Pietro Kobau Welches Interesse haben wir an einer aufklärerischen Ästhetik ? Heutzutage scheint der Begriff »Ästhetik« zu viele Bedeutungen zu haben: heutzutage versieht die Ästhetik Argumentationen, die sich gar nicht mehr auf das fast-unbegrenzte Wort »Kunst« beziehen, sondern die wegen ihrer Bestre- bung zur Vollständigkeit fast-tautologisch zu sein scheinen (man denke nur an die postmodemistischen Ausfuhrungen über die »Ästhetisierung«). Die Ästhetik scheint auf alles hindeuten zu können und an ein Ubermaß an Rechtmäßig- keit zu leiden. Selten wird ein Versuch gemacht, jene historischen Begründun- gen herauszufinden, die die Ästhetik auf so wirkungsvoller Weise - vielleicht sogar zu wirkungsvoll - mitlegitimiert haben. Wenn diese heutige Situation unbefriedigend ist, wäre es vielleicht angebracht, auf jenen Augenblick zurückzugreifen, der die erste Gelegen- heit für diese Disziplin dargestellt hat. Das Moment der Gründung der Äs- thetik in den Absichten der Schulphilosophie besitzt in der Tat nicht nur den Reiz eines Anfangs (der noch offen für Ausführungsweisen ist, die sich von dem tatsächlich befolgten Weg unterscheiden), sondern auch den zweideu- tigen Reiz eines Projekts, das möglicherweise jenseits oder sogar gegen sei- ne ursprünglichen Absichten ausgeführt worden ist. Man will also damit folgendes sagen: angenommen, daß sich die Aufklärung je eine Ästhetik wie die gegenwärtige gewünscht habe (die sich mittlerweile wegen deren tota- lisierenden Bestrebungen in Verlegenheit ist), so hat sie sie aber unter ei- ner bestimmten Bedingung verlangt. Nach den Worten Baumgartens, heißt es also: die Ästhetik bleibt vorwiegend »die Wissenschaft der sinnlichen Er- kenntnis«; sie ist ein methodisches Mittel, eine notwendige Ergänzung der Logik. Zudem wird der oft darunter (nicht unbedingt im künstlerischen Sinn) verstandene Begriff der Schönheit nicht von unseren - weder ir- rationellen, noch ausgleichenden, noch kritischen - Interessen gedacht oder gesteuert. 1. Wohin gehört die Philosophie der Kunst ? Nach langen und mühseligen Vorarbeiten veröffentl icht der Rest Fenner Verlag im Jahre 1845 in London die Encyclopaedia Metropolitana. Die Filozofski vestnik, XX (2/1999 - XIVICA Supplement), pp. 25-35 25 Pietro Kobau Gründe des Projekts dieses Werks sind im passenden Treatise on Method ent- hal ten , das h ier gemeinsam Coleridge u n d e inem bes t immten Doktor Stoddard zugeschrieben wird, während in den darauffolgenden Ausgaben allein Coleridges Name erscheint. In Wirklichkeit täuscht die Ausführung dieses enzyklopädischen Projekts seine ursprünglichen Absichten: die Ur- schrift des Treatise on Method, die Coleridge im Jahre 1817 für einen münd- lichen und schematischen Bericht für den Verleger der Encyclopaedia ent- worfen hatte, unterscheidet sich von der in der Encyclopaedia selbst enthal- tenen Ausgabe, insbesondere dort, wo es um die Regulierung der systema- tischen Struktur des Werks geht. Der Unterschied ist letzten Endes nu r einer, j edoch grundlegend; Coleridge hatte in der Tat eine Dreiteilung vorgesehen, u.z: 1) reine Wis- senschaften (die sich auf die »Relation of Law« stützen und sich mit der kantischen Welt der Ideen befassen, die die Vernunft innerhalb der Gram- matik, der Logik, der Mathematik, der Ethik, der Metaphysik und der Theo- logie erkennen kann), 2) angewandte Wissenschaften (die sich auf die »Re- lation of Theory« stützen, die die Vernunft durch die Beobachtung der Welt der Phänomenen erkennen kann) und 3) schöne Künste (die sich auf die »Relation of Taste« stützen und die als Mittelwelt zwischen den anderen beiden Bereichen dienen) . Die Encyclopaedia ist stattdessen vorwiegend in eine zweiteilige Struktur aus reinen Wissenschaften und angewandten Wis- senschaften gegliedert, u