Narodna in univerzitetna knjiznica V I.jubljani 101225 DIE BALKANLÄNDER VON EMIL VON LAVELEYE. INS DEUTSCHE ÜBERTRAGEN VON E. JACOBI. ZWEITER BAND. LEIPZIG. VERLAG VON CARL REISSN ER 1888. EMIL VON LAVELEYE, DIE BALKANLÄNDER. (.Hl DIE BALKAN LAND ER. VON EMIL VON LAVELEYE. INS DEUTSCHE ÜBERTRAGEN VON E. JACOBI. ZWEITER BAND. VERLAG LEIPZIG. VON CARL REISSNER. 1888. 101225 af M mim* EINLEITUNG zur 2. Auflage des französischen Originalwerkes. Seit dem Erscheinen meines Buches über die Balkanländer blickt Jedermann mit wachsender Angst nach denselben hin. Man fürchtet, dort einen Zusammenstoss zwischen den Russen und Oesterreichern sich vollziehen zu sehen, der alle Völker Europas und Nord-Asiens — vom Etna bis zum Nordkap und vom Atlantischen Ocean bis zu dem fernen Gestade des Stillen Meeres und den Mündungen des Amur — in Mitleidenschaft ziehen würde. Wie können aber die Vorgänge in dem so weitab hegenden Bulgarien derartig den Frieden bedrohen, welchen alle Völker und, so scheint's, auch alle Fürsten aufrecht erhalten wollen? Nun, man steht eben an einem Wendepunkt der Geschichte, wo die Würfel fallen sollen, welche über die Geschicke des Morgen- und folglich auch über die des Abendlandes entscheiden. Die Russen haben ungeheuere Opfer an Blut und Geld gebracht, um Bulgarien zu befreien, und dasselbe sollte ihnen zur Vorhut auf dem Wege nach dem Mittelmeere werden. Können sie nun ruhig zusehen, dass es ihrem Einflüsse entschlüpft und ihrem Nebenbuhler, der österreichisch-ungarischen Monarchie, sich beigesellt? Der Augenblick ist entscheidend, und zwei Möglichkeiten Laveleye, Balkanländer. II. a lugen aus der Schicksalsurne hervor. Bulgarien könnte ausserhalb und trotz des russischen Einflusses emporwachsen, und unter den Fittigen Ungarns bildet sich später eine Gruppe von Balkanstaaten, welche Rumänien durch sein verschanztes Bukarest vertheidigt. Aber es wäre auch möglich, dass Bulgarien zum Lehen und Vorposten der moskowitischen Macht wird. In ersterem Falle muss Russland für immer auf Constantinopel und auf die Ufer des Agäischen Meeres verzichten, und es kann dann nur noch in den unermesslich weiten Ebenen Asiens sich dehnen und strecken. Beim Eintreten der zweiten Möglichkeit verschlingt dereinst das russisch gewordene und vergrösserte Bulgarien den serbischen Staat, fasst Bosnien von rückwärts und herrscht von Philippopel bis zum Bosporus. Die Besetzung Constan-tinopels durch ein bulgarisch-russisches Heer ist damit früher oder später ganz unausbleiblich. Bereits zwei Mal standen die Russen fast schon im Angesichte des Goldenen Hornes, und doch kamen sie damals aus der Ukraine, und auf ihrem Wege lagen die Moldau, die Donau und der Balkan. Von Rumelien aus würden ihre Heere aber schon in einigen Tagen das Marmara-Meer und den Bosporus erreichen, und lange dürfte es dann nicht dauern, bis die von griechisch-katholischen Slawen bevölkerte Balkanhalbinsel — wie Finnland — ein Anhängsel des grossen nordischen Reiches wäre. Ob Griechenland unter diesen Umständen seine Unabhängigkeit wahren könnte? Und wie stände es um Oesterreich-Ungarn? Dessen Slawen, welche zahlreicher sind als alle seine übrigen Völkerschaften zusammengenommen, würden der heute so allmächtig wirkenden Anziehungskraft der Rassengemeinschaft schwerlich widerstehen. Ueber eine Lösung des Räthsels nachgrübelnd, be- greift man, dass zwischen Russland und Oesterreich-Ungarn ein unversöhnlicher Gegensatz liegt. Beide Reiche kämpfen ja um Lebensinteressen. Für Russland handelt es sich um seine Ausdehnung nach Süden und für Oesterreich-Ungarn sogar um Sein oder Nichtsein. Wollte man den Krieg vermeiden, so müsste auf beiden Seiten sehr viel Mässigung, Klugheit und gegenseitige Rücksichtnahme zu finden sein. Die Ursache der gegenwärtigen Wirren steckt in dem Berliner Vertrage, welcher, den Wünschen der Bevölkerung und den geographischen und Rassen-Verhältnissen zum Trotze, Bulgarien in drei Fetzen zerriss. Allen Gelegenheiten zum Wühlen und Streiten wäre vorgebeugt worden, falls England und Oesterreich sich nicht eines unverzeihlichen Mangels an Voraussicht schuldig gemacht hätten. Aber sie zwangen eben Europa dazu, den so vernünftigen Vertrag von San Stefano — das Ergebniss russischer Siege — auseinander zu zerren. Es mag nun eine kurze Uebersicht über die Ereignisse folgen, welche die gegenwärtige Lage herbeiführten, und über die von den verschiedenen Mächten dabei beobachtete Haltung. Als ich in Bulgarien und Rumelien weilte, dachte man bereits daran, diese beiden Theile des gemeinsamen Vaterlandes zu vereinigen. Die Freisinnigen wollten aber auf eine günstige Gelegenheit warten und die Ra-dicalen sie mit Gewalt herbeiziehen. Im ganzen Verlaufe des Jahres 1884 fanden in Rumelien sehr viele Volksversammlungen statt, auf denen man sich begeistert für eine Vereinigung aussprach. Die Russen, die Russenfreunde und sogar die russischen Consuln nahmen an solchen Bestrebungen Theil oder begünstigten sie ganz offen. Gleichzeitig hatten sich in den bedeutenderen Städten der beiden Bulgarien macedonische Vereine gebildet, und zwar zu dem Zwecke, den Flüchtlingen aus Macedonien Beistand zu leisten, und diesem unglücklichen Lande zu den im Berliner Vertrage vorgesehenen Umgestaltungen zu verhelfen. Im Sommer 1885 wollten die Führer dieser Vereine — darunter Zacharias Stojanow und D. Rizow — in Macedonien den Aufstand entfesseln. Da sie aber in Erfahrung gebracht hatten, dass hierbei auf russische Hilfe nicht zu rechnen wäre, glaubten sie die ihnen zur Verfügung stehenden Kräfte zu einer Erhebung in Rumelien ausnützen zu müssen. Eine treffliche Stütze waren ihnen zwei sehr einflussreiche und vaterländisch gesinnte Officiere, der Hauptmann Panitza und dessen Schwager, der Major Nikolajew. Man klopfte auch auf dem russischen Consulate und bei den Spitzen des Heeres an und traf hier auf keine Gegenströmung. Der Statthalter Christo witsch wurde festgenommen, und die Erhebung vollzog sich in einer einzigen Nacht — am 19. September 1885 — ohne dass es dabei zu einem Widerstande oder zu irgend einer Gewaltthätig-keit kam. Es geschah eben nur, was die ganze Bevölkerung wünschte und wollte. Die Lösung erfolgte in der vorhergesehenen Weise, und man glaubte der uneingeschränkten BilHgung Russlands sicher zu sein. Den Fürsten Alexander hatte man von diesem Handstreiche nicht vorher in Kenntniss setzen können *), weil alles zu plötzlich kam, und dessen Versicherung von dem festen Bestände der Ordnung, welche er dem Herrn von Giers gegenüber bei einem Zusammentreffen in Deutschland abgab, war wirklich eine ganz ernstgemeinte. Bei seiner Rückkehr nach Bulgarien musste er dann aber die Erhebung als eine unabweisbare Thatsache hinnehmen. In einem aus Tirnowa vom 19. September datirten Er- !) Einer sicheren Nachricht zufolge wäre der Fürst von dem, was sich zu vollziehen im Begriffe stand, 7 Tage vorher benachrichtigt worden; aber er hatte kein Mittel in Händen, die Erhebung in Rumelien zu verhindern. lasse erkannte er deshalb die Vereinigung an und nannte sich jetzt Fürst von Nord- und Süd-Bulgarien. Sofort machten nun England und Russland eine vollständige Wendung. Jenes billigte die in Berlin eifrig bekämpfte