Vakhtang Kebuladze PHÄNOMENOLOGIE DER ÖFENNTLICHKEIT. Politische Anthropologie der Öffentlichkeit von Hannah Arend in den Strukturen der alltäglichen Erfahrung von Alfred Schütz und Thomas Luckmann Eine grundlegende Bedeutung für die philosophisch-politische Konzeption der 157 Öffentlichkeit von Hannah Arendt ist die Unterscheidung zwischen dem Haushalt und Polis bzw. zwischen Oikos1 und Polis im Zeitalter der Antike. Die Sphäre des Haushalts ist die Sphäre der privaten Angelegenheiten (privacy), demgegenüber ist die Sphäre von Polis, d. h. die politische Sphäre die Sphäre der Öffentlichkeit. Versuchen wir, in einer Reihe von kurzen Zitaten die Hauptunterschiede dieser beiden Sphären der menschlichen Existenz voneinander wiederzugeben, die Hanna Arendt feststellt: „The distinctive trait of the household sphere was that in it men lived together because they driven by their wants and needs ... Natural community in the household therefore was born of necessity, and necessity ruled over all activities performed in it. 1 Der Begriff „oikos" ist die Quelle des modernen Begriffs „Ökonomie". Solche Abstammung dieses Begriffs hat eine besondere Bedeutung für Hannah Arendt, insofern sie die Politik als in erster Linie öffentliche Tätigkeit der Ökonomie bzw. der Wirtschaft, als der Sphäre der Verwirklichung der privaten Interessen gegenüberstellt. Aber aus dem Begriff „oikos" stammt auch der Name der anderen modernen Wissenschaft, und zwar der Ökologie, in der das ökonomische Moment dieses Begriffs überhaupt keine Rolle spielt. 158 The realm of polis, on the contrary, was the sphere of freedom, and if there was a relationship between these two spheres, it was a matter of course that the mastering of the necessities of life in the household was the condition of freedom of the polis."2 „The polis was distinguished from the household in that it knew only equals, whereas the household was the center of the strictest inequality."3 „The ... outstanding non-privative characteristic of privacy is that the four walls of one's private property offer the only reliable hiding place from the common public world, not only from everything that goes on in it but also from its very publicity, from being seen and being heard."4 Wir können die Hauptzüge der privaten und öffentlichen Sphären auf diese Weise wie folgt zusammenfassen: Die Privatsphäre (privacy) ist die geheime, intime Sphäre der Notwendigkeit und Ungleichheit, in der die Leute in erster Linie ihre wirtschaftliche (d. h. ökonomische) Tätigkeit entfalten. Die Öffentlichkeit ist die offene Sphäre der Freiheit und Gleichheit, in der die Leute in erster Linie ihre politische Tätigkeit entfalten. Zuerst ist es zu bemerken, dass so eine Konzeptualisierung des gesellschaftlichpolitischen Lebens auf der unkritischen Annahme des autonomen Subjektes sowohl der wirtschaftlichen als auch der politischen Tätigkeit beruhen. Der Mensch wird betrachtet als Wesen, das entweder in der Unfreiheit und Ungleichheit der Privatsphäre bleiben oder zu der Freiheit und Gleichheit der Öffentlichkeit übergehen kann. Der Übergang selbst ist nur von der Entschlossenheit des Menschen bedingt, von der geheimen Sphäre der Notwendigkeit zu der offenen Sphäre der Freiheit überzugehen. So eine Entschlossenheit bedarf die Tapferkeit, die gerade dadurch als öffentliche Haupttugend des Menschen betrachtet sein sollte. Gerade deswegen ist die öffentliche Sphäre (laut Arendt) die exklusive Sphäre, in der es überhaupt einen Sinn hat, über die Tugenden zu sprechen. Das zweite wichtige Moment dieser Ansicht ist die unkritische Reduktion der privaten Angelegenheiten auf die wirtschaftliche bzw. ökonomische Tätigkeit. 2 Hannah Arendt, The Human Condition, The University of Chicago Press, Chicago & London 1958, S. 3°. 3 Ibid., S. 32. 