Bernhard Waldendfels HOMO RESPONDENS1 Der Mensch ist ein Wesen, das sich selbst in Frage stellt. Die Frage „Wer bin ich?" läßt sich ebensowenig überspringen wie das „hier" und „jetzt" dieser Rede. Eine Anthropologie, die jeden Rest von Egologie zu tilgen versucht, erstarrt zwangsläufig in einer Ideologie, die uns über die Herkunft der Ideen im Dunklen läßt. Da aber jede Rede sich implizit oder explizit an jemanden richtet, verdoppelt sich die Frage „Wer bin ich?" durch die Frage „Wer bist du?" Dies alles hat nichts zu tun mit einer narzißtischen Selbstverliebtheit des Menschen, sondern es rührt daher, daß jede Frage, auch die Frage nach dem Menschen, einen Ort hat, von dem aus sie sich stellt. Fragen fallen nicht vom Himmel. 5 Der vielgestaltige Mensch Die Selbstbefragung bringt es mit sich, daß der Mensch in verschiedenen Rollen und mit nicht enden wollenden Epitheta auftritt. Seit Linne hat er als homo sapiens seinen Platz im Stammbau der Natur: ein einsichtiges Wesen, das körperlich als homo erectus herausragt und das dem Clair-obscur von Menschenaffen und Affenmenschen entsteigt. Als homo faber zeichnet er 1 Inauguralvortrag aus Anlass der Gründung der internationalen „Forum für Humanwissenschaften", Ljubljana, 11. 11. 2014. sich aus durch kunstfertiges Geschick und durch den Gebrauch von Bronze oder Stein, als homo laborans geht er mühevoller Arbeit nach, als homo ludens erprobt er seine spielerischen Kräfte, als homo pictor setzt er sich und seine Welt in Bilder um, beginnend mit frühen Höhlenzeichnungen.2 Hinzukommen Konstrukte wie der homo oeconomicus und Retortenprodukte wie der homunculus. Nun also ein weiterer homo respondens? Der Mensch als antwortendes Wesen erinnert gewiß an die alte aristotelische Definition des Menschen als eines Lebewesens, das einen Logos hat und das mit anderen in einer Polis lebt. Doch mit der Antwort setzen wir einen eigenen Akzent. Wenn jedes Wort der Sprache ein „halbfremdes Wort" ist,3 so gilt dies in besonderem Maße für die Antwort. Die Stimme des Antwortenden ist pro-voziert, sie wird von anderswoher hervorgerufen; man antwortet auf etwas oder auf jemanden. Das Worauf der Antwort ist nicht zu verwechseln mit dem Worüber einer Aussage, die ich mache, oder mit dem Wozu einer Entscheidung, die ich fälle. 6 Die Antwort geht nicht von mir selbst aus. Der Mensch, der in der Antwort zutage tritt, stellt sich quer zu geläufigen Definitionen. Er ist weder ist ein bloßes „Mängelwesen", das Fehlendes zu kompensieren hat, noch ragt er hervor als „Krone der Schöpfung", noch wohnt er „in der Mitte der Welt". Vielmehr erweist er sich als ein „Zwischenwesen", das Brücken schlägt und das als „nicht festgestelltes Tier" mit seiner Ortssuche die Welt in Unruhe versetzt. 2 Zur evolutionären Vielfalt des Menschen vgl. die meisterliche Darstellung des Paläontologen Andre Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, übersetzt von M. Bischoff, Frankfurt/M.^ 1984 und zur neueren Entwicklungsforschung Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, übersetzt von J. Schröder, Frankfurt/M. 2002. 