Die historiographische Fiktion als Herausforderung der Identitäts bzw. Differenztheorie Vladimir Biti Manche Selbstverständlichkeiten im Bereich der historiographischen Forschung sind in den letzten Jahrzehnten ins Schwanken geraten. Die Vorstellung von der Geschichtsschreibung als einer strengen, objektiven Wis- senschaft wurde tief erschüttert, ihre figurative, fiktionale Seite trat in den Vordergrund. Diese Wende wurde durch die Einsicht unterstützt, daß jede Geschichtsschreibung, in der Art und Wiese, wie sie die Ereignisanknüpfungen herstellt, trotz all ihrer reflexiven Anstrengung letztlich doch gezwungen wird, sich bestimmten unbewußten epistemologischen Mustern anzupassen. Insofern als diese Muster, wenn auch andersartig, nichtsdestoweniger für die andern »diskursiven Praktiken« gelten, wurde die Grenze zwischen der Geschichts- schreibung und den fiktionalen Sprachgebräuchen zugunsten den anders sich ausbildenden interdiskursiven Ganzen überschritten. Innerhalb eines solchen Rahmens kam den allmählich zunehmenden Entblößungen der zugrunde- liegenden figurativen Textmechanismen von seiten der Geschichtstheoretiker und Historiker selber seit der Mitte der Achtziger Jahre ein immer lauterer Wahrheitsanspruch entgegen, den die Literaturtheorie für den fiktionalen Sprachgebrauch erhoben hatte. Es wurde darauf verwiesen, daß z.B. das Epos, die Tragödie oder der Roman - weit davon entfernt, seit Anfang an einem selbstgenügenden ästhetischen Bereich anheimzufallen - eine aktive, konkur- rierende Rolle in der Bildung des historischen Bewußtseins ihrer Zeitgenossen gespielt haben.1 Damit wurde eine klare Unterscheidung zwischen dem setz- enden (wissenschaftlichen) und dem voraussetzenden (fiktionalen) Sprach- gebrauch mit einem gewissen zeitlichen Verschub gleichfalls aus der anderen Richtung untergraben. Dadurch sind die Geschichtsschreibung und die Erzähl- fiktion in allen ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen in das zwei- spaltige Verhältnis der sprachlichen Tendenzen innerhalb ihres eigenes Bereichs geraten. Da die ehemalige äußere Spaltung zwischen ihnen nun zugleich ihr Inneres traf, lagen ihre respektiven Zuständigkeiten nicht mehr so klar auseinander. Gerade diese gespaltene Natur beider Sprachgebrauche - die Tatsache, daß die Geschichtsschreibung sich zugleich als fiktional oder vor- aussetzend und die Literatur zugleich als historiographisch oder setzend erweist 1. Für das Epos vgl. z.b. Eric A. Havelock, The Muse Learns to Write, New Häven/London, 1986; für die Tragödie Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München, 1988; für den Roman Barbara Foley, Tel/ing the Truth. The Theory and Practice of Documentary Fiction, Ithaca/London, 1986. 10 Vladimir Biti - beabsichtige ich hier mit dem zweideutigen Begriff der »historiographischen Fiktion« in den Vordergrund zu rücken. Allerdings beruht die erwünschte Ambivalenz dieses Begriffs nicht lediglich auf einem theoretisch unmöglichen, praktisch jedoch benötigten, Unterschied zweier Sprachgebräuche, sondern ebensosehr auf den inzwischen problemati- sierten Gegensätzen zwischen den diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken bei Foucault oder dem discours und der figure bei Lyotard, der Schriftlichkeit und der Mündlichkeit bei Ong, Goody oder Havelock, der Zeit und dem Raum bei Derrida, dem récit und dem discours in der nachstrukturalistischen Erzähltheorie, der Gattung und der Äußerung oder der Hoch- und der Volks- kultur bei Bachtin, dem Männlichen und dem Weiblichen in der gegen- wärtigen feministischen Theorie, usw., insofern alle diesen eingebürgerten Gegensätze in verschiedenen Angelegenheiten als die natürlichen Unter- scheidungsmaßstäbe zwischen der Geschichtsschreibung und der Erzählfiktion verwendet worden sind. Es handelt sich keinesfalls darum, die Grenze zwischen den »Partern« dieser Gegensätze völlig zu vermischen. Keine Identitätserrichtung kann ohne eine Ausgrenzung des Nicht-Identischen erfolgen.2 Falls wir uns aber bereit erklären, diese Tatsache anzuerkennen, muß es uns ebenso klar sein, daß die errichtete Identität, obwohl meistens unbewußt, ihre innere Kohärenz dem ausgeschalteten Anderen schuldet. Die Grenze zwischen dem Ausgrenzenden und dem Ausgegrenzten als eine konstitutive und dauerhafte herzustellen, hieße dementsprechend gerade diese ihre innere, wenn auch schwer bemerkbare, Abhängigkeit zu vernachlässigen. »Oppositions between text and context, fiction and truth, art and life«, bemerkt im Zusammenhang mit unserer Fragestellung Joan Wallach Scott, »strukture the self-representations of the disciplines of literature and history. Each discipline defines its expertise through a contrast with other's objects of inquiry and methods of interpretation. Each discipline also resolves the ambiguities of its own project by using the others as a foil.