Vereinigung, und dieses widerstrebte derselben, nachdem es sich vor fünf Jahren für sie beinahe in einen Krieg gestürzt hätte. In einer gemeinsamen Eingabe vom 13. October erklärten die Mächte, »dass sie diese Verletzung des Vertrages verurtheilen und darauf rechnen, dass der Sultan alles in seiner Macht Liegende thun wird, um es, ohne Verzicht auf seine Herrscherrechte, nicht zur Anwendung der ihm zu Gebote stehenden Gewaltmittel kommen zu lassen«. Auf der am 5. November in Constantinopel zusammentretenden Botschafter - Conferenz widerstrebte Russland vollständig einer Vereinigung der beiden Bulgarien; im Gegensatze zu den anderen Mächten ging es selbst so weit, von der Pforte ein Einschreiten mit den Waffen in der Hand zu verlangen. England wurde damals in der Türkei durch William White vertreten, einen hervorragenden, geistvollen Diplomaten, der des Ostens Land und Leute gründlich kannte. Ihm gelang es, die Conferenz zu keiner entscheidenden Beschlussfassung kommen zu lassen, während er gleichzeitig eine Verständigung zwischen dem Fürsten Alexander und der Pforte herbeiführte, welche zu einem Einschreiten in Rumelien durchaus keine Lust hatte. Oesterreich und Deutschland nahmen die Vereinigung der beiden Bulgarien vom ersten Augenblicke an als eine vollendete Thatsache hin. Am 22. September sagte Graf Kalnoky zum englischen Gesandten in Wien: »Es ist von grosser Wichtigkeit, dass Fürst Alexander die Macht des Sultans anerkennt, weil damit der Pforte das von ihr einzuschlagende Verfahren erleichtert wird, falls sie geneigt wäre, die geschehene Wandlung gutzuheissen. Jedermann war darauf gefasst, die beiden Provinzen früher oder später an einander fallen zu sehen, und nur die Art, in der sich dies vollzog, hat Einwürfe veranlasst.« (Englisches Blaubuch, Türkei, I, No. 53.) Fürst Bismarck stemmte sich jeder Neigung, türkische Truppen einschreiten zu lassen, ganz entschieden entgegen. »Eben habe ich Herrn Thielmann, den deutschen Geschäftsträger, gesehen und von diesem erfahren,« schreibt William White am 25. September, »dass die ihm vom Fürsten Bismarck zugegangenen Weisungen dahin lauten, die Pforte von einem Ueberschreiten der Grenze zurückzuhalten. Der Sultan ist vom ersten Augenblicke an zu keinem Eingreifen geneigt gewesen.« (Blaubuch, I, No. 50.) Als später ein Vergleich zwischen der Pforte und dem Fürsten Alexander zu Stande kam, erhoben Oesterreich und Deutschland nur deshalb Einwände, weil man den Wünschen der Bevölkerung nicht genügend Rechnung getragen hatte. Graf Kalnoky erklärte dem englischen Gesandten in Wien, »dass dieses Uebereinkom-men wohl mehr im Sinne einer Ausdehnung als in dem einer Einschränkung in Kraft treten könnte, um ein befriedigendes Endergebniss zu erzielen, und führte auch die Klausel an, welche den Fürsten Alexander bloss auf fünf Jahre und nicht auf Lebenszeit zum Ober-Statthalter von Rumelien ernannte. Er meinte, der Vergleich müsse derartig sein, dass die Bewohner Bulgariens und Rume-liens, wie auch der Fürst in gleichem Maasse zufriedengestellt würden, um damit einer neuen Gärung vorzubeugen.« (Blaubuch, II, No. 133.) Oesterreich und England, die völlig im Einklänge waren, nahmen also, ebenso wie Deutschland und Italien, die Vereinigung der beiden Bulgarien als eine unabweisbare Thatsache hin, und die Pforte fügte sich ins Unvermeidliche. Doch Russland kämpfte mit Erbitterung dagegen an und widersprach hiermit dem Empfinden des eigenen Volkes. Aus dem englischen Blaubuche (B. B., I, No. 161) ersieht man ja, dass die russischen Officiere in Philippopel der Erhebung bis zu dem Augenblicke zujubelten, wo sie Weisungen in entgegengesetztem Sinne erhielten. Bei seiner Unterredung mit dem englischen Gesandten in Petersburg behauptete Herr von Giers, allbekannten Thatsachen widersprechend, »dass die Vereinigung keineswegs vom Volke verlangt wäre, und dass die Begeisterung der Bulgaren und ihr Entschluss, fürs Vaterland zu sterben, bloss in der Einbildung der Presse beständen.« (Blaubuch, I, No. 402.) Er berief sich immer nur auf den Wortlaut des Berliner Vertrages und verlangte die Wiederherstellung der früheren Ordnung. (Blaubuch, No. 411 und 495.) »Kurz,« sagt R. Morier, »die russische Regierung ist entschlossen, sich der Vereinigung der beiden Provinzen zu widersetzen, gleichviel unter welcher Form.« (B. B., I, No. 529.) In der Conferenz-Sitzung vom 25. November verlangte der russische Gesandte — von Ne-lidow — als Grundlage für alle Verhandlungen »die Wiederherstellung der Ordnung im Sinne des Berliner Vertrages« und erklärte damit also doch die Vereinigung der beiden Bulgarien für vollständig ungiltig. Einige Tage später drohte der russische Consul in Philippopel den Notabein Rumeliens mit dem Einmärsche eines türkischen Heeres, falls sie sich dem Willen der Pforte nicht augenblicklich fügen wollten. Stolz aber entgegneten dieselben, dass sie die Türken zurückdrängen würden, und dass an ihrer Grenze 70000 Mann zum Kampfe gegen jeden Feind bereit wären. (B. B., II, No. 57.) Warum blieb Russland nun hartnäckig dabei, ganz allein am Berliner Vertrage festzuhalten, den es doch so sehr verwünscht hatte, und damit das zu bekämpfen, was den Hauptzweck des Vertrages von San Stefano bildete? Russische Zeitungen behaupteten, Kaiser Alexander wolle durch seine Haltung zeigen, dass er die Erhebung in Rumelien weder ermuthigt noch gebilligt habe. Aber jeder wusste doch, dass dieselbe ein Werk des Augenblickes war, welches sich an Ort und Stelle ohne Wissen aller Kanzeleien vollzog. Am 20. September sagte Graf Kalnoky zum englischen Gesandten in Wien: »Diese Bewegung ist in Bulgarien vorbereitet worden, aber ohne die Billigung und ohne das Mitwissen des Zaren oder der russischen Regierung, an welcher Stelle man ebenso erstaunt wie bei uns gewesen ist.« (B. B., I, No. 9.) Am 10. October äusserte sich Tisza im ungarischen Parlamente, eine Anfrage des Abgeordneten Szilagyi beantwortend, folgendermaassen: »Wir wussten um dieses Trachten nach einer Vereinigung der beiden Provinzen. Derartiges war überhaupt allen bekannt, welche dem Gange der Ereignisse in Bulgarien ihre Aufmerksamkeit zuwendeten. Als im vorigen Jahre die Bewegung mehr in den Vordergrund trat, legten sich verschiedene Grossmächte ins Mittel, um die alte Ordnung aufrecht zu erhalten; aber weder unsere noch irgend eine andere Regierung ahnte, was der 18. September als Folge einer Verschwörung und eines Aufstandes bringen sollte.