UDK 821.112.2(494)-31.09Hug A. UDK 821.112.2(=161.1)-31.09Bronsky A. ZWISCHEN ABWEICHUNG UND STEREOTYP: DIE GROSSMUTTERFIGUR IN DEN ZEITGENÖSSISCHEN DEUTSCHSPRACHIGEN ROMANEN LADY BERTA VON ANNETTE HUG UND DIE SCHÄRFSTEN GERICHTE DER TATARISCHEN KÜCHE VON ALINA BRONSKY Barbara Jesenovec Abstract The goal of the following contribution is to analyse the image of the grandmother in two modern German-language novels Lady Berta by Annette Hug and Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche by Alina Bronsky. The paper starts with presenting the historical and cultural development of the grandparent concept with special emphasis on the changing of traditional social role of the grandmother. This historical and sociological background functions as a basis for the following literary analyses of the grandmother's image and representation in the two contemporary novels of Hug and Bronsky. The comparison detects, as suggested by the title, that in spite of the deviations of the grandmother figures the traditional and stereotyped image prevails in the expectations of the granddaughters as well as the readers. Key words: grandmother, traditional image of grandmother, modern German novels EINFÜHRUNG Wer kennt sie nicht? Die Oma mit den weißen Kräusellocken und dem selbst gebackenen Kuchen. Zärtlich, süß nach Lavendel duftend, ihr Gesicht zwar runzlig, aber mit rosigen, weichen Wangen, ein Inbegriff der Liebe und der Fürsorglichkeit, die mit ihren zittrigen Händen häkelt, dabei in ihrem Schaukelstuhl sitzt und ihren Enkeln Märchen erzählt. (Haubold-Stolle 2009: 7) So beginnt Juliane Haubold-Stolle ihre kulturgeschichtliche Übersicht über die soziale Rolle der Großmutter. Sie greift auf das traditionelle und in den Vorstellungen vieler Menschen gegenwärtige Bild der Großmutter zurück. Sie macht u. a. darauf aufmerksam, dass diese in der heutigen Gesellschaft fast ausnahmslos akzeptierte mentale Vorstellung nicht (mehr) der Realität entspricht und weist auf die notwen- dige Berücksichtigung des sozial-historischen Hintergrunds sowie des Entwicklungsprozesses der Großmutterfigur bzw. des Großmutterseins hin. Einen genaueren Einblick in die Thematik verschaffte Erhard Chvojka in seiner Monographie Geschichte der Großelternrollen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Seine Studie setzt sich mit der „Entstehung einer neuen, die Generationsverhältnisse betreffenden familiären Beziehungskonstellation und deren Internalisierung durch die Ausbildung neuer Rollenbilder" (Chvojka 2003: 11) auseinander, wie im Vorwort zu seinem Buch nachgelesen werden kann. Seine These, die er im Buch nachzuweisen versucht, lautet: „Die heutzutage zu beobachtende, spezifische Beziehung zwischen Großeltern und Enkelkindern ist keine anthropologische Konstante, sondern das Resultat ihrer kulturellen und sozialen Konstituierung im Lauf der letzten etwa zweieinhalb Jahrhunderte." (Ebda. 349) Obwohl in der heutigen Gesellschaft aufgrund persönlicher Erfahrungen die allgemeine Überzeugung herrscht, dass es seit jeher Großmütter gegeben hat und dass heute ein Konsens über die Charakteristika des Großmutterseins zu herrschen scheint (ebda. 15), muss man auf die Tatsache hinweisen, dass es sich dabei um eine relativ neue soziale Rolle handelt. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Entstehung bzw. das Konstruieren der Großmutterrolle stark mit dem Aufstieg des Bürgertums im 18. Jahrhundert zusammenhängt, deren Etablierung aber erst gegen das Ende des 19. bzw. am Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgte. Zum Entstehungsprozess der Großmütterlichkeit, einige Autoren sprechen sogar von der „Erfindung der Großmutter" (Göckenjan 2000), deren Anfänge etwa seit dem 16. Jahrhundert zu beobachten sind, haben mehrere Faktoren beigetragen, u. a. die zunehmend längere Lebenserwartung, die Entstehung der Alterslebensphase, nachelterliche Gefährtenschaft (die Zeit, wenn Eltern nach Ausscheiden der Kinder aus dem Haus, wieder alleine leben, vgl. Mitterauer 1980, 66 ), niedriges Heiratsalter, die Entstehung der Kindheit im pädagogisch-aufklärerischen Sinne, Emotionalisierung, In-timisierung sowie Privatisierung der Familie. Das Bild der Großmutter, wie es im kollektiven Gedächtnis verankert ist und bis heute nachwirkt, hat sich also allmählich, bis Ende des 19. bzw. am Anfang des 20. Jahrhunderts, entfaltet und verbreitet und mit ihm auch die dazu passenden sozialen Funktionen. Zwar hat sich einiges sich seit Beginn verändert, dennoch sind viele traditionelle Elemente bzw. Charaktereigenschaften des „Oma"-Bildes kontinuierlich vorhanden. Großmuttersein ist auch in unserer Zeit kein „Auslaufmodell". Dies bestätigt die Tatsache, „daß die Leitbilder der Großelternschaft [somit auch der Großmutterschaft] am Beginn des 21. Jahrhunderts zu den besonders