n d die schönen Künste f inden ihren Platz eben un te r den letzteren (als angewandte Wissenschaften gelten also Poesie, Malerei, Musik, Bildhauerei, Architektur; beachtlich ist es, daß die Poesie an der Spitze steht und durch die Psychologie eingeführt wird). Es ist deut- lich zu erkennen, daß der Unterschied nicht äußerlich ist; dies führ t uns direkt zum Problem der Rechtfertigung einer Wissenschaft der Kunst, be- sonders im Rahmen einer allgemeinen Gnoseologie und Methodologie. Im Versuch dieser untreuen Wiedergabe des Projekts von Coleridge eine Erklärung zu geben, würde man vorab versucht sein, sie durch die Wandlung des intellektuellen Klimas zu rechtfert igen. Gesagtes Klima - könnte man leicht sagen - übereinstimmte ursprünglich mit der von Kant abgeleiteten Romantik und wandelte sich später in eine wesentlich positivi- stische Atmosphäre um. Sehr gut zu verstehen ist darum die große Zahl Jener, die sich für diese Erklärung ausgesprochen haben. Abgesehen von unserer Befürchtung bei der Benutzung solcher unhandlichen Begriffe wie »Romantik« und »Positivismus« f inden wir j edoch Gründe genug, um eine andere Interpretation zu versuchen. Der Grund ist ganz einfach chronik- artig: die un t reue Wiedergabe von seiten des Verlegers ist nicht postum gewesen; in anderen Worten, der Verleger hat nicht auf Coleridges Tod und 26 Welches Interesse haben wir an einer aufklärerischen Ästhetik ? auf eine Änderung des kulturellen Klimas gewartet. Coleridge hat tatsäch- lich seine Beziehungen zum Verleger in der Zeitspanne zwischen dem 7 April 1817 (Tag an dem der erste schematische Bericht der Treatisestattgefunden hat) und den Dezember des gleichen Jahres abgebrochen; ferner, während Fenner schon im Januar 1818 privat einige vereinzelte Kopien des »neu aufgearbeiteten« Manuskripts veröffentlicht, bringt Coleridge im gleichen Jahr seine eigene - zwar auch »neu« aber nach dem ursprünglichen Ansatz erarbeitete - Version, unter dem Titel Essays on Method (nach der neuen Veröffentlichung von TheFriend). Diese chronologische Unmittelbarkeit des Streites zwischen Coleridge und Fenner hilft uns zu verstehen, was wirklich geschehen ist. Kurz gefaßt kann man behaupten, daß ab sofort eine rein theoretische Alternative an- geboten wurde: einerseits bietet man die Bestimmung der Wissenschaft der Kunst als Teil der offenen Gesamtheit der angewandten Wissenschaften, wobei j e d e davon eine empirische Rechtfert igung genießt, während die Notwendigkeit eines methodischen (transzendentalen, könnte man auch sagen) Fundaments ausschließlich der geschlossenen u n d au tonomen Ge- samtheit der reinen Wissenschaften vorbehalten bleibt. Andererseits steht eine Wissenschaft da, die zur gleichen Zeit spezifisch und allgemein ist, da sie zwischen den reinen und den angewandten Wissenschaften methodisch vermittelt, indem sie sich insbesondere auf die Psychologie bezieht. Gera- de darum hätte sich diese zweite Wissenschaftsart eher den Namen von »Ästhetik« verdient, als jene , die technisch beschränkte »Wissenschaft der Kunst«. Es stehen nun zwei Lösungen zur Verfügung, um j e n e Lage deutli- cher zu erläutern, die auf keinen klimatischen Wechsel im Universum der Ideen warten mußte, um zustande zu kommen. Überdies hat das Interesse an dieser Lage nicht ausschließlich historiographische Gründe, da heute das Problem einer methodischen Rechtfertigung der Ästhetik eher beiseite ge- legt als befriedigend gelöst zu sein scheint. Der erste Weg nach einer Lösung wäre auf der Geschichte der Ideen zu beharren - j edoch auf eine synchronische Weise - und das Bild um den Streit zwischen Coleridge und Fenner zusammenzustellen. Zwar wäre die- ser Vorgang sehr aufschlußreich, aber auch problematisch, insbesondere was Coleridge betrifft; in der Tat, obwohl er au fondein sehr systematischer Autor ist (und das Treatise beweist es), ist er gleichzeitig auch sehr eklektisch in seinen allgemeinen Hinweisen, und daher gerade an j e n e n Stellen um so unklarer, wo er sich für unser Vorhaben mehr interessant beweist. Besten- falls würden wir uns also wieder vor der Wahl befinden, die vom Verleger mit der Hilfe von Doktor Stoddard gewaltsam aufgelöst wurde. 