« Russland wusste es sehr gut, dass Fürst Alexander an der ganzen Sache durchaus unschuldig war. Herr von Giers sagte am 21. November zum englischen Gesandten in Petersburg, »dass Fürst Alexander die Erhebung weder geplant noch zur Ausführung gebracht haben könne, weil ihm die Fähigkeiten fehlen, welche zur Leitung eines so wichtigen Unternehmens erforderlich sind«. (B. B., I, No. 74.) Die Russen beschuldigen denselben, dass er sich undankbar gegen sie gezeigt und eine ihnen feindselige Politik angenommen habe. Doch das sind leere Redensarten. Der Fürst hatte durchaus kein Interesse daran, sich mit dem Zaren zu entzweien, aber er konnte auch wiederum nicht den unterthänigen Diener der beiden russischen Proconsule, der Generale Kaulbars und Sobolew, spielen, welche ihm in der beleidigendsten Weise als Gebieter entgegentraten. Die russischen Officiere und Beamten erregten aber zunächst dadurch grossen Aerger, dass sie mit unverhohlener Verachtung auf die einfache, ungekünstelte Lebensweise ihrer Schutzbefohlenen herabblickten. Dann reizte auch ihr verschwenderisches Thun und Treiben die haushälterisch veranlagten Bulgaren, welche wussten, dass dieses unsinnig verschleuderte Geld das ihrige war. Der wahre Grund für den Widerstand des Zaren gegen die Vereinigung der beiden Bulgarien scheint folgender zu sein. Als die Russen um den Preis eines sehr kostspieligen und sehr blutigen Krieges Bulgarien befreit hatten, hofften sie dasselbe bald zu einer russischen Provinz machen zu können, wobei sie sich den Anschluss Bosniens an Oesterreich als Beispiel vorhielten. Die von russischen Officieren ausgebildeten und befehligten bulgarischen Truppen sollten zu einem Be-standtheile des russischen Heeres werden, und die Verschmelzung schien um so leichter durchführbar zu sein, weil unter allen slawischen Dialekten gerade das Bulgarische dem Russischen am nächsten steht. Ueberdies waren die Geistlichkeit und die den Hauptbestandteil der Bevölkerung bildenden Bauern vollständig dem »Zar-Befreier« ergeben. Aber die Russen fassten die Sache höchst ungeschickt an und verkehrten mit den Bulgaren und dem Fürsten wie mit Untergebenen. Damit säten sie einen Widerstand, welcher allmählich anschwoll und in die von der demokratischen Partei ins Werk gesetzte Erhebung vom 18. September so recht hineinarbeitete. Jetzt fürchtete Russland, das ohne seine Hilfe und gegen sein Wissen geeinigte Bulgarien könne zu einem frei und selbstständig sich entwickelnden Staate werden. Dann würde es aber — wie Rumänien — seine Unabhängigkeit zu wahren wissen und um keinen Preis unter das Joch des Zaren zu bringen sein. Deshalb widersetzte Russland sich mit allen Mitteln der Einigung der Bulgaren; aber es übersah dabei, dass die bekämpfte Bewegung eine allmächtige war, und dass es so weit unter den Brüdern des Südens um die theuer erkaufte Beliebtheit kam. Als Bulgarien nun von der Pforte bedroht und von den Russen im Stiche gelassen war, wollte Serbien die Gelegenheit benutzen, um seinen Nachbarn einige nach Lom und Widin hin liegende Bezirke zu entreissen. Es berief sich dabei auf den Berliner Vertrag und auf das Gleichgewicht der Balkanstaaten. In dem hierauf folgenden kurzen Feldzuge haben dann bekanntlich das bulgarische Heer und Fürst Alexander militärische Eigenschaften entfaltet, welche ganz Europa in Staunen setzten. Zu Sliwnitza waren die Serben doppelt so stark als die bulgarischen Milizen und mussten doch am 15. November, nach zweitägigen erbitterten Kämpfen, zurückweichen. In den Tagen vom 20. bis zum 28. desselben Monats führte Fürst Alexander seine siegreichen Truppen durch den Dragoman-Pass nach Pirot, erstürmte dasselbe und marschirte dann auf Nisch zu. Da wurde ihm aber mit dem Vormarsche österreichischer Truppen gedroht und so ein Halt zugerufen. Dem am 2. Decem-ber geschlossenen Waffenstillstände folgte der Friedensvertrag vom 3. März, welcher zu Bukarest unterzeichnet wurde, und zwar durch Herrn Mijatowitsch im Namen Serbiens, durch Herrn Geschow im Namen Bulgariens und durch Madgid Pascha im Namen der Türkei. Fürst Alexander versuchte alles Mögliche, um eine Aussöhnung mit dem Zaren herbeizuführen, und ging selbst so weit, seine Siege als Verdienst der russischen Exerciermeister hinzustellen, welche im bulgarischen Heere thätig gewesen waren. Doch all seine Bemühungen erwiesen sich als vergebliche, und nichts vermochte den Groll des Kaisers zu besänftigen. Hierauf wandte der Fürst sich wiederum an die Pforte, mit der ein Vergleich zu Stande kam, und die Botschafter-Conferenz billigte es, dass er als Ober-Statthalter von Rumelien anerkannt wurde. Bei den Wahlen zur Generalversammlung der beiden Bulgarien war die russische Gegenpartei sehr rührig; doch von Erneuerungen in ihrem Sinne kamen nur 10 auf 89. Am 17. Juni 1886 wurde die Einigung Bulgariens feierlich verkündet, und in der Sobranje, wie im ganzen Lande ertönten Rufe des Jubels und der Begeisterung. Die 30 türkischen Mitglieder des Parlaments stimmten sämmtlich für die Vereinigung, und in dem Kriege gegen Serbien waren die mohammedanischen Soldaten die ersten, welche sich zur Vertheidigung des gemeinsamen Vaterlandes nach der Grenze begaben. Derartige Vorgänge zeigen doch aber wohl, dass die Türken keineswegs über die bulgarische Regierung zu klagen hatten, und dass sie durchaus nicht bedauernd auf die ottomanische Wirthschaft zurückblickten. Unvergessen sind die nun weiterhin sich abrollenden Ereignisse. Während der Nacht vom 21. August wird der Fürst in seinem Palaste zu Sofia von einer Schaar unzufriedener Officiere festgenommen, und dass dieselben mit russischem Gelde erkauft sind, wagt Lord Salisbury bei einem Gastmahle des Lord-Mayors (am 9- November 1886) in Gegenwart des russischen Gesandten ganz laut zu erklären. Dem vom Heere und Volke zurückberufenen Fürsten bereitet man in seiner Hauptstadt einen glänzenden Empfang. Alexander von Battenberg arbeitet nun wiederum auf eine Verständigung mit dem Zaren hin und verlässt dann, über dessen Un-versöhnlichkeit verzweifelnd, das Land. Unter den Fit-tigen Russlands werden jetzt verschiedene Versuche gemacht, Unruhen und Aufstände ausbrechen zu lassen, und trotzdem gelingt es der einheimischen Regentschaft, die Ordnung aufrecht zu erhalten. Russland schämt sich nicht, Verräther in Schutz zu nehmen, welche schlimmer sind als die Nihilisten, denn sie haben ihr Vaterland verrathen und dessen rechtmässigen Herrscher zum Gefangenen gemacht. Bei der vom General Kaulbars unternommenen Rundreise hat sich das Widerwärtige mit dem Lächerlichen gepaart. Dieser Vertreter einer fremden Macht hält Anreden ans Volk, tauscht in den Versammlungen mit den Anwesenden Beleidigungen aus, treibt die Officiere zur Empörung und muss dann, nachdem seine Ohnmacht sich offenbart hat, davontrollen. Später wird, trotz Russlands drohendem Einsprüche und trotz des anbefohlenen Widerstandes der Pforte, der Prinz von Sachsen-Coburg erwählt, und die neue Regierung erhält durch den fast einstimmigen Beschluss der Volksversammlung die gesetzliche Giltigkeit. Zu verschiedenen Malen glaubte man, dass ein Zu-sammenstoss unvermeidlich wäre. General Kaulbars hatte erklärt, dass Kosaken die gegen ihn aufsässigen Bulgaren zur Vernunft bringen würden; russische Kanonenböte kreuzten vor Burgas und Warna, und russische Truppen zogen nach den Ufern des Schwarzen Meeres. Da führten aber Graf Kalnoky in Wien und Minister Tisza in Pest vor ihrem Parlamente eine so schneidige und unzweideutige Sprache, dass man sie im Einverständnisse mit Deutschland glauben musste. Im October 1886 Hess der letztere sich folgendermaassen vernehmen: »Als mir im Jahre 1868 zum ersten Male Gelegenheit wurde, mich über die Orient-Frage zu äussern, erklärte ich, dass unsere Interessen bei Wandelungen in jenem Bereiche die Bildung selbstständiger Staaten verlangen. Ich denke, in Uebereinstimmung mit unserem Minister des Aeusseren, dass eine solche Lösung auch heute noch die dem Wohle unserer Monarchie am meisten entsprechende ist, und dass sie, die jeden Gedanken an eine Vergrösserung oder Eroberung zurückweist, mit vollen Segeln dem Gedeihen jener Staaten zutreibt und zugleich dem durch die Verträge nicht gebilligten Schutze oder vorherrschenden Einflüsse einer fremden Macht wehrt. Die Regierung bleibt bei ihrer bereits mehrmals geäusserten Meinung, dass nach den bestehenden Verträgen keine Macht zu einem bewaffneten Vorgehen auf der Balkanhalbinsel berechtigt ist, dass dieselbe aber ebenso wenig jenen Bereich unter ihren Schutz stellen darf, und dass im allgemeinen jede Veränderung in der politischen Lage oder dem Gleichgewichte der Balkanländer nur in Uebereinstimmung mit den Unterzeichnern des Berliner Vertrages sich vollziehen kann.