profilierten und allgemein stark verinnerlichten familialen Rollennormen gehören" (Chvojka 2003: 15). Dass das Bild bzw. die Vorstellung von der Großmutter tief verwurzelt ist, deshalb aber in den meisten Fällen nicht (mehr) realitätsabbildende Assoziationen weckt, wird nicht angezweifelt. (Vgl. Herrmann 1992, Höpflinger 2006) In allen historischen Epochen gab es unterschiedliche Formen des Großmutterseins, was u. a. stark mit der Zugehörigkeit zu einzelnen gesellschaftlichen Schichten zusammenhängt. (Chvojka 2003) Darüber hinaus sind immer wieder einzelne Großmütter zu finden, die den Normen bzw. dem Ideal nicht entsprechen. Als die prägendste Zeit für die Konstruktion des Omabildes gilt das 18. und vor allem das 19. Jahrhundert (Haubold-Stolle 2009: 33), die Zeit, als sich die bürgerliche Familienideologie durchgesetzt hat und sie allmählich auch in die anderen Schichten übergegangen ist. (Chvojka 2003: 32) Damit wurde es zum allgemein verbreiteten und akzeptierten Bild, das jedoch in erster Linie ein Ideal ist. (Vgl. Göckenjan 2000: 202) Das Ziel dieses Beitrages ist es, die Großmutterfigur zu untersuchen, so wie es (aus Platzgründen lediglich) in zwei modernen deutschsprachigen Romanen konstruiert und literarisch gestaltet wird. Die Aufmerksamkeit wird besonders der eventuellen Diskrepanz zwischen dem in den ausgewählten Texten dargestellten Großmutterbild und dem traditionellen/erwarteten Bild gewidmet. In den letzten Jahren ist (im deutschsprachigen Raum) der Trend zur Thematisierung der Großmutterfigur (oft im Kontext der Großmutter-Enkelin-Beziehung) zu beobachten (vgl. Bagley 2006), obwohl die Großmütterlichkeit schon im 19. Jahrhundert eine literarische Hochkonjunktur erlebt hat. (Chvojka 2003: 346) Einer genaueren Analyse, die sich auf die Darstellungsweise der Großmutterfigur konzentriert, werden in diesem Beitrag zwei ausgewählte Texte unterzogen, und zwar Annette Hugs Roman Lady Berta (2008) sowie Alina Bronskys Roman Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche (2010). Da es sich um zwei zeitgenössische Romane von jüngeren Autorinnen handelt1, wäre anzunehmen, dass in den beiden Büchern ein anderes (moderneres) Großmutterbild entworfen wird, zugleich aber beide Romane einige gemeinsame traditionelle Elemente enthalten. Dass die literarischen Auseinandersetzungen mit der Großmutterfigur eine Vielfalt an Modellen und Abweichungen von den klassischen Vorstellungen anbieten, lässt u. a. die Feststellung von Andrea Willis vermuten. Sie konstatiert, dass „während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts literarische Darstellungen [in diesem Fall] von Großeltern schließlich immer seltener traditionelle Stereotype und Klischeebilder bezüglich des großelterlichen Aussehens und Verhaltens" (zit. nach Chvojka 2003: 346) enthalten haben. Im vorliegenden Artikel wird daher ebenso auf die Frage eingegangen, inwieweit diese Aussage für die zeitgenössische Literatur zutreffend ist. Bevor zu den konkreten Textanalysen übergegangen wird, wird die Darstellung des typischen Großmutterbildes widergegeben, das mittels literarischer Geschichten und anderer Diskurse seit Jahrzehnten konstruiert sowie etabliert wird. DAS BILD DER GROSSMUTTER Seit dem 16. Jahrhundert ist es in der Wahrnehmung der Großmutter zu einem großen Wandel gekommen. In der Frühen Neuzeit wurden die alten Frauen nämlich primär nicht als Großmütter definiert, obwohl sie diese Position besetzt haben, die aber damals lediglich genealogisch und nicht sozial verstanden wurde. Gleichzeitig konnte man bei älteren Frauen auch „keinerlei Formen eines subjektiven, spezifisch [großmütterlichen] Bewußtseins" (Chvojka 2003: 71) wahrnehmen. Zwei oder drei Jahrhunderte später kann man bei der Großmutterrolle schon von einer stark profilierten sozialen Rolle sprechen, die sowohl seitens der Großmütter selbst als auch von allen anderen Menschen verinnerlicht worden ist und deren Eigenschaften heute als (Positiv-)Stereo-typ gelten. (Vgl. Göckenjan 2000: 199) 1 Annette Hug wurde 1970 in der Nähe von Zürich geboren, Alina Bronsky acht Jahre später in der ehemaligen Sowjetunion, sie lebt aber seit ihrer Jugend in Deutschland. Beide werden heute zur bedeutenden deutschsprachigen Autorinnen gezählt. Die traditionelle idealtypische Oma ist im Gegensatz zu anderen Bildern älterer Frauen als einzige positiv konnotiert (Vgl. Höpflinger et al. 2006: 99) und häufig als Gegenbild der Hexe bzw. der bösen Alten dargestellt, die ebenso eine alte, aber oft kinderlose Frau ist. (Göckenjan 2000) Wenn von dem traditionellen bzw. klassischen Bild der Großmutter die Rede ist, handelt es sich in erster Linie um das Ideal bzw. eine Vorstellung, die hauptsächlich im Kontext des Bürgertums entstanden ist und demnach von dessen Ideen und Ideologie geprägt ist. Es muss darüber hinaus betont