneren Sinnes bestimmt (was bedeutet diese Innerlichkeit eigentlich?), in dem wir uns selbst anschauen, weil jedoch die innere Anschauung gestaltlos bleibt, diese Gestaltlosigkeit im Rückgriff auf die Form des Raumes durch das Erzeugen einer ins Unendliche fortschreitenden Linie ersetzen, dann ist damit eine Tätigkeit angesprochen, die sich durch ein letztlich nicht mehr bestimmbares, in sich schwingendes Verhältnis von Affektion und Erzeugung charakterisiert, und nicht allein durch die blinde, in sich geschlossene Reproduktivität des infiniten Progresses. Ich werde auf diese tiefere Problematik der Zeit, und damit auch auf mögliche Perspektiven der Phänomenologie, die ja nicht zuletzt einer fundamentalen Neubesinnung auf die Phänomene der Zeitlichkeit und der Zeit entspringen, im Zusammenhang meines Themas jedoch nicht näher eingehen können. Kehren wir also zunächst zu der Aristotelischen Auseinandersetzung mit den Unendlichkeitsphänomenen der Teilbarkeit und der Zahl zurück und versuchen, von hier die Konsequenzen beleuchten, die das Überführen des infiniten Progresses aus seinem Modus der Möglichkeit in einen solche der Wirklichkeit nach sich zieht: Welche theoretischen Voraussetzungen in Bezug auf die Unendlichkeitsphänomene der Teilbarkeit und der Zahl müssen sich durchsetzen, damit sich der unendliche Progress gewissermaßen aus seiner primären Abhängigkeit von der endlichen Welt befreien und selbst „wirklich" werden kann? 2 Zum Ausgangspunkt einer Annäherung soll hier eine kurze Passage aus Heideggers 1949 entstandenem Vortrag Das Ge-Stell genommen werden. Es heißt hier: „Das Stück ist etwas anderes als der Teil. Der Teil teilt sich mit Teilen in das Ganze. Er nimmt am Ganzen teil, gehört ihm an. Das Stück dagegen ist gesondert und zwar ist es als Stück, das es ist, sogar abgesperrt gegen andere Stücke. Es teilt sich nie mit diesen in ein Ganzes. Das Bestand-Stück teilt sich auch nicht mit seinesgleichen in den Bestand. Vielmehr ist der Bestand das in das Bestellbare Zerstückte. Die Zerstückung zerbricht nicht, sondern schafft gerade den Bestand der Bestandsstücke. Der Teil, so hatte es bei Aristoteles geheißen, gehört auch dort, wo er sich potenziell unendlich in seine Teilbarkeit hineinschlingt, als Teil in ein Ganzes. Punkt und Schnitt etwa am Ganzen einer Strecke markieren mögliche Eigenschaften im spezifischen Kontinuum dieser oder jener Gestalt; sie sind nicht in der Lage, sich gegen das Ganze, welches kath' auto besteht, zu verselbständigen, sondern bleiben auch als Modus der Quantität kata symbebekos. Das Ganze kann daher auch niemals als aus lauter für sich stehenden Stücken aufgebaut gedacht werden, wie etwa die Linie aggregativ aus lauter Punkten oder in der Zenonschen Paradoxie die Bewegung aus lauter verschlossenen Ruhepolen; Naturdinge ebenso wie Artefakte gliedern und bestimmen sich aus der kontinuierlichen inneren Physis des Ganzen, das keine materiellen Atome, keine sich für sich vorbehaltende hyle kennt. Solche atomaren, in sich verschlossenen „Sücke"jedoch führt Heidegger hier an, und zwar soll sich ein solches Stück im Gegensatz zum Teil nicht in ein Ganzes mit-teilen, sondern „begesondert" sein, und zwar derart, dass es sogar „abgesperrt" ist gegen all die anderen möglichen Stücke. Diese Verschlossenheit gegeneinander öffnet sich auch nicht in das Ganze ihres Vorkommens oder „Bestandes" - wenn man sie alle zusammennähme, was wären sie dann? - und zwar deshalb, weil ihr Bestand wiederum nichts anderes sein soll als ihre Zerstückbar-keit. Wie ist dieser eigentümliche Zirkel zu verstehen? Heidegger schreibt: „Die Zerstückung zerbricht nicht, sondern schafft gerade den Bestand der Bestandstücke." Die Bewegung des Teilens und Zerstückens bezieht sich also paradoxerweise nicht auf ein erstes, ihm bereits vorausgehendes Ganzes - es „schafft" ein solches allererst. Was bedeutet es, dass die Zerstückung „schafft", dass also gerade das auf nichts mehr gerichtete, vielmehr sich loslösende und verselbständigende Teilen in teilnahmslose Stücke einen Bestand allererst her-stellt? Es bedeutet offenbar, dass das Stück, welches an die Stelle eines Teils des Ganzen tritt, in seinem grundsätzlichen Charakter eine Art fortwährendes Produkt ist, und zwar eines, das eben der merkwürdigen Produktionsweise der Teilung als „Zerstückung" entspringt. Was aber bedeutet aber dieses Zerstücken, das hier als eine Weise des Produzierens und Bestandschaffens scheinbar aus dem Nichts ins Zentrum rückt? Für Aristoteles war die potenziell unendliche Teilbarkeit eines Ganzen im Wesentlichen die Möglichkeit einer methodischen Operation, die von außen an einer selbst dadurch nicht substanziell berührten Sache durchgeführt werden kann. Der spezifische Modus dieser Möglichkeit ist der der bloßen, die in sich stehende Wirklichkeit (energeia) der Sache nicht wesensmäßig belangenden Möglichkeit. Darin ist in einer gewissen Weise der Gedanke ausgedrückt, dass die von außen zunächst unbegrenzten Wege, einer Sache nachzugehen, an dieser selbst ihre sinnvolle Bestimmtheit erlangen, die Sache also den methodos umreißt und seinen impliziten Progress umgrenzt. Eben dieses Verhältnis kehrt sich im Rahmen der so genannten Kopernikanischen Wende um, indem sie programmatisch festsetzt, dass sich die Methode nicht mehr nach der Sache, sondern umgekehrt die Sache nach der Methode auszurichten hat. Sofern deren implizite Unumgrenzt-heit zum maßgeblichen Strukturmoment der Theorie wird, kann man sagen, 263 264 dass sie aus ihrer Gebundenheit in den Modus der bloßen Möglichkeit heraus - und in den der Wirklichkeit übertritt. Sie kann dies, weil mit dem Primat einer transzendental gegründeten Methodik, die sich ausdrücklich nur mit unserer Erkenntnisart der Gegenstände befasst, die Sache selbst hinter den unbegrenzten Operationen, die der Verstand an ihnen vollziehen kann, bis zur Unwirklichkeit zurücktritt. Kant formuliert das bekanntlich zunächst als eine Beschränkung der theoretischen Vernunft aus ihrer spekulativen Unendlichkeit auf den durch die formalen Anschauungsformen Raum und Zeit umgrenzten Bereich der Erscheinungen. Als eine so beschränkte setzt die theoretische Vernunft jedoch auf der anderen Seite unumschränkte, grenzenlose Möglichkeiten des Fortschrittes frei: sie erkennt zwar, „daß etwas außer ihr liege, wohin sie niemals gelangen kann, aber nicht, daß sie selbst in ihrem innern Fortgange irgendwo vollendet sein werde". Ihre „Möglichkeit immer neuer Erfindungen geht ins Unendliche". Der operative Zugriff gewinnt den für Aristoteles unvorstellbaren Charakter eines energeia apeiron - eines die spezifische Wirksamkeit des Wirklichen durchherrschenden Unendlichen. Insofern die potenziell unendliche „Zerstückung" der Wirklichkeit deren Bestand allererst „schafft", wie Heidegger schreibt, setzt sie die Zerstückbarkeit absolut, das heißt, dass alles, was ist, dieses sein Sein aus seinem unendlichen Zerstückbarsein bezieht. Der theoretisch legitimierten Produktion des Bestandes als Zerstückung entspricht damit die Produktion der Wirklichkeit als unendlicher Progress. Dennoch entspringt dieser Bestand näher betrachtet nicht ,aus Nichts', sondern eben aus der spezifischen Beschränkung auf das „gleichartige" theoretische Interesse der Vernunft. Es ist also nicht schlechthin alles offen, un-endlich offen, sondern die Offenheit ergibt sich gerade aus der Engführung des Wissens auf eine verlässliche Größenordnung. Diese ist maßgeblich bestimmt durch die Kategorie der Quantität, die wiederum als wesentlich in Bezug auf die Sache eine Mehrheit gleichartiger Teile und die Verbindung dieser Mehrheit zu einer Einheit voraussetzt. Es entsteht eine Art quantitatives Kontinuum, das dadurch charakterisiert ist, dass eine begrenzte Anzahl von Begriffen, Sätzen, Termen, Kalkülen den Spielraum des Möglichseins sämtlicher Gestaltungen des Gebietes „in der Weise rein analytischer Notwendigkeit vollständig und eindeutig bestimmt, so daß also in ihm prinzipiell nichts mehr offen bleibt." 3 Dass in der Universalisierung der Methode als gleichartiger Gegenstandssicherung alles in den Progress verschwindet wie zugleich „nichts mehr offen bleibt", berührt wieder die paradoxe Grunderfahrung, die eingangs herausgestellt wurde, jenes merkwürdige Zusammenspiel von Atomisierung und Homogenisierung, von Auseinanderstreben und Zusammenfall. Wie lässt es sich noch genauer fas- sen? Noch einmal Heidegger, der hinsichtlich des spezifischen Charakters der durch die „Zerstückung" in den Bestand beständigten Stücke fortfährt: „Die Bestand-Stücke sind Stück für Stück die Gleichen. Ihr Stückcharakter fordert dieses Gleichförmige. Als Gleiche sind die Stücke gegeneinander in der äußersten Absperrung; sie erhöhen und sichern gerade so ihren Stückcharakter. Die Gleichförmigkeit der Stücke verstattet, daß ein Stück gegen das andere ohne weiteres, d. h. auf der Stelle ausgewechselt werden und so zur Stelle sein kann. Ein Bestand-Stück ist durch das andere ersetzbar. Das Stück ist als Stück schon auf die Ersetzbarkeit hin gestellt. Bestand-Stück sagt: das als Stück Abgesperrte ist auswechselbar in ein Bestellen eingesperrt." Die nicht mehr einer gegliederten Ganzheit entspringenden, sondern in ihre Materialität verschlossenen Stücke sollen „Stück für Stück die Gleichen" sein und sich doch zugleich „in der äußersten Absperrung" zueinander halten. Diese doppelte Kennzeichnung von radikaler Verschlossenheit auf der einen und absoluter Gleichförmigkeit auf der anderen Seite verliert ihren widersprüchlichen Charakter zunächst wiederum vor dem ontologischen Grundsatz, den methodischen Progress an die Stelle des gegenständlichen Ganzen zu setzen, von dem her alles Stückhafte schon immer zugleich (oder sogar maßgeblich) als Teil gerechtfertigt und damit auf ein finites Ganzes geöffnet war. Wie angedeutet „fordert" der Bestand der Bestandstücke gerade dies: ihre Indifferenz gegeneinander wie auch ihre Gleichgesichtigkeit für die theoretische Vernunft, deren Interesse sich nur in dem Rahmen an das jeweilige Bezugsobjekt verliert, in dem dieses ihr den zur Objektivierung gemäßen Stoff zu liefern vermag. Objektivierbar ist dieser „Stoff' als Erscheinung, also über den Modus seiner quantitativen Erfassbarkeit. Erscheinungen sind, wie Kant in der Transzendentalen Analytik festhält, insgesamt extensive Größen, und zwar weil sie, wie es heißt, „als Anschauungen im Raume oder der Zeit durch dieselbe Synthesis vorgestellt werden müssen, als wodurch Raum und Zeit überhaupt bestimmt werden". Wie wird diese „Syn-thesis", die wiederum auch die Anschauungsformen Raum und Zeit bestimmen, und in die alles empirisch fassbare Sein formal gleichsam eingeschleust werden muss, näher charakterisiert? Kant bestimmt die Form dieser Synthesis als „sukzessiv", genauer dadurch, dass alle Erscheinungen „schon als Aggregate (Menge vorhergegebener Teile)" betrachtet werden, so dass also die Vorstellung solcher Grundbausteine die Vorstellung des Ganzen ermöglicht bzw. ihr sogar notwendig vorangeht. Das Ganze als „Vorstellung" des Ganzen gerät so in eine formale Abhängigkeit von der Vorstellbarkeit der ihm zugrundeliegenden Teile; die Erscheinungen werden nicht aus der inneren energeia ihres Einsseins her erfasst, an der sich dann, sekundär und in bedingtem Rahmen, quantifizierende Schritte durchführen lassen, sondern als von einem der Sache selbst, wenn auch nicht 265 266 unserer Anschauung von ihr äußerlich bleibenden Zugriff. Der bei Aristoteles nur sekundär, nämlich als Schnittstelle oder Markierung potentiell „wirkliche" Punkt emanzipiert sich gewissermaßen von der Linie und bildet jetzt ihr von aller qualitativen Bestimmtheit befreites, homogenes Ur-Stück, ein Art Modul, durch dessen stetige Aneinanderreihung eine bestimmte Größe erzeugt werden kann. Die Umkehrung vom Ganzen zum Aggregat bzw. vom Teil zum Stück liegt somit in der Umkehrung vom sekundären Bearbeitungsmoment zum primären Baustoff beschlossen; und dieser verlangt, dass sich die Module als primäre Bausteine grundsätzlich ebenso gleichartig wie unendlich wiederholbar zusammenfügen und wieder auseinandernehmen lassen. Damit weist Kant die Auffassung, der hierdurch freigesetzte progressive Charakter sei etwas, das dem Ding an sich (kath' auto) zukomme, freilich zurück. Er soll ausdrücklich kein konstitutives Prinzip der Möglichkeit der Sache selbst sein, sondern eine „Regel" der Vernunft, die gebietet, im Bereich empirischer Bedingtheit keine Bedingung als die absolute Grenze gelten zu lassen, an der die Reihe der Bedingungen zu einem selbst un-bedingten Ende gelangen würde. Andererseits zieht eben diese Einschränkung, dass „im empirischen Regreß keine Erfahrung von einer absoluten Grenze [...] angetroffen werden könne", die bereits angedeutete sekundäre Unendlichkeit nach sich, in der jede Form der Begrenzung prinzipiell den Charakter der Unwirklichkeit gewinnt; sie müsste sich ja, so Kant, „durch Nichts, oder das Leere" ereignen, welches wiederum im empirischen Kontinuum „unmöglich" ist. Die Frage, ob der Kosmos an sich als endlich oder unendlich betrachtet werden muss, tritt also hinter dem empirischen Regress, der keines von beiden zulässt, zurück. Der Kosmos ist nicht unendlich, weil wir uns davon keinen Begriff machen könnten, und er ist zugleich nicht endlich, weil die regressive Synthesis aus diesem Grund in der Reihe der Erscheinungen ins Unendliche fortschreiten muss, „nämlich von einem jeden Gliede der Reihe, als einem Bedingten, jederzeit zu einem entfernteren [...]". Der transzendentale Begriff der Unendlichkeit besagt demnach, dass die sukzessive Synthesis, durch die alle Anschauungen in Raum und Zeit bestimmt sein müssen, zuinnerst durch jene Bewegung über sich hinaus bestimmt ist, das heißt dadurch, dass alles Bestimmte in seinem Kern gleichsam eine ontologische Leerstelle beherbergt (das „an sich"), die seine „Wirklichkeit" einem schlechthin un-einholbaren Jenseits seiner selbst überantwortet. Damit ist der ursprünglich mathematische Begriff des infiniten Progresses, der unendliche Annäherung an ein immerhin noch bestimmtes Ziel anzeigt (beispielsweise die Annäherung einer Kurve an eine Gerade), philosophisch reformuliert durch den des progressus in indefinitum, bei dem der Progress sich nun schlechthin ziel-los in die „unbestimmte Weite" erstreckt. Denn der empirische Progress resp. Regress besteht, so Kant, „immer nur im Bestimmen der Größe, und gibt also keinen bestimmten Begriff, [...] geht also nicht ins Unendliche (gleichsam gegebene), sondern in unbestimmte Weite, um eine Größe (der Erfahrung) zu geben, die allererst durch diesen Regressus wirklich wird." Zwar nicht die Sache selbst, jedoch ihr Begriff ,beruht' damit ausschließlich auf dem empirischen Regress, und Kant hält ausdrücklich fest, dass eine Bewährung dieses Grundsatzes gerade eben so viel sei, „als ob er wie ein Axiom [.] die Gegenstände an sich selbst a priori bestim-mete." Welche Rolle spielt nun hierin die Zeit, von der gesagt wurde, durch ihre Aspekte des „immer" und „niemals" werde das Unendliche maßgeblich bestimmt? Die Zeit ist, so Kant, nichts, was für sich selbst bestünde, sie ist auch für ihn ohne den „wirklichen Gegenstand" nicht „wirklich". Damit aber ist nicht gesagt, dass dieser Gegenstand gewissermaßen seine Zeit (wie seinen Ort) mit sich bringt und damit Zeit verwirklicht, sondern die Zeit ist eine von uns mitgebrachte Form des inneren Sinnes, genauer eine solche „des Anschauens unserer selbst". Weil dieses Anschauen jedoch wesentlich formlos, fließend ist, keinen gestalthaften Anhalt an der Welt hat, „ersetzen" wir diesen „Mangel" durch Grund-Sätze des Verstandes, die eine solche Erfahrung von Anhalt ermöglichen sollen. Der Satz in Bezug auf die Zeit ist ihre „Vorstellung" anhand einer ins Unendliche fortgehenden Linie. Diese nicht einfach gegebene, sondern aktiv vollzogene Vorstellung (wir ziehen im Geiste diese Linie, wir „erzeugen" die Zeit selbst durch „Apprehension", durch Zusammenfassung ihres Auseinander) ermöglicht, den Fluß in eine eindimensionale Reihe zu setzen, von deren Eigenschaften aus alle Eigenschaften der Zeit abgeleitet werden können. Als einziges Bruchmoment der Analogie, auf das Kant rätselhafterweise nicht näher eingeht, bleibt zurück, dass die Teile der räumlich dimensionalen Linie nebeneinander sind und darin jederzeit zugleich, während die Teile der Zeit „jederzeit nach einander" sind, das heißt einander ins Unendliche fortgehend ablösen. Die Zeitreihe ist so näher betrachtet eine Zeitfolge, die dennoch an die Teile gebunden bleibt, wie sie durch die räumliche Vorstellung vorgegeben sind, sie verflüchtigt sich nicht ins Nichts. Dass