« Am 13. November äusserte Graf Kalnoky sich nicht weniger unumwunden und spielte dabei noch mehr auf die Bündnisse an, deren er sicher zu sein glaubte. »So lange der Berliner Vertrag in Kraft bleibt,« sagte er, »werden die Interessen Oesterreich-Ungarns gesichert sein. Falls wir aber zu einem Einschreiten gezwungen wären, um diesem Vertrage Geltung zu verschaffen, würden wir auf die Bestimmung und auf die Mitwirkung aller Mächte rechnen können, welche zur Auf- reUnterhaltung europäischer Verträge entschlossen sind. Im vorigen Jahre erklärte ich, dass die Vereinigung Bulgariens und Rumeliens unseren Interessen nicht entgegenläuft, und dass die Türkei es verabsäumt hatte, die ihr durch den Berliner Vertrag in Rumelien zugesicherte Machtbefugniss zu wahren. Wenn Russland diese Vereinigung aber zum Vor wände genommen hätte, um einen Bevollmächtigten nach Bulgarien zu schicken und dort die Zügel der Regierung zu erfassen, und wenn von ihm Maassregeln zur Besetzung der Häfen oder des ganzen Landes ergriffen wären, so würden wir, was auch immer geschehen könnte, eine Entscheidung getroffen haben. Doch die Regierung hielt es nicht für nöthig, solchen Ereignissen zuvorzukommen, und in diesem Sinne sind wir thätig gewesen. Es ist wünschens-werth, denke ich, dass die Berathungen unserer Delegationen zeigen, dass niemand in unserem Reiche den Krieg will. Den Frieden verlangen wir alle, aber nicht um jeden Preis.« Solche Worte Hessen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass man ein bewaffnetes Einschreiten Russlands in Bulgarien als Kriegserklärung betrachten würde. Sie entsprachen dem allgemeinen Empfinden Oesterreich-Ungarns, denn die beiden erwählten Delegations-Präsidenten, Smolka für Cis- und Tisza (der Bruder des Ministers) für Transleithanien, hielten bei der Eröffnung der Sitzungen Reden, welche entschlossener und selbst kriegerischer klangen. »Mit Fug und Recht verlangen die Völker des Reiches, und in erster Linie die Ungarn,« hatte Tisza gesagt, »dass die grossen Interessen im Morgenlande in keinem Falle aufgegeben werden dürfen, und sollte man, um sie zu stützen, auch zu den Waffen greifen müssen.« Smolka sprach zunächst davon, dass der Kaiser Franz Josef den Frieden zu erhalten gewusst habe, warf dann die Frage auf, ob derselbe im Hinblicke auf die ernste Zeitlage auch für die Zukunft gesichert sei, und antwortete hierauf in zweifelnder Weise. Dann hatte er hinzugefügt: »In treuem Festhalten an der Vergangenheit wird die Delegation sich auch dieses Mal nicht der Erkenntniss dessen verschliessen, was jetzt gerade mehr als jemals nöthig ist. Oesterreich-Ungarn muss in den Stand gesetzt werden, im Rathe der Nationen die Stellung einzunehmen, auf welche die ihm gebührende Achtung es hinweist, wie all seine treuen Völker fest entschlossen sind, diese hohe Stellung zu wahren, sie mit allen Mitteln bis zum Aeusser-sten zu vertheidigen.« In seiner Rede vom 13. November hatte Graf Kal-noky es sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass er bei seinem Durchkreuzen russischer Absichten auf Englands und Italiens Beihilfe rechnen könne. »Die gleichen Ansichten der englischen Regierung über die wichtige, Europa in diesem Augenblicke beschäftigende Frage,« hiess es, »und der gleiche Wunsch, den Frieden zu erhalten, berechtigen uns zu der Hoffnung, dass England im Falle der Nothwendigkeit sich uns beigesellen würde.« Im Hinblicke auf Italien war zunächst von den freundschaftlichen Beziehungen zwischen diesem und Oesterreich-Ungarn die Rede und dann von der ganzen Wichtigkeit der Interessen Italiens als Mittelmeermacht, welches einer Verschiebung des Gleichgewichts unter den Ostmächten nicht gleichgiltig zuschauen könne. Es sei sich über die Nothwendigkeit klar, die Interessen Europas im Morgenlande zu wahren, und hoffe, dass das gegenwärtige politische Einverständniss zum grossen gegenseitigen Vortheile weiterbestehen werde.« Graf Kalnoky zögerte nicht, zu erklären, dass, »wenn Oesterreich-Ungarn genöthigt wäre, in entscheidender Weise im Morgenlande aufzutreten, sein Programm Partheigänger und Helfer finden und von allen Mächten gestützt werden würde.« Er sprach auch von den gemeinsamen Interessen, welche Deutschland und Oesterreich mit einander verknüpften und die Grundlage ihrer Freundschaft bildeten, ohne dass jedoch einer von den beiden Staaten auf selbstständiges Handeln bis zu dem Punkte verzichtet hätte, seinen Verbündeten in allem stützen zu müssen. Was aber Bulgarien anbetreffe, so bestände zwischen den beiden Cabinetten nicht die geringste Meinungsverschiedenheit, sondern im Gegentheile freundschaftliches, wechselseitiges Vertrauen.« Russland sah also nun alle Mächte, Frankreich ausgenommen, gegen sich gerichtet und hielt es deshalb für gerathen, die durch den General Kaulbars angedrohten Kosaken nicht nach Bulgarien zu schicken. Eine klägliche Thätigkeit lag hinter ihm. Es hatte einen späten und ungeschickten Rückzug angetreten und sich dabei um das Einvernehmen mit Denen gebracht, welche ihm die Unabhängigkeit verdankten. Die Lehren der Geschichte nützen wenig, und der in Serbien gemachte Fehler war in Bulgarien wiederholt worden. Nachdem Serbien im Jahre 1820 eine fast vollständige Unabhängigkeit erlangt hatte, wollten die Russen dasselbe durchaus in ihre Arme treiben. Sie versetzten es deshalb in einen Zustand' fortwährender Gährung, zettelten mit Hülfe des Goldes eine Reihe von Verschwörungen und Aufständen an und zwangen nach einander Milosch, den Fürsten Michael und Alexander Kara-Georg zum Abdanken und zur Flucht nach Oesterreich. Schliesslich wurden den Serben diese Ränke aber so lästig, dass sie den Einfluss Russlands vollständig von sich abschüttelten. Den Siegen des Zarenreiches verdanken sie ihre letzten Erwerbungen, und doch steht Belgrad nicht im Bannkreise von Petersburg. Wollen die Russen Bulgarien zu ihrem Lehen machen, so müssen sie dort eins von ihren Werkzeugen unter dem Schutze der Waffen regieren lassen. Doch mit dem einigermaassen unabhängigen und nur auf bulgarische Truppen angewiesenen Fürsten steht es so, dass derselbe entweder im Interesse des Landes vorzugehen hat oder von seinen Unterthanen vertrieben wird. Richtet er sich nach den Verhaltungsbefehlen des Zaren, so ist damit auch die Verfassung ein Ding der Unmöglichkeit. Selbst mit Hülfe des Staatsstreiches gelang es dem Fürsten Alexander nicht, die Regierung ohne