werden, dass es sich (auch im Rahmen dieser bürgerlichen Repräsentation) um kein ausschließlich einheitliches, aber vor allem um das meist verbreitete und akzeptierte Bild der Großmutter handelt bzw. um das Konzept, das das Bild der Großmutter am meisten und äußerst nachhaltig geprägt hat. In allen Zeiten hat es Ausnahmen und Abweichungen gegeben, dennoch hat sich die klassische (bürgerliche) Repräsentation am stärksten durchgesetzt, obgleich sie mit der Modernisierung neue Merkmale bekam, worauf später eingegangen wird. Die Großmutter wird nach der traditionellen Vorstellung als Hüterin der Tugenden, Lehrerin der Jungen, Vermittlerin an die nächste Generation sowie Repräsentantin von Kontinuität wahrgenommen. (ebda. 183, 187) (Vgl. Chvojka 2003) Sie erzählt ihren Enkelkindern Geschichten und Märchen, verwöhnt und beschenkt sie. Sie ist altmodisch, fromm, liebevoll, hilfsbereit, fürsorglich, passiv, naturverbunden, opferbereit und weise. (Vgl. Herrmann 1992, Chvojka 2003, Haubold-Stolle 2009) Großmuttersein ist in den traditionellen Vorstellungen fast ausnahmslos mit dem Altsein verbunden. Die (körperlichen) Alterserscheinungen und Altersstereotype bilden einen großen Teil der Großmutterrepräsentation. In diesem Kontext geht es vor allem um die Schilderungen und Wahrnehmungen der Großmutter als Figur mit beispielweise weißem Haar, Falten, langsamem Gang sowie in gebückter Haltung, schließlich aber auch mit dem Kranksein und dem Tod. (Vgl. Höpflinger et al. 2006: 100) Aufgrund der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation im Laufe des 20. Jahrhunderts ist es zu Veränderungen bzw. Abweichungen vom traditionellen Großmutter-Bild in der Realität gekommen. Immer häufiger treten Großmütter in der Rolle der Enkelkinderbetreuerin oder sogar Ersatzmutter auf, leisten ihren (Enkel)Kindern finanzielle Hilfe. Auf den nicht materiellen Ebenen stellen sie oft „die symbolische Brücke in die Welt der Vorkriegszeit" (Haubold-Stolle 2009: 66), „emotionale[] Zuwendung, Stabilität und Orientierung (ebda. 82) dar. „Die Norm, dass sich Großeltern liebevoll um ihre Enkelkinder kümmern [_] wurde [ebenso erst] zu Beginn des 20. Jahrhunderts verankert." (Höpflinger et al. 2006: 99) Einige der modernen und besonders typischen großmütterlichen Attribute, wie etwa die Großmutter als Enkelkinderbetreuerin, erweisen sich nämlich als relativ neu. (Vgl. Chvojka 2003: 70f.) Darüber hinaus werden Großmütter immer moderner, aktiver, nehmen am politischen und öffentlichen Leben teil, widmen ihre Freizeit nicht ausschließlich ihren Enkelkindern. So lässt sich im 20. und 21. Jahrhundert zunehmend die Entwicklung neuer „Rollenmodelle und Vorstellungen von der Oma" (Haubold-Stolle 2009: 55) beobachten, obwohl immer wieder bestätig wird, dass „[d]ie Bilder zur Großelternschaft [weiterhin] relativ traditionell" (Höpflinger et al. 2006: 104) bleiben. Inwieweit das Bild in ausgewählten literarischen Texten als traditionell oder modern beschrieben werden kann, wird die nachstehende Analyse zeigen. GROSSMUTTERFIGUR IN ZWEI ZEITGENÖSSISCHEN DEUTSCHSPRACHIGEN LITERARISCHEN TEXTEN Im Roman Lady Berta der schweizerischen Autorin Annette Hug aus dem Jahr 2008 kommen schon im ersten Kapitel alle jene Züge bzw. Andeutungen vor, die sich als die wichtigsten sowohl für die Geschichte als auch für das Bild der Großmutter erweisen. Die Geschichte, in der im Mittelpunkt das Leben bzw. vor allem die jüngeren Jahre der Protagonistin Berta stehen, wird vorwiegend von ihrer Enkelin erzählt. Die Enkelin hat die Geschichte ihrer Großmutter nicht miterlebt und versucht, sie teilweise mit Hilfe der Erzählungen ihrer Großmutter zu rekonstruieren. Dabei stößt sie oft auf Schwierigkeiten: „Aber für jeden Satz, den sie sagt, muss ich mir zehn weitere ausdenken, um zu einer Geschichte zu kommen." (Hug 2008: 9) Dies verweist darauf, dass es sich hier sowohl um ein Rekonstruieren der Lebensgeschichte der Großmutter als auch um die Konstruktion eines Großmutterbildes durch die Enkelin und damit um eine subjektive Sicht handelt. Die Geschichte thematisiert in erster Linie das Leben der jungen Frau Berta, die in Zürich als Hausangestellte arbeitet, bis sie ungewollt schwanger wird. Danach schlägt sie sich mittels Gelegenheitsarbeiten durch, bringt die uneheliche Tochter Louise zur Welt und zieht einige Jahre nach der Geburt ohne ihre Tochter aus Arbeitsgründen nach England. Ihre Tochter Louise verzeiht ihr das nie, weswegen die beiden bis zu Louises Tod eine sehr schlechte Beziehung führen. Die Mutter versucht sich zu entschuldigen, die Tochter hat aber kein Interesse daran. Anhand der kurz skizzierten Geschichte sieht man, dass Berta vor allem als (schlechte) Mutter dargestellt wird. In der Rolle der Großmutter kommt sie selten vor, wenngleich die Enkelin erzählt. Dies überrascht eigentlich