4 Ibid., S. 71. Arendt anerkennt freilich, dass die deutliche Grenze zwischen dem privaten als vor allem wirtschaftlichen bzw. ökonomischen Sein und dem öffentlichen als politischem Sein nur für die Antike und teilweise für das Mittelalter charakteristisch war; für die Neuzeit ist demgegenüber typisch eine Expansion der wirtschaftlichen bzw. ökonomischen Tätigkeit in die öffentliche bzw. politische Sphäre. Sie betrachtet jedoch diesen Prozess als Verzerrung des ursprünglichen sozialpolitischen Raums, den im Polis strukturiert wurde. Die Gleichsetzung der Sphäre der Öffentlichkeit mit der Sphäre der Offenheit, die für die deutsche Sprache typisch ist, hat sehr wichtige positive Folgen für die Möglichkeit der Analyse der Sphäre der Öffentlichkeit. In dieser Hinsicht kann man verstehen, wieso die Gesellschaft des Mittelalters weder eine Gesellschaft im Sinne vom Polis der Antike, noch eine Gesellschaft im Sinne der Neuzeit war. Denn sie wurde nach den Prinzipien einer Familie organisiert: „The structure of communal life was modeled on the relationships between the members of a family because these were known to be non-political and even antipolitical. A public realm had never come into being between the members of a family, and it was therefore not likely to develop from Christian community life if this life was ruled by the principle of charity and nothing else".5 Aber die Barmherzigkeit kann nicht ein Organisationsprinzip der offenen Sphäre der Öffentlichkeit sein. Denn die Güte, um wirklich die Güte zu bleiben, sollte jegliche gesellschaftliche Äußerung vermeiden, d. h. die Öffentlichkeit und Offenheit. Gerade in diesem Sinne sollte man Machiavelli verstehen, wenn er schreibt, dass er den Leuten beibringen will, nicht gut zu sein. Das bedeutet nicht, dass er will, den Leuten beizubringen, böse zu sein, denn sowohl die Böse, als auch die Güte, gehört sozusagen zur geheimen Sphäre der privaten Intimität. „Machiavelli's criterion for political action was glory .. ,"6 Der Ruhm jedoch ist nur in der öffentlichen Sphäre möglich, wo die Taten den allen bekannt werden, oder der Mehrheit der Glider der Gesellschaft. „Badness that comes out of hiding is impudent and directly destroys the common world; goodness that comes out of hiding and assumes a public role is no longer good, but corrupt in its own terms and will carry its own corruption wherever it goes."7 Gerade deswegen sind solch geschlossene Gemeinschaften, wie z. B. religiöse Orden, nicht nach den Prinzipien der Öffentlichkeit gegründet wurden, dementsprechend der Ruhm als Belohnung für die Errungenschaften das Hauptkriterium der Tätigkeit ist. Arendt zeigt es am Beispiel einige Orden, in denen die 5 Ibid., S. 53-54. 6 Ibid., S. 77. 7 Ibid., S. 77. 160 Mönche ihren Beruf, den sie perfekt ausgeübt haben, aufgeben sollten. Dieses Prinzip kann man auf alle geschlossene Gemeinschaften und sogar Gesellschaften ausdehnen. An diesem Punkt meiner Ausführungen schlage ich vor, von der Analyse der privaten und der öffentlichen Sphären zur Untersuchung des Zusammenhangs der Begriffe der Öffentlichkeit und der Macht überzugehen. Arendt schreibt: „Was einen politischen Körper zusammenhält, ist sein jeweiliges Machtpotential, und woran politische Gemeinschaften zugrunde gehen, ist Machtverlust und schließlich Ohnmacht. Der Vorgang selbst ist ungreifbar, weil das Machtpotential, im Unterschied zu den Mitteln der Gewalt, die aufgespeichert werden können, um dann im Notfall intakt eingesetzt zu werden, überhaupt nur in dem Maß existiert, als es realisiert wird. Wo Macht nicht realisiert, sondern als etwas behandelt wird, auf das man im Notfall zurückgreifen kann, geht sie zugrunde, und die Geschichte ist voll von Beispielen, die zeigen, dass kein materiell greifbarer Reichtum der Welt diesen Machtverlust auszugleichen vermag."8 Jürgen Habermas kommentiert diese Ansicht von Hannah Arend im Rahmen seiner kommunikativen Philosophie auf folgende Weise: „... Hannah Arendt besteht darauf, dass eine politische Öffentlichkeit nur so lange legitime Macht erzeugen kann, wie sie Strukturen einer nicht verzerrten Kommunikation zum Ausdruck bringt."9 In diesem kurzen Kommentar deutet Habermas die Macht als Ausdruck einer normalen Kommunikation in der öffentlichen Sphäre aus. Auf diesem Grund können wir die Entstehung der Macht wie folgt beschreiben: Macht wird generiert in der nicht verzerrten, d. h. normalen öffentlichen Kommunikation. Habermas führt den Begriff der Kommunikation ein, und zwar einer unverzerrten Kommunikation, der eine weitere Erklärung benötigt. Um den Begriff der Kommunikation zu erklären, sollte man freilich zwei Fragen beantworten: 1. Wer ist das Subjekt einer Kommunikation? 