Rücksicht auf die Wünsche und Bestrebungen des Volkes fortzuführen. Was Russland will, ist eben nur durch eine dauernde Besetzung zu erreichen. Wie sieht's im Hinblicke hierauf aber mit der Haltung der Mächte aus? Die Türkei kann den Russen wohl willfahren und dem Fürsten Ferdinand erklären, dass sein Verbleiben in Sofia dem Berliner Vertrage entgegensteht. Doch der Sultan weiss, dass das Entfalten der russischen Adler in Rumelien mit seiner baldigen Uebersiedelung nach Asien in innigstem Zusammenhange steht. Oesterreich und besonders Ungarn können es aber nie dulden, dass Bulgarien zu einem Anhängsel Russlands wird. Die beiden leitenden Minister, Kalnoky und Tisza, haben ja mit einer fast drohenden Klarheit sich darüber ausgesprochen, dass diese Möglichkeit einem bewaffneten Widerstande begegnen würde. Man hat bisweilen von einer Theilung zwischen den beiden um die Balkanhalbinsel ringenden Mächten gesprochen: Oesterreich soll die westliche Hälfte mit Saloniki und Russland die östliche mit Constanti-nopel erhalten. Ersteres käme damit aber in eine unhaltbare Lage; einer der tüchtigsten russischen Militär- Laveleye, Balkanländer. II. b Schriftsteller, der General Fadejeff, hat erklärt, dass der Weg von Moskau nach Constantinopel über Wien führt, und hierin liegt eine unbestreitbare Wahrheit. Oesterreich müsste erst zu einem Schattenbilde geworden sein, bevor Russland sich am Bosporus festsetzen könnte. Auf welche Verbündeten würde Oesterreich bei seinen Bemühungen, den Einzug der Russen in Bulgarien zu verhindern, nun zählen können? Fürst Bismarck hat es für angezeigt gehalten, den österreichisch-italienischdeutschen Bündnissvertrag zu veröffentlichen, und nach dem Wortlaute desselben sind Deutschland und Italien den Oesterreichern nur zu helfen verpflichtet, falls diese von den Russen angegriffen werden. Man kann doch aber nicht behaupten, dass das durch einen Einmarsch der letzteren in Bulgarien geschieht, und in seiner Rede vom 6. Februar 1888 scheint Fürst Bismarck darauf anzuspielen, dass Deutschland alsdann seinem Bundesgenossen nicht beispringen dürfte. An der betreffenden Stelle heisst es: »Ob, wenn Russland die Rechte gewaltsam geltend machen wollte, sich daran Schwierigkeiten knüpfen würden, das weiss ich nicht, das geht uns auch nichts an. Wir werden gewaltsame Mittel nicht unterstützen und auch nicht dazu rathen; ich glaube auch nicht, dass Neigung dazu da ist — ich bin ziemlich gewiss, dass sie nicht da ist.« Ueberdies hat Fürst Bismarck im Gegensatze zu den österreichischen und ungarischen Ministern den Russen das Recht eines vorherrschenden Einflusses in Bulgarien zuerkannt, und zwar auf Grund der zur Befreiung des Landes gebrachten Opfer. Dieses Zugeständniss ist von der russischen Diplomatie auch benutzt worden, um in Constantinopel gegen den Fürsten Ferdinand zu wühlen. Trotzdem aber lässt sich's wohl kaum annehmen, dass Deutschland den Oesterreichern nicht zu Hülfe kommen würde, falls diese in der Lage wären, sich dem Einmärsche russischer Truppen in Bulgarien mit Gewalt zu widersetzen. Kalnoky und Tisza hätten im Herbste 1886 keineswegs eine so entschlossene Sprache geführt, ohne sich mit Berlin im Einverständnisse zu wissen. Auch hat Fürst Bismarck bei seinen Auslassungen über den Handelsvertrag und in einem Briefe, den er nach dem Tode des Kaisers Wilhelm an den Grafen Kalnoky richtete, beharrlich von den gemeinsamen Interessen, dieser sichern Grundlage für das Einvernehmen beider Reiche, gesprochen. Er kann aber doch unmöglich darüber hinwegsehen, dass die Unabhängigkeit Bulgariens für Oesterreich-Ungarn eine Lebensfrage bildet. Hat der Vertrag nicht den Sinn, dass er den Oesterreichern eine Stütze zusichert, falls sie sich der Besetzung Bulgariens durch Russland widersetzen, so ist er überhaupt werthlos, denn ein russischer Angriff auf österreichische Provinzen dämmert doch kaum wohl am Horizonte. Der Zar wusste augenscheinlich recht gut, dass Oesterreich ihm schliesslich nicht allein die Spitze bieten würde, und liess deshalb die Drohungen des Generals Kaulbars nicht zur Ausführung bringen. Graf Kalnoky hat davon gesprochen, dass Oesterreich auch auf Italien und in gewissem Maasse selbst auf England rechnen könnte. Letzteres schloss allerdings mit keinem der Staaten des Drei-Bundes einen Vertrag ab. Ja, es hat, glaube ich, irgend eine Zusage überhaupt nicht gemacht, denn die öffentliche Meinung und das Parlament sind dagegen, dass England sich den Angelegenheiten des Festlandes gegenüber im Voraus bindet. Immerhin könnten aber verschiedene Gründe seine Antheil-nahme herbeiführen. Zunächst stehen ja alle Parteien der Unabhängigkeit Bulgariens freundlich, einer Besetzung durch Russland also feindlich gegenüber, und in b* diesem Punkte stimmen Gladstone') und Salisbury völlig überein. Dann ist's fast als gewiss anzunehmen, dass den auf der Balkanhalbinsel siegenden Russen vom Schwarzen Meere her ein Halt durch die englische Flotte zugerufen würde. Müssen Russland und England aber früher oder später doch einmal an einander gerathen, so ist der moskowitische Riese jedenfalls besser in Europa *) Bulgarische Abgeordnete hatten sich an Gladstone gewandt und denselben gebeten, »zu Gunsten Bulgariens noch einmal seine so machtvolle Stimme zu erheben, welche stets mit solcher Ehrerbietung und solchem Beifalle von dem grossen russischen Volke gehört worden ist, um durch seine Rathschläge und seine Vermittelung die schweren, es bedrohenden Gefahren zu entfernen, und ihm die Freiheit und Unabhängigkeit zu retten, zu deren Gunsten er bereits früher edelmüthig eingetreten war«. Als Antwort traf folgender Brief ein: Schloss Hawarden, cl. 7. November 1886. Meine Herren! Ich habe die Ehre gehabt, Ihre Aufforderung zu erhalten, in der Sie von mir eine öffentliche, die Angelegenheiten Bulgariens betreffende Erklärung begehren, und Sie gedenken dessen, was ich vor 10 Jahren in dieser Sache gethan habe. Was die befreiten oder selbstständigen Provinzen des ottomanischen Reiches anbetrifft, so sind meine Ansichten und Wünsche stets die gleichen geblieben. Ich meine auch heute noch, dass jene Länder die ihnen gewährten Freiheiten zu ihrem eigenen Gebrauche und Vortheile erhalten haben, und dass dieselben ihnen weder ganz, noch theilweise von irgend einer Seite entzogen werden dürfen. Es war eine grossmüthige That des verstorbenen russischen Kaisers, für Bulgarien unter gewissen Einschränkungen die Freiheit durchzusetzen; sollen die Bulgaren aber wieder ins Joch gezwängt werden, so würde jene That ihren Werth verlieren. Doch ich gebe mich der Hoffnung hin, dass der gegenwärtige Herrscher Russlands den Bahnen treu bleiben wird, auf welchen sein betrauerter Vorgänger sich einen so gerechten Tribut der Ehre und des Dankes erwarb. In diesem Augenblicke glaubte ich nicht sprechen zu dürfen, weil ich die Ueberzeugung hegte und auch noch hege, dass in England die Meinungen über jenen Punkt zum Glücke nicht getheilt sind; auch habe ich keinen Grund zu glauben, dass diese Gesinnung des Vereinigten Königsreiches nicht treu verkörpert wird im Rathe Europas durch unseren gegenwärtigen Minister des Aeusseren. Ich habe die Ehre, meine Herren, Ihr sehr ergebener