nicht, weil es für die „Großeltern-Literatur" charakteristisch ist, „daß die Alten in der Regel Rahmen- und Randfiguren sind." (Göckenjan 2000: 217) Berta ist in diesem Roman zwar keine Randfigur, in der Rolle der Großmutter agiert sie aber selten. Demzufolge werden keine direkten ausführlichen Beschreibungen von Bertas Großmuttersein erwartet. Anhand einzelner fragmentarischer Erwähnungen kann aus der Geschichte trotzdem ein Entwurf des Großmutterbildes herausgearbeitet werden, das den Erwartungshorizont bezüglich der Großmütterlichkeit auf den ersten Blick im Wesentlichen bestätigt, doch lässt eine genauere Lektüre zahlreiche Risse im vollkommenen traditionellen Bild der Großmutter entdecken. Die Geschichte besteht aus mehreren Erzählsträngen, die in verschiedene Zeitebenen angesiedelt und miteinander verflochten sind. Den Rahmen, welchem lediglich ein geringerer Teil der Geschichte gewidmet ist, stellen vorwiegend die Beschreibungen von Berta im höheren Alter dar, als sie schon im Altersheim lebt und vorwiegend von ihrer Enkelin besucht wird. Vor allem in diesem Erzählstrang kann Berta als Großmutter betrachtet werden. In erster Linie wird sie als eine alte Frau wahrgenommen und dargestellt. Nicht nur die häufig vorkommenden unmittelbaren Bezeichnungen der Erzählerin über das Alter und Altersbeschwerden der Großmutter, wie „Touristen strömen an der alten Frau vorbei" (Hug 2008: 5) oder „Wenn Berta das Zimmer betrat, war die Kranke [ihre Tochter] immer schon eingeschlafen. Die alte Frau [Berta] wusste nicht wohin mit den Worten, die sie noch sagen wollte." (ebda. 7), sondern auch die Notwendigkeit, das Krankheitsbild sowie Alterserscheinungen der Großmutter zu erwäh- nen, um den Eindruck zu erwecken, sie möglichst authentisch beschrieben zu haben, machen einen größeren Teil der Konstruktion des Großmutterbildes aus: „Das Gelenk sei ihr zu schwer, ob sie das Metall im Viertel herumtragen solle, fragt sie [Berta] rhetorisch." (ebda. 32) sowie „Am nächsten Morgen hat sie [wegen der Demenz] vergessen, dass sie angerufen hat, und freut sich, endlich wieder einmal meine Stimme zu hören." (ebda. 144) Im Roman lassen sich weitere, sozusagen typisch traditionelle großmütterliche Elemente finden. Als ihre Tochter im Krankenhaus liegt und Berta erfährt, dass ihre Tochter „den Geschmack des Spitaltees nicht mehr" (ebda. 7) erträgt, bereitet sie ihr „Holundersirup mit einem Schuss Pfefferminze, Eistee auf der Basis einer südafrikanischen Gewürzmischung, [und] frischgepressten Erdbeersaft" (ebda. 8) zu. Naturverbundenheit, Kochen bzw. Zubereiten von Speisen und Getränken, selbstgemachte Arzneimittel u. Ä. gehören zum Klischeebild einer Großmutter, ebenso wie dem Enkelkind mit Ratschlägen zu helfen und ihm beizustehen. Im Buch erwähnt die Enkelin, wie ihre Großmutter sie übers Kochen beraten hat: „Man könne nicht kochen lernen, wenn man das warme Essen nicht kosten dürfe, hat mir Großmutter versichert. Ich lerne einige Rezepte von ihr [_]. Der Geschmack der allermeisten Zutaten entfalte sich mit der Wärme, dozierte Großmutter am Herd." (ebda. 17) Dass die Großmutter ihre Enkelin gerade im Bereich der traditionellen Frauenarbeit belehrt, trägt ein weiteres Stück zum großmütterlichen Klischeebild bei. (Vgl. Chvojka 2003: 143, 240) Es ist nämlich bekannt, dass Großmütter (hauptsächlich seit dem 19. Jahrhundert) an der (kulturellen) Erziehung in erster Linie von Enkelinnen teilnehmen. „Junge Mädchen wurden häufiger für einige Zeit zur Großmutter geschickt, um dort zu lernen, wie man arbeitet" (Haubold-Stolle 2009: 29) Ein weiteres Element, das ebenso auf eine längere Tradition hinweist, ist das Verbringen der Ferien bei den Großeltern bzw. der Großmutter. „Es kann sein, dass ich [die Erzählerin] Margret einmal gesehen habe, als ich etwa zehn Jahre alt war. Mein Bruder war schwer krank, und die Eltern hatten mich zu Großmutter in die Ferien gegeben." (ebda. 61) Die Anfänge lassen sich in der bürgerlichen Kultur im 18. Jahrhundert finden, im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelte sich schließlich vor allem der Zeitraum der Schulferien bzw. Familienfeste in zunehmendem Maße zu einem bevorzugten Anlass für einen Besuch oder auch einen längeren Aufenthalt bei den Großeltern. (Chvojka 2003: 353, Höpflinger 2006: 199) Die Großmutter verbinden mit der Enkelin auch andere gemeinsame Aktivitäten, die auf ein liebevolles oder sogar vertrautes Verhältnis schließen lassen, beispielsweise als Berta ihrer Enkelin das Bild ihrer großen Liebe Karl (er ist der Großvater der Enkelin) zeigt oder als sich die beiden das Fotoalbum anschauen. Diese kleinen Gesten können als Ersatz für andere typische großmütterliche Aktivitäten wie Geschichtenerzählen bzw. Märchenvorlesen, die im Buch nicht vorkommen, betrachtet werden. Ein Element, das im großmütterlichen