2. Was ist das Kriterium der Verzerrtheit bzw. der Normalität der Kommunikation? 8 Hannah Arendt, Vita Activa oder vom tätigen Leben, Kohlhammer, Stuttgart i960, S. 193. 9 Jürgen Habermas, Philosophisch-politische Profile, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1981, S. 234. Lassen wir diese Fragen vorläufig unbeantwortet und lenken statt dessen unsere Aufmerksamkeit auf den Begriff der Gewalt. Dieser Begriff ist in einer paradoxen Weise einerseits dem Begriff der Macht komplementär, anderseits widerspricht er den Begriff der Macht, denn die Gewalt entsteht gerade da, wo ein Mangel an der Macht oder sogar ein totaler Verlust der Macht vorhanden ist. Um die Ursachen des Machtverlustes zu verstehen, sollten wir die Bedingungen ihrer normalen Generierung aufdecken. Arendt beschreibt und illustriert sie am Beispiel der Entwicklungsgeschichte der europäischen Zivilisation: „The only indispensable material factor in the generation of power is the living together of people. Only where men live so close together that the potentialities of action are always present can power remain with them, and the foundation of cities, which as city-states have remained paradigmatic for all Western political organisation, is therefore indeed the most important material prerequisite for power."10 Die Hauptbedingung der Machtgenerierung ist demnach das Zusammenleben der Menschen oder - phänomenologisch gesagt - die Intersubjektivität der Erfahrung, denn das bloße Nebeneinandersein im Raum und in der Zeit darf man keinesfalls das echte Zusammenleben nennen. Das physische Nebeneinandersein der großen Mehrheit der Menschen ohne normale intersubjektive Beziehungen kann zum fast völligen Machtverlust bzw. zur Ohnmacht führen, die in einer politischen Ordnung, wie der Tyrannei, durch die Gewalt kompensiert wird: „Montesquieu realised that the outstanding characteristic of tyranny was that it rested on isolation - on isolation of the tyrant from his subjects and isolation of the subjects from each other through mutual fear and suspicion - and hence that tyranny was not one form of government among others but contradicted the essential human condition of plurality, the acting and speaking together, which is the condition of all forms of political organisation. Tyranny prevents the development of power, not only in a particular segment of the public realm but in its entirety; it generates, in other words, impotence as naturally as other bodies politic generate power."11 Die Gewalt ist der Ausdruck der Ohnmacht und des Machtverlustes. Gerade deswegen „(can) violence ... destroy power, (can) it ... never become substitute for it."12 Die Bedingung eines solchen Machtverlustes ist die Zerstörung der normalen intersubjektiven Interaktionen der Gesellschaftsglieder untereinander sowie mit den Machtinstitutionen. Der empirische Ausdruck dieses Prozesses ist die Kom- 10 Hannah Arendt, The Human Condition, Chicago & London, The University of Chicago Press, Chicago & London 1958, S. 200. 11 Ibid. S. 202. 12 Ibid., S. 202. 161 162 munikationsverzerrung in der Gesellschaft. Hier kehren wir zu den oben gestellten Fragen nach dem Subjekt der Kommunikation und nach den Kriterien ihrer Normalität zurück. Ich möchte mit der Antwort auf die zweite Frage anfangen, indem ich den Begriff der allgemeinen These der wechselseitigen Perspektiven aufgreife, die jegliche Kommunikation ermöglicht . Die wechselseitige Perspektive besteht aus zwei Idealisierungen: 1. Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standpunkte: „Wäre ich dort, wo er jetzt ist, würde ich die Dinge in gleicher Perspektive, Distanz, Reichweite erfahren wie er; und wäre er hier, wo ich jetzt bin, würde er die Dinge in gleicher Perspektive erfahren wie ich."13 2. Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme: „Ich und er lernen es als gegeben hinzunehmen, dass Unterschiede der Auffassung und Auslegung, die sich aus der Verschiedenheit meiner und seiner biographischen Situation ergeben, für seine und meine, für unsere gegenwärtigen praktischen Zwecke irrelevant sind, dass ich und er, dass wir so handeln und uns so verständigen können, als ob wir die aktuell und potentiell in unserer Reichweite stehende Objekte und deren Eigenschaften in identischer Weise erfahren und ausgelegt hätten."14 Die normale bzw. unverzerrte Kommunikation ist in der öffentlichen Sphäre unter den Bedingungen der Vertauschbarkeit der Standpunkte und der Kongruenz der Relevanzsysteme möglich. Hier sollte man allerdings danach fragen, zu wem diesen Standpunkt und diese Struktur gehören. Diese Frage ist eine Umformulierung unserer ersten Frage nach dem Subjekt der Kommunikation. Wenn wir das Subjekt im Sinne von Kants autonomes Subjekt verstehen, verlieren wir seine Verankerung in der Lebenswelt des Alltags, in dem, was man mit dem altgriechischen Begriff „Ethos" bezeichnen könnte. Infolgedessen bekommen wir anstatt des lebendigen Subjektes der intersubjektiven Interaktionen eine künstliche Konstruktion, die uns als starre Karkasse aller Tugenden und Sünden dient. Demgegenüber sollten wir in unserer Analyse nicht aus dem künstlichen autonomen Subjekt, sondern vom „Ethos" als Quelle der Konstitution der Tugenden ausgehen: „Auch in einer künftigen ,global' zusammengewachsenen Menschheit wird die Humanität auf einem Ethos beruhen, d. h. auf einem Zusammenhang der Tugenden. Diese Überzeugung steht im Gegensatz zu einer heute von vielen Philosophen vertretenen Auffassung: Sie glauben, das, was in der alten europäischen Tradition ,Ethos' genannt wurde, werde in der ,globalisierten' Welt ver- 13 Alfred Schütz, Thomas Luckmann. Strukturen der Lebenswelt, Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied und Darmstadt 1975, S. 74. 14 Ibid. schwinden; denn jedes Ethos sei an eine bestimmte Kultur gebunden. Weil damit zu rechnen sei, dass in der künftigen Welt auf lange sieht alle Unterschiede zwischen den Kulturen eingeebnet werden, sei nur noch eines zu verlangen und vielleicht zu erwarten: die Befolgung schlechthin allgemeiner, für alle Kulturen gleichermaßen verbindlicher moralischen Normen."15 Es ist darauf hinzuweisen, dass in der modernen Gesellschaft, der die verschiedenen untraditionellen Organisationsformen des alltäglichen Lebens eigen sind, unser Verständnis des Begriffs „Ethos" etwas modifiziert sein sollte. In einer paradoxen Weise kann man sagen, dass in der modernen postindustriellen Gesellschaft die untraditionelle Art und Weise des alltäglichen Lebens sehr oft zur traditionellen wird. Am besten kann man das am Beispiel solch einer klassischen Form vom Ethos wie der Familie zeigen. Denn heute werden die alternativen Organisationsformen der Beziehungen zwischen den Vertretern einer Generation und zwischen den Vertretern verschiedener Generationen typisch: große Menge der einsamen Männer und Frauen, die ihre Kinder selbständig erziehen, die Institution der Adoptierung der Kinder, die homosexuellen Ehepaare, die in einigen demokratischen Gesellschaft offiziell anerkannt wurden etc. Im Vergleich zu dieser Transformation der klassischen monogamen europäischen Familie sieht die traditionelle muslimische Polygamie nicht so exotisch aus. In dieser Hinsicht schlage ich vor, in der Interpretation des Begriffs „Ethos" die Begriffe „Umwelt" und „Mitwelt" von Alfred Schütz und Thomas Luckmann zu benutzen, die sie als Hauptstrukturen der Lebenswelt der alltäglichen Erfahrung beschreiben. Die Umwelt ist die Welt der unmittelbaren intersubjektiven Interaktion, die Schütz und Luckmann mit dem Begriff „face-to-face situation" bezeichnen. Diese Situation ist durch den höchsten Grad der Intimität der intersubjektiven Beziehungen gekennzeichnet. Das Ich als Subjekt der sozialen Beziehungen hat hierbei nichts zu tun mit den abstrakten sozialen Typen, sondern mit den lebendigen Akteuren der sozialen Realität, die freilich die verschiedenen sozialen Typen vertreten. Diese Typen konstituieren aber in einer solchen Situation nur den Hintergrund der sozialen Interaktion. Unsere soziale Beziehung hat in diesem Fall den Charakter der Wir-Beziehung, die durch die Verschränkung der Du-Einstellungen der Teilnehmer der Interaktion konstituiert wird. Wir können die gewöhnlich gewordenen Formen solcher sozialen Beziehungen als verschiedenen Formen des Ethos bezeichnen, darunter selbstverständlich die Familie (freilich in aller, sogar untraditionellen Formen), aber auch alle andere soziale Organisationsformen der alltäglichen intersubjektiven Erfahrung. Gerade 15 Klaus Held , „Zur phänomenologischen Rehabilitierung des Ethos", Eröffnungsvortrag an der Tagung „Europe, World and Humanity in 21" Century: Phenomenological Perspectives", Ljubljana, 16—19. November 2006. 