3 Vgl. Michail M. Bachtin, „Das Wort im Roman", in ders.: Die Ästhetik des Wortes, hg. von R. Grübel, Frankfurt/M. 1979, S. 185. Ich erwähne den russischen Literaturtheoretiker an vorderer Stelle, weil er einer der wenigen Autoren ist, bei dem die ,Antwortlichkeit' gegenüber der Verantwortlichkeit einen eigenen Platz behauptet. Vgl. daran anschließend vom Verf. Vielstimmigkeit der Rede, Frankfurt/M. 1999, S. 156-170. Das Rätsel der Sphinx Die Ortssuche des Menschen spiegelt sich wider in mannigfachen Ursprungsgeschichten. Darunter findet sich eine alte Rätselgeschichte aus der griechischen Antike, die den mythologischen Hintergrund der Ödipus-Tragödie bildet. Diese Geschichte beginnt nicht als dramatische Handlung, sie erwächst aus einem Pathos. Die Stadt Theben, die von der Pest heimgesucht wird, litt einst unter den Schrecken der Sphinx. Dieses geflügelte Ungeheuer suchte sich seine Opfer, indem es ihnen eine Rätselfrage stellte: „Wer ist das Wesen, das erst auf vier, dann auf zwei, schließlich auf drei Füßen über die Erde schreitet?"; jeder, der die Antwort schuldig blieb, wurde von dem Ungeheuer verschlungen. Ödipus, der nach seiner Geburt vom Vater ausgesetzt wurde und den sein Name ,Schwellfuß' als jemanden verrät, dessen eigener Schritt gehemmt ist, rettet die Stadt. Er löst das Rätsel, indem er mit dem Aussprechen des Namens .Mensch' den Bann bricht: „Vom Menschen sprichst 7 du - avGpwnov KaxeXe^aq^" Der Wortlaut der Lösung läßt die Vorzüge von Logos und Polis verblassen, indem er den Menschen als sterbliches, alterndes Wesen darstellt, dessen Leben mit der Hilflosigkeit des Kindes beginnt und in der Hinfälligkeit des Alters endet. „Allbewandert. Unbewandert zu nichts kommt er. Der Toten künftigen Ort nur zu fliehen weiß er nicht." So der von Hölderlin übertragene Passus aus dem Chorlied der Antigone (v. 360-363), in dem das „Ungeheure" des Menschen beschworen wird. Doch die Rätselszene erschließt noch einiges mehr. Wir verfehlen ihre Lektion, wenn wir Ödipus zum Forscherheld erheben oder umgekehrt das Rätsel der Sphinx einer Quizfrage annähern. Wie der Prolog von König Ödipus (v. 38) kundtut, kam Ödipus nicht ohne „Beihilfe eines Gottes - npo00^K^ 0eoß" auf die rechte Lösung. Und die Frage selbst entpuppt sich, wie oft im Märchen, als eine Frage auf Leben und Tod, deren Beantwortung mehr verlangt als bloßen Scharfsinn. Der Fortgang der Tragödie zeigt, in welche Abgründe aus Vatermord und Inzest Ödipus mit seinem unermüdlichen Forschungsdrang hineintreibt. Wie viel Freuds Abstieg ad inferos der intensiven Lektüre der griechischen Tragödie verdankt, ist bekannt. Wir neigen dazu, solch alte Texte zu entschärfen. Stammen sie nicht aus prämodernen Zeiten mangelnder Selbstbestimmung, in denen noch Götter und Fabelwesen unser Geschick bestimmten? Zeichnet sich der emanzipierte Mensch nicht dadurch aus, daß er selbst Fragen stellt, anstatt auf fremde Fragen zu antworten? Wenn schon Antike, dann scheint sich Prometheus eher als Erzvater der Menschheit anzubieten. In der zweiten Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft (B XII) preist Kant moderne Naturforscher wie Galilei und Torricelli: „Sie begriffen, daß die Vernunft die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse [^]" Freiheit, die den Menschen als Vernunftwesen auszeichnet, bedeutet, bei sich selbst beginnen. Das Selbst ist großgeschrieben in Form einer moralischen und politischen Autonomie und inzwischen auch in der systemischen Form einer Autopoiesis. Wer einem Heteron das Wort redet, scheint in den Zustand unmündiger Abhängigkeit zurückzukehren 8 und sich gleichsam wieder auf allen Vieren zu bewegen, anstatt aufrecht voranzuschreiten. Doch nicht minder gewiß ist inzwischen, daß die forcierte Modernisierung ihre Schattenseiten offenbart bis hin