sie daran gebunden bleiben und somit nicht aus der Analogie ausbrechen, die die Zeit überhaupt vorstellbar und damit empirisch real macht, beruht wiederum auf der Art der Synthesis, die sie zusammenschließt, und die als „sukzessiv" bestimmt wurde, so dass der Teil aufs Ganze vorweist und das Ganze sich im Teil endlos wiederholt. Sie ist Synthesis eines homogenisierten Mannigfaltigen, „sukzessive Addition von Einem zu Einem (gleichartigen)", damit unendliche Fort-Setzung des Selben. Als solche verläuft die Zeit sich nicht, sondern ist als eine Folge diskreter Jetzte, die immer wiederkehren, „selbst unwandelbar und bleibend". Fließend wird jetzt vielmehr der Inhalt, der durch das Zusammenspiel der formal-quantitativen Anschauungen von Zeit und Raum herausgesetz- 267 268 ten Erscheinungen. Worauf es mir (bei aller Komplexität des Themas) im Wesentlichen ankommt, ist, dass hier also dasjenige, was gewährleisten soll, dass uns überhaupt Erscheinungen zur Verfügung stehen, Zeit und Raum, selbst unter die Maßgabe dieser Veräußerung fallen, und das bedeutet, dass sie (mit Heideggers Terminologie) als selbst „Zerstückte" ihrerseits die „Zerstückung" als notwendige Bedingung der „Bestandssicherung" vollbringen. In ihrer Entbindung von der konkreten Welt und Übersetzung in ein leeres Schema gewinnen sie selber den Charakter des unendlichen Progresses, sie sind rein pleonektische Größen, das heißt solche, die immer über sich hinausdrängen, immer mehr wollen (pleonexia), aber in diesem „Wollen" tatsächlich nichts anderes sind, als eine reine, dürftige, unaufhörliche Fort-Setzung ihrer selbst. Dass sie dabei „bloß am Subjekte" hängen, und „nicht an den Gegenständen selbst", ändert dort, wo der Gegenstand seinerseits im infiniten, ja indefiniten Progress der Annäherung verschwindet, am Wirklichkeitscharakter dieser Unaufhörlichkeit nichts. Zusammenfassend müsste man sogar sagen: Obwohl die Zeit in ihrem inneren Bezug zur Seele, zum Inneren des Subjektes aufgezeigt wird, bleibt dieser dunkle und fragwürdige Bezug durch den Sprung in die Parallelisierung von Raum und Zeit in einem gewissen Sinne verdeckt. Die Subjektivierung von Zeit, Raum und das in sie verschränkte Phänomen der Bewegung kann den inneren, unproduktiven Widerspruch zwischen ihrer Homogenisierung und Vergleichgültigung nicht aufheben. Es wird, wie Hegel sagt, beim Widerspruch, den die Größe enthält, das Quantum, stehen geblieben. Versuchen wir, diesen sich als ,schlechte Unendlichkeit' ausdrückenden Widerspruch noch genauer zu fassen. 4 Hegel selbst bestimmt die quantitative Unendlichkeit als die Kontinuität des Quantums, die näher „eine Kontinuität desselben über sich hinaus" sein soll. Wieder also stoßen wir auf die bereits bei Aristoteles genannte Grundbestimmung des Unendlichen, wonach es das ist, was immer noch etwas außer sich hat. Das, was es außer sich hat, soll aber nun dasjenige sein, was die innere Kontinuität des Unendlichen zugleich konstituiert, was den spezifischen Widerspruch der quantitativen Unendlichkeit ausmacht. Er wird dadurch ausgedrückt, dass er die Kontinuität von etwas darstellt, das sich zugleich in äußerster Gleichgültigkeit von sich abstößt, aber so, dass es darin zu nichts als einer Kopie, einer Wiederholung seiner selbst zurückkehrt - wie die homogenisierte Zeit jeden Zeitteil dem anderen angleicht, und somit Teil und Ganzes sich in der völligen Identität ihrer Struktur gegenseitig bedingen. Die hieraus entspringende Unendlichkeit ist nach Hegel keine wahre, sondern eben unwahre, „schlechte" Unendlichkeit, insofern sie unausgesprochen an dem festhält, was sie übertreffen will, und so nur ein unaufhörliches Nacheinander sich ablösender Endlichkeiten nach sich zieht. Das bloß quantitativ gefasste Endliche als das, was „in seinem Außersichsein zugleich es selbst" sein soll, kann diesen Widerspruch nicht auflösen (und „will" dies als äußere, abstrakte Kategorie auch nicht). Die quantitative Unendlichkeit bedeutet demnach die Kontinuität des Quantums als Kontinuität desselben über sich hinaus, sie ist als Fort-Schritt in sich zugleich ein unendliches Auf-der-Stel-le-treten. Zur Quantität notiert Hegel, sie sei zunächst „das aufgehobene Fürsichsein". Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass diese Kategorie den Gegenstand in einer Weise betrifft und nimmt, die sich indifferent gegenüber seinem inneren Sein verhält; sie trennt sein Sein von seiner qualitativen Bestimmtheit ab und damit von der Grenze, die ihm als einem bestimmten Etwas zukommt. Die qualitative Grenze, die beispielsweise einen Acker Acker sein lässt, lässt mit sich auch den Acker verschwinden; die quantitative Grenze dagegen, wie groß oder klein dieser Acker ist, lässt seine Bestimmtheit darüber unberührt. Das größer-kleiner, mehr-weniger bleibt der Sache äußerlich, wie wiederum auch die Sache nicht in sie eingeht; es ist gleichgültig, ob sich eine quantitative Bestimmung auf einen Hut, einen Menschen oder einen Zaun bezieht, sie tritt nur mit sich selbst in ein Verhältnis. Unter dem Blickwinkel der Quantität verliert also ein so und so bestimmtes Seiendes seine qualitative, sich gegen anderes abgrenzende Besonderung und verhält sich identisch zu dem Anderen. Es führt seine Einheit nicht mehr unmittelbar mit sich; diese erscheint im Rahmen quantitativer Kontinuität nun als eine Einheit, die „als Einheit des Außersichseins Einheit mit sich selbst' ist, das heißt als eine Einheit, deren Wesen gerade darin besteht, außer sich zu sein. Die durch diesen Übergang gewährleistete Kontinuität in der Quantität ist somit eine, wie Hegel sagt, durch keine Grenze unterbrochene, „sich selbst gleiche Beziehung auf sich"; zwar enthält sie wie eine Art Schatten der qualitativen Mitgift die Vielheit in sich, aber diese Vielheit unterbricht die Kontinuität nicht, sondern bestätigt sie, insofern sie sich in eine Vielheit übersetzt hat, in der ein „Eins" (ein „Stück") dem anderen in seiner merkwürdigen Identität-des-Außersich gleicht, und zwar so grundsätzlich, dass jedes gegen jedes jederzeit austauschbar erscheint. Dieses Moment der Sichselbstgleichheit des Außereinanderseins, das Sich-Fortsetzen der unterschiedenen Eins, macht gerade die Kontinuität des Quantitativen aus. Entscheidend für das quantitative Kontinuum ist also, dass es das Moment der Diskretion, das im qualitativen Zusammenhang die spezifische Umgrenztheit eines Seienden ausdrückte, in sich aufhebt und einbindet so, dass es keine Grenze mehr bildet, den nurmehr sich selbst verpflichteten Kontext nicht unterbricht, sondern ihn als Einheit des (gleichförmigen) Vielen zur Kontinuität „ausdehnt". Das Moment des Diskontinuierlichen, das das eingespeiste „Eins" von sich aus mitbringt, erscheint so in Form einer „zusammenfließenden Diskretion"; es ist als Grenze gegenwärtig, aber so, dass es darin nicht seine Unterschiedenheit gegen Anderes zum Ausdruck bringt, sich von ihm abstößt, sondern seine Gleichheit mit dem Vielen als der Fortsetzbarkeit seiner selbst. 270 Als das paradigmatische Quantum nennt Hegel wiederum die Zahl. Die Zahl stellt einerseits eine in sich differenzierte Größe dar - ihre Gleichgültigkeit gegen die anderen Zahlen macht sogar ihre wesentliche Bestimmung aus -, andererseits weist sie ebenso maßgeblich über sich hinaus, ist sisch selbst äußerlich, nämlich darin, das Glied einer potenziell unendlichen Kette zu sein: „Die Zahl ist die toteste, begrifflose, gleichgültige, unentgegengesetzte Kontinuität. Wir zählen fort i, 2, und fügen zu jedem Eins eins hinzu, - ganz ein äußerlicher, gleichgültiger Fortgang (und Zusammenfügen), der ohne Notwendigkeit ist, wo er abgebrochen werden soll, und ohne Verhältnis. Die Zahl ist so nicht unmittelbar Begriff, — das Extrem des Gedankens, des Begriffs in seiner höchsten Äußerlichkeit, in der Weise des Quantitativen, des gleichgültigen Unterschiedes." Da die Zahlen zwar differenziert, aber ortlos sind, sind sie, so Hegel, „mit gleichem abwechselnden Vorkommen vorhanden", das heißt schlechthin austauschbar, und es gibt aus dieser sich gleichförmig ablösenden Vorhandenheit rückwärtig keinen Hinweis mehr auf den natürlichen Ort dessen, was zahlmäßig dargestellt wird. Damit ist ein wesentlicher Grundzug der quantitativen Forma-lisierung angesprochen. Der Ort des digitalisierten Seienden liegt nun im Jederzeit und Überall. Der Zusammenhang der reinen, ungebrochenen, das heißt ihrer eigenen Grenzenlosigkeit überlassenen Quantität hat somit etwas gleichsam Wucherndes an sich, sofern das eigentümliche Wachstum des Wucherns eben dadurch charakterisiert ist, dass es sich durch unendliche Reproduktion seiner selbst ausbreitet und vermehrt, wobei das Reproduzierte eben nichts anderes ist, als die auf seine eigene Ablösbarkeit angelegte einfachste Struktur, wie das „Eins" im Horizont des Quantitativen bezeichnet werden kann. Das Wachsen und Werden dieses Kontinuums schließt sich in keine qualitative Einheit zusammen, sondern erhält sich in seiner ersten bestimmungslosen Kennzeichnung, nicht auf die Bildung einer Frucht, auf den Umschlag in das umgrenzte Wirkliche zu gehen, sondern die eigene, durch den abstrakt bleibenden Zusammenfall von Identität und Differenz gewährleistete Ununterbrochenheit unbegrenzt fortzusetzen. Die Kontinuität des Wucherns besteht somit nicht allein darin, dass die Dinge als „Stücke" äußerlich zusammengenommen und gewaltsam in ein Kontinuum der Gleich- heit übersetzt werden. Der Zusammenhang ist vielmehr im „Wesen" der Einsen selbst gegründet, darin, dass sie im Spielraum des Quantitativen ihr Fürsichsein als Außersichsein sind, ihr Fürsichsein aufgehoben haben in eine Zusammenführung, die ihnen das andauernde selbstvernichtende Selbstproduzieren ihrer Einheit gestattet. Diese Möglichkeit nennt Hegel „absolut". In ihrer pleonektischen Selbstbefasstheit gibt es weder Anfang noch Ende, weder Zeugung noch Tod. In seinem in das Außer-sich aufgehobenen Beisichsein stellt das Wuchern einen von sich her schlechthin unzerstörbaren, grenzenlosen Prozess dar. 5 Kehren wir von hier noch einmal zu Heidegger zurück. Der Modulcharakter des „Stückes" wurde maßgeblich dadurch bestimmt, dass dieses sich als potenziell unendlich synthetisierbar mit anderen Stücken bewährt, wobei seine Fähigkeit zum Verbund eben darin liegen soll, in eine äußerliche Aggregation mit seinesgleichen zu treten, die im Hinblick auf ihre quantitative Ausschließlichkeit ohne Grenze (und d. i. ohne Bestimmung und ohne Ziel) ist, weil sie in sich wiederum auf nichts als auf diese erste und letzte Modularität des Stückes verweist. Die „Gleichförmigkeit" ist deshalb zugleich „äußerste Absperrung", also äußerste Teilnahmslosigkeit, Adiaphorie, weil den Dingen als wesentlich aggre-gativ organisierten Einheiten kein innerer Wirklichkeitscharakter zukommt, der sich in Bezug auf das Aggregat und seine Teile als bestimmend äußern könnte. In ihrer Indifferenz gegeneinander wie auch gegen das Ganze ebenso wie in dem Verlust „ihres" Ortes und „ihrer" Zeit zugunsten ihrer Formalisierbarkeit in ein selbst qua Sukzession synthetisierbares Kontinuum bestätigen sie gerade, dass jedes durch jedes „auf der Stelle ausgewechselt werden" werden kann. Das Stück ist als Stück „auswechselbar", wie Heidegger sagt, „in ein Bestellen eingesperrt". Die „Absperrung von Stück gegen Stück entspricht der Einsperrung jedes Abgesperrten in einen Betrieb des Bestellens." Die unendliche Ersetzbarkeit des Stückes und seine Einspannung in den „Kreisgang der Bestellbarkeit" weisen es als in seiner Teilnahmslosigkeit strukturell über sich hinausweisend auf. Es ist nicht umwillen seiner selbst, sondern umwillen eines Anderen, wenn auch dieses Andere sich als bloße Kopie seiner selbst erweist. Wie ist dieses Hinaussein über sich, das Immer-noch-etwas-außer-sich-haben damit zu verbinden, dass das, wohin das Stück über sich hinausweist, wiederum nichts anderes ist als die Ersetzung seiner durch ein anderes, jedoch ihm völlig gleichförmiges Stück? Hängt es mit der „Zerstückung" als dem Grundzug der Herstellbarkeit all dessen, was ist, seiner Bestandssicherung, zusammen und wenn ja, wie? Was ist das überhaupt für ein merkwürdiges Bestandsein: die Ersetzbarkeit? Die „Zerstückung" wurde von Heidegger als dasjenige charakterisiert, was den Bestand der Bestandstücke allererst „schafft"; sie setzt ihn unablässig aus sich heraus und sichert sich zugleich dadurch, dass sie ihn in seiner Bestimmung auf Zerstückbarkeit anlegt, und so das für die Antike schlechthin Unmögliche unternimmt, die Wirklichkeit in ihre progressive Unendlichkeit hineinzuverzeh-ren. Hier tragen die Dinge als ebenso synthetisierbare wie zerschredderbare Aggregate des Auswechselbaren die Grundstruktur des Außer-sich, der unendlichen Bestimmbarkeit. Wenn wir hier also einerseits Züge des unendlichen Progresses nach der Seite des Quantitativen finden, so wie Aristoteles das Unendliche das genannt hatte, das hinsichtlich seiner Quantität nie so erfasst werden kann, dass es nicht noch Weiteres außer sich hätte, so berührt diese quantitative Unendlichkeit zugleich den qualitativen Charakter dessen, was sie in sich „schafft" und sogleich wieder verzehrt. Das Modul als ihre innere Einheit verlangt als quantitativ Unendliches qualitative Bestimmungslosigkeit, oder anders gesagt, das Quantitative wird gerade zur Qualität. Zu der eigentümlichen Totalität der quantitativen Unendlichkeit gehört, dass sie alle Formen der qualitativen Bestimmtheit in sich als unendlichen Progress aufzehrt. Das Verschwinden des Qualitativen ist bereits in der Indifferenz und Äußerlichkeit des Quantums gegen seinen Gegenstand angelegt - das Zählen richtet sich nicht auf die Dinge als solche, sondern auf die Dinge-hinsichtlich-ihrer-Zählbarkeit, die Menge nicht auf das Gesicht des Ganzen, sondern auf seine unendliche Teilbarkeit. Während das traditionelle Herstellen den Weg von der dynamis zur energeia, von der im Stoff bereitliegenden Möglichkeit zu ihrer hervorgetretenen Wirklichkeit nahm, erscheint vom Herstellungscharakter der „Zerstückung" her als dem, was den Bestand der Bestandstücke allererst „schafft", das Seiende erst dann als „wirklich", wenn es die offenen Bruchstellen der reinen Möglichkeit im Sinne der bedingungslosen Zerstückbarkeit (und das bedeutet zugleich Kontinuierbarkeit) an sich aufweist. Die eigenschaftslose Materie als die potenzielle Möglichkeit schlechthin ist nun das Wirkliche, während die durch ihre Verbindung mit der Form zur Wirklichkeit gelangte Möglichkeit sich als weniger „seiend" erweist. Mit anderen Worten: Alles was ist, wird heute im Hinblick nicht auf seine Bestimmtheit, sondern im Hinblick auf seine qualitative Unbestimmheit her-gestellt. Das „Schaffen" ist kein Umgrenzen, es ist vielmehr eine Bewegung, welche alle Besonderheit im voraus transzendiert, und zwar in Hinsicht auf seine unendliche Ersetzbarkeit. Es ersetzt die Dinge „durch die erdachten Gebilde der errechneten Gegenstände. Diese sind für die Vernutzung hergestellt. Je rascher sie vernutzt werden, um so nötiger wird, sie immer noch rascher und noch leichter zu ersetzen. Das Bleibende der Präsenz der gegenständlichen Dinge ist nicht das Insichberuhen dieser in der ihnen eigenen Welt. Das Beständige der hergestellten Dinge als bloßer Gegenstände der Vernutzung ist der Ersatz." Nur was einmal bis in seine sich gleichförmig ablösende Vorhandenheit zerstückt werden konnte (mit Hegel: auf die Seite an ihm, die als quantitative „Eins" wesensmäßig in die „Sichselbstgleichheit des Auseinanderseins" drängt), verfügt jetzt über die geforderte Wirklichkeit, die ihm ermöglicht, in den Kreisgang der unbeschränkten Verbrauchbarkeit aufgenommen zu werden. Der empirische Regress, der die Dinge „an sich" gerade vor dem Zugriff einer auf Unbedingtheit gerichteten spekulativen Vernunft bewahren sollte, erweist sich seiner inneren, ihm selbst verborgen bleibenden Grenzenlosigkeit nach als eine technologisch organisierte Regression all dessen, was ist, auf die schlichteste, nur noch material fassbare Stufe seiner selbst. Dies zeigt sich offenkundig in der Industrie der für den Verbrauch hergestellten Produkte wie zunehmend deutlicher auch in Bezug auf den Verbraucher selbst, den Menschen (welche Grenze sollte hier auch Einhalt gebieten?), in den global durchgeführten Projekten wie etwa dem HumanGenom-Projekt oder der Stammzellenforschung. Ziel ist jedesmal die molekularbiologische A-morphisierung aller bestimmten Form auf seine ersten Träger (das Gen, die Zelle als makromolekularer Komplex), die dann der biotechnischen Reproduktion und ihren manipulativen Verfahren der Neukombination („rekombinante DNA-Technologie") prinzipiell