Klischeebild zwar nicht enthalten ist, aber vor allem in (moderneren) literarischen Texten oft vorkommt2 und deshalb als ein neues traditionelles Element betrachtet werden könnte, ist der Zusammenhang zwischen der Großmutter und einer verschwiegenen Geschichte aus ihrer Vergangenheit, mit einem Geheimnis, welches hauptsächlich von dem Erzähler/der Erzählerin, meistens von 2 Z. B. Tanja Dückers: Himmelskörper (2003), Verena Rabe: Thereses Geheimnis (2004), Alexandra Senfft: Schweigen tut weh (2007), Dilek Güngör: Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter (2007). dem Enkelkind, aufgespürt und entdeckt wird. (Vgl. Bagley 2006, Neuschäfer 2010) In Hugs Roman hat Berta ihr Geheimnis in sich getragen, was auch die Enkelin merkte: „Dass sie eine Vergangenheit hatte, sagte sie niemandem." (Hug 2008: 104) Die nächste Eigenschaft steht sozusagen an der Grenze zwischen den typischen und untypischen traditionellen Merkmalen der großmütterlichen Sozialrolle. Neben den leicht erkannten traditionellen Klischeebildern gibt es im Roman weitere Elemente, die das traditionelle Bild stellenweise hinterfragen oder dementieren und zugleich ein neues Bild konstruieren. Die traditionelle Vorstellung der Großmutter als einer liebevollen, fürsorglichen und hilfsbereiten Frau wird mit der Beschreibung von Berta als schlechter Mutter in Frage gestellt. Bertas Tochter Louise konnte ihrer Mutter nie vergeben, dass sie sie verlassen und sogar ihren Verwandten zur Adoption frei gegeben hat. Vor allem aus diesen Gründen warnt Louise ihre Tochter vor ihrer (Groß) Mutter „Meine Mutter [_] tobte und warnte mich vor dieser alten Frau, die nach ihrem Tod in mein Leben einfallen und sich darin ausbreiten werde." (Hug 2008: 8) Berta als Mutter, die ihre Tochter verlassen hat, um ins Ausland auszuwandern, hinterlässt im Bild der liebevollen zärtlichen Großmutter dunkle Spuren, obwohl soziologische Untersuchungen gezeigt haben, dass wegen der kleineren Verantwortung gegenüber den Enkelkindern im Vergleich zu eigenen Kindern sowie des stressfreieren Umgangs eine bessere Beziehung zwischen Großeltern und Enkelkindern als zwischen Eltern und Kindern aufgebaut werden kann. (Klosinski 2008: 42) Ein letztes Merkmal, das hier hervorgehoben wird, ist die Neigung der älteren Menschen, und damit auch der Großmütter, zum Erinnern der Vergangenheit. Obwohl Berta über die Vergangenheit nicht gerne spricht, sie war „[f]ür Nostalgie nie zu haben gewesen" (ebda. 32), wird diese Eigenschaft von der Erzählerin mehrmals erwähnt, als ob sie der Meinung wäre, dass das Zurückkehren in das Vergangene ein Bestandteil des großmütterlichen Verhaltens sein sollte und auf jeden Fall erwähnt werden müsse, auch im Fall, dass diese Eigenschaft nicht vorhanden sei. Das Erwähnen von traditionellen Eigenschaften der Großmutterfigur, denen die jeweilige Großmutter nicht entspricht, erweist sich als ein Bestandteil der Darstellung der Großmutter. Das spricht für die Wirkung des „allgemeine[n] Maßstab[es] der Wahrnehmung alter Menschen." (Chvojka 203: 306) Ein Beispiel dafür ist etwa in Thomas Manns Lebenserinnerungen im Kapitel Little Grandma zu finden. Er schildert die Großmutter seiner Frau Katja Pringsheim, Hedwig Dohm. Die Beschreibung Dohms durch Mann zeugt ganz allgemein von der Verunsicherung, aber auch der Empörung eines bürgerlichen Mannes anläßlich der Begegnung mit einer alten Frau, die seinen Vorstellungen entsprechend eigentlich eine typische „Großmutter" zu sein hätte, diesem Rollenleitbild jedoch in der Realität in keiner Weise entsprach. [_] Hinsichtlich der äußeren Erscheinung der damals etwa 75-jährigen Hedwig Dohm erwähnt Mann, daß diese nicht etwa „großmütterlich", sondern stattdessen „von aller Mode emanzipiert" gekleidet gewesen wäre. (ebda. 306f.) Die Wirkung der traditionellen Vorstellung vom Omasein auf das Verhalten und die (mangelnde) Identifikation der Frau in der Position der Großmutter spielt eine große Rolle in Alina Bronskys Roman Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche aus dem Jahr 2010. Dieser Roman ist ein gutes Beispiel dafür, wie stark die traditionelle Vorstellung vom Großmuttersein im (Unter-)Bewusstsein der Menschen verankert ist, vor allem, wenn es als häufige Thematisierung der festgestellten Abweichungen vom herkömmlichen Bild der Großmutterschaft in Erscheinung tritt. In den meisten literarischen Texten, die die Großmutter thematisieren, wird die Geschichte aus der Perspektive von Enkelkindern erzählt. Die Großmutter als Erzählerin stellt eher eine Ausnahme oder Abweichung von der Regel dar. Dass die Großmutter in Bronskys Roman die Rolle der Ich-Erzählerin einnimmt, könnte man als eines von vielen Elementen interpretieren, die auf die von der Norm abweichende literarische Darstellung der großmütterlichen Sozialrolle hinweisen. In diesem