27 Pietro Kobau Der andere Lösungsweg stützt sich auf einen Anhaltspunkt, der in den ersten Zeilen des Treatise beinhaltet ist. An dieser Stelle erläutert Coleridge, daß der Begriff »Enzyklopädie« mittlerweile dermaßen vertraut geworden ist, daß es nicht m e h r nötig sei, den Sinn von einem »Kompendium des menschlichen Wissens« zu verdeutlichen; gleichzeitig klagt er j edoch über die Tatsache, daß man nie dazugekommen sei, ein solches Kompendium mit einer methodischen Struktur auszustatten, bzw. daß die wenigen Versuche in diesem Sinne mißlungen sind, weil man nicht genügend über die metho- dische Prinzipien des Wissens nachgedacht hat. Es handelt sich dabei offen- bar um eine solcher typischen Lügen, die stillschweigend von Verlegern und Autoren zusammen ausgedacht werden, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu gewinnen, indem man seine Unwissenheit zuerst ausnutzt u n d später heilt. Heute würde man sie als »trügerische Werbung« bezeichnen. Es is t ja schließlich das Jah r 1817, in dem Hegel in Heidelberg die erste Auflage seiner Enzyklopädie zu Lichte bringt, d.h. jenes Werk, das gleichzeitig sowohl der letzte Schrei nach der kantischen methodischen Reform im Bereich der Spekulationen über den philosophischen Systematismus als auch eines der letzten Beispiele von Handbüchern darstellt, die für eine veraltete Disziplin gedacht sind, die noch ihrer propädeutischen Funktion wegen in den deut- schen Universitäten gelehrt wird. Auf j edem Fall kann es hin und wieder nützlich sein, solche kleinen harmlosen - oder sogar in bester Absicht gedach- ten - Lügen nicht hinauszuschieben, so wie es sich manchmal lohnt, eine rhetorische Frage ernst zu nehmen. Und das ist es auch, was wir jetzt versu- chen werden, indem wir Coleridges erste (unhaltbare) Behauptung demen- tieren werden. Wir werden zeitlich rückwärtig handeln, indem wir zumindest die wichtigsten Momente in Betracht nehmen werden, die hinter dem Pro- blem der Anordnung einer Ästhetik, bzw. einer Wissenschaft der Kunst, in- nerhalb einer methodisch strukturierten Enzyklopädie stehen. 2. Die Ästhetik als Technik Zahlreiche interessante Dement i von Coleridges Behaup tung sind während der Zeit der Aufklärung zu finden, und sollte das Hauptziel der Encyclopaedia Metropolitana sein, eine Antwort auf den Empirismus und auf den Skeptizismus der französischen Enzyklopädisten zu geben, desto mehr lohnt es sich, sich der deutschen Schulphilosophie zuzuwenden. Aus verschie- denen Gründen sehr interessant finden wir hier in erster Linie die Entschei- dung Wolffs, der die Philosophie der Künste innerhalb seines Wissenssystems stellt. 28 Welches Interesse haben wir an einer aufklärerischen Ästhetik ? In dem Discursus praeliminaris dephilosophia in genere, das der Logica des Jahres 1728 vorgesetzt wurde (das Werk war schon im Jahre 1713 im Vor- wort der Deutsche Logik vorweg bekanntgegeben, da der Autor die Absicht hatte, seine Gedanken auch außerhalb Deutschlands zu verbreiten) - in dem Discursus praeliminaris also, nachdem Wolff das philosophische Wissen als Kenntnis der Gründe des Seins, bzw. des Geschehens beschreibt, und nach- dem er es vom mathematischen und historischen Wissen unterscheidet (ob- gleich er davon Gebrauch machen wird), legitimiert Wolff sogleich die Philosophia juris, medicinae, artium (§ 39). Diese Formulierung werden wir