zu dem Punkt, an dem der Mensch von seinen eigenen Erfolgen überrannt wird. Den Griechen, die mit den Statuen des Dädalus den Einsatz automatischer Werkzeuge vorausdachten,4 diente der Sturz des Ikarus als frühe Warnung. Angesichts eines angeschlagenen „Projekts der Moderne" ist die Versuchung groß, auf die Gegenbahn einer Antimoderne überzuwechseln; auch die Geschichte hat ihre Geisterfahrer. Doch bloße Kehrtwendungen wie Restauration statt Revolution, Konservierung statt Innovation haben noch nie gefruchtet. Die Responsivität, um die es uns geht, bedeutet keinen Umschlag ins Gegenteil, sondern eine Umgewichtung, die eine „Verfremdung der Moderne" nach sich zieht.5 Der antwortende Mensch ist weder Herr der Dinge noch deren Spielball. Um dies zu zeigen, werden im folgenden die Grundzüge einer responsiven Phänomenologie skizziert. Dies geschieht in der Absicht, nicht etwa das Rätsel der Sphinx zu lösen, sondern der Erfahrung ihre Rätselhaftigkeit zurückzugeben. 4 Vgl. Aristoteles, Politik I, 4. 5 Vgl. vom Verf. Verfremdung der Moderne, Göttingen 2001. Technisch normierte, normale und kreative Antworten Doch um welche Art von Antwort handelt es sich beim Homo respondens? Das Antworten genießt üblicherweise kein großes Ansehen. Es scheint einzig dazu da, eigene und fremde Wissenslücken zu schließen, die bereits einen Wissensrahmen voraussetzen. Die rechte Antwort wäre herauszufinden, zu erfinden bliebe nicht viel. Das Multiple Choice läßt keine große Wahl. Steht ein Antwortrepertoire zur Verfügung, so kann man die Antwort abrufen; bei hinreichender Formatierung genügt ein Antwortapparat. Ein Computerprogramm kann selbst therapeutische Diagnosen erstellen und Ratschläge erteilen. Vorausgesetzt ist allerdings, daß die Patienten mit ihren Beschwerden den Spielraum der Regelung nicht überschreiten und sich an die normierten Formate und Formulare halten.6 Abgesehen von technisch präparierten Antworten gibt es normale Antworten, die zu unserem Alltag gehören; sie sind nützlich und unentbehrlich als Gesprächskitt, aber sie 9 leben von den Beständen unserer Alltagspraxis, die lediglich umgesetzt und in der Arbeitswelt erprobt werden. Für den Alltag der Institutionen, also auch für den Forschungsalltag der Normalwissenschaften, gilt ähnliches. Antworten sinken schließlich herab zu bloßen Reaktionen, wenn sie, getreu dem behavioristischen Schema von Stimulus und Response, als Effekt eines Stimulus definiert und entsprechend konditioniert werden. Daran ändert sich nichts Grundlegendes, wenn das lineare Modell durch einen Regelkreis ersetzt wird und die gegebenen Antworten selbst rückwirkend stimulieren wie beim Thermostat. Ernst wird es erst, wenn der normale Ablauf gestört wird und wenn Antwortgewohnheiten und Antwortprogramme versagen.7 In solchen Fällen sind kreative Antworten verlangt, die Neuartiges ins Spiel bringen. Dann aber stellt sich die Frage, inwiefern eine Antwort als Antwort kreativ und eine Kreation als Kreation responsiv sein kann. 6 Vgl. Joseph Weizenbaum, Die Ohnmacht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, übersetzt von U. Rennert, Frankfurt/M. 1977, Kap. 7. 