163 164 diese Formen der alltäglichen Erfahrung verkörpern die oben genannten Idealisierungen der Vertauschbarkeit der Standpunkte und der Kongruenz der Relevanzsysteme mit den höchsten Grad ihrer Aktualisierung. Deshalb ist hier eine wirklich unverzerrte Kommunikation möglich. Aber die Sphäre solcher Beziehungen ist in erster Linie die private Sphäre. Die intersubjektive Mitwelt der alltäglichen Erfahrung ist demgegenüber durch die Typisierung und infolgedessen durch die hohe Anonymität gekennzeichnet. Es ist die Sphäre der Ihr-Beziehungen, die durch die Ihr-Einstellungen der Teilnehmer der Interaktionen konstituiert werden. Deswegen ist die Verwirklichung der Idealisierungen der der Vertauschbarkeit der Standpunkte und der Kongruenz der Relevanzsysteme in dieser Mitwelt viel mehr problematisch als in der Umwelt. Infolgedessen ist das Risiko der Verzerrung der Kommunikation auch hier ziemlich hoch. Die wirkliche Verzerrung der Kommunikation passiert dort, wo die Grenzen zwischen der Umwelt und der Mitwelt zerstört werden. In diesem Fall werden die intimen und fast untypisierten Wir-Beziehungen in der Mitwelt, d. h. in der Sphäre der anonymen und fast ganz typisierten Ihr-Beziehungen, durch die Gewaltinstitutionen imitiert und auf solche Weise verzerrt. Anderseits wird die Umwelt, die Sphäre der intimen, privaten Beziehungen durch die Expansion der öffentliche Mitwelt zerstört. In der totalitären Gesellschaften, z. B., wo die stattliche Gewalt die Rolle des Vaters der Familie imitiert und alle Beziehungen der Gliedern der Gesellschaft als die Beziehungen innerhalb der großen Familie darzustellen versucht, verschwindet die Grenze zwischen der Umwelt und der Mitwelt, zwischen den privaten und öffentlichen Angelegenheiten. Es führt zur Zerstörung der normalen privaten und öffentlichen Beziehung zwischen den Gliedern der Gesellschaft, zur Verzerrung der Kommunikation, zur Vergessenheit des Ethos als Sphäre des Privatlebens und Korruption der Öffentlichkeit als Sphäre der öffentlichen Leistungen der Menschen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen schlage ich eine breitere Interpretation des Begriffs „Ethos" vor. Ethos ist die festgestellte Weise der alltäglichen Existenz einer Gemeinschaft der Menschen innerhalb des Horizontes ihrer intersubjektiven Interaktionen miteinander, d. h. innerhalb der intersubjektiven Umwelt, und mit den Vertretern der anderen Gemeinschaften, d. h. innerhalb der intersubjektiven Mitwelt. Dieser allgemeine intersubjektive Horizont aller möglichen Um- und Mitwelten ist die Sphäre der Öffentlichkeit. Ihre Akteure sind nicht atomare Subjekte, sondern bestimmte Gemeinschaften bzw. Vertreter dieser Gemeinschaften, die in ihrer intersubjektiven Tätigkeit durch die Besonderheit des eigenen Ethos bzw. der eigenen Umwelt, bedingt sind. Die Vielheit der atomaren Subjekte sollte durch die Vielheit der Ethostypen bzw. Umwelten, ersetzt werden, von denen in der Kommunikation die Macht als Alternative zur Gewalt konstituiert wird, denn ein Anspruch des einzelnen Subjektes auf die allgemein gültige moralische Position wird oft zum totalitären Anspruch im sozialpolitischen Diskurs. Den anderen Standpunkt, der dem meinen widerspricht, sollte ich nicht deswegen achten, als er Ausdruck einer allgemeinen menschlichen Position sein könnte, sondern deswegen respektieren, weil er eine menschliche Position ist, die auch falsch sein kann. Deshalb verschwindet die Freiheit des atomaren Subjektes nicht, sondern sie transformiert in einem anderen Kontext, insofern das Format meiner Tätigkeit nicht eine allgemeine Gesetzgebung, sondern das flexible Gleichgewicht der verschiedenen Gesetzgebungen ist. 165