grenzenlos offenstehen. In diesem „Spiel", der Auslieferung des Lebendigen an seine unendliche Reproduktion, scheint tatsächlich „alles an die Stelle von allem treten zu können", wie Heidegger schrieb, sogar das Leben an die Stelle des Todes und umgekehrt. Noch einmal Baudrillard: „Die Lebensprozesse, die durch die endgültige Verselbständigung vieler Funktionen oder durch eine Reduktion auf die kleinsten Einheiten auf ihre differenzlosen Formen zurechtgestutzt werden, werden unzerstörbar, und durch den automatischen Ablauf dieser Prozesse vernichten wir ganz nebenbei auch den Tod." Die Quantität als Qualität - diesen Umschlag nennt Heidegger das „Riesenhafte" - ähnlich, wie bereits Hegel vom „Maßlosen" gesprochen hatte, das dadurch charakterisiert ist, dass sich in ihm das Quantum zur qualitativen Bestimmtheit aufschwingt und alles, was ist, in bloß quantitativ bleibende Verhältnisse setzt. Im Gegensatz zu Hegel verbindet Heidegger damit jedoch die Behauptung, dass dieser Umschlag in das quantitative Kontinuum des „Riesenhaften" keinen Kategorienumschlag mehr darstellt, also den Umschlag von Denkformen als etwas, das „nur" unsere Zugangsweise zu einem Seienden betrifft, sondern die Gegenwart des unendlichen Progresses als Gegenwart des „Gestells". Dessen ontologische Bestimmung ist die universale Bestellbarkeit, das heißt die sich die „quantitative Attraktion" zunutze machende „vorgreifend-planend-einrichtende Erfassung von allem, bevor es schon im Besonderen und Einzelnen gefaßt ist"; und diese „findet am Gegebenen keine Grenze und will keine Grenze finden, sondern das Grenzenlose ist entscheidend, aber nicht als das Verfließende und bloße Und-so-weiter, sondern das an keine Grenze des Gegebenen, an kein Gegebenes und Gebbares als Grenze Gebundenes." Das Grenzenlose als das vom Gegebenen schlechthin ungebundene reißt alles in sich fort, wie es wiederum paradigmatisch am Zählen offenkundig wird: „Jegliches ist nur, was es zählt. Das jeweils Gezählte sichert dabei den Vorgang des Zählens. Dieses [...] ist selbst ein fortgesetztes Sichverzehren." Das Zählen verbraucht das Gezählte also nicht in eine andere in sich feststehende Größe (in der es aufgehoben würde oder zum Stillstand kommt), sondern es verzehrt es in das Sichverzehren selbst. Statt Verzehr können wir durchaus auch Verbrauch oder Negation sagen: Das Zählen negiert alles Sein nicht in ein anderes oder höheres Sein (und damit auf irgendein Ziel hin), sondern es negiert es in die Ziellosigkeit des Selbstverzehrs oder der Negation schlechthin. Aber wer oder was, so möchte man zuletzt fragen, ist eigentlich das Subjekt dieses Zählens? Wer oder was vermag in diesem unendlichen Progress des Selbstverzehrs den Sprung zum Zeugen der Gegenwart eines Jetzt zu vollbringen? * Kommen wir zum Anfang unserer Überlegungen zurück. Sie nahmen ihren Ausgang von der eigentümlichen Doppeltendenz der Gegenwart, ins Haltlose auseinanderzugleiten und zugleich in eine beklemmende Einförmigkeit überzugehen. Als unendlicher Progress lässt sich diese Doppeltendenz zunächst als eine eigentümliche Verselbständigung der Kategorie des Quantitativen beschreiben, die sich aus dem Modus einer bloßen Möglichkeit löst und in die Wirklichkeit übergeht bzw. als Wirklichkeit erscheint, so wie gegenwärtig im Kontext totaler Verwissenschaftlichung das Seiende nur dort als wirklich gilt, wo es sich quantitativ fassen lässt, während alles nicht Quantifizierbare sich in einer irgendwie dahinter liegenden bloßen Möglichkeit verflüchtigt. Bei Aristoteles findet der implizite Progress des Quantums noch seinen natürlichen Widerhalt an der Bestimmtheit, dem inneren Wuchs des Seienden, an dem er sich (im Zusammenspiel mit anderen Kategorien ) ausspricht, und auch bei Kant bleibt der empirische Regress im Bereich der Erscheinungen zumindest der Konzeption nach noch durch den Widerstand eines qualitativ Realen gebunden, wenn auch der Übergang zwischen diesen beiden Kontinuen bereist als zentrales Problem offenkundig wird. Hegel bleibt insofern Aristoteliker, als auch für ihn die quantitative Abstraktion keinen vernünftigen Wirklichkeitscharakter hat; wenn sie auch wirkmächtig ist, wird sie zuletzt durch die dem Begriff innewohnende Lebendigkeit aufgehoben, das heißt, sie schlägt in die Dimension des Qualitativen um und ruft damit den in eine unendliche Zukunft aufgeschobenen Widerspruch in eine Versöhnung ,hier und jetzt' zurück. Wenn Heidegger dagegen festhält, es handle sich bei der als Qualität auftretenden Quantität nicht um eine dialektische Vermittlung von Vorstellungsformen, „sondern um die Seinsgeschichte selbst", dann ist damit ausgedrückt, dass es zuletzt das Sein selbst ist und kein kategoriales Moment der Vorstellung, welches sich gegenwärtig als unendlicher Progress, als „Wille zum Willen", als „Sich-übermächtigen der Macht", als „Fortriss", als Grundweise der „Ersetzbarkeit", als das „Spiel, wo alles an die Stelle von allem treten kann", zu verstehen gibt. Es bleibt freilich zu fragen, was das bedeuten kann, welche Konsequenzen sich aus dieser Einsicht für das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit ergeben und nicht zuletzt, welcher Standort der Kritik vor bzw. in einem solchen Abgrund überhaupt möglich ist. Könnte es aber nicht gerade das Eingeständnis dieser prinzipiellen Ohnmacht in allem Methodischen sein, auch oder gerade dort, wo es sich zum Boden des Wirklichen erklärt, das seinem inhärenten Leerlauf eine Grenze wiese? Heidegger scheint eben dies nahezulegen: „Warum das Riesenhafte nicht den Überfluß kennt? Weil es aus der Verheimlichung eines Mangels entspringt und diese Verheimlichung in den Schein einer ungehemmten Veröffentlichung eines Besitzes stellt. Weil das Riesenhafte nie den Über-fluß, das un-erschöpfliche Unerschöpfte kennt, deshalb muß ihm auch das Einfache versagt bleiben. Denn die wesentliche Einfachheit entspringt aus der Fülle und ihrer Beherrschung." 275 Dean Komel MULTiKULTURALiSMUS UND INTERKULTURALITÄT. Eine phänomenologische Unterscheidung Das Thema meines Vortrages bildet die Unterscheidung zwischen Multikultura- 277 lismus und Interkulturalität, die ich in meinem Buch Tradition und Vermittlung. Der interkulturelle Sinn Europas1 mit der Annahme einzuführen versuchte, dass sie sich phänomenologisch ausweisen und hermeneutisch vermitteln lässt. Wie es schon aus dem Titel des Buches zu ersehen ist, fällt die Ausführung dieser Unterscheidung nicht nur in die engere Sphäre der Philosophie; als eine philosophische Besinnung betrifft sie die Atmosphäre des Gesprächs über den Sinn Europas bzw. - mit Husserl zu sprechen - des Gesprächs über die europäische Lebenswelt als sinnvolle Atmosphäre. Sonst sieht sich man heute zweifelsohne mit einer erheblichen Schwierigkeit konfrontiert, wenn man versucht, den interkulturellen Sinn Europas insbesondere aufgrund der Abgrenzung vom Multikulturalismus als einem Globalisierungsphänomen zu bestimmen. Diese Schwierigkeit lässt sich nicht auf der Ebene soziologischer, kulturkundlicher, politikwissenschaftlicher oder ökonomischer Analysen lösen, sondern macht eine philosophische Besinnung erforderlich, und zwar in dem Maße, in dem die Herausbildung des interkulturellen Sinns Europas von der Philosophie selbst mitbestimmt worden ist. Aber auch dieser philo- 1 Dean Komel, Tradition und Vermittlung. Der interkulturelle Sinn Europas, Königshausen & Neumann, Würzburg 2005. 278 sophische Ausgangspunkt lässt sich ohne die Berücksichtigung der von der sog. interkulturellen Philosophie geäußerten Vorbehalte nicht geltend machen. Es erheben sich nämlich einige prinzipielle Einwände, ob und inwiefern man vom Gesichtspunkt der interkulturellen Philosophie aus berechtigt ist, den Ursprung und die Geschichte der Philosophie mit der Ursprünglichkeit und Geschichtlichkeit Europas eindeutig zu verbinden. Sollte man dagegen, um nicht einem unkritischen Eurozentrismus zu verfallen, nicht die gleiche Relevanz auch den außereuropäischen Ursprüngen und Geschichten der Philosophie anerkennen? Der Philosophiehistoriker Giovanni Reale2 lehnt diese Möglichkeit in seiner Einleitung zur Geschichte der antiken Philosophie entschlossen ab. R. A. Mall3, einer der einflussreichsten Vertreter der interkulturellen Philosophie in Europa, warnt ausdrücklich vor einem solchen exklusiven Standpunkt, von dem der Ursprung der Philosophie einzig und nur Europa zugeschrieben wird. Hinsichtlich der philosophischern Erörterung des interkulturellen Sinns Europas steckt man nun in einer doppelten Verlegenheit. Darüber hinaus gilt noch in Erwägung zu ziehen, ob die beiden Standpunkte nicht einen bestimmten Mangel eben darin aufweisen, dass von ihnen nicht genügend darauf Bedacht genommen wird, dass die philosophische Frage nach dem interkulturellen Sinn Europas heute in seiner wesentlichen Fraglichkeit übersprungen wird und dass eben dieser Übersprung oder sogar die Verdrängung die Unterscheidung zwischen In-terkulturalität und Multikulturalität unmöglich macht. Insofern man die Glei-chursprünglichkeit von Philosophie und Europa vertritt, werden weder der Bedarf noch die Notwendigkeit eingesehen, die philosophische Frage nach dem interkulturellen Sinn Europas aufzuwerfen, denn es wird als selbstverständlich angenommen, dass dieser bereits zur Verfügung steht. Eben dieser Wille, durch den der interkulturelle Sinn Europas uns bereits selbstverständlich zur Verfügung steht, geht unaufhaltsam in den Willen zur Macht über, dessen Expositur auch der globalistische Multikulturalismus ist, in dem eine Unterscheidung zwischen Multikulturalität und Interkulturalität überflüssig wird. Wenn man nun außer dem europäischen Ursprung noch andere Ursprünge der Philosophie zu befürworten versucht, dann tritt da die Frage danach auf, auf wel- 2 Giovanni Reale, Storia della filosofia antica (l), Vita e Pensiero, Milano 1991. Vgl. auch Giovanni Reale, Kulturelle und geistige Wurzeln Europas. Plädoyer für eine Wiedergeburt des europäischen Menschen, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2004. 3 Ram Adhar Mall, „Zur nicht-europäischen Entdeckung Europas", in: Essays zur interkulturellen Philosophie, Traugott Bautz, Nordhausen 2003, S. 167-172. Vgl. auch Chan-Fai Cheung, „One World or Many Worlds? On Intercultural Understanding", in: Ernst Wolfgang Orth and Chan-Fai-Cheung, Phenomenology of Interculturality and Life-World, Karl Alber Verlag, Freiburg/München 1998, S. 150-171. cherphilosophischen und kulturellen Grundlage diese Befürwortung möglich ist oder ob sie ohne eine solche Grundlage ist und sich mit bloßen Vergleichungen zufrieden stellen lässt. Oder, anders gesagt, auch die interkulturelle Philosophie ist notwendigerweise vor eine Besinnung darüber gestellt, worin der Ursprung der Philosophie überhaupt liegt, die auch eine eigene interkulturelle Wirkung hat, und das heißt, dass man auch ihr ständiges Herausspringen und nicht nur ihren historisch bestätigten Ursprung zu berücksichtigen hat. Dass weder Ursprung noch die Ursprünge der Philosophie nicht einfach gegeben sind, sondern uns eher als eine Aufgabe der philosophischen Selbstbesinnung bevorstehen, wurde im vergangenen Jahrhundert eben durch die phänomenologische Philosophie am besten gezeigt.4 Unter Berücksichtigung dieses von der Phänomenologie im vorigen Jahrhundert geleisteten Beitrags soll die folgende Frage gestellt werden: Bleibt dieser Ursprung noch weiterhin offen oder wird man dagegen mit einer Geschlossenheit konfrontiert? In der Diskussion über die Interkulturalität setzt man sich also nicht nur mit dem Problem des Ursprungs der Philosophie und der Ursprünglichkeit Europas auseinander, sondern auch mit dem Problem des Endes der Philosophie und des Untergangs Europas bzw. damit, was mit der indikativen Mehrdeutigkeit als Zusammenbruch der westlichen Zivilisation" bezeichnet wird. Unsere Annahme ist, dass eben durch diese „philosophische Krise des Westens", die zwar schon ein Jahrhundert bekannt, aber noch immer nicht erkannt ist, eine Verschiebung in der Auffassung von Kultur in Richtung Interkulturalität veranlasst wurde. Der Ort der interkulturellen Besinnung kann wohl nicht ein beliebiger sein und muss auch die negative Erfahrung derjenigen Kultur umfassen, die sich selbst als Zentrum dargestellt hat und sich als europäisch, wertmäßig aber als westlich begreift. Es kann freilich behauptet werden, dass sich jede Kultur, insofern sie sich um ihr Zentrum dreht, früher oder später auch mit der Krisis ihrer „Zentralrolle" konfrontiert. Im Fall von Europa handelt es sich aber um eine Lebenswelt, von der die Menschlichkeit des Menschen in das Zentrum und insbesondere aus 4 Das hat auch die phänomenologische Diskussion über die interkulturelle Besinnung Europas und damit verbundene Kritik der Eurozentrismus wesentlich geprägt; vgl. dazu Tadashi Ogawa, Grund und Grenze des Bewußtseins. Interkulturelle Phänomenologie aus japanischer Sicht; Königshausen & Neumann, Würzburg 2001; Hans Rainer Sepp „Homogenisierung ohne Gewalt? Zu einer Phänomenologie der Interkulturalität im Anschluß an Husserl", in: Philosophie aus interkultureller Sicht, hg. von N. Schneider, D. Lohmar, M. Ghasempour, H.-J. Scheidgen, Rodophi, Amsterdam - Atlanta 1997, S. 263-275. Sepp lehnt sich in seinem Aufsatz besonders an Toru Tani, „Heimat und das Fremde", HusserlStudies, 9 (1992), S.199—216, und Klaus Held, „Husserls These von Europäisierung der Menschheit", in: Phänomenologie in Widerstreit, hg. von Ch. Jamme und O. Pöggeler, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1989, S. 13-39; Chung-Chi Yu, „Heimwelt, Fremdwelt und die Zwischenwelten", Phainomena XV/59 (2006), S. 106—119. 279 280 dem Zentrum gestellt wird. Der Eurozentrismus wäre ohne Anthropozentrismus nicht möglich, und dieser nicht ohne einen Entwurf der neuzeitlichen Subjektivität, dem ein universalistischer Charakter zukommt. Dadurch wird die Entwicklung einzelner Kulturen, Sprachen, Nationen ermöglicht, die sich als solche bewähren, insofern sie sich auf dieser universalistischen Ebene selbst darstellen. Die UNO und ihre aktuelle Ausformung der Europäischen Union bilden den Abschluss dieses Prozesses, der jedoch auch seine krisenhafte Seite zeigt, insofern die Ordnung der Welt auf der globalistischen Ebene, auf die nun der neuzeitliche Universalismus übertragen worden ist, sich unter dem Aspekt ihrer subjektivistischen Unterordnung herstellt. In diesem Sinne wird von der globalen Hegemonie des Westens gesprochen. Aber diese Hegemonie breitet sich heute auch vom Osten, Norden und Süden aus; sie ist multiversal geworden, indem sie sich in alle Richtungen ausbreitet, insofern die subjektivistische Unterordnung der Welt gleichsam restlos als Weltordnung akzeptiert wird. In dieser Hinsicht ist die Kritik am Eurozentrismus und seinem Universalismus innerhalb der interkulturellen Philosophie nicht ausreichend, insofern sie sich nicht mit der fundamentalen Frage der Offenbarkeit der Welt auseinandersetzt, mit der Frage also, die wohl ein ausgezeichnet phänomenologisches Thema bildet. Eben im Rahmen der Ausarbeitung dieses Themas hat sich auch gezeigt, dass die Überwindung des Ausgangs der Subjektivität - wenn es um das Problem der Konstituierung der Weltlichkeit der Welt und folglich auch der interkulturellen Begegnung und Verständigung in der Welt geht - keine einfache Aufhebung der Subjektivität bedeutet, sondern vielmehr eine ausdrückliche Erschließung ihres Seinsentwurfs braucht (und da wird freilich an die Heideggersche Einführung des Konzepts der Erschlossenheit des Daseins in seinem Werk Sein und Zeit gedacht). Darin steckt zweifelsohne auch eine weitere Schwierigkeit in der phänomenolo-gischen Konstitution der Interkulturalität, die sich auf der Grundlage derjenigen geschichtlichen Wirkung zu konstituieren hat, die selbst zugleich das Thema ihrer Kritik ist, d. h. auf dem Ansatz der Subjektivität und der mit ihr verbundenen Problematik der Universalität der Wahrheit und des wissenschaftlichen Objektivismus. Der Ausgangspunkt der Subjektivität erweist sich in der gegenwärtigen interkulturellen Diskussion als ungenügend, wobei jedoch nicht die Tatsache übersehen werden kann, dass der Großteil sowohl lokaler als auch globaler gesellschaftlicher Institutionen auf dem Prinzip der Subjektivität gegründet wird (von Menschenrechten über Wissenschaften, Religion, Kunst bis hin zu alles umfassenden „Regeln" des freien Marktes). Auch die Multikulturalität steht und fällt in der Macht der Subjektivität, und zwar bis zu dem Maße, dass in ihr die inter-subjektive Grundlage versetzt und durch Vielheit, Menge, Mul- tiplität, Multitude ersetzt wird, wodurch die meisten multikulturellen Konflikte von heute ausgelöst sowie die interkulturelle Überlieferung und die Mitteilung gelöscht werden. Der Unterschied zwischen Multikulturalismus und Interkulturalität tritt in die phänomenologische Hermeneutik auf die Weise des Übergangs von der Subjektivität zur Offenbarkeit der Welt ein, wobei allein die Erfahrung dieses Übergangs die Offenheit der Inter-Dimension von Kultur erschließt, der Inter-Dimension, die selbst den Unterschied des Übergangs bildet.5 Darin konzentrieren sich schlechthin sämtliche Probleme der philosophischen Diskussion über die Interkulturalität. Insofern es sich um eine phänomenologische Unterscheidung handelt, bedeutet das, dass die Evidenz der Inter-Dimension der Interkulturalität aufzuweisen ist, durch die diese Unterscheidung fundiert wird. Der Sachverhalt ist aber der, dass gerade diese Evidenz der Inter-Dimension im Erscheinungsbild des gegenwärtigen Multikulturalismus und der Interkulturalität am wenigsten offen-sichtlich ist. Der Multikulturalismus ist an sich zwar als eine der Begleiterscheinungen des Globalismus sichtbar und fasst alle globalistischen Gegensätze und Kollisionen in sich zusammen. Ebenso bildet die Interkulturalität schon eine Zeitlang nicht nur den zentralen Topos der geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Diskussionen, sondern ist auch zu einer der Kommunikationskompetenzen in der sich entfaltenden Wissensgesellschaft geworden. Jedoch weder der Multikulturalismus noch die Interkulturalität können als solche gesellschaftliche Erscheinungen unmittelbar in die phänomenologische Betrachtung aufgenommen werden, die zur Ausführung des Unterschiedes zwischen den beiden führen würde. Das kritische Verfahren, auf dessen Grundlage thematische Modifikation erörterter Phänomene gesichert wird, ist in der Phänomenologie unter dem Namen Reduktion bekannt. 