7 Vgl. dazu vom Verf. Grenzen der Normalisierung, erweiterte Ausgabe Frankfurt/M. 1998. Responsivität als Grundzug des Verhaltens Wenn im folgenden von Responsivität die Rede ist, so bezieht sich dies nicht auf spezielle Verhaltensweisen wie etwa das Erteilen einer Auskunft oder die Beantwortung einer Prüfungsfrage, sondern auf einen Grundzug, der unser gesamtes leibliches Verhalten prägt und dabei eine „Findigkeit des Körpers" in Anspruch nimmt.8 Das Hinsehen, Hinhören, Phantasieren, Lächeln oder Fühlen ist davon ebenso betroffen wie das Reden, Tun, Machen oder Herstellen. Antworten bedeutet, daß wir auf Fremdes eingehen, das sich nicht mit den vorhandenen Mitteln des Eigenen und Gemeinsamen bewältigen läßt. Ich selbst habe den Ausdruck Responsivität der Sprache der Medizin, genauer: der Redeweise der Virchow-Schule entlehnt. Der deutsch-jüdische Neurophysiologe Kurt Goldstein versteht unter Responsivität die Fähigkeit des Organismus beziehungsweise eines Individuums, adäquat auf Anforderungen 10 eines Milieus zu antworten, und als Irresponsivität bezeichnet er die krankhafte Beeinträchtigung dieser Fähigkeit. Goldstein, der in Frankfurt in den Zwischenkriegsjahren bis zu seiner erzwungenen Emigration ein Rehabilitationszentrum leitete, untersuchte mit seinen Mitarbeitern über Jahre hin, wie bei dem Patienten Schneider eine durch einen Granatsplitter verursachte Hirnverletzung in der optischen Zone die Responsivität des Gesamtverhaltens beeinträchtigte, und gleichzeitig erprobte er Wege einer responsiven Therapie.9 Spuren davon finden sich in den Krankengeschichten von Oliver Sacks. Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, führt an die pathologischen Ränder eines ungesicherten Menschseins. 8 Vgl. hierzu vom Verf. Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt/M. 2006 und speziell Findigkeit des Körpers, Dortmunder Schriften zur Kunst (Kataloge und Essays, Bd. 1) 2004 bzw. Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt/M. 2004, Kap. VI. 9 Vgl. Kurt Goldstein, Der Aufbau des Organismus, Den Haag 1934, Neuausgabe W. Fink, Paderborn 2014. Die Antwortfähigkeit, die von der Verantwortlichkeit des Handelns wohl zu unterscheiden ist, hat längst in die Sozialpraktiken Eingang gefunden. Doch die üblichen Handlungs- und Sprachtheorien begnügen sich zumeist damit, Zielsetzungen, Regelungen und pragmatische Umstände zu überprüfen, ohne die Frage zu stellen, worauf jemand antwortet, wenn er dieses oder jenes sagt oder tut. Doch erst mit dieser Frage betreten wir das Gebiet, das Kant als das „fruchtbare Bathos der Erfahrung" bezeichnet (Prolegomena, A 204). Wer sich vorschnell auf die Ebene des Urteilens und Entscheidens begibt, tut so, als würde sich das Leben in einem imaginären Gerichtssaal abspielen. Die Kreativität des antwortenden Menschen kommt in einer solchen Orthologie und Orthopraxie zu kurz.10 Pathos^ Damit kommen wir zum Kern unserer Überlegungen. Die Responsivität, die den Gang unserer Erfahrung bestimmt, präsentiert sich als ein Doppelereignis aus Pathos und Response. Unter dem griechischen Ausdruck Pathos oder dem deutschen Ausdruck Widerfahrnis verstehe ich die Urtatsache, daß uns etwas zustößt, zufällt, auffällt oder einfällt, daß uns etwas trifft, glückt und auch verletzt wie das touche aus dem Fechtkampf. Überraschendes und Ungewöhnliches kann aus minimalen Veränderungen hervorgehen, die eine Tiefenwirkung entfalten. Sie äußern sich sinnkräftig in der Form eines plötzlichen Aufblitzens, eines explosiven Knalls oder einer Erschütterung. Sie können in nächster Nähe auftreten oder in weiter Ferne wie das Aufleuchten eines neuen Sterns oder der mühsam errechnete Urknall des Universums. Die Veränderung kann von Worten und Gedanken ausgehen, wie sie Nietzsche vorschwebten: „Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt." Unsere persönliche Geschichte ist skandiert von einmaligen Ereignissen wie Geburt und Reife, Partnerwahl und Partnerverlust, Berufseintritt, Berufswechsel und Stellenverlust, Krankheit und Tod. Die öffentliche Geschichte wäre ein unendliches 10 Ich verweise auf meine Kritik an einer „forensischen Vernunft": Schattenrisse der Moral, Frankfurt/M. 2006. 