Fall wird das Großmutterbild von der Großmutterfigur selbst entworfen und konstruiert. Beim Lesen darf auf keinen Fall außer Acht gelassen werden, dass die Geschichte von einer unzuverlässigen Erzählerin erzählt wird und dass alles, auch ihre Versuche über die Selbstdarstellung vom Großmuttersein, mit Distanz wahrgenommen und unbedingt hinterfragt werden müssen. Die Ich-Erzählerin Rosalinda ist verheiratet und hat eine Tochter Sonja, die sie Sulfia nennt. Diese Tochter wird unerwartet schwanger und bekommt ein Mädchen, das die Großmutter Aminat benannt hat, obwohl Sulfia dagegen war und sie es Anna nennt. Die Großmutter will am Anfang nichts mit ihrer Enkelin zu tun haben, später aber nimmt sie das Kind ihrer Mutter Sulfia ohne ihre Erlaubnis weg und sorgt allein um sie, u. z. mit der Begründung, dass Sulfia unfähig sei, ihre Tochter allein zu versorgen. Sie begründet ihre Entscheidung mit vielen Beispielen, die Sulfias Unfähigkeit, gute Mutter zu sein, beweisen sollen. So zum Beispiel, als Aminat bei ihrer Mutter ist, während Rosalinda die beiden auf der Straße heimlich beobachtet, stellt diese fest: Ich sah sofort, dass Aminat nicht gut angezogen war. Sie hatte keinen Schal, und die verrutschte Mütze setzte ihre Ohren der beißenden Kälte aus. Die schwarzen Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Die Nase war rot. Das Kind war garantiert erkältet, kein Wunder bei dieser Mutter." (Bronsky 2010: 48) Solche und viele andere Beispiele können der Großmutter auf den ersten Blick Recht geben, ihre Enkelin anstelle der Kindes-Mutter Sulfia zu versorgen. Sie liebt ihre Enkelin und auch Aminat hat sie zu Beginn ebenso sehr gern. In ihrer Überheblichkeit, dass nur sie alles richtig machen kann, „opfert" sie sich für ihre Enkelin trotz des Widerstands seitens ihrer Tochter und macht alles, um Aminat zu unterstützen und ihr den vermeintlich richtigen Weg zu zeigen. Sie fühlt sich verpflichtet, für ihre Enkelin und ihre unfähige Tochter Sulfia zu sorgen. Im Laufe der Geschichte weisen aber immer mehr Hinweise deutlich darauf hin, dass eine andere Sicht auf die (unerwünschte und schädliche) großmütterliche Hilfe nötig ist. Nicht nur die Bitte der Tochter, dass sich die Mutter in ihr Leben nicht so intensiv einmischen soll („Liebe Mama, lieber Papa, ich ziehe aus und nehme Anna mit. Lasst mich einfach in Frieden. Küsse, eure Sonja", ebda. 23), sondern auch die Drohung der kleinen Enkelin „Wenn du meiner Mama noch mal weh tust, hab ich dich nicht mehr lieb!" (ebda. 67), die sie folgendermaßen begründet: „Weil ich keine böse Oma haben will!" (ebda.), zeigen, dass die von Rosalinda einseitig dargestellte Situation auch eine Kehrseite hat. In der Entscheidung, ihre Enkelin zu betreuen, kann in diesem Fall schwer das klassische großmütterliche Verhalten gesehen werden. Sie macht das zwar aus großmütterlicher Liebe und dem Wunsch, das Beste für das Kind zu tun, doch spielt dabei eine große Rolle auch die Überzeugung der Großmutter, dass sie besser ist als alle anderen und dass sie unbedingt das Leben der Anderen ausschließlich nach ihren eigenen Vorstellungen lenken und keinen Widerstand tolerieren will. Ein weiterer Hinweis dafür ist ihre Art und Weise der Erziehung, die ihrer Enkelin am Ende mehr Schaden antut als Vorteile bringt, worauf später noch genauer eingegangen wird. Eigentlich findet sich die Großmutter zu jung, aktiv und gesund, um Großmutter zu sein. Ihre Aussage: „Ich sah überhaupt nicht als Oma aus. Ich sah gut aus. Ich war eine schöne Frau und noch nicht alt. Man sah mir an, dass ich Kraft hatte und intelligent war" (Bronsky 2010: 68), deutet auf den unausweichlichen Vergleich mit dem traditionellen Großmutterbild hin und enthält implizit die kulturelle Vereinbarung über das großmütterliche Klischee, das durch solche Behauptungen immer wieder aufs Neue zugleich in Frage gestellt sowie reproduziert wird. An dieser Stelle muss trotzdem erwähnt werden, dass Rosalinda vergleichsweise jung Großmutter geworden ist, und zwar Ende Vierzig, was wohl zu ihrer problematischen Identifizierung mit dem Omasein beigetragen hat. Im ganzen Roman findet man viele Beispiele, wo das traditionelle Bild hinterfragt wird. Diese Großmutter ist sehr jugendlich, denkt, dass sie sehr schön ist, viel Energie hat und voller Tatendrang ist, sie lernt in ihrem Alter das Fahrradfahren sowie Skifahren, sie erwirbt den Führerschein usw. Sie fühlt sich nicht als Großmutter, wobei sie das gesellschaftliche Klischee des Omaseins als Maßstab für ihre Einschätzung nimmt. Sie konstruiert eigentlich ein Gegenbild der Großmutterfigur, wie sie allgemein erwartet wird. Stellenweise kommt es zu Annäherungen an die traditionelle großmütterliche Vorstellung, die aber immer subversive Elemente enthalten. Es folgen einige Beispiele: In ihrem Wunsch, die Enkelin überzeugen zu