281 Der Evidenzcharakter der phänomenologischen Reduktion liegt darin, dass das, was der Reduktion unterworfen wird, nicht auf etwas von diesem Anderen, sondern eben darauf, was es selbst ist, zurückgeführt wird. Die phänomenologische Reduktion führt das Seiende auf dessen Sein zurück und hat somit eine konstitu-tive Gültigkeit. Diese konstitutive Gültigkeit der phänomenologischen Zurückführung des Seienden auf dessen Sein zeigt sich in ihrem wahren Licht, wenn die sie begleitende Methode der „Zurückhaltung" berücksichtigt wird, d. h. die 5 Vgl. dazu Dean Komel,„Die Phänomenologische Frage nach der Weltlichkeit der Welt und Hermeneutik des Interkulturellen", in: Orthafte Ortlosigkeit der Philosophie. Eine interkulturelle Orientierung. Festschrift für Ram Adhar Mall zum 70. Geburtstag, herausgegeben und eingeleitet von Hamid Reza Yousefi, Ina Braun und Hermann-Josef Scheidgen,Traugott Bautz, Nordhausen 2007, S. 149-161 methodische „Epoche", die alle meine weltlichen Interessen für das Seiende blockiert, und zwar in einer gleichzeitigen Erschließung des weltlichen Inter-esses als solcher, die mich vor die Offenbarkeit der Weltlichkeit der Welt als eines ausgezeichneten Themenfeldes - vor die Lichtung - der Phänomenologie führt. Der phänomenologischen Epoche kann man sich nicht nur als eines geeigneten methodischen Mittels bedienen, sondern sie erschließt vielmehr einen epochalen Übergang der Mitte, der uns für das weltliche Inter-esse und das heißt das Zwi-schen-sein als solches eröffnet. 282 Dabei ist jedoch darauf Bedacht zu nehmen, dass die phänomenologische Konstitution in „Theorie und Praxis" nicht dasselbe ist wie Konstruktion. Durch die konstruktivistische oder dekonstruktivistische Deutung der phänomenolo-gischen Konstitution wir nämlich nahegelegt, dass das von der Phänomenologie Thematisierte nur erfunden und nicht schon vorgefunden wird. Dabei kann aber gerade die „Welt" als ausgezeichnetes Feld des phänomenologischen Denkens nicht bloß erfunden und konstruiert werden, weil sie für mich schon da ist, obwohl auf die Art und Weise, dass ich in ihr konstitutiv mitwirken, d.h. sie auf die Art und Weise eines sinnhaften Inter-esses ausfüllen muss. Nur so kann behauptet werden, dass die Welt für mich da ist, dass sie mich schon immer irgendwie anspricht und eine Bedeutung für mich hat. Phänomenologisch führt das zur Evidenz, ja, sogar einer Urevidenz, dass die Sprache dasjenige Zwischen ist, von dem uns in erster Linie die Mitte der Welt konstitutiv vermittelt wird. Darauf kommen wir später bei der Erörterung der Problematik der Gewinnung von Evidenz in der Unterscheidung zwischen Interkulturalität und Multikulturalismus noch zurück. Zunächst kann nur angedeutet werden, dass die phänomenologische Evidenz der Besprechbarkeit der Welt, d.h. der ursprüngliche Sach-verhalt, dass die Welt in ihrer Mitte (Inter-dimension) unterschiedlich spricht, eine evidente Versicherung für die Ausführung der Unterscheidung zwischen Interkulturalität und Multikulturalismus bietet, die aber in Hinsicht auf ihre Wahrheit in einem noch un-differenzierten Sinn geschichtlich geprägt ist. Dadurch wird unverzüglich eine weitere Besinnung über die Epochalität dieser Versicherung veranlasst, die mit keiner geschichtlichen Haltung innerhalb der Welt, sondern vielmehr mit der Zurückhaltung (Epochalität) der Geschichte selbst im Zusammenhang steht, und das heißt, dass sie nicht diese oder jene geschichtlichen Wahrheiten und Entscheidungen betrifft, sondern die Wahrheit und den Unterschied der Geschichtlichkeit selbst. Das heißt, dass die phänomenologische Reduktion, wenn sie ihre kon-stitutive Geltung zeigen soll, nicht auf irgendein Vorgegebenes gestützt werden kann; sie soll sich vielmehr aus der epochalen Vorgegebenheit der Ansprache der Welt erschließen. Die Versicherung der Evidenz geht nicht aus dieser oder jener Gewissheit und Fertigstellung der Welt hervor, sondern wird aus der Mitte dieser Welt vermittelt. Insofern die Evidenz der Unterscheidung zwischen Multikulturalismus und In-terkulturalität erst durch das entsprechende Verfahren der phänomenologischen Reduktion gesichert wird, wobei der Wahrheitscharakter dieser Versicherung nicht irrelevant bleiben kann, soll man sich fragen, um welche Reduktion es in diesem Falle eigentlich geht? Wie bereits erwähnt, macht die Reduktion das Übergehen zwischen Kultur und Dimension dessen erforderlich, was durch die Präfixe „inter-" und „multi-" angedeutet wird. Es geht also um eine Unterscheidung, der eine konstitutive Gültigkeit zukommen sollte. Die ursprüngliche Reduktion liegt demnach darin, dass die Inter-kulturalität nicht auf die Multikulturali-tät nivelliert wird, wobei sich die letztere als wesentlich „nivellierend" ausweisen kann, d. h. als die Unterscheidung selbst vernichtend. Das erinnert einen an den grundlegenden phänomenologischen Anspruch, nach dem die ontologisch-kon-stitutive Ebene nicht mit der ontisch-konstituierten zu verwechseln ist. Im Falle der Unterscheidung zwischen Multikulturalismus und Interkulturalität werden wir aber mit einem anderen Anspruch konfrontiert, der einen hervorgehobenen Wertcharakter hat, insofern er die Kulturebene bzw., genauer gesagt, die Ebene der Auseinandersetzung von Philosophie und Kultur betrifft. Diese Auseinandersetzung, die in der Hinsicht bestimmend ist, wie der Mensch seine Menschlichkeit in Wahrheit sieht, wäre jedoch nicht möglich, wenn die Philosophie nicht aus sich selbst eine Art der Geschichtlichkeit entfalten würde, in der die Kultur als Kultur offensichtlich wird. Ein historisches Zeugnis dafür gibt es bei Cicero: „philosopia autem animi cultura est." Die Philosophie ist Kultur als Paideia-Aus-bildung der Menschlichkeit im Bezug zur Wahrheit. Das heißt, dass die Philosophie aus ihrem Verhältnis zur Wahrheit geschichtlich ist, und demgemäß ist auch die Kultur im Wesen geschichtlich wahr oder nicht wahr. Zweifelsohne relevant ist dabei auch die Einsicht Hegels in seiner Einleitung zur Geschichte der Philosophie, dass sich der Inhalt der Wahrheit als Ganzes weder in Religion noch in der Wissenschaft, sondern nur in der Philosophie ändert.6 Das heißt, dass man in der Philosophie auf der Ebene der Erschließung der Wahrheit als eines grundlegenden philosophischen Geschehens aus der Freiheit des Denkens mit der Epochali-tät des Geschichtlichen zu tun hat, durch die auch das bestimmt wird, was ansons- 283 6 „Die Geschichte der Philosophie zeigt dagegen weder das Verharren eines zusatzlosen, einfacheren Inhalts noch nur den Verlauf eines ruhigen Ansetzens neuer Schätze an die bereits erworbenen; sondern sie scheint vielmehr das Schauspiel nur immer sich erneuernder Veränderungen des Ganzen zu geben, welche zuletzt auch nicht mehr das bloße Ziel zum gemeinsamen Bande haben." (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Digitale Bibliothek Band 3: Geschichte der Philosophie, S. 27.) Der Gesichtspunkt Hegels über das Verhältnis von Philosophie und Europa bleibt hier bis heute gleich entscheidend und umstritten. 284 ten als geschichtliche und kulturelle Epochen begriffen wird. der Welt spricht uns als ein epochales Zeugnis der Geschichtlichkeit an. Somit genügt es nicht, dass sie bloß befürwortet wird. Denn wir ent-sprechen stets sozusagen der Be-Sprechbarkeit der Welt und sind ihr ausgeliefert. Durch diese Aus-lieferung an die Welt, insofern sie uns aus der Über-lieferung geliefert wird, werden wir epochal in die Situation des Gesprächs, das heißt in einen Zustand der Kultur als Gespräch - Inter-kulturalität - unter-gebracht. Wenn wir behaupten, dass der Sinn der phänomenologischen Reduktion - wenn es sich um die thematisierte Unterscheidung handelt - eben darin liegt, dass die Interkulturalität nicht auf die Multikulturalität relativiert und nivelliert wird, dann lässt sich feststellen, dass diese Epoche von Nicht- Nivellierung an und für sich eine geschichtliche Wirkung des Verhältnisses der Philosophie zur Erschließung der Wahrheit ist und dass die Phänomenologie hier nichts Neues entdeckt - außer dieser epochalen Vorentdecktheit — Lichtung — selbst, die somit ausdrücklich Thema des Gesprächs wird. Das ist die uns ansprechende Offenbarkeit der Welt als derjenige Unter-Schied, der auf die Inter-Dimension der Interkulturalität hinweist, die man im epochalen Übergang auf die Art und Weise eines geschichtlich sich offenbarenden Gesprächs zu erfahren hat. Es geht nicht darum, einen Unterschied zu erfinden, auf dessen Grundlage eine Unterscheidung zwischen Multi-kulturalität und Interkulturalität möglich wäre, sondern es wird von einem Unterschied ausgegangen, insofern man aus dem Geschehen des Offenbarens selbst zu einem Unterschied kommt. Dieses historische Gespräch ist auch kein Mittel, mit dem und auf dessen Grundlage man sich der multikulturellen Nivellierung widersetzen könnte, insofern von diesem Geschichtslosigkeit, Ursprungslosig-keit, Grundlosigkeit gefördert und die Identität durch allerlei Identifikationen ersetzt wird. Was sagt bzw. verschweigt die „multikulturelle Nivellierung" mit Bezug auf die Möglichkeit des interkulturellen Gesprächs? Die gegenwärtigen kulturologischen, soziologischen und politologischen Diskussionen über Globalismus sind bekannterweise mit dem Problem der Verschmelzung und Verwischung von Kulturdifferenzen konfrontiert und sind bemüht, eine Politik der Anerkennung der Kulturdifferenzen und Andersheit zu vertreten. Die Frage aber ist, wie und warum es zu diesem Widerspruch von theoretischen und praktischen Tendenzen kommt. Es scheint nämlich, dass es dazu nach einem Zufall kommt, der in sich jedoch eine Notwendigkeit und demgemäß auch einen grundlegenden Widerspruch verbirgt und zwar zwischen dem subjektivistischen Willen zur Beherrschung der Welt und dem jeweiligen Walten der Welt . Diese waltende Mitte der Welt, durch deren Vermittlung die Verständigung und Begegnung auf die Art und Weise eines Zusammenkommens in der Welt überhaupt möglich ist, ist aber gerade das ursprüngliche Geschehen der Inter-Dimension von Interkulturalität. Insofern die Welt durch das Öffnen der vermittelnden Mitte unterschiedlich spricht, sind wir geschichtlich bedingt. Dadurch ist die Welt diese für uns gemeinsame Welt. Die erwähnte Dichotomie innerhalb des Multikulturalismus reicht nicht bis zum ursprünglichen Geschehen der Konstituierung der für ihn bloß vorausgesetzten Kulturdifferenzen, die eben in der Inter-Dimension der Interkulturalität angedeutet wird. Die Inter-Dimension weist auf die sich öffnende Mitte der Welt hin. Das Eröffnen der Kulturdifferenzen ist mit der phänomenologischen Urevidenz, dass die Welt unterschiedlich spricht und anspricht, verbunden. Die Welt als eine gemeinsame Welt teilt sich unterschiedlich mit. Darin verbirgt sich die ganze Evidenz der Unterscheidung zwischen Interkulturalität und Multikulturalismus, wobei dieses Verbergen als der Wesenszug der Unterscheidung selbst zu nehmen ist; ansonsten scheint es, dass dadurch der multikulturelle Gesichtspunkt bestätigt wird, dass es keine Kultur, sondern nur Kulturen gibt. Wenn man aber diesen Gesichtspunkt akzeptiert, dann stellt sich notwendigerweise die Frage danach, was die Kulturdifferenzen öffnet, was die Kultur selbst als Differenz erschließt und was die Differenz zwischen Kulturen öffnet. Wenn diese Frage ausbleibt, dann verfällt man, trotz der deklarierten Anerkennung des Pluralismus von Kulturen, einem kulturellen Monolith. Es muss notwendig das gegeben werden, wodurch sich Kulturdifferenzen konstituieren und was das grundlegende Konstitutionsproblem der Interkultu-ralität bildet. Wenn man hier von der urphänomenologischen Evidenz „dass die Welt spricht" ausgeht, dann ist dieser Konstitutionsaspekt mit der Weltmitte und ihrer jeweiligen Vermittlung durch das Zwischen der Sprache als einem ursprünglichen Geschehen, Geben und Schenken verbunden. Die Konstitutionsfrage nach dem interkulturellen Sinn könnte auch als die Frage formuliert werden, wie Begegnung und Verständigung innerhalb einer Kultur und unter den Kulturen möglich sind, also als Frage der Weltlichkeit und Sprachlichkeit der Kultur. Auf dieser Grundlage lässt sich behaupten, dass die Kultur, und mag es sich um ihren europäischen oder außereuropäischen Ursprung handeln, heute in einem Untergang mit Bezug darauf steht, was in sich die Weltlichkeit und die Sprachlichkeit verbindet, d. h. im Moment der Geschichtlichkeit, und zwar ungeachtet dessen, wie sehr sich eine kulturelle Überlieferung als geschichtlich aufweist bzw. ob sie schon ursprünglich oder erst durch einen Vergleich geschichtlich ist. Es bleibt auch unklar, ob diese Frage aus den Ursprüngen selbst oder wegen der globalen Herausforderung des Endes der Geschichte im Zunichtemachen des Ursprünglichen in den Vordergrund tritt. Ebenso wie die Sprachlichkeit durch das Informationswesen und die Weltlichkeit durch den Globalismus er- 285 286 setzt werden, wird heute auch die Geschichtlichkeit durch die Medialität ersetzt, wobei der Punkt der Ersetzbarkeit für die Humanität in dem Maß bestimmend ist, dass sie durch das Verfügen über das Ersetzbare auch selbst als ersetzbar verfügbar wird (wobei es wohl nicht erforderlich ist, an die berüchtigte Manipulation durchs Klonen zu denken). Was nicht ersetzbar ist, besteht nicht, wodurch die ontologische Ordnung auf den Kopf gestellt wird, was die Manipulation in der „Verwaltung" von Allem ohne Unterschied zwecks seiner Unterordnung wesentlich erleichtert. Wo Alles ohne Unterschied auf die Ausbreitung der Weltwirtschaft gesetzt wird, ist das Walten der Welt, d.h. die vorangehende Offenbarkeit der Welt und die dadurch bedingte Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins in der Welt von der Tagesordnung „für andere Zeiten" abgesetzt. Dadurch wird epochal auch die Kultur als eine geschichtslose globale Kulturalisierung bestimmt, die ihre geschichtliche Bedingtheit vernachlässigt und sich als bedingungslos aufstellt. Die Welt als Globales ist nicht mehr das allem Gemeinsame, sondern nur noch ein Aggregat von Allem ohne Unterschied. Daher wird auch die globale Kultur nicht als eine gemeinsame Kultur aufgefasst und genommen, sondern nur noch als ein Aggregat von Kulturen - Multikulturalismus. Diese bedingungslose Geschichtslosigkeit, die sich in Allem ohne Unterschied geltend macht, ist dennoch eine geschichtliche Leistung, die als solche verheimlicht wird. Die Geschichte ist in diesem Sinne zum Globalismus und die Kultur zum Multikulturalismus übergegangen, und zwar als ob es dazwischen keinen Übergang gibt und man nicht länger durch die Welt bedingt wird und sich ihrer bedingungslosen Beherrschung von Allem ohne Unterschied rühmen kann. Hier zeigt sich zweifelsohne die grundlegende Verlegenheit Europas, wenn es um die Konstituierung seines interkulturellen