nun näher betrachten. An erster Stelle, vom Standpunkt des herkömmlichen philosophischen Gemeinsinnes gesehen, scheint Wolffs Rede von Philosophie der Kunst zu- gleich geeignet und ungeeignet. Geeignet ist sie zwar aus einer rein termi- nologischen Perspektive, unter der Bedingung aber, daß man Wolfis »Kün- ste« nicht zu eng mit Coleridges - oder der »gegenwärtigen« - »Kunst« ver- gleicht. Wolff redet nicht von Kunst im Sinne einer aus anthropologischen Gründen bestehenden Entität, und schon gar nicht im Sinne eines außer- ordentl ichen auf dem metaphysischen bzw. antimetaphysischen Horizont aufgestellten Wesens; er benutzt auch nicht das Wort »Kunst« als Sammel- name für ein »System der schönen Künste«, oder im Sinne einer »ästheti- schen Kunst«, nach der Benennung von Odo Marquard. Er spricht im all- gemeinen von techne und schließt von diesem Horizont die Frage des Schö- nen als grundlegend aus. Er zielt also auf die philosophische Angliederung der Technica, bzw. der Technologia (§ 71); dementsprechend, damit keine Zweifel übrig bleiben, in der Anmerkung bezüglich auf den erwähnten § 39 bringt er das Beispiel der Kunst des Holzhackers an; er führ t erst im § 40 sein - in anderen Fällen - sehr geliebtes Beispiel der Architektur an, das sonst irrtümlicherweise an eine Vorliebe für die schönen Künste glauben lassen würde. Daraus kann man schon eine erste wichtige Überlegung er- zielen, und zwar, daß es nicht nötig ist, den Anbruch des Positivismus abzu- warten, um der Rechtfertigung einer Philosophie der Kunst zu begegnen, die als Philosophie der (offenen) Gesamtheit der Techniken betrachtet wird, inbegriffen jener, die sich mit der Bearbeitung des Schönen befassen. Es ist kein untreues Verhalten notwendig, wie das eines Verlegers gegenüber der Tiefgründigkeit eines Coleridges; stattdessen genügt schon das Ersuchen nach der Angliederung eines ultratraditionellen Begriffs wie techne oder ars an die Frage der Methode. Indem Wolff die Methodisierung der verschie- denen Arten vom Wissen verfolgt, anstatt sich an ein Paradigma zu wenden, das die Wissenschaft und die Technik - auf Grund der Anwendungs-Bezie- hung eines theoretischen bzw. reinen Wissens - voneinander unterscheidet 29 Pietro Kobau und zusammen verbindet, wendet sich Wolff an ein psychologisches Muster, das der Schöpfung des künstlichen Wissens recht gibt und dem es gleich- gültig ist, ob dieses künstliche Wissen als theoretisch oder als praktisch de- finierbar ist. In der Tat, stellt Wolff das Problem der Methode in der glei- chen Weise wie j enes der Bildung und der Fortbi ldung der natür l ichen Fähigkeiten des Menschen. Im Kapitel »De Dispositionibus naturalibus & Habit ibus intellectus«, das der erste Teil der Psychologia empirica (1732) schließt, setzt er in diesem Sinne eine Unterscheidung zwischen den natür- lichen Fähigkeiten (oder Begabungen) der Seele und deren mit der Übung gewonnenen »Anlagen« fest. Letzere unterscheiden sich wiederum in »Leh- ren« oder »Künste«, j e nachdem sie sich auf theoretischer oder praktischer Weise entwickeln. Wichtig ist aber, daß diese Unterscheidungen keinen ontologischen Unterschied zwischen Natur (die psychologischen Fähigkei- ten) und Kunst (das erworbene und methodisierte Wissen) bedeuten. Wolff setzt vielmehr seine Gedanken fort, indem er unterschiedliche psychologi- sche Anlagen mit unterschiedlichen disziplinbezogenen Bereichen in Ver- b indung bringt. Wir bef inden uns hier vor einem argumentativen Muster, auf dem zahlreiche Versuche einer methodischen Reform des Wissens- systems nach Wolffs Beispiel un te rnommen worden sind; d.h. also daß wir uns vor einer Strategie befinden, die besserungsfähige und disziplinierbare psychologische Fähigkeiten unzertrennlich mit enzyklopädischen Bereichen