Diener zu sein. W. E. Gladstone. zu bekämpfen, als in den Wüsten Mittel-Asiens oder in den Schluchten von Afghanistan. Die radikalen englischen Zeitungen haben unlängst behauptet, dass England eine Besetzung Constantinopels durch die Russen ohne Furcht und selbst zum Vorth eile seines Handels mitansehen könnte. Das trifft zu, falls es auf Indien oder auch nur auf die Durchfahrt durch den Suez-Canal verzichten wollte. Doch welcher englische Staatsmann würde es wagen, für eine solche Politik einzutreten? Die in Constantinopel sitzenden Russen beherrschen ja Klein-Asien, und ohne Schwierigkeit können sie auf dem Landwege ein Heer nach Suez schicken, das zahlreich genug ist, um jeden Widerstand zu vereiteln. Daraus folgt doch aber, dass England ebenso sehr als Oesterreich ein Interesse daran hat, Bulgarien nicht in die Hände der Russen fallen zu lassen. Auch Rumänien, welches zum Lohne für die den Russen geleistete Hilfe einen Theil seines Gebietes verlor, darf nicht unerwähnt bleiben. Dasselbe ist sich darüber klar, dass es bei einer Besetzung Bulgariens durch Russland auf allen Seiten von Feinden eingeschlossen und bald um seine Selbstständigkeit gebracht wäre. Deshalb will es den russischen Truppen keinen Durchzug mehr gewähren und arbeitet zu diesem Zwecke daran, aus Bukarest ein ungeheueres verschanztes Lager zu machen, das, von einer sehr ausgedehnten und kaum durchzuführenden Einschliessung abgesehen, uneinnehmbar sein würde. Es mag dahingestellt bleiben, ob zwischen Oesterreich und Rumänien ein Vertrag besteht oder nicht besteht. Immerhin aber kann ersteres auf die sehr schätzenswerthe Hilfe des letzteren rechnen, weil dessen ureigenste Interessen ein solches Einvernehmen erheischen. Doch wäre Frankreich nicht geneigt, dem fast allen — xxvr — europäischen Mächten gegenüberstehenden Russland zu helfen? Wahrscheinlich ja, und das so zahlreiche, so tapfere und so gut ausgerüstete französische Heer dürfte beinahe genügen, um das Gleichgewicht herzustellen. Allein wann und wie könnte Frankreich sich wohl ins Mittel legen? Deutschland würde zunächst ja voraussichtlich nicht am Kampfe theilnehmen, sondern eine bewaffnete und den Oesterreichern wohlwollende Neutralität beobachten, und Frankreichs Angriff auf dieselben wäre somit nur von der Seeseite her möglich. Indem Oesterreich-Ungarn für die Unabhängigkeit der Balkanstaaten eintritt, ist dasselbe aber doch im Dienste einer Sache thätig, welche den Franzosen wohl kaum weniger nahe steht als den Italienern, und es fragt sich demnach, ob eine französische Kriegserklärung gegen jene wirklich so ganz glatt vom Stapel laufen würde. Verzögerungen und Zeitverluste treiben dann vermuth-lich ihr Spiel, und das Schicksal des Feldzuges könnte sich inzwischen entscheiden. In dem Augenblicke, in welchem ich diese Zeilen schreibe, scheint die Gefahr jenes furchtbaren Zusammen-stosses, den jeder fürchtet und immer für nahe bevorstehend hält, zum Glück zu schwinden. Der Kaiser von Russland ist nicht kriegerisch, sagt man; aufrichtig wünscht er, den Frieden zu erhalten. Ueberdies muss er wissen, dass sein Land bei einem Kriege — wie Fürst Bismarck es 1866 im Hinblick auf Oesterreich-Ungarn wollte — gründlich in die Enge käme. Man hat sogar schon die Forderungen bezeichnet, welche Deutschland und Oesterreich im Falle des Sieges stellen würden — Polen soll seine einstigen Grenzen, seine Unabhängigkeit und als staatliches Oberhaupt einen österreichischen Erzherzog erhalten; die baltischen Provinzen will man an Preussen, das von vielen Rumänen bewohnte Bess- arabien an Rumänien und Finnland an Schweden fallen lassen, und Russland würde damit also über den Dnjepo zurückgeworfen und fast zu einer asiatischen Macht gestempelt werden. Ja, man muss eben die Haut des Bären weder verkaufen noch vertheilen, ehe man diesen selbst erlegt hat. Ohne indessen stehen zu bleiben bei Deutelungen über dasjenige, was die Zukunft dem Morgenlande bringen könnte, wird man doch immer nicht leugnen wollen, dass die dortige Lage eine unsichere und gefahrdrohende ist. Ob Fürst Ferdinand sich in Sofia zu halten vermag, ob er es verlässt, weil seine Unterthanen ihn aufgeben, oder weil ein militärischer Aufstand ausbricht — dies sind ja Dinge, welche den Kern des Ganzen völlig unberührt lassen.1) Der besteht eben darin, dass die Russen nicht gesonnen sind, Bulgarien für immer ihrem Einflüsse entschlüpfen zu lassen, und dass die Oesterreicher dieselben nicht als Herren auf der Balkanhalbinsel dulden wollen. Es giebt wohl bloss eine Lösung, welche durch Berücksichtigung aller Interessen die Gefahr des Krieges abwehren könnte: man bilde eine Gruppe von Staaten, um die nur sehr lose Bande sich schlingen, und wahre die völlige Selbstständigkeit Rumäniens, Serbiens, Bulgariens, der europäischen Türkei und Griechenlands. Die drei wesentlichen Grundlagen einer solchen Verschmelzung wären ein Zollverband, ein oberstes Bundesgericht zur Regelung streitiger Punkte und die Verpflichtung gegenseitiger Hilfe für den Fall eines Angriffes. Diesen Gedanken habe ich im zweiten Theile meiner »Balkanländer« dargelegt, und ich kann ihn keineswegs für ein blosses Luftgebilde halten. Glad- ') Die diplomatische Seite der Frage behandelt Rolin-Jacquemyns in seiner schätzenswerthen Arbeit »Auf die bulgarische Frage bezügliche Urkunden«, »Revue de Droit international«, B. XIX (1887), No. 2. sinne, der ungarische Premier-Minister Tisza und der serbische Premier-Minister Ristitsch haben ihn ebenfalls ausgesprochen, und in einer vortrefflichen, an Ort und Stelle niedergeschriebenen Arbeit über den gegenwärtigen Zustand des osmanischen Reiches äusserte ein hervorragender mohammedanischer Hindu, der Nawab Salar Jung, sich in gleichem Sinne. (Nineteenth Century, Oktober 1887.) Emil von Laveleye. Erstes Kapitel. Serbien. — Geschichtliche Erinnerungen. Von Belgrad nach Pirot. Von meiner Meinung, dass es in Serbien keine Sozialisten giebt, komme ich bei näherem Hinsehen zurück. Das Land hat wirklich eine solche Partei, nur besteht dieselbe hauptsächlich aus Bauern, welche sich innerhalb ihrer Gemeinden einfach selbst regieren und dabei möglichst geringe Steuern zahlen wollen. Sie fassen die Gleichheit dahin auf, dass ihnen eine zu zahlreiche, auf ihre Kosten lebende Beamtenklasse ein Dorn im Auge ist. Ein Mitglied der radikalen Partei gab mir Aufschlüsse über die Geschichte von Serbiens sozialistischer Partei *)., deren Ursprung mit dem Jahre 1860 und der Entstehung der »Omladina« zusammenfällt, und welche unter den Serben Ungarns aufgewachsen ist. Diese — ihre Zahl beläuft sich auf etwa eine Million — waren damals den anderen Serben weit voraus, und ihre bedeutendste Stadt, das an der Donau gelegene Neusatz, bildete einen Brennpunkt geistigen und kirchlichen Lebens. Unter den Literaten und in den Kreisen der Jugend tauchte nun der sehr vernünftige Gedanke auf, in jedem Jahre die »Ver- ') Sehr gründlich berichten hierüber die »Jahrbücher für Sozialwisseuschaft«, 1. Jahrgang, 2. Hälfte, S. 384, und 2. Jahrgang, S. 327. Laveleye, Balkanländer. IL 1 treter« der Serben Kroatiens, Nieder-Ungarns und des Fürstenthums zu einem Kongresse zusammenzuberufen. So entstand in der Stadt