Sinns geht, insofern durch das Ende der Geschichte nicht nur sein Ursprung betroffen wird, sondern dies die Sache dieses geschichtlichen Ursprungs selbst ist. Die Kultur als die europäische bzw. westliche Überlieferung, ist im Wesen geschichtlich, d. h. sie ist Geschichte. Das Einsetzen für eine besondere kulturelle Identität Europas übersieht eigentlich den Sachverhalt, dass das, wovon die Identität Europas getragen wird, Geschichte ist.7 Und Geschichte bedeutet das Bewusstsein Europas. Es wäre vielleicht angemessener zu sagen, dass Geschichte das Bewusstsein davon gewesen ist, was Europa geschichtlich war. Sowohl von modernistischen als auch von postmodernistischen Theorien werden schon Jahrzehnte lang das Ende der Geschichte und die damit verbundene Veränderung des kulturellen Paradigmas verkündet, das nach postmodernistischer Auffassung am 7 So behauptet z. B. Remi Brague folgendes: „Nur in Europa ist die Kultur als Geschichte und umgekehrt die Geschichte als Kultur verstanden worden" (Remi Brague, „Evropska kulturna zgodovina" [Europäische Kulturgeschichte], Phainomena XI/55-56, 2006, S. 78.). meisten durch das Syntagma „kultureller Pluralismus" geprägt wird. Dementsprechend könnte der Multikulturalismus als sich verwirklichender Pluralismus der Kulturen nach dem Ende der Geschichte und so ohne geschichtliche Wirkung verstanden werden. In solchen „Entwicklungsperspektiven" ist es mit dem geschichtlichen Europa aus. Wir „guten Europäer", wenn wir diese Benennung von Nietzsche und Husserl anwenden, sind vielleicht keine Geschichte mehr, sind aber früher oder später mit der Frage der Geschichte konfrontiert, und zwar nicht nur und überhaupt nicht nur um unserer (Macht) willen, sondern insbesondere deswegen, weil uns unter Umständen die Globalisierung ins Verhältnis zu Anderen stellt und uns im interkulturellen Sinne als geschichtliches Gespräch zur Besinnung bringt. Das Ende der Geschichte ist somit in Wahrheit der Ort, wo das geschichtliche Gespräch anfängt.8 Sich in einem solchen Gespräch aufzuhalten und in ihm auszuhalten, ist die wesentliche Aufgabe der Philosophie, die ihrer epochalen Zurückhaltung gegenüber der Erschließung der Wahrheit treu bleibt. Die phänomenologische Evidenz der Ansprache der Welt lässt sich nicht wie alles andere ohne Unterschied vom Sitz der Subjektivität aus liefern. In seinem Behagen werden heute „Differenzen verwischt", wodurch ein Unbehagen hinsichtlich des „Weltzustandes" veranlasst wird, das uns, insofern es epochal ausgehalten wird, geschichtlich als dasjenige zurückhält, worüber sich Wahrheit das Gespräch entfalten sollte. Das Ende der Geschichte kann nur dort angekündigt und verkündet werden, wo einem das Leben in der Wahrheit nichts mehr sagt und besagt, was sich nicht nur als eine oder andere geschichtliche Verstimmung, sondern als die Indifferenz der Geschichte selbst geltend macht. Die indifferente Ungestimmtheit des Geschichtlichen entspricht der Verfügbarkeit von allem durch alles, der man heute global ausgesetzt wird. Diese Ausgesetztheit dringt „uns Europäern" „in die Seele", und zwar als Not und Not-wendigkeit eines geschichtlichen Gesprächs am Ende der Geschichte, die der Ort der gleichzeitigen Verbergung-Entbergung und in diesem Sinne auch ein geschichtlicher Vorgang der Unterscheidung zwischen Multikulturalismus und Interkulturalität ist. Eben durch solche „Eindringung in die Seele" wird aber der Konstitutionssinn der interkulturellen Selbstbesinnung überliefert, wie es gerade Klaus Held, aufgrund seiner phänomenologischen Analysen über die Grundstimmung der euro- 287 8 Seinsgeschichtlich genommen finden wir uns vor dem abendländischen Gespräch, das den europäischen Morgen verspricht; dazu Peter Trawny, Heidegger und Hölderlin oder Der Europäische Morgen; Königshausen & Neumann, Würzburg 2004. 288 päischen interkulturellen Verständigung gezeigt hat.9 Wir werden von der Weltmitte ursprünglich darauf angesprochen oder nicht angesprochen, was ins Zwischen als die Stimmung eintritt. Den Stimmungen kann man zwar ausweichen, nicht aber vermeiden, wodurch unser Sein in der Welt bewegt wird. Die Welt ist in den Stimmungen schon immer da, jedoch als eine solche Welt, dass man durch Stimmungen in ihr tätig wird. Die Stimmung ist das, wodurch die Evidenz der Welt geschenkt wird, jedoch nicht auf die Art einer bloßen Evidentierung der Erscheinungsbilder der Welt, sondern durch die Auslösung einer Tätigkeit, die selbst als Welt offensichtlich, evident wird. Die Stimmungen sind daher nicht nur das Individuelle, sondern auch das Geschichtliche, das Epochale. Die Stimmung kann sowohl auf der individuellen als auch auf der gemeinschaftlichen Ebene in die Unstimmung oder sogar Stimmungslosigkeit umschlagen, etwa in die Stimmungslosigkeit, wie sie heute herrscht, wenn es darum geht, wie uns die Welt anspricht. In der Verfügbarkeit von Allem ohne Unterschied wird uns das Gestimmtsein entzogen, in der die Welt ursprünglich spricht, so dass die Welt eigentlich das Letzte ist, was - wenn überhaupt - zu Wort kommt und in diesem Sinne eine Geltung hat. Dieser Entzug an sich genommen, d.h. in seinem di-fe-rere, ist nicht schlechterdings nichts, sondern nichts Verfügbares und bringt somit durch seine Unerträglichkeit eine Unterschiedslosigkeit des Unterschieds als Stimmung einer geschichtlichen Indifferenz mit. Aus dieser Sinnspaltung hebt sich der Streit der Welt hervor, der einer /nter-kulturalität als Kultur im Gespräch bedarf. So lässt sich nun auch feststellen, dass die Phänomenologie, was die Unterscheidung zwischen Interkulturalität und Multikulturalismus betrifft, ohne geschichtlich gegebene Evidenz bleibt. Sie kann diese auch nicht einfach konstruieren, wobei eben dieses „ohne" dasjenige zu denken gibt, was sich evidenzlos in der Ohn-macht der Offenbarkeit der Welt verbirgt. Daher befinden wir uns heute nicht nur in einer Krise der Rolle des Menschen in der Welt, d.h. wir setzen uns nicht nur mit der Krisis des Humanismus auseinander, sondern sind auch einer Verstellung (also Maskierung) des Sinns der Humanisierung und der damit verbundenen Drohung von Dehumanisierung ausgesetzt, von der aus die Weile und Weite der Welt selbst und nicht mehr nur unsere Rolle in der Welt gesucht wird. Damit wird heute auch Europa konfrontiert, insofern es dem geschichtlich vermittelten interkulturellen Sinn im Unterschied zum Multikulturalismus nicht untreu werden möchte. Dabei geht es um nichts anderes als um die grundlegende Frage der Freiheit, die nicht nur auf die Autonomie des Subjekts begrenzt bleibt, sondern zum Nomos der Welt hinreicht, also zur grundlegenden Art der Vermittlung der 9 Klaus Held , „Europa und die interkulturelle Verständigung", in: Europa und Philosophie, hg. von H. H. Gander, Schriftenreihe der Martin Heidegger Gesellschaft 2, Klostermann, Frankfurt/M. 1993, S. 87-103. Mitte der Welt, der wir ausgeliefert werden. Im Spiel ist also nicht die Freiheit von der an ihr Ende angelangten Geschichte, sondern das Offensein für das geschichtliche Gespräch als der Überlieferung in die Be-Sprechbarkeit der Welt. Das wäre die Interkulturalität als die Kultur im Gespräch, die sich vom Multikulturalismus dadurch unterscheidet, dass sie diesen Unterschied in sich selbst als ihre eigene Überlieferung aufnimmt und auf diese Weise für Differenzen empfänglich ist. Diese Möglichkeit ist möglichst ernst zu nehmen, wenn es um die philosophische Frage nach dem interkulturellen Sinn Europas geht, der auch an der jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Gestaltung der Europäischen Gemeinschaft beteiligt ist. Diese beginnt eben aus diesem Grund die gegenläufigen Tendenzen aufzuweisen, und zwar ohne jede Versicherung, dass sich diese zu einer höheren Einheit zusammenfassen lassen. Als Wissensgesellschaft will Europa die subtilste globale Wirtschaft werden, wobei es dennoch offenbar ist, dass dieser Prozess der Machtgewinnung die Löschung der Überlieferung zur Folge hat, von der nicht zuletzt er selbst herrührt und der eben die Philosophie betrifft, wie das von Husserl in seinem berühmten Wiener Vortrag beschrieben wurde. Wird sich Europa allein dem Anspruch der subjektivistischen Zuordnung der Weltordnung und der Expansion der Macht der Subjektivität unterwerfen,i° dann kann es auf eigenem Terrain schwere Konflikte erwarten, die nicht nur die momentanen medienaktuellen Punkte gesellschaftlicher und politischer Kollisionen betreffen. Der grundlegende Konflikt wohnt der Humanisierungsmöglichkeit inne, die — den Machenschaften der gesellschaftlichen Macht als einer Folge des Prozesses der bloßen Machtgewinnung überlassen — notwendigerweise zur Dehumanisierung führt. Die Unterscheidung zwischen Interkulturalität und Multikulturalismus kann uns zwar nicht vor einer solchen Entwicklung bewahren und sollte auch nicht als eine moralische Entscheidung verstanden werden, sondern einfach als der Schritt zurück zur phänomenologischen Sache selbst: dass die Welt unterschiedlich spricht. i0 Vgl. dazu Cathrin Nielsen, „Martin Heidegger: Evropa in zahod" [Martin Heidegger: Europa und das Abendland], Phainomena XIII/49-50 (2004), S. i9—38. iZVLEČKi - ABSTRACTS Klaus Held: 291 O fenomenološki rehabilitaciji etosa V literaturi, ki se navezuje na človeški etos, vlada terminološka poljubnost, iz katere po moje lahko pelje samo ena pot: zgodovinski premislek pomena, s katerim so se moralno-filozofski pojmi izvorno javili v evropski filozofiji. V prvem delu svojega premisleka bi zato rad najprej pretresel grške pojme in nato njihove latinske prevode. Pri tem bo izstopila fundamentalno zgodovinska in zadevna razlika med klasičnim grškim „ethosom" in novoveško „moralo". Drugi del začenjam z danes prevladujočim vtisom, da je „ethos" obsojen, na izginotje zavoljo „morale". Poskusi, da bi rehabilitirali ethos vrlin nasproti novoveški morali, ki so jih poskušali komunitarno nastrojeni filozofi od izida knjige Alisdaira MacIntyra After Virtue, so večkrat naleteli na upravičeno kritiko. S fenomenološko metodo sestopa k orginarnim izkušnjam, bi rad izvedel nov in obenem drugačen poskus. Moja teza bo, da „ethos" predstavlja normalnost sveta življenja. „Morala" novega veka se opira na mejni primer te „normalnosti", ki ga povzdigne v normalni primer. Sklepoma bom fenomenološko razjasnil ta zgodovinski razvoj, tako da ga bom interpretiral kot proces „idealizacije" (pojem uporabljam v smislu Husser-love razprave o Krizi). Ključne besede: etika, ethos, morala, fenomenologija, idealizacija Klaus Held: On the Phenomenological Rehabilitation of Ethos The literature on human ethos evinces terminological arbitrariness, which can in my opinion be overcome in only one way: through historical reflection of the meaning which the moral-philosophical concepts have expressed at the very beginning of European philosophy. The first part of the paper is therefore dedicated to the reflection on Greek notions and then its Latin translations. In this respect there appears a fundamentally historical and substantial difference between classical Greek "ethos" and modern "morality". The second part begins with the nowadays prevailing impression that "ethos" is foredoomed to disappearance for the sake of "morality". Attempts at rehabilitating the ethos of virtues in contrast to modern morality, undertaken by communitarily inclined philosophers after the publication of Alisdair MacIntyre's After Virtue, have for the most part been justly criticized. By means of the phenomenological method of stepping back to originary experience, I would like to approach this matter from a different and new angle. My thesis is that "ethos" represents the normality of the world of experience. "Morality" of the modern world is based upon the borderline case of such "normality", which is elevated to the level of a normal case. In conclusion, I will try to provide a phenomenological explanation of this historical development by interpreting it as the process of "idealization" (this notion is applied in the sense of Husserl's "Crisis" treatise). Key words: ethics, ethos, morality, phenomenology, idealization Peter Trawny: Evropski etos pri Platonu in Aristotelu Evropski etos lahko opredelimo na dva različna načina. Po eni strani ima svoj izvor v Sokratovi radikalni formuli, da je krivično ravnanje v vsakem pogledu nekaj slabega in da je bolje celo trpeti krivico. V tem smislu je dobro življenje v sokratskem pogledu samoumik golega družbenega delovanja v smislu družbene uspešnosti. Toda ker je ta izvor evropskega etosa „dinamit za civilno družbo" (Leo Strauss, Naravno pravo in zgodovina), moramo tukaj upoštevati Aristotela in njegov pojem etike. Pri njem po drugi strani navade in običaji predstavljajo ravnovesje za sokratsko radikalno počelo. Glede na oba izvora etike lahko uvidimo, da moralna strogost in etična zmernost predstavljata dve tradiciji evropskega etosa in politike, ki ju ne moremo misliti kot alternativi. Kajti samo enotnost obeh izvorov lahko razkrije univerzalni smisel evropskega humanizma. Ključne besede: evropski etos, Sokrat, Platon, humanizem, politika Peter Trawny: European Ethos in Plato and Aristotle The European ethos can be characterized in two different modes. On the one hand the European ethos has its origin in the radical formula of Socrates that acting unjustly is in every respect bad and that even suffering injustice is better than that. In this perspective the good life in a Socratic signification is the self-withdrawal of mere social acting in the sense of being socially successful. But because this origin of the European ethos is a "dynamite for civil society" (Leo Strauss, Natural Right and History) we have to refer to Aristotle and his concept of ethics. There, on the other hand, we have to notice the habits and customs as a balance of the radical Socratic beginning. Considering these two origins of ethics we can recognize that moral austerity and ethical moderation are both two traditions of the European ethos and politics without being an alternative. For only the unity of these origins can demonstrate the universal sense of the European humanism. Key words: European ethos, Socrates, Plato, humanism, politics 293 Màdàlina Diaconu: Gramatika evropske bitne zgodovine. Premišljevanja o misli romunskega filozofa Constantia Noice Constantin Noica (1909-1987) velja za najbolj originalnega in najpomembnejšega romunskega misleca zadnjih petdesetih let. Leta 1988, leto po njegovi smrti, je v nemščini izšla njegova knjiga De dignitate Europae. V njej se je Noica spoprijel s klasično filozofijo kulture kot morfologije pri Frobeniusus in Spenglerju, in predlagal interpretacijo evropskih zgodovinskih kulturnih epoh z izhodišča jezi-kovno-morfoloških form: srednji vek ustreza samostalniku, renesansa pridevniku, reformacija, protireformacija in klasicizem prislovu, ki mu sledi zaimek, sedanjosti pa števniki in vezniki. Koliko je danes, dvajset let kasneje, pred vstopom Romunije v Evropsko unijo tak filozofski evrocentrizem še mogoče zastopati? Ključne besede: Noica, Evropa, gramatika, zgodovina, kultura Madalina Diaconu: Grammar of European History of Being. Reflections on the thinking of Romanian Philosopher Constantin Noica Constantin Noica (1909-1987) is widely believed to be one of the most original and prominent Romanian thinker of the last fifty years. In 1998, a year after his death, his book De dignitete Europae appeared in German translation. In it Noica tackles the classical philosophy of culture as morphology in Frobensius and Spengler, suggesting an interpretation of European historical cultural epochs from the viewpoint of linguistic-morphological forms: the Middle Ages correspond to the noun, the Renaissance to the adjective, Reformation, Counter-Reformation and Classicism to the adverb, followed by the Pronoun, and the present age to numerals and conjunctions. To what extent can we today, twenty years later, at the time when Romania is entering the European Union, still advocate such philosophical Eurocentrism? Key words: Noica, Europe, grammar, history, culture Karel Novotny: Evropa in Post-Evropa v filozofski refleksiji Jana Patočke V delu Jana Patočke najdemo odgovor na izziv postevropske epohe zgodovine. Pozval je k novi duhovnosti, ki bi ponudila skupni, transcendentni, globlji temelj človeškosti. Poziv se zdi dvoumen, saj nova duhovnost temelji na izkustvu popolne izgube smisla, ki je pogoj za „skrb za dušo". Ali je to evropski način obnove smisla ali se ga lahko univerzalizira? Če velja drugo, potem je ta poziv še vedno evrocentričen. Filozofijo Jana Patočke sicer lahko branimo pred tem očitkom, kolikor predvsem pomeni