zusammenknüpft , die geschichtlich schon in (theoretischen oder prakti- schen) Wissenschaften zusammengestellt werden können, aber auch nicht. Ferner wird gerade in diesem Kontext von Wolff eine erste Verbindung zwischen der Überlegung über das Schöne und der Überlegung über die Gesamtheit der besonderen Künste (immer gleich Techniken) durchge- führt , die das Schöne als Gegenstand haben. Stets in der Psychologia empirica gibt es ein weiteres Argument, den »Experten der Künste« gewidmet, wor- über nachzudenken ist. Vor allem behauptet Wolff (§ 531), daß solche Ex- perten besser in der Lage seien, die Vollendung eines Werks zu entblößen und zu »messen«, und darum besser in der Lage seien, auch an den Kunst- griffen dieser Werke Genuß zu finden. Die Fähigkeit sich (natürlich u n d un- mittelbar) über ein schönes Werk freuen zu können wächst also im gleichen Schritt mit der (technisch und methodisch vermittelten) Fähigkeit ein schö- nes Werk herzustellen, da es sich auch hier darum handelt , die Schönheit bewerten zu können. Solche Bewertung steht gleichermaßen an der Basis sowohl vom »Kennen« als auch vom »Handeln«. Man kann also behaupten, daß an der Basis einer »Wolffschen« Ästhetik das Thema des »bewerten können« steht; diese Fähigkeit ist zwiefältig, weil sie gleichzeitig theoretisch u n d praktisch ist. Da sie ein Wissen ist, stellt sie sich einem continuum ent- 30 Welches Interesse haben wir an einer aufklärerischen Ästhetik ? lang, das von der unreflektierten Wahrnehmung der Vollendung des Schö- nes bis hin zur Kenntnis ihrer Gründe (ergo zu einer vollkommen philoso- phischen Kenntnis) hinüberstreckt. Gerade an dieser Stelle fügen sich dann verschiedene Vollziehungen des gleichen Projekts einer philosophischen Enzyklopädie ein, innerhalb deren auch andere Varianten der Gründung einer Ästhetik stattgefunden haben (man kann hier z.B. an Gottsched, oder an Bodmer und Breitinger denken) . Aber erfolgreicher sind gerade j e n e Versuche gewesen, die, indem sie diese doppel te theoretisch-praktische Gliederung jedes Wissens für offenbar (bzw. allzu offenbar) hielten, das Fundament einer Ästhetik vor allem (wenn nicht sogar ausschließlich) in der theoretischen Seite gesucht haben. 3. Die Ästhetik als Logik Baumgartens größtes Verdienst liegt - mehr als in seinen spekulativen Leistungen - in seiner gut gelungenen disziplinaren und zugleich didakti- schen Reform-Initiative. Als er einundzwanzig Jahre alt war, hatte er schon eine neue Wissenschaft entworfen, die nützlich sein sollte, um den traditio- nellen Streit zwischen Philosophie und Poesie neu zu schlichten; später, in der Mitte des 17. Jahrhunder ts hat er diese Wissenschaft als erster an einer Universität gelehrt; schließlich hat er 1750 ein Handbuch veröffentlicht, das zum ersten Mal den Titel Aesthetica trug. Baumgartens Ästhetik ist zwar sicherlich das Ergebnis einer enzyklo- pädischen Ausbesserung, die nach einem schon vorgezeichneten Weg ent- wickelt wurde, doch stützt sich dieses Werk auf einem begriffsmäßigen Vor- schlag, der eine zweite Lesung wert ist. Kurz gefaßt, zielte Baumgarten auf eine Lehre des Schönen ab, die im poetischen und überhaupt künstlerischen Bereich anwendbar sein konnte, doch wünschte er sich vor allem - und diesem ersten Zweck dienend - eine Ästhetik, die ein unverzichtbarer Teil der Erkenntnistheorie sein sollte. Er dachte an eine Wissenschaft, die die Art und Weise durchforschte, durch die unsere Sinne die Dinge zur Kennt- nis nehmen und durch die diese Kenntnis zur Vollendung geführ t werden kann. Später folgten dann - bei anderen mehr oder weniger von ihm ab- hängigen Autoren - die Wissenschaft des Geschmacks, der Gefühle . . . Weit entfernt bleibt also die Philosophie der Kunst im Sinne Wolfis, und das hat zwei Gründe: weil Baumgartens Ästhetik weder der Kunst als Art der Technik noch dem Thema der Schönheit als ein - innerhalb der allgemei- nen Technologie - der Kunst umschreibendes Thema angewendet werden kann. Um diese Stelle besser betrachten zu können, müssen wir einen weite- 31 Pietro Kobau ren Aspekt der Struktur der Wolffschen Enzyklopädie analysieren. In der Tat muß Baumgarten für entscheidend empfunden haben, daß ein in der Über- lieferung als ontologisch betrachtetes Problem (d.h. das Thema der »Vollen- dung« der Dinge, von der die Schönheit eine Art ist) bei Wolff rechtmäßig Platz in einer Psychologie findet. Wolff befaßt sich in diesem Kontext mit der Schönheit, indem er sich vor allem auf unsere Neigung ihr gegenüber kon- zentriert, und das auf eine Weise, die man fast phänomenologisch bezeich- nen könnte. Daraus geht folglich hervor, daß das Vergnügen, das man vor der Vollendung empfinden kann, nicht unbedingt von einem auf bewußter und korrekter Weise argumentierten Urteil vermittelt werden muß. In der Tat (Psychologia empirica § 510), wenn man die bewiesene Vollendung bezüglich auf ein Objekt als »wahre Vollendung« betiteln kann, ist es dann gestattet bei j ede r Schönheit , die wir - möglicherweise wegen eines unbewußten Fehlers - irgend einem Objekt zuschreiben, von »scheinbarer Vollendung« zu reden. Es folgt somit (§ 511), daß der Genuß eine intuitive Erkenntnis einer sowohl wahren als auch anscheinender Vollendung ist. Wichtig scheint hier insofern zu sein, daß Baumgarten in seiner Grün- dung der Ästhetik ganz und gar auf die Entwicklung eines Paradigmas ver- zichtet, das zwischen der phänomenologischen (bzw. gnoseologischen) und der ontologischen Ebene (nach dem »Anscheinend/Wahr«-Paradigma) vermittelt, und sich stattdessen eines rein erkenntnistheoretischen Paradig- ma bedient. In den Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus (1735) erkennen wir tatsächlich eine Umschreibung der wichtigsten Kenntnisse der klassischen Poetik, doch liegt der von den Meditationes bis zu der Aesthetica fast unberühr t durchlaufende und entscheidende Bestandteil in der engen E n t s p r e c h u n g zweier (die e ine gnoseologische , die a n d e r e disziplin- bezogene) Entgegensetzungen: »Sinn vs Verstand« u n d »Poesie vs Philoso- phie«. Wenn man den allgemeinen methodischen Wert der Meditationes betrachtet, müßte also die in den ersten Absätzen vorgeschlagene Lösung stark auffallen; sie sieht nicht nur die Erwerbung des traditionellen poetischen Wissens für den Philosophie-Bereich sondern auch die notwendige Gründung einer Ästhetik innerhalb der Erkenntnistheorie vor. In anderen Worte, noch wichtiger als die Methodisierung der Poetik gilt die Tatsache, daß Baumgar- ten dessen Objekte thematisiert und bestimmt, indem er sie in den von den poetischen Werken bedeuteten »sinnlichen Vorstellungen« auffindet - zusam- men mit ihrer besonderen »Vollendung« (die »extensive Klarheit«). Im Be- zug auf den Erkenntniswert besagter Vorstellungen beteuert Baumgarten wieder mit einer Leibnizschen Terminologie die aristotelische These, nach der es nicht möglich wäre, ohne Bilder denken zu können: der Mensch be- sitze insofern kein - egal wie stark formalisiertes - Wissen, das an keiner Stel- 32 Welches Interesse haben wir an einer aufklärerischen Ästhetik ? le eine »verworrene Erkenntnis« bzw. irgendeine »sinnliche Idee« einschließt. Eine als unvermeidbare Grenze postulierte (psychologische, anthropologi- sche) Sachlage wird demzufolge das Fundament für die (logische, methodi- sche) Erläuterung des Objekts der »sinnlichen Rede« (§ 7), d.h. j ener Rede, die sich grundsätzlich nach der sinnlichen Erknntnis orientiert. Je größer ist die Zahl der sinnlichen Elemente in einem Diskurs, und desto vollendeter ist die dadurch