wollen, Medizin zu studieren, verbirgt sich die traditionelle Verbindung zwischen Omasein und Kranksein, die aber auf sie nicht trifft, was sie ausdrücklich betont. „[E]ine richtige Ärztin im Haus war wichtig, wenn man älter wurde. [A]ußer mir wurden alle ständig krank" Bronsky (2010: 34). Oder wenn die Großmutter über ihre Haushalts- bzw. Kochfähigkeiten spricht (die zum Großmutterbild gehören), vergisst sie nicht, sie sofort zu relativieren, wie am folgenden Satz zu sehen ist: „Ich habe ein gutes Händchen für den Blätterteig, wie für alles andere auch." (Bronsky 2010: 33)3 Mit der Relativierung der erwarteten Eigenschaften wird das herkömmliche Bild als einzig Richtiges unterlaufen. Eine weitere, auf den ersten Blick typische Eigenschaft ist die Vermittlung von Wissen an die Enkelin. Sie lehrt sie, sich richtig zu benehmen, sich zu kleiden, sorgfältig und verantwortlich zu sein. Doch findet man in ihrer Art nichts, was in der traditionellen Vorstellung mit einer liebevollen großmütterlichen Erziehung und großmütterlichen Ratschlägen in Verbindung gesetzt werden könnte. Sie zwingt ihre Enkelin geradezu, sich nach ihren Kriterien richtig zu benehmen, indem sie sie z. B. bedroht, besticht oder manchmal sogar schlägt. Wenn Rosalinda sich nach Sulfias Protesten immer wieder für eine kurze Zeit zusammenreißt und versucht, sich angemessen zu benehmen, kann man das erwartete und ideale großmütterliche Verhalten beobachten, das aber eher ein Ausnahmezustand ist. 3 Dieser Satz muss im Kontext der „allgemeinen" Selbstwahrnehmung der Protagonistin verstanden werden und nicht unbedingt nur im Kontext des Omabildes. Ich holte Aminat oft vom Kindergarten ab, um den jungen Leuten zu helfen, die beide viel arbeiten mussten. [_] Wir spielten, ich las ihr vor, wir malten zusammen, ich erzählte ihr lehrreiche Geschichten aus meinem Leben und dem Leben anderer Menschen. (ebda. 65f.) Im Buch kommen weitere Elemente vor, die eine typische Großmutter ausmachen, wie die ausgeprägte Religiosität oder Garten- sowie Handarbeit. Letztere können in diesem Kontext nicht unbedingt nur als typische großmütterliche Merkmale wahrgenommen werden, sondern als Fähigkeiten der meisten Frauen, ihre Familie in schweren Zeiten und in einem armen kommunistischen Land, wo auch Rosalindas Familie lebt, zu ernähren und ihr Überleben zu sichern, welches oft vom selbst angebauten Gemüse, selbst gekochter Marmelade oder selbst genähtem Kleid abhängig war. Ähnlich wie Berta im Roman von Annette Hug wird die Großmutter auch hier in erster Linie als schlechte und nicht liebevolle Mutter dargestellt, weil sie (in diesem Fall) verächtlich, possessiv, beleidigend und selbstgefällig ist. Sie sorgt für alles, aber nur deshalb, weil sie alles unter Kontrolle haben möchte und weil sie die anderen für unfähig hält. Durch ihr Verhalten zerstört sie ihre Familie, bleibt am Ende allein ohne ihre Tochter, die stirbt (Aminat gibt ihrer Großmutter die Schuld am Tod ihrer Mutter), sowie ohne ihre Enkelin Aminat, die vor ihr flüchtet, mit Schuldgefühlen zurück. Wie bereits erwähnt, scheitert die Ich-Erzählerin nicht nur als Mutter, sondern am Ende auch als Großmutter, weil sie keine liebevolle, fürsorgliche Beziehung zu anderen Menschen aufbauen kann. Die Großmutter tritt hier als (selbst erzwungene) Ersatzmutter auf, womit sie eine negative Darstellung ihrer Rolle vertritt, die im großmütterlichen Diskurs eher eine Ausnahme darstellt. Zugleich könnte ihre Funktion als Ersatzmutter als Grund für das nicht-großmütterliche Verhalten betrachtet werden. Obwohl die Begründung ihres Verhaltens eigentlich nachvollziehbar ist - sie benimmt sich nämlich so, weil sie ein besseres Leben für sich und ihre Familie will - ist ihre Art und Weise des Handelns respektlos und egoistisch. Am Ende bereut sie ihr Verhalten. Es wird ihr bewusst, dass sie viele Fehler gemacht hat. „Aminat war achtzehn, und sie war von zu Hause fortgelaufen: Es war eine Schande, denn einer guten Großmutter liefen die Enkelinnen nicht weg". (Bronsky 2010: 285) Zum Schluss gibt sie zu, dass ihre Handlungsweise nicht nur dem Mutter- sondern auch dem Großmuttersein nicht angemessen war. Dadurch kehrt sie zum traditionellen Bild zurück und bereut es, keine bessere Großmutter gewesen zu sein. Die im Buch dargestellte Vorstellung der großmütterlichen Sozialrolle, die für die Geschichte zentral ist, bietet ein völlig anderes Modell des Großmutterseins an. Es gibt mindestens zwei Punkte, die hier hervorgehoben werden müssen. Erstens kann man im Roman eine Großmutter betrachten, die dem Klischee nicht entspricht bzw. sie versucht es zu unterlaufen, indem sie sich als jung, erfolgreich, schön sowie aktiv präsentiert und damit ein neues modernes Modell des Omaseins darstellt. Der zweite Punkt ist mit dem ersten in einem bestimmen Maße verbunden, kann