spoprijem z lastno tradicijo. Morda je kritična refleksija našega načina mišljenja, ki nas lahko odpre drugim. Ključne besede: Evropa, Patočka, smisel, zgodovina, skrb za dušo Karel Novotny: Europe and Post-Europe in the Philosophical Reflection of Jan Patočka In the work of Jan Patočka there is an answer to the challenge of the post-European epoch of History. He makes an appeal to a new spirituality which would yield a common, transcendental, deeper ground of humanity. This appeal seems to be ambiguous because this new spirituality is based on the experience of the complete loss of sense which is a condition for the "care of the soul". Is this the European way of renewing the sense or could it be universalized? If the second option is the case then Patocka's appeal is still a Eurocentric one. Patocka's philosophy of History could be defended against this reproach as far as it is first of all a critical debate with our own tradition. Perhaps it is this critical reflection about our way of thinking that could open us to others. Key words: Europe, Patocka, sense, history, care of the soul Tatiana Shchyttsova: Memento nasci. K aktualnosti nauka Diotime v sodobni filozofiji koeksistence Prispevek zagovarja tezo, da mora imeti pojem rojstva vodilno vlogo v postklasič-ni filozofiji koeksistence. Avtorica zasnuje projekt filozofije rojstva kot konkretno metafiziko koeksistence. Projekt je zasnovan na podlagi interpretacije nauka Diotime o Erosu. Razlika med Diotimo in Sokratom glede metafizičnega ovrednotenja rojstva in smrti je sistematična osnova za kritično obravnavo Heideggrove fundamentalne ontologije, ki skuša preseči centralnost smrti analitike tubiti. Ključne besede: rojstvo, smrt, koeksistenca, neskončnost, odgovor 295 Tatiana Shchyttsova: Memento nasci. Towards the Relevance of Diotima's Teaching for Contemporary Philosophy of Interpersonal Community This paper is dedicated to the substantiation of the thesis that the concept of birth has to be the leading one in the postclassical philosophy of interpersonal community (being-with-one-another). The author works out a project of the philosophy of birth as a concrete metaphysics of being-with-one-another. The project is developed on the basis of the interpretation of Diotima's teaching on Eros. The divergence between Diotima and Socrates concerning the metaphysic appraisal of birth and death is a systematic ground for the critical discussion of Heidegger's fundamental ontology, which aims at overcoming the deathcentrism of the analytic of Dasein. Key words: birth, death, being-with-one-another, infinity, answer 296 Valentin Kalan: Politične razsežnosti „diaita" kot prostorskosti in načina življenja Znano je, da političnih vprašanj ni mogoče prav razreševati, če ne upoštevamo načina življenja ljudi, narodov in držav, kar je grška književnost označila z besedo diaita. V Nikomahovi etiki je diaita vpeljana ob „kategorialni" členitvi določila dobrega, kjer poleg dobrega v bistvu, kar sta bog in um, dobrega kot kvalitete življenja, ki so vrline, Aristotel vpelje še dobrost časa, ki je pravi trenutek in „dobro v prostoru", kar je diaita: he diaita tagathon en topoi (EN i.4.i096a27). Beseda diaita nam je najbolj znana kot ime za medicinsko predpisan način življenja. In medicinska dietetika je v pozni antiki začenjala nadomeščati etiko - Galen. Toda pri Aristotelu je diaita kot teorija dobrega v prostoru tisti del politične filozofije, ki obravnava človekovo naravo (politična antropologija) in prostor kot eksisten-cial človeškega bivanja (politična geografija). V Homerjevem pesništvu je diaita ime za uravnoteženo delitev sveta med bogove (Iliada, O 185-195). V Aristotelovi politični teoriji se diaita nanaša na vso oikume-ne in postane sinonim za mednarodno politiko. V pojmu diaita je zajet pomen delitve in pomen povzročanja: v „dieti" so zajeti deleži (aisa, moros), ki tvorijo pravičen red, in vzroki (aitia) za vzpostavitev pravične ureditve, pri čemer je povzročitelj vedno tudi odgovoren za to, kar je storil. Na ta način je diaita izhodišče za pluralno oblikovanje političnega kozmosa. Ključne besede: diaita, Aristotel, prostor, medicina, politika Valentin Kalan: Political Dimensions of „diaita" as Spatiality and Way of Life It is a well-known fact that political issues cannot be solved in the right manner if we do not take into account the way of life of peoples, nations and states, for which the Greek literature has used the word diaita. In Nikomachean Ethics, diaita is introduced in the "categorial" analysis of the determination of the good, where beside the good in its essence, it being God and Reason, the good as quality of life, it being the virtues, Aristotle also introduces the goodness of time, which is the right moment and "the good in space", which is diaita: he diaita tagathon en topoi (EN 1.4. i096a27). The word is most familiar to us as a name for the medically prescribed way of life. And in late Antiquity, ethics was being replaced by medical dietetics - Galen. However, in Aristotle diaita as the theory of the good in space serves at the part of political philosophy tackling human nature (political anthropology) and space as an existentiale of human existence (political geography). In Homer's epic poetry diaita is the name for a balanced influence of divine powers in the world (Iliad, O 185-195). In Aristotle's political theory, however, diaita refers to the entirety of oikumene, becoming a synonym for international politics. The concept of diaita comprises the meaning of partition and that of causation: "diet" comprises portions (aisa, moros) forming just order and causes (aitia) for the establishment of a just order, where the causer is always responsible for his or her own actions. In this way, diaita serves as the starting point for a pluralist formation of political cosmos. Key words: diaita, Aristotle, space, medicine, politics Janko Lozar: Razsežnosti mahinalne dejavnosti Prvi del članka je posvečen razdelavi Nietzschejeve misli o mahinalni dejavnosti, kot jo najdemo v knjigi Hgenealogiji morale. Mahinalna dejavnost je poleg ra-zosebljenja v „zimskem spanju" druga, manj vidna resnica asketskega ideala, ki ga Nietzsche razume kot nespokojni odziv (kot stalno reaktivnost) na temeljno neubranost kot resentiment in ki služi kot blažilo za v temelju trpečo eksistenco. Nietzsche to zadevo razkrije v fenomenu krščanstva in modernega deloholizma. Že sam pa je dovolj natančno uvidel, da je krščanski ideal resnicoljubnosti povzet tudi v moderni znanosti in filozofiji, predvsem z ignoriranjem temeljnosti in-stinktivno-afektivne dimenzije volje do resnice. Prikrito bistvo tega ideala pa je prav mahinalna dejavnost. Drugi del je precej nenavadna kritika Nietzscheja, saj jemlje za kriterij kritike prav Nietzschejevo misel mahinalne dejavnosti. Tretji del se sooči s Heideggerjevim delom Bit in čas predvsem v navezavi na fenomen odločenosti tubiti in ontološkega karakterja vesti in krivde. Osnovno vprašanje je, ali je tudi pri Heideggerju moč najti dediščino po Nietzscheju razkritega asketskega ideala. Ključne besede: Nietzsche, Heidegger, večno vračanje enakega, mahinalna dejavnost, asketski ideal 297 Janko M. Lozar : Ontological Dimension of Mechanical Activity The first part of the contribution discusses Nietzsche's thought of mechanical activity as found in his book To the Genealogy of Morals. Beside depersonalization through "winter sleep", mechanical activity is the other, albeit more concealed crucial aspect of the truth of ascetic ideal, which is understood as the restless reaction (as unceasing re-activity) to the fundamental misattunement qua resentment, serving as a palliative for the underlying suffering of existence. Nietzsche detects this in the phenomenon of Christianity as well as in modern workahol-ism. However, it was Nietzsche himself who already knew well enough that the Christian ideal of truthfulness was taken over by modern science and philosophy, particularly by ignoring the fundamentality of the instinctive-affective dimension of the will to truth; and with it its hidden essence of this ideal: mechanical activity. The second part presents a rather peculiar criticism of Nietzsche and his Will to Power, since the criterion for the critical reflection is taken from Nietzsche's own thought of mechanical activity. The third part investigates Heidegger's Being and Time primarily in relation to the phenomenon of resoluteness of Dasein as well as the ontological character of conscience and guilt. The key question is whether in Being and Time there are to be found any traces of the spiritual 2gg heritage of ascetic ideal as revealed by Nietzsche. Key words: Nietzsche, Heidegger, eternal recurrence of the same, machinal activity, ascetic ideal Branko Klun Smisel in neskončnost. Fenomenološki izziv Pojem neskončnosti, ki je ozko povezan s pojmom transcendence, ima v metafizični tradiciji osrednjo vlogo. Pomembnejše kot njegovo spekulativno razumevanje pa so njegove etične implikacije. Odnos do neskončnosti podeljuje človeku neskončni smisel in s tem absolutno dostojanstvo. S tega vidika pomeni fenomenološki povratek h končnosti, kakor ga zlasti izvede Heidegger, izziv za razumevanje človeka in za etiko. Članek v dialogu z Levinasom kritično obravnava to vprašanje in išče možnosti, kako fenomenološko smiselno razumeti neskončnost. Ključne besede: smisel, neskončnost, etika, fenomenologija, dostojanstvo Branko Klun: Sense and Infinity. A Phenomenological Challenge The concept of infinity, closely related to the question of transcendence, plays a central role in the tradition of metaphysics. More important than its speculative understanding, however, are its ethical implications. The relation to infinity gives man's existence an infinite sense, and consequently, an absolute dignity. The phenomenological return to finitude, especially in the work of Heidegger, can thus be considered as a challenge for the understanding of man and ethics. In a dialogue with Levinas, the article explores this issue in a critical manner, and searches for the possibilities of a phenomenologically meaningful understanding of infinity. Key words: sense, infinity, ethics, phenomenology, dignity Ivanka B. Raynova: O pojmu odgovornosti Paula Ricœurja Problem odgovornosti, ki ga Ricœur obravnava v svojih delih precej pogosto, se pojavlja v kontekstu fenomenološke in hermenevtične refleksije o sebstvu kot delujočem, utrpevajočem in sposobnem subjektu, ki ni odgovoren samo za svoja dejanja, ampak mora tudi izpolnjevati dolžnosti do drugih, do skupnosti in prihodnjih generacij. Značilnost Ricœurjeve hermenevtike „sposobnega človeka" (l'homme capable) je v tem, da razpravo problema odgovornosti postavi na več ravni - zgodovinsko, psihološko, etično, politično in pravno. Te ravni oblikujejo različne razsežnosti volje, ki jo je treba vrniti iz razcepljenosti k enotnosti, da bi lahko odgovornost razumeli kot celovito celoto. Glavni cilj prispevka je rekonstrukcija te celovitosti, skuša pa tudi pokazati, da je Ricœurjev pojem Odgovornosti implicitno razumljen iz časa in tako predpostavlja odgovornost, ki našo sedanjo eksistenco in koeksistenco povezuje tako s preteklostjo kot prihodnostjo, s tem pa tudi s prihodnjimi generacijami. Ključne besede: Ricœur, odgovornost, subjekt, etika, hermenevtika 299 Yvanka B. Raynova: On Paul Ricreur's Concept of Responsibility The Problem of Responsibility, which Ricreur treated in its works ever so often, appears in the context of a phenomenological and hermeneutical reflection on the Self as an acting, suffering and capable Subject, which is not only responsible for its actions but also has to fulfill certain obligations toward others, toward the community and future generations. A characteristic of Ricreur's hermeneutics of the "capable man" (l'homme capable) is that it brings up for discussion the problem of responsibility on several levels - historical, psychological, ethical, political and legal. These levels form different dimensions of the will, which must be brought from splintering back into a unit, so as to be able to understand the responsibility as an integral whole. The main goal of the contribution is to reconstruct this integrality and to show that Ricreur's concept of Responsibility is implicitly temporally conceived and thus presupposes a responsibility, which binds our current existence and co-existence both to the past and to the future, and respectively to future generations. Key words: Ricreur, responsibility, subject, ethics, hermeneutics 300 Tine Hribar: Svetovni etos in evropska civilna religija Najpomembnejše spoznanje, ki ga je prinesla današnja stopnja razvoja globali-zacije, je, da se je prepričanje (zahodnih) filozofov od Hegla prek Marxa in Nie-tzscheja do Heideggra o neogibnem sovpadanju zahodne civilizacije in zahodne kulture, o tem, kako je tehnološki razvoj mogoč le na podlagi krščansko-razsve-tljenskih vrednot, izkazalo za nevzdržno. Tehnološki in ekonomski razvoj sta, kot dokazuje izzivalni vzpon Kitajske, mogoča tudi na podlagi nezahodnih kultur z njihovimi lastnimi verstvi oz. etičnimi sistemi, na primer, z daoizmom in konfu-cijanstvom. Iz tega spoznanja izvira globalna zavest o nujnosti, če naj se izognemo katastrofi in končni apokalipsi, minimalnega, a svetovnega skupnega koeksi-stenčnega imenovalca. Čeprav v znamenju etične ulomkove črte, pod katero je nabor skupnih vrednot še zmerom manjši kot pa skupek vrednot razhajanja nad njo. A bistveno je, da nabor skupnih vrednot sestavljajo pravrednote svetovnega etosa (svetost življenja, posvečenost mrtvih, dostojanstvo človeka in zlato pravilo), medtem ko so vrednote razhajanja vrednote manjšega, četudi še zmerom velikega pomena. Do svetovnega miru lahko pride le, če se globalizacija ne bo uveljavljala kot svetovna širitev samo enih, zahodnih vrednot, ob hkratnem razvrednotenju vrednot drugih kultur, marveč bomo v njej izhajali iz globalno recipročnega priznavanja različnih kultur in skušali skupaj doseči novo ovrednotenje vseh vrednot. Dokaz takšnega novega ovrednotenja, ne prevrednotenja, bi bila globalna uveljavitev prepovedi smrtne kazni, največje pričevalke absolutnega spoštovanja sveto- sti življenja. Prepovedi, ki je danes temelj evropske civilne religije in največji dosežek zahodne civilizacije v 20. stoletju. Ključne besede: civilizacija, globalizacija, svetovni etos, smrtna kazen, civilna religija Tine Hribar: World Ethos and European Civil Religion The crucial realization at the present stage of globalization is that the belief of (Western) philosophers, from Hegel through Marx and Nietzsche to Heidegger, in the inevitable coincidence of Western civilization with Western culture, in technological advancement being grounded solely in Christian-Enlightenment values, simply doesn't hold water. As the example of the challenging rise of China clearly shows, technological development and economic prosperity can also draw its impetus from non-Western cultures and their respective religions viz. ethical systems such as Taoism and Confucianism. It is from this insight that the global awareness of the necessity of a minimal, yet common co-existing denominator at large stems from, if we are to avoid the final catastrophe and ultimate apocalypse. Although, we might add, in the sense of an ethical fraction-line, with the collection of common values as the divider still being smaller than the sum total of divergent values as the dividend. It is crucial, however, that the collection of common values consists of original values of world ethos (holiness of life, sacred-ness of the dead, human dignity and Golden Rule), with the values of divergence appearing to be of lesser, yet always considerable importance. World peace can be achieved only if globalization does not evolve as the world-wide expansion of a single set of values, namely those of the Western world, through simultaneous devaluation of values pertaining to other cultures. What therefore lies ahead of us is a global reciprocal acknowledgment of different cultures and an endeavor to formulate a new evaluation of all values. 