intendierte sinnliche Erkenntnis (§ 8). In den letzten drei Absätzen der Meditationes spitzt sich die Situation sogar zu: die traditionell konfliktgeladene Beziehung zwischen Philosophie und Poetik (oder Rhetorik) wird zu einer der Philosophie internen Proble- matik, zu einer (methodisch regulierbaren) Beziehung zwischen zwei phi- losophischen Disziplinen: die Ästhetik und die Logik. Baumgarten schlägt dementsprechend die Ergänzung der »Logik« - im ihren traditionellen und allgemeinen Sinne - mit einer Ästhetik vor (§ 115), damit auch der Bereich der von den Sinnen versorgten Erkenntnis darin miteinbezogen wird. Nach- dem er sich für die Nützlichkeit gesagter Ergänzung ausgesprochen hat, schlägt er ferner vor, dabei die Psychologie methodisch zu verwenden; nur wenn man sich hauptsächlich auf diesem Fundament stützt (§ 116), kann man sich erfolgreich in der Erkenntnistheorie auf die klassische Unterschei- dung zwischen aistheta und noeta berufen. Doch, auch wenn wir diesen Vorschlag einer völlig methodischen (und sogar extrem gnoseologischen) Gründung der Ästhetik annehmen möch- ten, bleibt ein Problem ungelöst . Auf dem Kantianismus u n d auf die Phänomenologie beruhend würden wir in der Tat j eden Vorschlag fü r un- annehmbar halten, der die Stützung einer exakten Methode auf eine (im- mer empirische) Psychologie beabsichtigt. Ferner scheint diese Gründung an einem Zirkularitätsfehler zu leiden: die (in der Absicht) gründende (und förmlich universale) Methode stützt sich hier auf einem positiven Lehrkern (d.h. auf eine Gnoseologie wie die Leibnizsche, die sich auf dem Lehrsatz der Kontinuität der Wahrheitsgraden beruht) . Gerade diesen Fehler, der das ganze Wolffsche System betrifft, scheint Kant zu unterstreichen, als er in seiner ersten Kritik (»Vorwort«) deutlich zwischen der positiven Wirkung von Wolffs formalen Methode und dessen Dogmatismus unterscheidet —wobei er in der Tat auf die Unterscheidung zwischen empirischen u n d transzen- dentalen Methoden achtgibt. 33 Pietro Kobau 4. Die Psychologie verfügt über eine Methode Um den disziplinaren Sinn der »philosophia instrumentalis« - die Gesamtheit der Instrumente des Verstands, die systematische Sammlung der Erkenntnisvorschriften - leichter verstehen zu können, wo sich nach der Schulphilosophie sowohl die Ästhetik als auch die Logik aufstellen, müßte man sich fragen, warum sich das Wolffianismus so unbedarfterweise der Beschul- digung ausgesetzt habe, es hätte eine Art von »Psychologisierung der Logik« durchgeführ t - nach dem berühmten vom Idealismus geprägten Ausdruck. In der Tat zielt die Schulphilosophienicht auf die Bildung einer »reinen« Logik ab, die frei von pragmatischen Absichten bzw. anthropologischen T h e m e n ist; sie konzentriert sich vielmehr immer auf die Vervollkommnung der tat- sächlichen Benutzung j e n e r Techniken, die für die Entdeckung u n d die Bewertung der positiven Wahrheiten nützlich sind. Ihr Ziel ist geradezu der optimale Ablauf von Beobachtungs-/Versuchs- und Gesprächsverfahren, die im voraus als wissenschaftlich angenommen werden. Auch aus diesem Ge- sichtspunkt geht die aufklärerische Bestimmung der Methode nicht von einer Differenzierung zwischen (reine) Theorie und Praxis, sondern von j e n e r (aristotelischen) These aus, nach der die Kenntnis sowohl in der Pra- xis als auch in der Theorie immer aus einem Verfahren besteht; u n d nach dieser Voraussetzung kann die Benutzung psychologisch-anthropologischer Inhalte in einer »philosophia instrumentalis« weniger problematisch ausse- hen. Man will hiermit bestimmt keine disziplinare Reform (oder Gegen- reform) vorschlagen, doch scheint zumindest ein Grundbestandtei l der »philosophia instrumentalis« eine erneute theoretische Debatte wert zu sein. Das