11 Gewimmel von Tatsachen und Zuständen ohne epochale Umbrüche wie Renaissance, Reformation oder Revolution, ohne einbrechende Ereignisse wie Kriegsausbruch, Börsenkrach oder Naturkatastrophe, ohne technische Neuerungen wie die Einführung des Internet oder künstlerische Neuanfänge wie die Erfindung der Zentralperspektive, die impressionistische Entfesselung der Farbe oder der Übergang zur atonalen Musik. Manche Ereignisse tragen feste Orts- und Zeitdaten: New York am 11. September 2001 oder Fukushima am 11. März 2011, während andere Änderungen sich allmählich anbahnen, bevor sie an die Oberfläche treten. Ähnlich wie es akute und chronische Erkrankungen gibt, gibt es akute und chronische Szenenwechsel. In allen Fällen handelt es sich um starke Formen der Erfahrung, in denen sich nicht nur etwas in der Welt und in unserem Leben ändert, sondern die Welt und das Leben im Ganzen sich umstrukturiert oder aus den Fugen gerät. Das Einbrechen oder Einsickern des Neuen konfrontiert uns mit 12 Ereignissen, die vom Gewohnten abweichen und uns im äußersten Fall aus der Fassung bringen. Doch hinter der Vielfalt der Ereignisse, die sich hier andeutet, steckt eine Ereignisstruktur besonderer Art. Pathos oder Widerfahrnis sind nicht zu verwechseln mit beobachtbaren Events, sie erschließen sich nur aus der Teilnehmerperspektive. Was mir, dir, uns oder anderen zustößt, äußert sich in einer leibhaftigen Wirkung, indem es uns affiziert, wörtlich: antut oder anmacht, und indem es an uns appelliert, uns anspricht. Starke Wirkungen produzieren im Erstaunen, Erschrecken oder Befremden einen affektiven Überschuß. Platon läßt die Philosophie mit einem Staunen beginnen, das uns schwindeln läßt und dem Schrecken benachbart ist. Mit einer solchen Initiation überqueren wir eine Fremdheitsschwelle. Das Staunen beginnt nicht im Eigenen wie der methodische Zweifel bei Descartes, noch läßt es sich lernen. Lichtenberg, der sich bei der Aufzeichnung seiner „Sudelbücher" immer wieder selbst überraschte, hat ähnliches im Sinn, wenn er empfiehlt, man solle sagen „es denkt", wie man sagt „es blitzt"; und Nietzsche schließt sich dem an, wenn er feststellt, „daß ein Gedanke kommt, wenn ,er' will, nicht wenn ,ich' will". Was uns auffällt und einfällt, haben wir nie völlig in der Hand. Grammatisch betrachtet lassen sich Verben wie ,widerfahren', auffallen' oder ,einfallen' nicht im Aktiv verwenden; sie sind nicht als Akte zu verstehen, die wir uns als eigene Leistung zurechnen. Darin gleichen sie den Prozessen des Aufwachens und Einschlafens, die im „dogmatischen Schlummer" oder in der „religiösen Erweckung" ihre metaphorische Wirkung entfalten. Die Aktionsgelüste eines Subjekts werden also gedämpft, doch dies ist kein Grund, Hals über Kopf in einen Lebensstrom einzutauchen. An jedem Widerfahrnis ist durchaus jemand beteiligt, nur eben nicht im Nominativ des Autors, sondern im Dativ oder Akkusativ eines im weiteren Sinne zu verstehenden Patienten: „Mir stößt etwas zu", „Mich hat etwas