301 One proof of such new evaluation, rather than revaluation, would be global implementation of the prohibition against capital punishment, the most obvious manifestation of the absolute respect for the holiness of life; prohibition, which today constitutes the foundations of European civil religion and proves to be the greatest achievement of the Western civilization of the 20th century. Key words: civilization, globalization, world ethos, capital punishment, civil religion Rainer Thurnher: Aktualno domesticirano, latentno in eruptivno nasilje Beseda Gewalt ima v nemščini več pomenov. Po eni strani meni moč, silo (če je govor o oblasti države), po drugi poškodovanje drugih. Ta mnogopomenskost ni naključna, Gewalt v smislupotestats pomeni latentno, vezano možnost - možnost ob vsakem času in vsepovsod, kjer je to potrebno, ohranitve in razvoja, uporabe sile -potestas jepotentia violanti. Razvoj civilizacije in moderne države je potemtakem mogoče rekonstruirati kot proces domestikacije nasilja, kolikor državni pravni red meri na to, da prepove samovoljno uporabo sile. Kultura nasilja kot pokoravanje in krotenje nasilja lahko, v soigri z dodatnimi, npr. ekonomskimi faktorji, zlahka privede do precejšnjega strukturnega nasilja, do kratenja upravičenih človeških zahtev, zato se generirajo potenciali proti-nasilja. Poskušali bomo analizirati naznačujoči se aktualni razvoj znotraj tega polja napetosti. Ključne besede: moč, nasilje, pravo, strukturno nasilje, prioti-nasilje 302 Rainer Thurnher: Topically Domesticated, Latent and Eruptive Violence The German word 'Gewalt' is an ambiguous concept, meaning power, strength, as well as violence. This amiguity is not accidental, because 'Gewalt' in the sense of power (potestas) means a latent, concentrated possibility to make use of violence whenever and whereever it seems necessary for its maintainance and increase: potestas is potentia violandi (capacity to violate). The development of civilization and modern states can thus be conceived as the result of a domestication of violence, insofar as the order of civil rights intends to avoid any arbitrary use of violence. But the culture of 'Gewalt', seen as its domination and concentration, can, in combination with additional (e. g. economic) factors, lead to structural violence, to forms of violation of legitimate claims and interests of human beeings, so that potentials of counter-violence can be generated. The paper tries to analyze actual developments within this field of tensions. Key words: power, violence, right, structural violence, counter-violence Vakhtang Kebuladze: Fenomenologija javnosti. Antropologija javnosti Hannah Arendt v strukturah vsakdanjega izkustva Alfreda Schütza in Thomasa Luckmanna Prispevek podaja analizo javne sfere in njene povezave z zasebno sfero. Naslednja pomembna tema je fenomen moči, ki temelji na „nepopačeni komunikaciji" (J. Habermasova „verzerrte Kommunikation") v javni in zasebni sferi. Avtor podaja kritiko nekaterih poglavitnih točk politične antropologije Hannah Arendt in njene interpretacije v Habermasovi filozofiji komunikacije. Kritika sloni na Schützovem fenomenološkem pojmovanju strukture vsakdanjega življenjskega sveta. Pokaže se, da je mogoče kriterije definicije „nepopačene komunikacije" najti na osnovi fenomenološke deskripcije fundamentalnih idealizacij, ki omogočajo vzajemni odnos v bližnjem srečanju. Avtor tudi poudari, da je pojem eto-sa primernejši za sodobni družbeni in politični diskurz kot tradicionalni pojem subjektivnosti. Ključne besede: Arendt, Schütz, Luckmann, javna sfera, komunikacija Vakhtang Kebuladze: Phenomenology of Public Sphere. Hannah Arendt's Political Anthropology of Public Sphere within the Structures of Everyday World of Alfred Schütz and Thomas Luckmann The article is dedicated to the analysis of the public sphere and its connection with the private realm. Another important topic is the phenomenon of power, which is based on the "undistorted communication" (J. Habermas' "verzerrte Kommunikation") in the public and private spheres. The author gives the review of some principal points of Hannah Arendt's political anthropology and its interpretation within the communicative philosophy of Habermas. The review is based on the Alfred Schütz's phenomenological conception of the structure of the everyday life-world. It has been demonstrated that the criteria for the definition of the "undistorted communication" can be found due to the phenomenological description of fundamental idealizations which make possible interaction in the face-to-face situation. The author also stresses that the concept of ethos is more appropriate for the contemporary social and political discourse than the traditional notion of subjectivity. Key words: Arendt, Schütz, Luckmann, public sphere, communication 303 Rok Svetlič: Problem sodobne politične morale. Transfer individualne odgovornosti V sestavku obravnavamo fenomen s polja politične morale, ki se navezuje na vprašanje humanosti. Gre za prenos odgovornosti s posameznika na „državo". Vsebina tega pojma je nejasna, saj svojo pomenskost črpa iz različnih zapuščin (post)marksističnih kritik, ki so se osredotočale na nepravičnost družbene ureditve. Patologija družbenega okolja naj bi vodila k patologiji individualnega življenja. Oseba, ki je determinirana na ta način, naj ne bi bila zmožna spoštovati socialnih pravil. Naša teza je, da postmoderne filozofije prava ne moremo zasnovati brez tradicionalnega pojma odgovornosti. Na dveh primerih državne politike bomo izpostavili probleme, ki izhajajo iz transferja individualne odgovornosti. V glavnem se bomo osredotočili na naslednje vprašanje: ali je skladno s pojmom humanosti, da se človeku odreka zmožnost slediti najosnovnejšim moralnim pravilom? Četudi je to v določenih okoliščinah zanj koristno. Ključne besede: politika, etika, družba, postmoderna filozofija, odgovornost 304 Rok Svetlič: Problem of the Contemporary Political Morality. The Transfer of individual Responsibility This article is dealing with the phenomenon on the field of the political morality, which is related to the question of humanity. The issue is the Transfer of Responsibility from an individual to "the state". The content of this notion is rather vague; however, it generally gets its meaning in the field of the various legacies of the postmarxistic critics which are concerned by the unjustness of the social order. The pathological social environment is supposed to be leading to the pathology of the individual. The person who is determinated in this way is supposed not to be able to obey social rules. Our thesis is that the postmodern law of philosophy can not be built without the traditional concept of responsibility. We are going to present two examples of the state policy and show problems that fallow from the transfer of responsibility. We will pose our interest mainly on the following question: is it consistent with the concept of humanity to decline to a person the capability to obey the most elementary moral rules? Even if this in certain circumstances being advantageous for him. Key words: politics, ethics, society, postmodern philosophy, responsibility Jesús Adrián Escudero: Fenomen „glokalizacije". Globalizacija in identiteta omrežene družbe Revolucija informacijskih tehnologij in redefiniranje kapitalizma tvorita novo družbo, omreženo družbo, ki jo karakterizira predvsem rastoča globalizacija ekonomske sfere, fleksibilne organizacije dela in kulture, odvisne od masovnih medijev. Kljub neprestanemu širjenju tehnološke in ekonomske globalizacije pa vseeno ves čas prihaja do silne mnogovrstnosti različnih etničnih, lingvističnih, nacionalističnih, religioznih ali seksualnih identitetnih gibanj. V tem smislu označujemo fenomen, v katerem se globalna dimenzija poveže z lokalno, s pojmom „glokalizacije". Na osnovi te nove dejanskosti prinašamo v filozofsko in sociološko diskusijo nekaj form rekonstrukcije kolektive in individualne identitete. Ključne besede: globalizacija, glokalizacija, omrežena družba, identiteta, tehnologija 305 Jesús Adrián Escudero: The Phenomenon of „Glocalisation". Globalisation and Identity in Net-Society The revolution of informational technologies and the redefinition of capitalism have built up a new society: the net-society. This new form of social organization is strongly based on transnational economical structures and institutions that tend to a gradual leveling of life styles all over the planet. But, on the other side, we assist to the arising of diverse movements that in the name of multicultural-ism, nationalism, ecologism, integrism or feminism try to preserve national, religious, ethnical or gender identities. In this sense we characterize the phenomenon, where the global and local dimensions are interconnected, with the concept of "glocalisation". In the frame of this new "glocal" reality we show different forms of reconstruction of the collective identity. On the one hand, we offer a short analysis of the main traces of globalisation in order to have a general overview of how social, political and economical structures have changed in this last two decades; on the other hand, we sketch out different possibilities of identity reconstruction, paying special Key words: globalization, glocalization, net-society, identity, tehnology 306 Izar Lunaček: Karneval danes Že od začetka novega veka zatrti in premeščeni duh srednjeveškega karnevala se vsaj od devetnajstega stoletja naprej nemara ponovno vrača na površje. Toda kakšen je pravi značaj te dvomljive vrnitve? Že romantika je po stoletjih molka prva prinesla motive ljudskega ustvarjanja v tok elitne ustvarjalnosti individualnega duha, toda ta obuditev karnevalskih motivov ima po Bahtinu prej tesnoben kot proslavljajoč značaj. Karneval je bil avtohtoni način praznovanja zatiranega, nad-vladanega ljudstva v fevdalnem svetu. Kakšna je njegova zveza in kakšna bistvena razlika z zabavo sodobnega ljudstva, ki naj bi si v demokraciji vladalo samo? Praznik se od renesanse naprej iz ljudskih trgov seli v privatne domove meščanov in državno zdaj nasprotje namesto v neuradno-ljudskem najde v individualno-pri-vatnem. Če karneval zastopa nazaslišano možnost neke neuradne občosti, kaj izguba te razsežnosti - in posledični razcep na uradno instanco zavezujoče občosti na eni in polje nevsiljive individualne svobode privatnika na drugi - pomeni za moderno stanje? In po drugi strani - če je karneval - kot trdi Bahtin - s svojimi hiperboliziranimi, vsečloveškimi gostijami uprizarjal utopični cilj same zgodovine, v kakšni meri lahko izobilje in blaginjo sodobnega potrošništva razumemo kot njegovo izpolnitev? Ali je „izpolnitev karnevalske utopije" v smislu družbene ralizacije sanj zatiranega ljudstva sploh konceptualno mogoča ali gre - nasprotno - pri karnevalski utopiji ravno za sliko, ki jo je že kot sliko mogoče živeti in katere družbena realizacija se prekrši ravno proti njeni bistveno imaginarni naravi? Naš tekst stremi k orisu mere, v kateri se karneval, po svoji lastni ciklični logiki, po katerem je vse izključeno tako ali tako le zakopano v temelj, danes iz svojega mesta v bazi modernosti dejansko spet vrača na površje; k začrtanju meje, v kateri ga družbena ureditev poznega kapitalizma udejanja in v kateri mu po sami svoji zasnovi ne more ostati zvesta ter - končno - k poskusu prepoznanja obljube, ki jo karneval posledično nosi za razrešitev nekaterih ključnih zagat modernosti. Ključne besede: karneval, Bahtin, družba, modernost, utopija Izar Lunacek: Carnival Today The paper examines the precise measure in which Bakhtin's carnivalesque can be said to be on the rise in the present day. It critically examines the way in which modern democracy and consumer-oriented capitalism can be said to "fulfill the utopia" enacted in carnival and compares it to the way, in which great totalitarian systems like Nazism or Stalinism claimed to have been doing precisely that. It concludes arguing for carnival utopia as strictly imaginary, as meant to be lived as a picture, thus waving aside the need for its "social realization" as irrelevant. It also concludes by rooting for a carnivalisation of consciousness that could disperse the divide between the private and the common, determining modern society, as well as the divide between the real and the imaginary, defining modern ontology, and thus form a world of living pictures and a sociality that spans the space occupied by "unofficial popularity" of Bakhtin's conception. Key words: carnival, Bakhtin, society, modernity, utopia Mario Ruggenini: Resnica, identiteta, diferenca Resnica Evrope - resnica, kakor jo je mislila grško-krščanska-moderna metafizična zgodovina Evrope - je resnica identičnega: ena edina resnica za vse, brez nje bi poznali le razdrobitev in nerešljiv konflikt. Kriza Evrope kot kriza filozofije, „kriza evropskega človeštva", o kateri govori Husserl na Dunaju maja leta 1935, je kriza zahodnega dojetja uma, čigar voluntaristično temeljno potezo tudi dramatično jasno izrazi: skrito namreč zasije kot poslednja substanca neke racionalnosti, ki pa ji je v resnici pri njeni nalogi spodletelo. Možnost vnovične problematizacije razmerja med resnico in identiteto mora zato premeriti hermenevtiko končnosti in pri tem odstraniti metafizični predsodek, ki iz končnosti napravi mejo, ki človeka ločuje od resnice. Fenomenološko-hermenevtično izkustvo ne more obiti odprtja za končno resnico, saj kot resnico lahko misli le tisto, ki se kaže in uveljavlja svetnem pogovoru eksistenc. Kar se na koncu izkaže za neizpodbitno, je misel, da je resnica pogovora lahko le končna resnica, ta pa ne vodi v sintezo, ki ukine vse razlike, prav nasprotno: godi se kot dogodek, v katerem se diference določijo. Ključne besede: resnica, Evropa, identiteta, končnost, svet 307 308 Mario Ruggenini: Truth, Identity, Difference The truth of Europe - the truth as thought through by the Greek-Christian-modern metaphysical history of Europe - is the truth of the identical: the one and only truth for all, and without it all that is left is fragmentation and an unsolv-able conflict. The crisis of Europe as the crisis of philosophy, "the crisis of European humanity", about which Husserl spoke in Vienna in May 1935, is the crisis of the Western understanding of reason, whose voluntaristic basic feature is dramatically clearly expressed: it shines secretively as the last substance of a certain rationality, which, however, has failed in fulfilling its task. The possibility of a renewed investigation of the relationship between truth and identity must therefore take into account hermeneutics of finitude and thereby set aside the metaphysical prejudice which sees finitude as a border separating man from the truth. Phenomenological-hermeneutic experience cannot avoid the openness for a finite truth, since truth can only be thought in terms of what shows and establishes itself in the worldly conversation of existences. Eventually, what remains unquestionable is the thought that the truth of conversation can only be a finite truth, which, however, cannot lead to a synthesis abolishing all differences. Quite the contrary: it eventuates as an event in which differences find their determination. Key words: truth, Europe, identity, finitude, world Mirko Wischke: Brez volila. O fenomenologiji tradicije in govorice Je tradicijo mogoče izkusiti? Kako je z možnostjo izkušanja tradicije? Vprašanje je problematično v dveh ozirih: prvič, kjer možnost izkušanja nikakor ni zagotovljena, in drugič zato, ker se forme govorjenja in mišljenja, ki jih je izoblikovala tradicija, zaradi preoblikovanja vedenja v informacijske kvantitete, zde odveč. Če tradicij ni moč prevesti, se jih zanemarja, tj. se jih nič več posreduje. Možnost izkušnje je problematična, kolikor vsakdan sedanjega človeka v zmedi doživljajev ne vsebuje skoraj ničesar, kar bi bilo moč prevesti v izkušnjo. Zakaj je tradicija vredna prenosa? Vprašanje, ali v tradiciji izoblikovane forme govorjenja in mišljenja, ki lahko prestopijo moderno specializacijo vednosti, sugerirajo alternativo, je zastavljeno napačno. Tradicije so brez volila. Ključne besede: tradicija, govorica, fenomenologija, modernost, volilo Mirko Wischke: Without Legacy. On the Phenomenology of Tradition and Language Can tradition be experienced? What is the possibility of experiencing tradition? The question is problematic in two aspects: firstly, because the possibility of experiencing is far from secured, and secondly, because the forms of speaking and thinking as formed by tradition seem superfluous in view of the transformation of knowledge into informational quantities. If traditions cannot be rendered, they are readily neglected, i.e. they are no longer mediated. The possibility of experience is problematic insofar as the everydayness of the contemporary man in his experiential confusion embraces very little, if anything at all, that can be rendered into experience. why is tradition worthy of mediation? The question whether forms of speaking and thinking, as formed through tradition, and which can overstep