«3 Um eine solche verborgene Homogenisierung in 2. Vgl. die Polemik Barbara Foley's gegen den amerikanischen Dekonstruktivismus vermittels der Entgegensetzung der theoretischen und der empirischen Perspektive, wobei sie mit Wittgenstein auf der letzten besteht (op. cit., 32f.). Daher, »fiction ... is what it is by virtue of what it is not.« (28) Oder, »psychological frames are ... both exclusive and inclusive.« (37) Für eine ähnliche Anwendung von spätem Wittgenstein für die Widerlegung des post-strukturalistischen Begriffs der Unentscheidbarkeit vgl. Terry Eagleton, »Wittgenstein's Friends«, in Against the Grain, London, 1986: »'Do not say: There isn't a last definition«. That is just as if you chose to say: »There isn't a last house in this road; one can always build an additional one«' (29). ... But the fact that one can always build a new house, reinscribe a new piece of discourse in a new context, or develop new forms of discourse altogether, does not strike the concept of 'the last house' or 'the last definition' meaningless in the particular use of it. What counts as an adequate or ultimate definition 'will depend on the circumstances under which it is given, and on the person I give it to' (29).« (104) 3. Joan Wallach Scott, Gender and the Politics of History, New York, 1988, S. 8. Die Historiographische Fiktion . 11 eine geschichtlich kontinuierliche Identität zu verhindern, soll die durch eine hervorgehobene gegenseitige Ausschaltung entstandene Identität anhand anderer verschwiegenen, aber doch in der Identitätsbildung teilnehmenden Ausschaltungen abgebaut werden, die zusammen mit den von Scott erwähnten (Text/Kontext, Kunst/Leben, Fiktion/Wahrheit) in die jeweilige geschichtlich bedingte Lösung unvermeidlich einbezogen sind. Komplexe und vielfältige Unterschiede, die allererst durch ihre jeweilige Netzbeziehungen und Verket- tungen eine Identität hervorzubringen vermögen, dürfen weder durch eine binäre, streng abgegrenzte, noch durch eine unitäre, unbesorgt grenzlose Welt- ordung ersetzt werden, und zwar trotz aller diesbezüglichen Bemühung der durch eine entsprechende Theorie verlängerten Machtstrukturen. Demzufolge darf nicht Identitätsbildung an sich als Untersuchungsziel gewählt werden, sondern eher eine sorgfältige Überprüfung der Grenzen der bestehenden Identitätsbildungsprozeduren. Ähnlich argumentierte übrigens Michel de Certeau, als er das Schmuggeln entlang der disziplinaren Grenzen zur Haupt- aufgabe der heutigen Historiographie herverhob. Dabei sollen seiner Meinung nach die Modelle und Instrumente, die von seiten der verschiedenen Disziplinen der Geschichtsschreibung zugewiesen werden, anhand ihrer Über- tragung in die neuen, marginalen Anwendungsbereichte mit ihren respektiven Besonderheiten, überprüft und problematisiert werden. Es gilt die Hetero- genität in ihre Homogenität, die Abwesenheit in ihre Anwesenheit hinein- zutragen.4 Die historiographische Fiktion soll als ein ähnlicher Prüfstein allgemein akzeptierter, sei es binärer oder unitärer, theoretischer Betrachtungsweisen verstanden werden. »Our goal is to see not only differences between sexes but the way these work to repress differences within gender groups«, behauptet Joan Wallach Scott, (174) die sich hauptsächlich mit Geschlechtsuntcrschieden beschäftig. Der Streit »equality-versus-difference« betrifft aber nichtsdestoweniger die Debatten über die Beziehung zwischen der Geschichtsschreibung und der Erzählfiktion. Während dieser Diskussionen könnten wir uns nämlich in der letzten Jahrzehnten davon vergewissern, daß sowohl die Gleichheitssanhänger als auch die Unterscheidungsanhänger - vollkommen im Einklang mit Scott's Behauptung »both focusing on and ignoring difference risk recreating it« (168) - das zur Selbstbewahrung und Wahrung des status quo grundlegende Gegensatzpaar eher vorläuftig berschoben als tatsächlich auf die Probe gestellt haben: 1. Die Gleichheitstendenz in den Debatten über die Beziehung zwischen dem setzenden und voraus-setzenden Erzählen kam in den letzten Jahrzehnten vorwiegend aus französischen Narratologie, die den Bereich des Erzählens so weitreichend erweitert hatte, daß er neben anderen neu beleuchteten alten 4. Michel de Certeau, The Writing of History, New York, 1988, S. 79ff. Leider ist mir die Originalfassung des Buches unzugänglich geblieben. 12 Vladimir Biti Praktiken gleichermaßen auch die Geschichtsschreibung einbezog. Wie aber Suzanne Gearhart in diesem Zusammenhang mit Recht bemerkt hat, wurde dieser inzwischen riesig gewordene Bereich doch nicht hinreichend genug erweitert um seine eigene Theorie einzuschließen. »The drawing of the boundaries of narrative is thus the basis for any theory seeking to understand its specific character, whether the theory argues that narrative is arbitrary in relation to any external reality (was die Gleichheitsanhänger behaupten, V. B.) or determined by it (was die Unterscheidungsanhänger behaupten, V. B.), that narrative is caused or is its own cause.