getroffen". Ein Widerfahrnis ohne jemanden, dem etwas zustößt, wäre wie ein Schmerz ohne jemanden, der ihn verspürt. Wir sind durchaus beteiligt, nur eben nicht als selbstherrliche Subjekte. ^und Response Doch dies ist nur die eine Seite der Medaille. Das Widerfahrnis bliebe wirkungslos und unwirklich, wenn es nicht zum Ausdruck oder zur Sprache käme. Kommt es zum Ausdruck, so nicht als etwas, worüber wir sprechen, sondern als etwas, worauf wir antworten. In dieser winzigen Differenz entfaltet sich der Antwortcharakter der Response. Antworten heißt, vom Fremden her sprechen. Damit verwandle ich mich vom Patienten in einen Respondenten, der auf das antwortet, was ihm widerfährt. Das eigene Selbst ist ein geteiltes Selbst. Die Rede von einem Homo respondens bedeutet nicht bloß, daß der Mensch ein Wesen ist, das antworten kann und zu antworten bereit ist, sondern daß er zum Menschen wird, indem er antwortet, so wie Ödipus zum Retter der Stadt wird, indem er das Rätsel löst. Die Antwort geht ihrer eigenen Ermöglichung voraus. Das Antworten liegt nicht in unserem Belieben; es folgt aus einer Unausweichlichkeit, wie sie uns bereits in der Rätselfrage der Sphinx begegnet ist. Wenn uns etwas anspricht, so können wir nicht nicht antworten, so wie wir laut Paul Watzlawick nicht nicht kommunizieren können. Wir sitzen in einer Art responsiver Falle. Keine Antwort wäre auch eine Antwort, wie das Sprichwort sagt. Die Nötigung zur Antwort besagt freilich nicht, daß diese fertig vorläge. Jeder Anspruch läßt einen Spielraum. Es liegt nicht an uns, ob wir antworten, wohl aber, wie wir antworten. Bliebe unsere Erfahrung den Blitzschlägen des Augenblicks ausgesetzt, so würden wir überhaupt keine Erfahrungen machen. In unserem Antworten verwandelt sich das Worauf 13 des Antwortens in das Was einer Antwort. Was uns widerfährt, nimmt eine wiederholbare Gestalt an, etwa als Farbkontrast oder als Klangfolge; es gewinnt einen Sinn, es bilden sich Regeln und eine den wechselnden Anforderungen entsprechende Antwortbereitschaft. Dieser Umwandlungsprozeß kann stocken oder mißlingen. Goethes Satz „Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide" meint mehr als die Fähigkeit, über das eigene Leiden zu sprechen; es geht darum, daß das Leiden die Schwelle des Schweigens überschreitet, daß es zur Sprache kommt, daß sich Worte finden auch für das Unsägliche. Im Lernen durch Leiden, dem sprichwörtlichen ndGei ^d0oq, vollzieht sich das, was in der Psychoanalyse Verarbeitung heißt. Der Umgang mit dem Leiden gehört zum Berufsalltag der Klinik. Der Arzt verwandelt das Leiden des Kranken in eine Krankheit, die typische Symptome zeigt, einen typischen Verlauf nimmt, sich behandeln und heilen oder wenigstens lindern läßt. Responsiv ist die ^erapie, sofern sie 14 nicht nur einen Normalzustand wiederherstellt wie bei der Reparatur einer Maschine, sondern die Antwortfähigkeit unter veränderten Bedingungen neu entfacht und Antwortblockaden durchbricht. Auf spezielle Weise gilt dies für die therapeutische Behandlung Traumatisierter, die förmlich mundtot sind und deren Verletzung sich in die Körpersprache der Symptome flüchtet. Es geht aber auch um kollektive Antworten im großen Stil. So bedeutet die Politik, die nach der Atomkatastrophe von Fukushima in Gang gesetzt wurde, eine Antwort und keinen schlichten Neuanfang. Fällt diese Antwort so aus, als sei nichts gewesen, so ist auch sie eine Antwort, allerdings keine, die