Gross-Kikinda im Jahre 1861 eine politisch-literarische Verbindung, welche den Namen »Omladina« annahm und deren Wahlspruch »Durchs Licht zur Freiheit« lautete. Sie zerfiel in verschiedene Gruppen, und jeder einzelnen lag es ob, in ihrer Heimath für die Herausgabe von Zeitungen und die Gründung von literarischen Gesellschaften einzutreten. Bis 1871 tagte die »Omladina« in jedem Jahre entweder in Belgrad oder Neusatz oder Pancsevo, und von den beiden wichtigen serbischen Zeitungen, der in Serbien ins Leben gerufenen »Srbija« und der in Ungarn gegründeten »Zastawa«, erscheint die letztere auch heute noch. Mit der Zeit machten sich in der »Omladina« aber zwei sehr verschiedene Strömungen geltend. Auf der einen Seite erstrebte man nur die Freiheit und den geistigen Fortschritt Serbiens und wollte damit einem dereinstigen grossen serbischen Staatswesen die Bahnen ebnen, während man auf der anderen einem ziemlich unbestimmten Ideale von sozialen Umgestaltungen und materieller Gleichheit nachjagte. Eine gewisse Zahl von jungen Leuten hatte in Russland studirt und dort die Lehren Tschernyschewskys und Bakunins kennen gelernt, welche ich in meinem Buche »Der Sozialismus der eigenen Zeit« zu zeichnen versucht habe. Jene Spaltungen nahmen dann einen feindseligen Charakter an, und die »Omladina« trat nun ferner nicht mehr zusammen. Zu den bekanntesten sozialistischen Radikalen gehören Jujowitsch und Swetozar Markowitsch. Der erstere starb in jugendlichem Alter — im Jahre 1870 —, nachdem er viel für die Neusatzer »Malitza« und für den Belgrader »Glasnik« geschrieben hatte. Marko witsch, welcher sich seine Bildung in Petersburg und am Polytechnikum zu Zürich erworben hatte, trug dazu bei, einen Theil der Jugend dem materialistischen Sozialismus in die Arme zu treiben, und machte dieselbe zugleich für die Naturwissenschaften empfänglich. Im Jahre 1865 gründete er den »Radnik«, den »Arbeiter«. Er griff das Ministerium Ristitsch scharf an und verherrlichte die Pariser Kommune, was für ihn die verschiedenartigsten Unannehmlichkeiten und schliesslich die Unterdrückung seiner Zeitung, des »Radniks«, zur Folge hatte. Aber Serbien verdankt seinem Einflüsse auch die Konsum- und Produktiv - Genossenschaften, welche besonders unter den Schneidern, Schuhmachern, Schlossern, Tischlern und Schmieden sich gebildet haben.. Eine interessante Erscheinung ist Adam Bogosawlje-witsch, der 1844 im Dorfe Kopriwnitza (Departement Krajina) als Sohn eines Viehhändlers geboren wurde. Mit glänzendem Erfolge besuchte er das Gymnasium zu Zajetschar und später die Universität Belgrad. Er weigerte sich aber ganz entschieden, die Beamtenlaufbahn einzuschlagen, und erklärte: »Für Serbien ist's ein grosses Uebel, dass jeder junge Mann mit höherer Schulbildung zum Staatsdienste übergeht und so dazu beiträgt, dem Beamtenthum, welches auf Kosten der erschaffenden Arbeit lebt, einen immer weiteren Umfang zu geben«. Darin hat er, besonders im Hinblicke auf die Zukunft, vollkommen recht. Ein müssiger Bürgerstand passt in einen ziemlich gleichförmig gegliederten Gesellschaftskörper nicht hinein, und dem mit einem gewissen geistigen Ballaste Beschwerten, der es verschmäht, von der Arbeit seiner Hände zu leben, bleibt hier nur die Laufbahn des Beamten offen. So ersteht der Regierung eine, immer und mehr anschwellende Zahl von Werkzeugen, und diese haben, weil sie auf Kosten des Staates leben, ein Interesse daran, dessen Ausgaben unaufhörlich zu vermehren; das Verhältniss zwischen den steuerzahlenden Bauern und dieser Büreaukratie muss damit unfehlbar zu einem sehr gefährlich-feindseligen sich zuspitzen. Ist dann der Widerstand derjenigen, welche den Boden bestellen und die Masse des Volkes ausmachen, gebrochen oder zu einem blossen Schattenspiele herabgesunken, so werden ihnen die Beamten und die abendländischen Bankiers noch drückendere Lasten auflegen, als es früher von Seiten der Beys und der Spahis geschah. Bogosawljewitsch bearbeitete, gleich einem alten römischen Republikaner, sein Land mit eigenen Händen. Er führte allerlei Verbesserungen ein, blieb der Volksgewandung treu und behielt sich nur einige Mussestunden vor, die er in seiner umfangreichen und gut zusammengestellten Bibliothek verbrachte. Die Bauern sahen wie zu einem Abgotte zu ihm auf und nannten ihn den »Freund des Volkes«. Sie wurden nicht müde, ihn zum Abgeordneten zu wählen, obgleich es dem Ministerium wiederholt gelang, die Wahl durch die Skupschtina für ungiltig erklären zu lassen. Im Jahre 1873 gewann aber seine Kandidatur durch die Unterstützuug der sozialistischen Zeitung »Jawnost« eine Bedeutung, welche die Regierung sehr bedenklich stimmte. Diese verfügte die Auflösung der Skupschtina, woselbst sie ihren Gegnern zu unterliegen fürchtete, und steckte den »Freund des Volkes« ins Gefängniss. Da zogen aber die Bauern in bewaffneten Schaaren nach Negotin, wohin Bogosawljewitsch gebracht worden war. Er wurde befreit und im Triumphe heimgeführt, und die Regierung wagte es nicht, ihn dem Kreise seiner Anhänger zu entreissen. Vorläufig blieb er also unbehelligt. Bei seiner Wiederwahl zur Skupschtina nahm man ihn aber von neuem fest, und am folgenden Tage, am 30. März 1879, starb er ganz plötzlich an einer Lungenentzündung. Zu den Sozialisten — das vorstehende Beispiel lehrt's — werden die serbi- sehen Bauern also keineswegs durch die kommunistischen und nihilistischen Lehren hingezogen, sondern durch ihren Widerstand gegen eine kostspielige Regierungsform und durch das Verlangen nach einer selbstständigen Gemeindeverwaltung. Ums Jahr 1872 war Swetozar Marko witsch nach Belgrad zurückgekehrt. In seinem Buche »Serbien im Morgenlande« suchte er nachzuweisen, dass die Ausbreitung der Zadrugas und des gemeinsamen Besitzes den Slawenstämmen die Lösung der sozialen Frage auf geschichtlicher Grundlage bringen würde. Es gelang ihm, seiner Partei in Kragujewatz eine Sammelstelle und einen festen Mittelpunkt zu schaffen, und die von hier nach dem ganzen Lande hin auslaufenden Fäden machten sich bald in recht merklicher Weise fühlbar, so dass die Regierung einschritt. Alle Zeitungen, welche Markowitsch nach einander gründete, — Jawnost, Rad, Glasjawnosti — unterlagen wiederholten Straferkenntnissen, und seine Gesundheit wurde durch die 8 Monate, welche er im Gefängnisse zubringen musste, vollends untergraben. Um eine mildere Luft einathmen zu können, hatte er Triest aufgesucht, und hier raffte der Tod ihn am 25. Februar 1875 dahin. Seiner Begabung versagte keine Partei die gebührende Anerkennung, und in dem Blatte des konservativen Ristitsch hiess es: »Der allbekannte serbische Literat Swetozar Markowitsch ist in Triest gestorben, und von ihm lässt sich's sagen, dass jede Zeile, die er veröffentlichte, mit seinem Herzblute geschrieben und aus seinem innersten Lebensmarke geschöpft war«. Das Jahr 1875 brachte einen offenen Bruch zwischen der Skupschtina und dem Ministerium. Der Fürst erschien in der Volksversammlung; doch sein Versuch, dieselbe auf seine Seite zu bringen, scheiterte, und das Ministerium musste sich zurückziehen. Das ihm folgende wollte der radikalen Partei durch eine Reihe von Prozessen und Einkerkerungen beikommen. Allein die neuen