«5 Insofern als die französische Narratologen und ihre Nachfolger auf dem antimimetischen Charakter des Erzähltextes bestanden, und ausgehend von der Behauptung, daß erst sein rhetorisch-epistemologisches Muster die historischen Tatsachen oder Ereignisse als solche hervorbringt, glauben sie die aristotelische Unterscheidung zwischen dem »tatsächlich Ereigneten« und dem »erdachten Möglichen« verwischen zu dürfen. Als Stellvertreter dieser Tendenz darf hier der angesehene amerikanische Geschichtstheoretiker Hayden White genommen werden, der als dem Leitfaden seines neuesten Buchs The Content of the Form keinesfalls zufällig Barthes's Satz »La fait n'a jamais qu'une existence linguistique« ausgewählt hat.0 In der einleitenden Abhandlung dieses Buchs The Value of Narrativity in the Representation of Reality bemüht sich White nachzuweisen, daß der Eindruck der Wirklichkeit der in der Geschichtsschreibung dargestellten Ereignisse (Ranke's berühmtes »wie es eigentlich gewesen«), durch die verborgene, absichtlich ausgeblendete Erzählform der Darstellung verursacht wird. Es scheint, als ob die Ereignisse (um mit Benveniste zu sprechen) »selber von sich selbst erzählen«, obwohl ein Vergleich mit den Annalen und Chroniken - zwei unberechtigterweise mißbilligten historio- graphischen Formen - eindeutig nachweisen kann, daß die erzählerische Verkettung keineswegs die einzige Art und Weise der Selbstdarstellung der Ereignisse darstellt. Daswegen soll die erzählerische Art der Verknüpfung der Ereignisse - die Barthes in Lc discours de 1' histoire als post hoc ergo propter hoc bezeichnet hat7 - vor allem durch die lebensweltliche Situation des Erzählsubjekts begründet werden, das während seiner Vergangenheitsnach- vollziehung auf den Widerstand des Gesetzes stößt: I f , as Hegel suggested, historicality as a distinct mode of human existence is unthinkable without the presupposition of a system of law in relation to which a specifically legal subject could be constituted, then historical self-conscious- 5. Suzanne Gearhart, The Open Boundary of History and Fiction. A Critical Approach to the French Enlightenment, New Jersey, 1984, S. 208. 6. Hayden White, The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore/London, 1987, III. 7. Der neueste Abdruck dieses im Jahre 1967 erschienenen Aufsatzes ist in Le Bruissement de la langue, Paris 1984, S. 153-66. zu finden. Deutsche Übersetzung in Alternative 11/1968, S. 171-180. Die Historiographische Fiktion . 13 ness capable of imagining the need to represent reality as a history, is con- ceivable only in terms of its interest in law, legality, legitimacy, and so on. (...) Where there is ambiguity or ambivalence regarding the status of the legal system, which is the form in which the subject encounters most immediately the social system in which he is enjoined to achieve a full humanity, the ground on which any closure of a story one might whish to tell about a past, whether it a public or a private past, is lacking. And the suggests the nar- rativity, certainly in factual story-telling and probably in fictional storytelling as well is intimately related to, if not a function of, the impulse to moralize the reality, that is, to identify it with the social system that is the source of any morality that we can imagine. (13/14) Somit glaubt White behaupten zu können, daß die Überzeugung, die Ereignisse »berichten selber von sich selbst«, das Ergebnis einer Wunschprojektion auf die Wirklichkeit darstellt, einer Wunschprojektion aber, die als solche nicht erkannt werden darf. In this world, reality wears the mask of a meaning, the completeness and fullness of which we can only imagine, never experience. Insofar as historical stories can be completed, can be given narrative closure, can be shown to have had a plot all along, they give to reality the odor of the ideal. This is why the plot of a historical narrative is always an embarassment and has to be presented as 'found' in the events rather than put there by narrative techniques. (21) Die »Listigkeit« des Geschichtlers bestünde also darin, seine pragmatisch- -rhetorische Tätigkeit zu verwischen, um damit die Erzählung als eine besondere Redeweise in die Erzählung als eine natürliche Selbstdarstel- lungsform der Wirklichkeit zu versetzen. In der gesamten Beweisführung von Hayden White ist eine Konstante zu bemerken, die seine neueren Thesen mit jenen einflußreichen Ideen aus Metahistory verbindet.8 Man setzt sowohl hier als auch dort mit einer Hypothese an, die Wirklichkeit als solche bestünde unabhängig von der sprachlichen Tätigkeit, und zwar in einem sozusagen ungeformten Zustand. Dieser »zerstreute«, bedeutungslose Zustand der Realität reicht aber dem Theoretiker volkommen aus, eine Rangordnung zwischen ihren Ubermit- tlungsformen einzuführen, in der diejenigen Formen den Vorrang genießen, die weniger »Bedeutung« augzeigen, und zwar mit der Begründung, daß sie der »synthetischen« Wahrnehmungsform der Wirklichkeit näher liegen. Damit ist kein eigentlicher Fortschritt in bezug auf die Typologie der historio- graphischen Formen aus Metahistory errungen, wo der Ironie eine privilegierte, sozusagen metatropologische Lage in bezug auf die übrigen bloß metahistorischen Tropen - die Metapher, die Metonymie und die Synekdoche 8. Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore, 1973. 14 Vladimir Biti - verliehen wird.9 Die Ironie wird nämlich insofern als transideologisch betrachtet, (38) als sie den ideologischen Mißbrauch der figurativen Sprache in der Geschichtsschreibung bewußtmacht. (37) Indem White aber für sein taxonomisches Unternehmen den Status der Ironie beansprucht, (XII) geht er selbstverständlich davon aus, daß seine eigene Rangordnung der Formen außerhalb der unbewußten Wahrnehmungstropologie liegt, während sie eigentlich, ihrem Vorbild Barthes folgend, auf einer sehr reduzierten und unberechtigt verallgemeinerten narrativen Vorstellung von der Geschichte beruht. Es ist z.B. höchst fraglich, ob heutige Geschichtsschreibung immer noch den Eindruck der Wahrnaftigkeit ihres Berichtes durch das Erzählen erreichen kann. Wurde sie vielmehr nicht dazu gezwungen, die zahlreichen methodologischen Zweifel in der Deutung der überlieferten Texten dem/der Leser/in offenzulegen, um damit seine/ihre Aufmerksamkeit gerade auf die Zusammenfassungsprozeduren, anhand deren die Ereignisanknüpfungen hergestellt werden, anstatt auf die Ereignisse selber zu lenken? Den Unterschied zwischen dem historiographischen und fiktiven Erzählen kann man deswegen kaum durch die Behauptung erklären, daß das erste eine verborgene (mimetische), während das zweite eine entblößte (antimimetische) Erzählgattung sei. Einerseits traf die Neigung zur Selbstentblößungs bzw. Identitätszerstörung im unserem Jahrhundert gleichermaßen den Roman, die Geschichtsschreibung, und - wie ersichtlich - die Geschichtstheorie. Andererseits darf der beständige untergrabende Selbstbezug keineswegs als eine Anerkennung der eigenen Gattungsangehörigkeit bzw. Entfernung von der Wirklichkeit angenommen werden, sondern im Lichte der in Anspruch genommenen Ungeformtheit der Wirklichkeit - gerade umgekehrt, nämlich als ein Hinweis auf die eigene Wirklichkeitsnähe, auf das eigene schonungslose telling the truth.10 Durch die poetologische Auffassung, die alle Sprachgebräuche als wirklichkeitsfingierende Gattungen entblößt, wird also eigentlich versucht, für den eigenen Sprachgebrauch den Status des wirklichkeitsübermittelnden Diskurses beizubehalten. Somit kehrt durch die Selbstausschaltung der universal-typologischen Theorie aus dem angeblich allumfassenden figurativen Sprachgebrauch der alte Unterschied zwischen der Gattung und dem Diskurs, anstatt wie bisher aristotelisch auf die Beziehung zwischen der Erzählfiktion und der Geschichtsschreibung angewendet, auf einer neuen Ebene zurück. 9. Vgl. David Carroll, »On Tropology: The Forms of History«, Diacritics 2:6 (Summer 1976). 10. Damit hängt z.B. die folgende Behauptung aus dem White's Buch Tropics of Discourse, Baltimore, 1978, S.3f. zusammen: »This moment /a running back and forth/, diseoursive practice shows us, may be as much prelogical or antilogical as it is dialectical. As analogical, its aim would be to deconstruct a conceptualization of a given area of experience which has become hardened into a hypostasis that blocks fresh perception or denies, in the interest of formalization, what our will or emotions tell us ought not be the case in a given department of life.« Die Historiographische Fiktion . 15 Während in der aristotelischen Auffassung die Erzählfiktion als eine Gattung im Sinne von Benveniste's histoire, mit dem hervorgehobenen mimetischen Referenzbezug, betrachtet wurde, und die Geschichtsschreibung als ein Diskurs im Sinne vom Benveniste's zugehörigen discours, mit dem hervorgehobenen geschichtlich-einmaligen Selbstbezug, - wird in der narratologischen Auffassung die Gattung-Diskurs-Beziehung auf das andere Gegensatzpaar Benveniste's langue-discours übertragen, wobei der erzähle- rische Sprachgebrauch als eine langue, d.h. ein abstraktes System ohne die entsprechende Wirklichkeitsverankerung, während der theoretische Sprach- gebrauch als ein discours mit einer erkennbaren außersprachlichen Origo betrachtet wird. Dadurch wird das Fehlen einer einmaligen Äußerungsinstanz - die von Aristoteles, vermittels seiner Bevorzugung der bewußten künstlerischen Mimesis (showing) über die rhetorische Diegesis (telling) als ein vortilhaftes Kennzeichen der Gattung, das ihr die notwendige Allgemeinheit bzw. Welthaltigkeit