einen Lernprozeß auslöst. Auch die Erinnerungsarbeit, die uns Deutschen durch die Politik des Dritten Reichs und durch die Greuel des Holocaust auferlegt wurde, hat einen responsiven Charakter. Ohne öffentliche Antwortbereitschaft hätten Gedenkstätten und Gedenkfeiern nichts weiter zu bieten als leere Wiederholungen, denen das Unwiederholbare entgleitet. Pathos und Response sind wie zwei Glieder einer Kette, die sich nicht schließt. Eines läßt sich nicht aus dem anderen herleiten. Ein Pathos ohne Response, bliebe auf ewig stumm und würde über kurz oder lang vergessen. Eine Response ohne Pathos wäre eine leere Floskel oder eine bloße Pflichtübung. Kreativ ist eine Antwort, die erfindet; sie erfindet, was sie zur Antwort gibt, nicht aber das, worauf sie zu antworten hat. Darin unterscheidet sie sich sowohl von einem Fundamentalismus, der fertige Antworten vortäuscht, wie von einem Konstruktivismus, der Widerfahrnisse zu bloßen Basisdaten zurechtstutzt. Diastase Eine Erfahrung, die sich zwischen Pathos und Response bewegt, weist eine eigentümliche Zeitstruktur auf. Überraschende Ereignisse haben es an sich, daß sie zu früh kommen, gemessen an unseren Erwartungen; sonst wären sie nicht überraschend. Nur normale Ereignisse, die unseren Erwartungen und Planungen entsprechen, kommen mehr oder weniger rechtzeitig, mögliche Verspätungen wie im Reiseverkehr eingeschlossen. Solche Verspätungen lassen sich korrigieren, doch für Überraschungen gilt dies nicht, es sei denn, man schirmt sich ab, indem man in die Apathie flüchtet. Wenn also das, was uns widerfährt, zu früh kommt, so kommt umgekehrt unsere Antwort 15 zu spät, gemessen an dem, was uns in Anspruch nimmt. Die zwiefache Ungleichzeitigkeit von originärer Vorgängigkeit des Pathischen und originärer Nachträglichkeit des Responsiven bezeichne ich als Zeitverschiebung oder mit einem alten griechischen Ausdruck als Diastase. Die Erfahrung tritt buchstäblich auseinander, sie zerdehnt sich. Diese eigentümliche Zeitverschiebung läßt sich nicht begreifen als Abfolge von Zeitpunkten auf einer Zeitlinie und als lineare Kausalität, als käme erst das Widerfahrnis und folge dann die Antwort. Vielmehr geht die Erfahrung sich selbst voraus; als Antwortende sind wir von Anfang mit im Spiel, nur eben nicht als Urheber. Die Zeitverschiebung taucht in mancherlei Gestalt auf. Schon meine Geburt gehört einer Vorvergangenheit an, die nie als Gegenwart durchlebt wurde, und doch bin ich es, der sich als geboren vorfindet. Dies wiederholt sich überall, wo in der Geschichte Neues auftaucht, das im Alten keinen zureichenden Grund findet wie etwa beim Ursprung der Geometrie, der Tragödie oder der Demokratie. Singuläre Stiftungsereignisse, ob politischer, religiöser oder künstlerischer Art, lassen sich nur hinterdrein als solche erfassen. Wie Platon im Dialog Parmenides (141 c-d) bemerkt, ist alles, was in der Zeit ist, jünger und älter als es selbst. Dies gilt auch für die immensen Zeiträume des Kosmos, die uns Sterne sehen lassen, die es vielleicht gar nicht mehr gibt, wenn wir sie im Teleskop entdecken. Nur eine Erfahrung, in der im Grunde alles beim Alten bleibt, bliebe von solchen Zeitverschiebungen verschont. Die Nachträglichkeit unserer Antworten ist alles andere als ein bloßer Mangel. Nur weil es mit uns schon begonnen hat, wenn wir selbst beginnen, öffnet sich uns eine Zukunft, die mehr bedeutet als eine Verlängerung der eigenen Gegenwart und eine