erkenntnistheoretische Thema der tatsächlichen und rechtmäßi- gen Notwendigkeit der »sinnlichen Vorstellungen«, auf dem Baumgarten seine philosophische Ästhetik gründet, stellt nicht nur das (Leibnizsche) Ergebnis einer Kritik gegenüber Descartes' Gnoseologie dar (weitere Kriti- ken sind übrigens auch von Locke, Thomasius, u.a. geübt worden); es be- inhaltet und verstärkt auch eine Voraussetzung, die sowohl von den Befür- wortern als auch von den Gegnern von Descartes gebilligt wurde. Kurz for- muliert heißt es, daß die Psychologie über eine methodische Funktion ver- fügt, weil sie in der Lage ist über die gründliche Gliederung von Ontologie u n d Gnoseologie Rechenschaft ablegen zu können. Vielmehr: sie ist die einzige Disziplin, die sich in solcher so günstigen Lage befindet. Im Grun- de genommen könnte man die ganze methodologische Debatte des Ratio- nalismus als eine Fortsetzung der in der Regula X/ /enthal tene Problematik verstehen, wo Descartes sich gezwungen sieht, ein psychologisches (bzw. 34 Welches Interesse haben wir an einer aufklärerischen Ästhetik ? sogar psychophysiologisches) Paradigma in eine Abhand lung übe r die Methode einzufügen. Indem es auf die Fragen antwortet, was Verstand und Körper sind, und wie der Geist den Körper informiert, beantwortet gesag- tes Muster in Wirklichkeit eine viel allgemeinere Frage: j e d e Kenntnis - sowohl die natürliche, als auch die methodisierte und formalisierte - wird in der Tat auf das Sein durch eine psychologische Vorrichtung zurückge- führt , die seinerseits notgedrungen eine ästhetische Vorrichtung impliziert. Die Tatsache, daß sich Descartes in der Regula XIIverpflichtet sieht, dem De anima eine Antwort zu geben und dabei dessen Paradigma der »tabula rasa« zu bewahren und zu bearbeiten, hat damit zu tun, daß dieses Thema übli- cherweise benutzt wird, um die Verdoppelung der »äußerlichen« Welt in einer »inneren« Welt zu beschreiben. Diese Verdoppelung, bzw. Trennung, ist seinerseits Muster und Metapher des Unterschieds zwischen »das, was es gibt« und »das, was erfahren wird«, zwischen dem Bereich der Dinge, die ganz schlicht existieren, und dem Bereich des Wahren und des Falschen. Natürlich - man hat es sofort festgesetzt - gehören »außen« und »innen« zu einer Metapher, denn es ist begriffsmäßig sehr problematisch, »das, was es gibt« als »das Außere« und »das, was erfahren wird - wahr oder falsch« als »das Innere« zu bezeichnen. Doch der Versuch, diese Metapher in ei- nen Begriff umzuwandeln, hat während der ganzen modernen Debatte über die Methode (zumindest bis zum Idealismus) eine zentrale Rolle gespielt. Schon Bacon drückte es wie folgt aus (Novum Organum, »Vorrede«): die Methode dient zur »Wiederherstellung, bzw. Verbesserung j ene r Beziehung zwischen dem Verstand und den Dingen, die auf der Erde, bzw. zwischen den irdischen Dingen, nichts seinesgleichen hat«. Es scheint nun schwer zu behaupten, daß diese philosophische Arbeit an der Metapher der zwei Welten (die äußere und die innere) diese Meta- pher völlig abgenutzt hat, u.z. eine Metapher, aus der die aufklärerische Ästhetik entstanden ist, und derer Bestimmung als »einfach psychologische« nie überzeugend sein kann. Doch, wenn auch dies der Fall wäre, bliebe trotz- dem eine Grundalternative: entweder beruht die Ästhetik vor allem auf der allgemeinen (sicherlich sehr abstrakten und unoriginellen) Problematik der Beziehung zwischen dem, was es gibt, und dem, was wir kennen, oder sie wird von einem besonderen Objekt bestimmt, das man ihr äußerlich zuteilt. In diesem Falle, würde man ihr jedoch die Rolle einer Technik oder (be- stenfalls) einer angewandten Wissenschaft zuschreiben - und das unabhän- gig davon, ob sie sich darüber bewußt ist, oder ob gesagtes Objekt ein gro- ßes Ansehen genießt. 35