gewährleistet, behandelt wurde - bei den Narratologen zu einem Nachteil erklärt, indem sie als ein unbewußt sich abspielender Eingriff der semiotischen Mechanismen in die Darstellungs- tendenz der Sprache behandelt wird. Eine Gattung sei dementsprechend - konträr zu Aristoteles - kein Ergebnis des künstlerischen Willens, sondern vielmehr etwas, was uns gegen unseren Willen passiert. Im Gegensatz dazu, müssen wir einen Diskurs immer erst erreichen, und zwar dadurch, daß wir die natürliche Tendenz des Sprachsystems, unsere Äußerung zu typisieren, unter eine ständige abstandnehmende Kontrolle bringen. Denn die wahre, einmalige Wirklichkeit sei kaum mit sprachlichen Mitteln zu erfassen, es gilt auf sie eher jenseits ihrer Stereotypen, sozusagen hinter ihrem Rücken hinzuweisen. 2. Im Unterschied zu ihren (vermeintlich) fortgeschrittenen französischen und amerikanischen Kollegen bestanden die deutschen Theoretiker unbeirrt auf der diskursiven Abhängigkeit der Geschichtsschreibung von der Lebenswelt, sei es in einem stofflichen, produktiven oder rezeptiven Sinne, während sie die Erzählfiktion ihren eigenen, von keinen außersprachlichen Bedingugen entscheidend abhängigen, Gattungsgesetzen verpflichtet fanden. Die folge- richtige Hervorhebung der intersubjektiv festgelegten lebensweltlichen Gelt- ungsansprüche steht übrigens - was die Geschichtsschreibung angeht - in einer erkennbaren Tradition der Aufklärung, die von Anfang an das zukunftsorientierte Erklären den vergangenheitsorientierten Erzählen genen- über bevorzugte. Denn, so Jürgen Kocka, »die Identität (eines geschichtlichen Subjekts) hängt mehr mit Leistungsfähigkeit als mit historischer Erinnerung zusammen«.11 Und außerdem »verzichtete man nämlich auf historische Ursachen-, Zusammenhangs- und Wirkungserkenntnis, auf empirisch sich absichernde, kritische und nach intersubjektiver Geltung strebende Inter- 11. Jürgen Kocka, »Geschichte und Aufklärung«, in Geschichte und Aufklärung. Göttingen, 1989, S. 151. 16 Vladimir Biti pretation, dann entstünde ein Vakuum, in dem sich Legensen und Mythen, Vorurteile und Manipulationen breit machten - mit unabsehbaren Folgen.« (159) Andere deutsche Autoren erklärten sich mehr bereit, die Wirkung der literarischen Erzählmuster innerhalb der Geschichtsschreibung einzuräumen, obwohl »die Anwendung eines literarischen (etwa tragischen oder komischen) Gattungsschemas (...) aus einem historischen Bericht noch keine fiktionale Erzählung /macht/, und aus einem Roman wird nicht dadurch ein Stück Historiographie, daß man geschichtliche Wirklichkeiten ins Fiktionsfeld einbezieht.«12 Paul Michael Lützeler, der diese Behauptung vorgetragen hat, besteht auf einer letzten verantwortlichen Subjektinstanz des argumentativen Diskurses, die in der Geschichtsschreibung einer Überprüfung und Widerlegung sich auszusetzen verpflichtet ist, während diese Geltungskontrolle der unternommenen Sinnbildung in der Erzählfiktion eindeutig ausbleibt und damit ihrer Perspektivierung mehr Freiheit überläßt. Mit anderen Worten, die historiographische Perspektivierung hätte die Aufgabe, die verunsicherten bestehenden Sinnermaßstäbe zu unterstützen, während die erzähl-fiktionale Perspektivierung die umgekehrte Aufgabe hätte, die Unangemessenheit dieser überlieferten Maßstäbe für die inzwischen veränderte Gegenwart zu enthüllen.13 Mit einer solchen Lösung wurde die aristotelische Zuweisung der Erzählfiktion der Poetik und der Geschichtsschreibung der Rhetorik noch einmal unterstrichen, obwohl im Aufklärungsdenken, wie bekannt, für die Rhetorik eine neue und unvergleichbar wichtigere Aufgabe als bei Aristoteles vorgesehen war. Die eingehendste Beweisführung in dieser Richtung ist jedenfalls bei dem »theoretischen Kopf« der heutigen deutschen historischen Szene, Jörn Rüsen, zu finden. In seinem neuesten Buch unter dem bezeichnenden Titel Zeit und Sinn bemüht er sich vor allem darum, die Spezifizität des historischen Erzählens herauszuarbeiten.14 Dies wäre insofern wichtig, als man von der Annahme ausgeht, daß die Geschichte von anderen Gesellschafts- wissenschaften gerade dadurch unterschieden wird, daß sie, anstatt in der Beschreibung, Analyse oder Erklärung, ihre Eigenart in dem Erzählen findet. Nur das Erzählen sei nämlich der für das historische Bewußtsein angeblich konstitutiven Divergenz von Handlungsabsichten und Handlingsresultaten angemessen. Dabei wird aber auf eine dreifache Steigerung in bezug auf die üblich erzählten Geschichten verwiesen: ihre empirische, vergangenheits- orientierte Triftigkeit soll durch die Forschung intersubjektiv überprüfbar 12. Paul Michael Lützcler, »Fiktion in der Geschichte - Geschichte in der Fiktion«, in D. Borchmeier, hrsg., Poetik und Geschichte. Viktor Zmegai zum 60. Geburstag, Tübingen, 1989, S. 16. 