Hochrechnung von Trends. In dem Mythos von der Ausstattung des Menschen, den Platon im Protagoras erzählt (320 c-322 e), tritt das Brüderpaar Prometheus und Epimetheus auf. Prometheus, der gefeierte Held der technischen Erfindung, ist, wie sein Name andeutet, .vorbedacht', im Gegensatz zu Epimetheus, der ,nachbedacht' ist; der eine trifft Vorsorge, der andere hat das Nachsehen. Doch der antwortende Mensch ist auf gewisse Weise Prometheus und Epimetheus in einer Person. Voraussehen und Nachsehen schieben sich ineinander wie Eigenes in Fremdes und Fremdes in Eigenes. Wenn der mündige Mensch auf zwei Füßen geht, so ist 16 die Zweifüßigkeit doch nicht völlig synchronisiert. Der schwellfüßige Ödipus löst nicht einfach das Rätsel der Sphinx, er verkörpert es auch. Epilog: Namen Unsere Überlegungen zur Antwortlichkeit des Menschen wären unvollständig ohne einen Blick auf die Namentlichkeit des Menschen. Dabei geht es in erster Linie nicht um Gattungsnamen, die allgemeine Eigenschaften bezeichnen, oder um Eigennamen, die der Identifizierung von Individuen dienen. Solche Namen werden vergeben wie Kenn- oder Paßwörter. Wäre dies jedoch alles, so wäre der Namensgeber Herr der Namen. Er selbst hätte gleich dem transzendentalen Subjekt eine Funktion, aber keinen Namen. Vom Namen des Menschen bliebe nur der Gattungsname mit seinen wechselnden Konnotationen, die den Status des Menschen spezifizieren. Es macht dann keinen großen Unterschied, ob man von avGpwnoq, von homo oder von man beziehungsweise geschlechtsneutral von human spricht. Doch der Homo respondens, mit dem wir es zu tun haben, ist kein bloßer Namensträger, er ist ein singuläres Wesen, das seinen Namen von Anderen empfangen hat. Der Name ist Signet einer Unersetzlichkeit. Man feiert Namenstage, aber keine Begriffstage. Bevor der Name als Namensbezeichnung zur Verfügung steht, taucht er als Rufname auf, auf den der Angeredete hört und antwortet - oder eben nicht antwortet. Ein solcher Eigenname weist Züge eines Fremdnamens und einen Kern an Namenlosigkeit auf. In ihm finden sich die Spuren einer Namensgeschichte. Dies gilt für den vom Vater mit durchstochenen Fersen ausgesetzten Ödipus, vom schon die Rede war. Besonders eindringlich zeigt es sich in den Verheißungen jüdischer Namen, wenn etwa Abraham als „Vater der vielen (Völker)" oder Isaak als „er wird lachen" angesprochen wird.11 Das „Lebewesen, das Vernunft hat" ließe sich demgemäß abwandeln in ein „Lebewesen, das auf einen Namen antwortet". Was dies für die Singularität des Menschen bedeutet, tritt deutlich zutage, sobald der Name entzogen und durch Nummern und Kennzeichen ersetzt wird wie bei KZ-Häftlingen oder verkäuflichen Sklaven. Dies führt uns in das weite Feld einer Kultur, einer Politik und einer Ethik der Namen. Auch der Gebrauch von Namen in außermenschlichen Bereichen wäre zu bedenken, von der Benennung von Haustieren und seltenen Pflanzen bis zur Benennung 17 von Hurrikans und seltenen Sternen. Daß der Mensch auf emphatische Weise antwortet, heißt nicht, daß alles andere nur funktioniert oder gehorcht. Die Leibhaftigkeit und Weltzugehörigkeit des Menschen schließt vielmehr ein, daß der Mensch immerzu mehr oder weniger Mensch ist. Nur durch und durch normalisierte Menschen wären mit sich im Reinen. 11 Vgl. hierzu Stephane Moses, Eros und Gesetz, München 2004, Kap. 2. Zur Rolle des Namens im Dialog vgl. vom Verf. Das Zwischenreich des Dialogs, Den Haag 1971, S. 284-288.