the modern specialization of knowledge, suggest an alternative, is falsely raised. Traditions are without legacy. Key words: tradition, language, phenomenology, modernity, legacy Dimitri Ginev: Kognitivni eksistencializem in fenomenologija teoretskih objektov znanosti Prispevek obravnava znanstveno raziskovanje skozi optiko hermenevtične feno-menologije. Prva trditev je, da teoretski objekti znanosti eksistirajo hkrati kot „vpisi" v horizont možnosti za raziskovanje in kot „sledi", ki jih pušča za seboj praksa formalizacije, eksperimenta, kalibracije, merjenja in preračunavanja. Možnosti se v raziskovalnem procesu prilagodijo, pri čemer se polagoma oblikuje pojmovna struktura znanstvenega področja. V tem smislu se horizont možnosti vselej kaže kot odprta predstruktura interpretacije strukture določenega področja. Pri podrobnejši obravnavi tega pogleda bo avtor tudi podal osnovni očrt programa „kognitivnega eksistencializma". Ključne besede: znanost, teoretski objekti, hermenevtična fenomenologija, kognitivni eksistencializem 309 Dimitri Ginev: Cognitive Existentialism and Phenomenology of Theoretical Objects of Science In my presentation, I will try to develop a picture of scientific research in terms of heremeneutic phenomenology. I will claim that theoretical objects of science do exist at once as "inscriptions" on the horizon of possibilities for doing research, and as "traces" left by practices of formalization, experimentation, calibration, measurement, and calculation. The possibilities become appropriated in the research process, whereby a conceptual structure of scientific domain gradually takes shape. According to this, the horizon of possibilities remains always an open fore-structure of interpretation concerning the structure of the domain. In elaborating on this view, I will sketch out a phenomenological program of "cognitive existentialism". Key words: science, theoretical objects, hermeneutic phenomenology, cognitive existentialism 310 Fabio Polidori: Koraki nazaj Prispevek začne z navedbo izjave P. Sloterdijka v nedavno izdani knjigi (Weltinnenraum des Kapitals, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005), ki trdi, da se z epoche „razkrije 'korak nazaj', ki ga filozofija sprošča v času, ko se vse ostalo osredotoča na korak naprej". S tem se izpostavlja eden temeljnih vidikov filozofske drže, še posebej fenomenološke, ki - kot skušata pokazati Husserl (epoche) in Heidegger (korak nazaj) - v sebi hrani možnosti kritične pozicije znotraj konteksta, ki ga vedno bolj določa naraščanje prostorov napredovanja, kar ne velja le za vednost, ampak tudi za dejanje. Ključne besede: Sloterdijk, Husserl, Heidegger, epoche, progres Fabio Polidori: Steps Back The paper starts from a statement from a recent book by P. Sloterdijk (In Weltinnenraum des Kapitals, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005), who claims that with the epoche "becomes explicitly the 'step back' permitted to philosophy just when everything else is concentrated on steps forward". In this way one of the fundamental aspects of philosophical attitude is questioned, particularly the phenomenological one, which - according to the suggestions of Husserl (epoche) and Heidegger (step back) - maintains in itself the resources of a critical position in a context more and more characterized by the increase of spaces of progress. And this is said not only about knowing, but also about action. Key words: Sloterdijk, Husserl, Heidegger, epoche, progress Cathrin Nielsen: Realnost kot neskončno napredovanje Aristotel pri obravnavi kvantitativne neskončnosti poudari, da sta v neskončnosti možnost in realnost isto, ker realnost neskončnega pomeni, da je zunaj realnosti vselej še nekaj drugega (onkraj sebstva). Tako za Aristotela neskončnost ostaja znotraj (kot modus) kategorialne možnosti, se pravi, da ni zmožna postati realnost. Prispevek obravnava obširno stališče in kritiko te navidez 'preproste' kate-gorialne možnosti v kontekstu moderne dobe ali transcendentalnega premika, v katerem se pojavlja v obliki empirične regresije (Kant). Prispevek ravno tako podaja kritiko te teme v kontekstu tistega, kar je Hegel pri obravnavi kvantitativne neskončnosti poimenoval „slaba neskončnost", obravnava pa tudi Heideggra, ki v moči „volje do volje" prepozna realnost zgodovine biti nezmernega. Njeno realnost imenuje „Gestell". Ključne besede: progressus in infinitum, čas, kvantiteta, možnost, „Gestell" 311 Cathrin Nielsen: Reality as Infinite Progress In his discussion of the quantitative infinite, Aristotle stresses that in the infinite possibility and reality are the same because the reality of the infinite means always to have something else out there (beyond the self). Thus, the infinite remains for Aristotle within (the modus of) categorial possibility, i. e. it is not capable of coming to reality. The paper pursues an expansive view and critique of this seemingly 'simple' categorical possibility in the context of the modern age or the transcendental shift, in which it appears in the form of empirical regress (Kant). The paper will also review the subject in the context of what Hegel in his discussion of quantitative infinity termed "bad infinity", and discuss Heidegger, who perceives in the power of the "will to will" the reality of History of Being of the immoderate. He names its reality "Gestell." 312 Key words: progressus in infinitum, time, quantity, possibility, "Gestell" Dean Komel: Multikulturalizem in interkulturnost. Neko fenomenološko razlikovanje Članek obravnava razlikovanje med multikulturalizmom in interkulturnostjo, ki ima fenomenološko relevanco, kolikor zadeva tematizacijo svetovnosti sveta. Prvi problem, s katerim se v tem pogledu soočimo, je zadobitev fenomenološke evidence takega razlikovanja. Pri tem moramo upoštevati zgodovinsko razmerje filozofije in kulture. To se kaže v meri epohalnega odpiranja resnice, ki je odločilno za utemeljevanje zgodovinske humanosti. Diskusija o interkulturnosti se zato ne more ogniti zgodovinskemu nihilizmu kot določujočem kulturnem razpoloženju sodobne Evrope, ki je medtem postalo planetarno. Fenomenološka praevidenca, da svet spregovarja različno, tako zadene ob svojo zgodovinsko mejo, ki jo zaznamuje samo v sebi kontroverzno razglašanje „konca zgodovine". To, da fenomenologija danes pogreša evidenco razlikovanja med multikulturalizmom in interkultrurnostjo, ni kak teoretski manko, pač pa tisti epohalni odteg, ki priteguje zgodovinski pogovor in odpira razumevanje inter-kulturnosti kot kulture v pogovoru. Ključne besede: interkulturnost, multukulturalizem, fenomenologija, zgodovina, pogovor Dean Komel: Multiculturalism and Interculturality. A Phenomenological Distinction he article tackles the distinction between multiculturalism and interculturality, which evinces a phenomenological relevance, insofar it concerns the investigation of the worldhood of the world. The first problem arising in this respect is the issue of gaining phenomenological evidence of such distinction. It is necessary to take into account the historical relationship of philosophy and culture. This is evinced in the measure of the epochal opening up of truth, which proves decisive for grounding historical humanness. The discussion of interculturality therefore cannot avoid historical nihilism as the determining cultural disposition of contemporary Europe, which in the meantime grew to planetary proportions. Phenomenological original evidence that the world speaks in various languages hereby stumbles upon its historical limit as marked by controversial announcements of the "end of history". The fact that phenomenology of today lacks the evidence of differentiating between multiculturalism and interculturality is not some sort of theoretical deficit but rather the epochal withdrawal which brings to the fore a conversation and opens up an understanding of interculturality as the culture in conversation. Key words: interculturality, multiculturalism, phenomenology, history, conversation Translated by Janko M. Lozar 313 Addresses of the Contributors Prof. Dr. Klaus Held Faculty of Humanities University of Wuppertal Gaußstraße 20 42097 Wuppertal Germany Prof. Dr. Peter Trawny Faculty of Humanities University of Wuppertal Gaußstraße 20 42097 Wuppertal Germany Dr. Karel Novotny Department of Philosophy Faculty of Humanities Charles University in Prague Ke Krizi 8 15800 Prague Czech Republic Assist. Prof. DDr. Mädälina Diaconu Institute of Philosophy University of Vienna Universitätsstraße 7 1010 Vienna Austria Dr. Tatiana Shchyttsova Department of Philosophy and Political Sciences European Humanities University Vilnius Kraziu str. 25 01108 Vilnius Lithuania Prof. Dr. Valentin Kalan Department of Philosophy Faculty of Arts University of Ljubljana Aškerčeva 2 1000 Ljubljana Slovenia Dr. Janko M. Lozar Department of Philosophy Faculty of Arts University of Ljubljana Aškerčeva 2 1000 Ljubljan Slovenia Assoc. Prof. Dr. Branko Klun Faculty of Theology University of Ljubljana Poljanska 4 1001 Ljubljana Slovenia 315 Prof. Dr. Yvanka B. Raynova Institute of Philosophy Bulgarian Academy of Sciences Neofit Rilski 48 1000 Sofia Bulgaria Institute for Axiological Research Doktorberg 23 E-2 2391 Kaltenleutgeben Austria Prof. Dr. Valentin Hribar Department of Philosophy Faculty of Arts University of Ljubljana Aškerčeva 2 1000 Ljubljana Slovenia Prof. Dr. Rainer Thurnher Institute for Philosophy University of Innsbruck Christoph-Probst-Platz Innrain 52 6020 Innsbruck Austria Assist. Prof. Dr. Rok Svetlič Department of Philosophy Faculty of Arts University of Ljubljana Aškerčeva 2 1000 Ljubljana Slovenia 316 Ph. D. Vakhtang Kebuladze Department of Philosophy Kyiv Taras Shevchenko University Volodymieska 64 01033 Kyiv Ukraine Prof. Dr. Jesús Adrián Escudero Department of Philosophy Faculty of Letters Autonomous University of Barcelona 08193 Bellaterra Spain Ph. D. Izar Lunaček Department of Philosophy Faculty of Arts University of Ljubljana Aškerčeva 2 1000 Ljubljana Slovenia Prof. Dr. Mario Ruggenini Department of Philosophy and Theory of Science Ca' Foscari University of Venice Dorsoduro 3484/D 30123 Venice Italy Assist. Prof. Mirko Wischke Department of Philosophy Martin-Luther-University Halle-Wittenberg Schleiermacherstr. 1 06114 Halle/S. Germany Prof. Dr. Dimitri Ginev Centre for Culturology St Kliment Ohridsky University of Sofia Tzar Osvoboditel Blvd. 15 1000 Sofia Bulgaria. Prof. Fabio Polidori Department of Philosophy University of Trieste Androna Campo Marzio 10, 34123 Trieste Italy Dr. Cathrin Nielsen 317 lektoratphilosophie.de Editorial Office for Philosophy Haendelstrasse 6 60318 Frankfurt am Main Germany Prof. Dr. Dean Komel Department of Philosophy Faculty of Arts University of Ljubljana Aškerčeva 2 1000 Ljubljana Slovenia Instructions for authors Manuscripts should be addressed to the Editorial Office. Contributions should be sent in typewritten form and on a floppy disc (3.5"). Manuscripts cannot be returned. The paper submitted for publication should not have been previously published and should not be currently under consideration for publication elsewhere, nor will it be during the first three months after its submission. When republishing the paper in another journal, the author is required to indicate the first publication in the Phainomena Journal. Contributions should not exceed 8000 words (45,000 characters). The title, subtitle and chapter titles of the article should be written in bold characters, and the titles of books and journals in italics. Authors are reguiredobliged to use double quotation marks in referring to the titles of articles in journals and collected volumes of articles (" and "). Contributions should be double-spaced, except for references, footnotes and abstract, which are singled-spaced. No paragraph breaks should be applied. New paragraphs are introduced by shifting the left margin to the right (using the TAB key). The left margin of the contribution is aligned, and the text remains unaligned on the right. Word divi-318 sion is not to be applied. Graphic design (titles, various fonts, framing, edges, pagination etc.) should not be applied. Tables and synoptic tables should be used in tabular form as enabled by the Word editor. The author should adhere to the following rules of writing: for noking the year of publication (1960-61), indicating the page (p. 99-115, 650-58), use of punctuation marks (dash should be put down as -). The author should include an abstract of the article of in more than 150 words and with five keywords in the language of the original and in English. Authors do the proof-reading of their own texts. For notes and references, only footnotes should be applied. Notes should be indicated by consecutive superscript numbers in the text immediately after the punctuation mark using the automatic footnote feature in Word (e.g. according to Toulmin 3). Citations and literature should be indicated to the rules applied in the examples listed below (different for monographs and periodical articles): Stephen Toulmin, Cosmopolis. The Hidden Agenda of Modernity, The University of Chicago Press, Chicago 1992, p. 31. Klaus Held, "Husserls These von der Europäisierung der Menschheit", in: Otto Pög-geler (Hrsg.), Phänomenologie im Widerstreit, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1989, S. 13-39. Rainer Wiehl, "Gadamers philosophische Hermeneutik und die begriffsgeschichtliche Methode", Archiv für Begriffsgeschichte 10/45 (2003), S. 10—20. Toulmin, op. cit., p. 32. Ibid., p.15. The "author-date" style of referencing is also acceptable. The references are cited in the main body of the text by inserting the author's surname and year of publication in brackets at the relevant point (Toulmin 1992: 31). The reference list at the end of text should contain all cited sources in alphabetical order by author's surname. Held, Klaus (1989): "Husserls These von der Europäisierung der Menschheit", in: Phänomenologie im Widerstreit, Otto Pöggeler (Hrsg.), (S.) 13—39. Frankfurt/M: Suhrkamp Verlag. Toulmin, Stephen (1992): Cosmopolis. The Hidden Agenda of Modernity, Chicago: The University of Chicago Press. (p.) 31. Wiehl, Rainer (2003): "Gadamers philosophische Hermeneutik und die begriffsgeschichtliche Methode", Archiv für Begriffsgeschichte 10/45, (S.) 10—20. ISSN 1318-3362 UDK 1 PHAINOMENA REVIJA ZA FENOMENOLOGIJO IN HERMENEVTIKO JOURNAL OF PHENOMENOLOGY AND HERMENEUTICS GLAVNA UREDNICA - EDITOR IN CHIEF Andrina Tonkli Komel UREDNIŠKI ODBOR - EDITORIAL BOARD Jan Bednarik, Tine Hribar, Valentin Kalan, Branko Klun, Dean Komel, Ivan Urbančič, Franci Zore MEDNARODNI ZNANSTVENI SVET - INTERNATIONAL ADVISORY BOARD Damir Barbaric (Zagreb), Rudolf Bernet (Leuven), Arno Baruzzi (Augsburg), Philip Buckley (Montreal), Donatella Di Cesare (Rome), Umesh C. Chattopadhyaya (Allahabad), Ion Co-poeru (Cluj), Cheung Chan Fai (Hong Kong), Adriano Fabris (Pisa), Jean Grondin (Montreal), Jean François Courtine (Paris), Renato Cristin (Trieste), Lester Embree (Boca Raton), Günter Figal (Tübingen), Andrzej Gniazdowski (Warszawa), Klaus Held (Wuppertal), Heinrich Hüni (Wuppertal), Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Freiburg), Dimitri Ginev (Sofia), Guy van Kerckhoven (Brussel/Bochum), Pavel Kouba (Prague) Thomas Luckmann (Konstanz), Javier San Martin (Madrid), Viktor Molchanov (Moscow), Tadashi Ogawa (Kyoto), 2eljko Pavic (Zagreb) Tatiana Shchyttsova (Minsk), Gunter Scholtz (Bochum), Hans Rainer Sepp (Freiburg), Önay Sözer (Istanbul), Silvia Stoller (Wien), Rainer Thurnher (Innsbruck), Peter Trawny (Wuppertal), Helmuth Vetter (Wien), Dan Zahavi (Copenhagen), Bernhard Waldenfels (Bochum), Andrzej Wiercinski (Toronto), Ichiro Yamaguchi (Yokohama) Revija izhaja štirikrat letno - Published quaterly. Revija objavlja članke s področja fenomenologije, hermenevtike, zgodovine filozofije, filozofije kulture, filozofije umetnosti in teorije znanosti. Recenzentske izvode knjig pošiljajte na naslov uredništva. The journal covers the fields of phenomenology, hermeneutics, history of philosophy, philosophy of culture, philosophy of art, phenomenological theory of science. Books for review should be addressed to the Editorial Office. NASLOV UREDNIŠTVA - EDITORIAL OFFICE ADDRESS Andrina Tonkli Komel, Nova revija d.o.o., Cankarjeva 10b, 1000 Ljubljana tel. +386 (1) 2444 560, fax. +386 (1) 2444 586 info@nova-revija.si Oddelek za filozofijo (kab. 432b), Filozofska fakulteta, Aškerčeva 2, Ljubljana 1000 tel. 386 1 2411106, dean.komel@guest.arnes.si Spletna stran / Website: http://www.fenomenolosko-drustvo.si