13. Vgl. dazu Paul M. Lützeler, »Geschichtsschreibung und Roman: Interdependenzen und Differenzen«, in Zeitgeschichte in Geschichten der Zeit. Deutschsprachige Romane im 20. Jahrhundert, Bonn, 1986. 14. Jörn Rüsen, Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt/M, 1990. Die Historiographische Fiktion . 17 gemacht werden; ihre normative, zukunftsorientierte Triftigkeit durch eine Standortreflexion; und ihre narrative, sinnbildende Triftigkeit, durch welche die vorhergehenden Triftigkeiten erfolgreich vereinigt werden, durch eine Theoretisierung. Diese Steigerungen leisten einen wesentlichen Beitrag zur notwendigen kritischen Einstellung des Historikers auf alle seinen lebenswelt- lichen Vorgaben: Er kritisiert die perspektivierenden Normen der historischen Bedeutungs- qualifikationen, indem er ihre Verallgemeinerungsfähigkeit überprüft, er kritisiert die Sinnvorgaben, die Zeitfolgen vergangenen menschlichen Handelns erzählbar machen, indem er ihre Theoretisierbarkeit überprüft, und er kritisiert alle sinn- und bedeutungsverleihenden Normen mit der Erfahrung, die sie für ihre Geltung beanspruchen. Durch Kritik gibt er seinen Geschichten einen Sinn und eine Bedeutung, mit denen sie die lebensweltlich an sie gestellten Erwartungen in der Hinsicht übertreffen, in der historische Orientierungen vernünftig sind. (101) Die Vernünftigkeit und damit die Spezifizität des historischen Erzählens erwiese sich also als eine Frage der Übertreffung bzw. Übertretung der lebensweltlichen Erwartungen in einer wohlbekannten ideologiekritischen Richtung. »Ideologiekritik ist also die Art und Weise, wie lebensweltliche Sinnvorgaben für Geschichten das Nadelöhr der wissenschaftsspezifischen Normenkritik passieren, im Diskurs der Fachhistoriker thematisiert werden und schließlich den Sinngehalt einer wissenschaftlich verfaßten Geschichts- schreibung bestimmen.« (104) Dem fachlichen Diskurs kann eine solche beneidenswerte übertreffung nur deshalb gelingen, weil er auf einen universalen Sinnzusammenhang menschlichen Handelns rekurriert, »auf den alle Geschichten verpflichtet werden können, wenn sie vernünftig erzählt werden sollen« (105). Diese »regulative Idee einer alle Geschichten in sich begreifenden einen Geschichte der Menschheit« (99) erklärt Rüsen, sich dabei an die habermas'sche Theorie der sozialen Evolution anlehnend, folgender- maßen: Dieser Sinnzusammenhang entsteht dadurch, daß die Utopie eines gelingenden Diskurses menschlicher Selbstverständigung als intentionalen Bestimmunds- -grund des vergangenen Handelns gedacht wird, dessen Resultate in die realen Bedingungen der gegenwärtigen Diskursführung eingegangen sind. (105) Nur die Geschichten, die den Entwürfen einer solchen Totalität als Leitfäden verpflichtet sind, dürfen vernünftig, und das heißt historisch, genannt werden. (124) »Erst dann werden sie fähig, gegenwärtig handelnde und leidende Menschen im Fluß der Zeit zu orientieren.« Manche Punkte dieser Beweisführung kommen bereits auf den ersten Blick bekannt vor. Sie gehören einem erkennbaren Aufklärungsdenken, das die Traditions-, Vormeinungs-, Klassen-, Rassen-, Geschlechts- und Leiden- 18 Vladimir Biti schaftswiderstände, trotz aller konträren Evidenz, die uns unsere Gegenwart täglich anbietet, unbesorgt weiter geringschätzt. Durch die Privilegierung der Vernunft, wo es um den Beitritt zum »internationalen Bestimmungsgrund des vergangenen Handelns« geht, »trägt die Aufklärung« - so führt Sloterdijk auf den Anfangsseiten seiner Kritik der zynischen Vernunft aus - eine utopische Urszene in sich - ein erkenntnistheoretisches Friedensidyll, eine schöne und akademische Vision: die des freien Dialogs der an Erkenntnis zwanglos Interessierten. Hier kommen unbefangene, von ihrem eigenen Bewußtsein nicht versklavte, von sozialen Bindungen nicht unterdrückte Individuen zu einem auf Wahrheit gerichteten Dialog unter Gesetzen der Vernunft zusammen.15 Dem widerspricht aber offenbar eine Unwilligkeit der von den dogmatischen Vorurteilen, der Tradition, der Klasseninteressen, der Machtpositionen oder den Leidenschaften »Gefangenen«, sich der Kraft des stärkeren Arguments zu unterwerfen. Ihnen allen erscheint die aufklärerische »regulative Idee« der gemeinsamen Menschheitsgeschichte entweder zu weißhäutig, zu männlich, zu akademisch, zu elitenhaft oder einfach zu naiv gefärbt.10 Die erzpragmatische Weisheit primum vivere, deinde philosophari macht somit das habermas'sche idyllische Gesprächsmodell zu einer unrealistischen Vorstellung, weil das wirkliche Gespräch von unten betrachtet anders aussieht: Diese Vorgaben überformen das aufklärerische Gespräch so stark, daß es angemessener wäre, von einem Bewußtseinskrieg als von einem Friedensdialog zu sprechen. Die Gegner stehen sich nicht unter einem in voraus vereinbarten Friedensvertrag gegenüber - eher in der Hallung von Verdrängungs- und Vernichtskonkurrenz; und sie sind nicht frei im Verhältnis zu den Mächten, die ihr Bewußtsein so und nicht anders reden lassen. (49)1 7 15. Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt/M, 1983, S. 47f. 16. Für eine eindeutige, wenn auch thesenformige feministische Kritik der Aufklärungsidee in deutschem Sprachraum vgl. Frederike Hassauer/Peter Roos, »Aufklärung: Futurologie oder Konkurs. Acht Behauptungen«, in Die Zukunft der Aufklärung, hrsg. von J. Rüsen, E. Lämmert und P. Glotz, Frankfurt/M, 1988, S. 40-47. Vgl. ebenso die etwas sorgfältiger argumentierten Beiträge von Renate Berger, Jutta Held und Ute Frevert, wie auch von Karl-Ernst Jeismann in demselben Band. Jeismann kritisiert die Aufklärungsidee aufgrund der unabdingbaren (und heute sehr aktuellen, würde ich hinfügen) »elementar partikularen Lebensbedürfnissen nach Geschichtsbemächtigung«. Für eine nützliche, theoretisch zugespitzte Zusammenfassung des ganzen Problems vgl. Linda Hutcheon, »Subject in/of/to history and his story«, in Poetics of Postmodernism: History, Theory, Fiction, London/New York, 1988, S. 158-177. 17. Für eine komplementäre Kritik der Sprechakttheorie, auf deren Grundlage das habermas'sche Gesprächsmodell bekannterweise beruht, vgl. Mary Louise Pratt, »Ideology and Speech Act Theory«, Poetics today, 1:7 (1986). Für ein alternatives, auf den ähnlichen kritischen Voraussetzungen aufgebautes Gesprächsmodell vgl. Barbara Herrnstein Smith, Contingencies of Value. Alternative Perspectives for Criticai Theory, Cambridge/London, 1988, vor allem »Value without Truth-Value«, S. 94-115. Die Historiographische Fiktion . 19 Vermutlich hat gerade diese Realität die Geschichtsschreibung dazu veranlaßt, die Hintergründe ihrer aufklärerischen »regulativen Idee« einer Prüfung zu unterziehen und ihr modernes strategisches durch ein post-modernes taktisches Verfahren zu ersetzen. Die Zwänge des akademischen Betriebs nämlich, in dem die Geschichtsschreibung seit dem 17. Jahrhundert haust, ließen sich nicht weiter verbergen. Und sie verwiesen darauf, daß der historiographische Diskurs, als ein unausweichlicher Promotions-, Legitimierungs- und Förderungsmechanismus der wissenschaftlichen Subjekte, auf einer Kreuzung von sozio-ökonomischen und symbolischen Systemen entsteht, wo die Fachhierarchie, die Geld- und Personalverteilung, die Ansehens-, Einfluß und Machtfragen ihren starken Anteil haben. Inwiefern wäre es berechtigt, in einem so hoch bedingten, mit Interessen und Wunschsetzungen beladenen Rahmen die universalistischen Geltungsansprüche zu erheben? Falls aber der historiographische Diskurs, angesichts seiner dargelegten und über längere Zeit sorgfältig verborgenen Parteilichkeit, keine Stellvertretung »des intentionalen Bestimmungsgrunds des vergangenen menschlichen Handelns« bzw. der Menschheitsgeschichte übernehmen dürfte, wäre er dann nicht dazu verurteilt, in die »Legenden und Mythen«, d.h. Fiktionen zu »versinken«, um dadurch unvermeidlich seine führende Rolle unter der Human Wissenschaften einzubüßen? Es interessiert mich hier aber kaum »a reassertion of that age-old theological assumption ... that without God one can have only the Void ... that without an absolute, eternally valid Order there is no order at all ... that in the end one always faces a choice between stable foundations and cosmic catastrophe«,18 - was bekannterweise eine Annahme ist, die in ihrer binär-unitärer Meinungsstruktur die hartnäckige institutionelle Verteidigung der aufklärerischen Idee der »Leistungsfähigkeit« und »Machbarkeit« vor allen Angriffen des »post-modernen Irrationalismus« verursacht hat. Die geschichtsschreibende Praxis der letzten Jahrzente hat meines Erachtens volkommen überzeugend nachgewiesen, daß die Geschichts- schreibung ihre Rolle des Königs des herrschenden Wahrheitsbegriffs für die Rolle des Kindes, das diesen König (sei es auch eher vortäuschend-listig als kindisch-naiv) entblößt, ausgetauscht hat. Für meine Zwecke scheint es folgerichtiger, das Bestehen der Anhänger der Aufklärungsidee auf der Diskursivität der Geschichtsschreibung zu verfolgen. »Das historische Erzählen«, schreibt Rüsen in seinem Beitrag zur Theorie der modernen Geschichtsschreibung, »ist vielmehr grundsätzlich und immer schon diskursiv, weil es als Sprachhandlung im Interaktionszusammenhang der menschlichen Lebenspraxis steht, für den argumentative Kommunikation 18. E.M. Henning, »Archeology, Deconstruclion, and Intellectual History«, in Dominick LaCapra and Stephen L. Kaplan, ed., Modern European Intellectual History. Reappraisals and New Perspectives, Ithaca/London, 1982, S. 177f. 20 Vladimir Biti konstitutiv ist.