aber auch als ein selbstständiges Element angesehen werden. Es geht um die gescheiterte Großmutterschaft, um eine Art negatives Bild der Großmutter. Vielleicht könnte die mangelnde Identifizierung mit der klassischen Vorstellung des großmütterlichen Verhaltens ein Grund dafür sein, dass sie sich nicht als Großmutter benimmt. Man darf aber keineswegs nur dieses Moment als gescheitertes Großmuttersein interpretieren, weil sich Rosalinda nicht nur ihrer Enkelin, sondern allen Menschen gegenüber, obwohl in ihrem Wunsch zu helfen, doch letztendlich verachtend und beleidigend benimmt. Die Geschichte bietet dessen ungeachtet ein „traditionelles" Ende an. Weil die Hauptfigur dem großmütterlichen Ideal nicht entspricht, kann sie am Ende nicht gewinnen, sie wird bestraft, sie verliert ihre Enkelin und muss mit ihrem Scheitern fertig werden. Von einer aktiven, zielbewussten, selbstverliebten Frau wird sie zu einer einsamem, traurigen, passiven Person. Obwohl die Geschichte auf den ersten Blick subversive Elemente in der Großmutterrolle aufweist, wird am Ende immer noch nur das gute, liebevolle, nicht zu engagierte und in das Leben der Enkelkinder einzumischende Großmuttermodel als das richtige und erfolgreiche Modell des großmütterlichen Verhaltens akzeptiert. FAZIT Da im vorliegenden Artikel nur zwei von vielen zeitgenössischen deutschsprachigen Texten4, in denen die Großmutterfigur thematisiert wird, einer näheren Analyse unterzogen worden sind, muss man bei allzu schnellen Schlussfolgerungen vorsichtig sein. Trotzdem kann man anhand der erfolgten Analyse der untersuchten Romane feststellen, dass die dargestellten Großmutterfiguren immer noch von dem traditionellen Klischeebild, das im jahrhundertlangen Prozess entstanden ist, geprägt sind, was am besten an der Thematisierung der eventuellen Abweichungen von erwarteten großmütterlichen Eigenschaften und deren Verhalten erkennbar ist. Darüber hinaus aber weisen sie individuell gestaltete und neue Modelle einer traditionellen Figur auf. Höpflinger und Mitarbeiter haben bei den soziologischen Untersuchungen der Großeltern-Enkelkinder-Beziehungen in der Schweiz aus dem letzten Jahrzehnt Folgendes herausgefunden: Die Bilder zur Grosselternschaft sind und bleiben relativ traditionell, aber das idealisierte Bild von Grosselternschaft erlaubt heute überraschend viele Freiräume in der konkreten Gestaltung der Beziehung zu Enkelkindern, und dieser Gestaltungsspielraum wird von modernen Grossvätern und Grossmüttern immer häufiger gezielt und aktiv gestaltet. (Höpflinger et al. 2006: 104) Ähnliches kann man für die literarische Verarbeitung der Großmutterfigur behaupten. Obwohl bei einer literarischen Großmutter immer noch traditionelle Vorstellungen erwartet werden, gibt es in den modernen literarischen Texten zugleich viele individuelle Gestaltungsmöglichkeiten dieser literarischen Figur. 4 Z. B. Horst Hensel: Esthers zweite Reise nach Schanghai (1999), Gabriele Droste: In einer Nacht (2005), Christina von Braun: Stille Post (2007), Katharina Hagena: Der Geschmack von Apfelkernen (2008), Renate Welsh: Großmutters Schuhe (2008), Elisabeth Reichert: Die Voest-Kinder (2011). LITERATURVERZEICHNIS Annette, Hug. Lady Berta. Zürich: Rotpunktverlag 2008. Bagley, Petra M. Granny Knows Best: The Voice of the Granddaughter in Grossmütterliteratur. In: Heike Bartel u. Elizabeth Boa (Hgg.). Pushing at Boundaries. Approaches to Contemporary German Women Writers from Karen Duve to Jenny Erpenbeck. Amsterdam/New York: Ro-dopi 2006, 151 - 165. Bronsky, Alina: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche. Köln: Verlag Kiepenheuer &Witsch 2010. Chvojka, Erhard. Geschichte der Großelternrollen vom 16. Bis zum 20. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimer: Böhlau Verlag 2003. Göckenjan, Gerd. Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2000. Haubold-Stolle, Juliane. Oma ist die Beste. Eine Kulturgeschichte der Oma. Berlin: Vergangenheitsverlag 2009. Herrmann, Christine. Grossmutter - grosse Mutter: Stereotype über die ältere Frau in der Kinder- und Jugendliteratur. Frankfurt am Main: dipa-Verlag 1992. Höpflinger, Francois et al. Enkelkinder und ihre Grosseltern - integenerationelle Beziehung im Wandel. Zürich: Seismo-Verlag 2006. Klosinski, Gunther (Hrsg.): Großeltern heute - Hilfe oder Hemmnis? Analysen und Perspektiven für die pädagogisch-psychologische Praxis. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2008. Mitterauer, Michael/Reinhard, Sieder: Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie. München: C. H. Beck 1980. Neuschäfer, Markus: Vom doppelten Fortschreiben der Geschichte. Familiengeheimnisse im Generationenroman. In: Lauer, Gerhard (Hrsg.): Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationenforschung. Göttingen: Wallstein Verlag 2010, 164 -203. Ljubljana