«19 Diese Angewiesenheit an den Interaktionszusammenhang der menschlichen Lebenspraxis darf keinesfalls als selbstverständliche Bedingung jeder sprachlichen Äußerung betrachtet werden, da es eine Reihe von Äußerungen gibt, die - um mit Bühler zu sprechen - innerhalb eines »empraktischen Zeigfelds« entstehend und ad oculos des Adressaten sich abspielend, sozusagen mimetisch auf die Wirklichkeit verweisen.20 Eine Äußerung soll allererst das entpragmatisierte »synsemantische Zeigfeld« erreichen, um ihre durch den vergangenen Sprachgebrauch eingewurzelte Gattungsangehörigkeit bewußtmachen und das Geistesauge des Adressaten anreden zu könen. Diesen Fortschritt von einer hauptsächlich sinnlichen Wirkung, die eine in die lebensweltlichen Vorgaben eingetauchte Gattung kennzeichnet, bis zur rationalen Wirkung, die einen ideologiekritisch eingestellten Diskurs auszeichnet, erklärt Rüsen folgendermaßen: Ohne explizite Theorien sind historische Erzählungen nur mimelisch. Ihre Anschaulichkeit und Plastizität verleihen ihnen einen ästhetisch-literarischen Wert, - ihre Begründungen aber bergen sie nicht in sich. Durch Theorien werden historische Erzählungen konstruktiv. Damit wird ihr mimetischer Charakter nicht aufgehoben, nur gehen ihre Anschaulichkeit und Plastizität zugunsten eines Gewinns an Trennschärfe und Präzision verloren ... (ZuS, 134) Daraus wird zumindest eines völlig klar: Eine Gattung wird mit dem mimetischen Charakter der Erzählfiktion, ein Diskurs mit dem rhetorischen Charakter der Geschichtsschreibung gleichgesetzt, also umgekehrt als bei der Narratologen, die die mimetische Neigung gerade der Geschichtsschreibung zuschreiben, und den ausgesprochenen Selbstbezug der Erzählfiktion. Dabei ist aber notwendigerweise die Auffassung der Gattung bei den Nar- ratologen und den »Aufklärern« nicht dasselbe. Für die Aufklärungs- nachfolger trägt eine Gattung etwas Unreflektiert-Eingebürgertes, Vergang- enheitsabhängiges in sich, was aber durch eine entsprechende Erkenntnistätig- keit ohre weiteres aufgehoben werden kann. Sie ist eine empirische Kategorie, die von Seiten eines verantwortlichen und zukunftsorientierten Subjekts diskursiv gemacht und dadurch transzendiert wird. Daher die beständige Verankerung des historiographischen Diskurses in einer verantwortlichen Subjektinstanz, während die Erzählfiktion gerade in diesem ethischen Sinne sich einer intersubjektiven Kontrolle entzieht. Darin ähnelt sie der benveniste'schen histoire, die wegen ihrer Einwurzelung in der Lebenswelt den Anschein erweckt, als ob die Ereignisse »selbst sprechen«. Die Aufklärungsnachfolger setzen, mit einem Wort, die Gattung der subjektlosen histoire gleich. Für sie wäre also mimetische Neigung eher als platonisch 19. Jörn Rüsen, »Narrativität und Modernität in der Geschichtswissenschaft«, in Pietro Rossi, hrsg., Theorie der modernen Geschichtsschreibung, Frankfurt/M, 1987, S. 234. 20. Vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie. Darste/Iungsfunktion der Sprache, Stuttgart, 21965, S. 81. Die Historiographische Fiktion . 21 aufzufassen, d.h. als Ergebnis eines Unreflektiertseins, denn als aristotelisch, d.h. als Ergebnis eines strategischen Plans, der die Allgemeinheit und Welt- haltigkeit versichert. Das letzte Merkmal behalten sie für den discours oder diegesis bei. Anders die Narratologen, die die Gattung vielmehr der benveniste'schen langue bzw. den unausweichlichen Typisierungs- und Konventionalisierungs- mechanismen jedweder Sprache gleichsetzen, die als konstitutive Bedingungen jeder in ihrem Rahmen vollzogenen Bedeutung fungieren. Diskursiv vorgehen hieße dann, nach einer Art und Weise zu suchen, die dem Subjekt dazu verhelfen könnte, dieses gesellschaftlich errichtete Gesetz zu umgehen, die zugewiesenen Subjektpositionen abzulehnen, sich aus dem »Gefängnis der Sprache« zu befreien und eine außensprachliche Origo anzudeuten.21 Daher die Abwesenheit jeder verantwortlichen Subjektinstanz im Diskurs und daher seine Gleichsetzung mit der Erzählfiktion. Die Kreuzung der unterschiedlichen Auffassungen von Gattung und Diskurs, und damit von dazugehörigen Gegensatzpaaren wie Mimesis/Diegesis, Sinn- lichkeit/Vernünftigkeit, Freiheit/Verantwortung, Vergangenheit/Zukunft, Lebenswelt/geschichhtliche Welt usw. warnt davor, die Frage der Beziehung zwischen Geschichtsscheibung und Erzählfiktion anhand der bestehenden theoretischen Maßstäbe für mehr oder weniger beantwortet zu halten. Wie vor kurzem Suzanne Gearhart hervorhob: »The importance of the question goes beyond one or two disciplines to affect our understanding of the broader context of contemporary theory as a whole. The question of this particular boundary is most often a background issue in debates concerning the status of language, perception, memory, culture, reason, and the subject, as well as in the definition and practice of the various disciplines that take these terms as objects of inquiry.« (8) 21. Benveniste hat sich dazu übersichtlich und eingehend in »La Forme et le sens dans le langage«, in Le Langage. Actes du XIII" congrès des sociétés de philosophie de langue française, Neuchâtel, 1967, geäußert.