Wahlen sicherten derselben wiederum die Mehrheit, und nun wurde Ristitsch abermals mit der Leitung der Staatsgeschäfte betraut. Dieser glaubte, dass der Augenblick des Einlenkens gekommen sei, und willigte deshalb in Gesetze, welche die Befugnisse der Gemeindeverwaltungen erweiterten und der persönlichen wie der Pressfreiheit eine grössere Gewähr leisteten. Bei den neuen Gemeindewahlen im Jahre 1875 siegten die Radikalen in sehr vielen Gemeinden und selbst in der alten Hauptstadt Kraguje-watz. Die Freude hierüber gab sich in ziemlich tumul-tuarischer Weise kund, und 32 von den angesehensten Bewohnern der Hauptstadt wurden gefänglich eingezogen und als Verschwörer vor Gericht gestellt. Ein grosser Prozess hielt dann das ganze Land in Athem, und zwölf Advokaten befassten sich mit der Vertheidigung der Angeklagten, die sämmtlich freigesprochen wurden. Im Jahre 1877 machte der Krieg mit der Türkei es der Regierung möglich, den Belagerungszustand zu verhängen. Sie schlug daraus Kapital und verurtheilte viele als Verschwörer angeklagte Sozialisten zur Einkerkerung oder zu Zwangsarbeiten. Einige wurden sogar erschossen, so auch der Hauptmann Jefrem Markowitsch, welcher die Ehre gehabt hatte, die Türken aus der wichtigen Stellung bei Ak-Palanka zu vertreiben. Der auf den Radikalen lastende eiserne Druck trieb viele von ihnen aus der Heimath; trotzdem aber waren sie 1878 durch 12 und 1881 durch 18 Abgeordnete vertreten. Helene Markowitsch, die Wittwe des erschossenen Jefrem"Markowitsch, welche, Oktober 1882, den Tod ihres Mannes durch den König Milans rächen wollte, wurde im Juni des folgenden Jahres sammt ihrer Freundin, Frau Knit-schanin, todt im Gefängnisse gefunden. Die Wahlen vom 15. September 1883 führten der Skupschtina eine radikale oder doch wenigstens anti-rninisterielle Mehrheit zu, und das Ministerium Ristitsch ersetzte das fortschrittliche Kabinet. Als Verschwörer gegen die Sicherheit des Staates üess dasselbe nun eine gewisse Anzahl von Abgeordneten und die Mitglieder des Wahlkomitees verhaften. Bei diesen gewaltthätigen und ungesetzlichen Maassnahmen gährte und zuckte es im ganzen Lande, und diese Aufstandsversuche wurden dann mit Hilfe des Belagerungszustandes eisern niedergedrückt. Eine Regierung, die aber so häufig zu Ausnahmemitteln greifen muss, zeigt, dass sie sich nur durch die Gewalt zu behaupten vermag, und das ist für jedes nicht mit der Willkürherrschaft verwachsene Land eine sehr gefahrdrohende Lage. In Serbien hört man fortwährend von dem grossen Kaiser Duschan sprechen. Herr von Borchgrave hat über jenen interessanten Abschnitt der serbischen Geschichte eine Arbeit veröffentlicht, und deren Inhalt will ich nun in gedrängter Kürze wiedergeben. Stephan Duschan, der neunte Fürst aus der Familie der Nemaniden, welche in Serbien seit dem Anfange des 12. Jahrhunderts regierte, wurde 1308 in Skutari geboren. Sein Vater war der König Stephan Detschanski und seine Mutter Smilia die Tochter des Königs von Bulgarien. Im Alter von 22 Jahren — also 1330 — griff er den König Michael von Bulgarien an und besiegte denselben vollständig; dieser hatte nämlich so eben seine Frau Anna, Duschans Tante, Verstössen, um die Schwester des byzantinischen Kaisers Andronikus III. Paläologus heirathen zu können. Dem Könige Stephan Detschanski wurde eine zu grosse Annäherung an Byzanz vorgeworfen, und unter dem Einflüsse und Drange der Unzufriedenen entthronte Duschan seinen Vater. Bald darauf fand derselbe in der Festung Zwetschane durch Meuchelmörder seinen Tod, und zwar ohne Wissen des Sohnes, behauptete die eine und, auf den Befehl desselben, die andere Partei. Nach seiner am 8. September 1331 erfolgten Krönung nahm'Duschan das geträumte Ideal seines Grossvaters Milutin Nemanja wieder auf. Er strebte nämlich dem grossartigen Ziele zu, die verschiedenen Völkerschaften der Balkanhalbinsel unter seinem Scepter zu vereinigen, die griechischen Kaiser zu verdrängen, und sich dann in Byzanz die Krone des neuen morgenländischen Reiches aufzusetzen. Unter seiner Herrschaft standen bereits die von den Serben bevölkerten Gebiete, Bosnien ausgenommen. In ihm hatten sie ihren beherrschenden Mittelpunkt, und Ordnung und Sicherheit ermöglichten dort eine Entwickelung, die der gleichzeitigen des Abendlandes kaum nachstand. Helene, die Schwester des neuen Königs von Bulgarien, wurde die Gemahlin Duschans, und dieser erwarb sich dadurch eine Bundesgenossenschaft, die während seiner 25 jährigen Regierung nur ein Mal eine Trübung erfuhr. Nun kehrte er seine Waffen gegen das byzantinische Reich, welches damals nicht mehr als das um-fasste, was heute noch zur Türkei gehört. Er besiegte die griechischen Heere und zwang 1334 im Frieden von Saloniki den Kaiser Andronikus, die ganze Westhälfte Macedoniens mit den Städten Ochrida, Prilep, Kastoria, Strumnitza,Zelesnita(Dornihissar),Wodena undTschemren abzutreten. Im Jahre 1336 bemächtigte Duschan sich Albaniens bis zum Durazzo, 1337 der Städte Awlona und Kanina und 1340 fast des ganzen unabhängigen Albaniens bis nach Janina hin, so dass also ein Theil des adriatischen Küstenlandes in seinem Besitze war. Jetzt ging sein Bestreben dahin, freundschaftliche Beziehungen mit Venedig zu unterhalten, welches die wichtigsten Städte und Inseln Dalmatiens — Zara, Ragusa, Brazza, Sebenico, Spalato u. s. w. — besass, und womöglich ein Bündniss mit demselben zu schliessen. Unter Benutzung der Wirren zwischen dem Reichsverweser Cantacuzenius und dem jungen Kaiser Johann Paläologus erlangte Duschan bald auch das östliche Macedonien, mit Ausnahme jedoch der beiden wichtigsten Städte: Seres und Saloniki. Die türkischen Banden unter Omur, welche Cantacuzenius gegen ihn ausschickte, wurden aber besiegt, und nach einer i8monatlichen Belagerung konnte er dann auch — 1345 — als Sieger in Seres einziehen. Hier liess er sich zum Kaiser und unumschränkten Herrscher Serbiens und Rumäniens ausrufen und schickte alsbald eine Gesandtschaft nach Venedig, um daselbst ein Bündniss gegen Konstantinopel anzubahnen. Allein die Republik fürchtete die wachsende Macht eines solchen Bundesgenossen und lehnte deshalb in kluger Voraussicht den Antrag ab. Zu Uskub, dem Hauptsitze Duschans, erfolgte am 13. April 1346 dessen feierliche Krönung zum Kaiser, und gleichzeitig wurde Johann, der Erzbischof von Ypek, zum ersten serbischen Patriarchen, das heisst zum Haupte der unabhängigen serbischen Kirche, ernannt. Ausser den Statthaltern und Heeresführern hatten sich damals in Uskub auch der Patriarch von Tirnowo und die hohe Geistlichkeit aus den eroberten Provinzen und vom Berge Athos eingefunden. Die Griechen fühlten sich jetzt zu schwach, um den Serben allein Widerstand leisten zu können, und deshalb verheirathete der 1347 zum Kaiser ausgerufene Cantacuzenius seine Tochter an den Emir Urkhan, welcher ihm ein Hilfsheer von 10000 wild hausenden Türken zuführte. Duschan wagte sich noch nicht an Konstantinopel heran und eroberte zunächst das südliche Epirus, ganz Thessalien und die griechische Walachei. Nur Saloniki widerstand ihm, der sich den Titel gegeben hatte: Stephanus, von Gottes Gnaden griechischer Kaiser. Einen Geist der Stammes-Verbrüderung und -Zusammengehörigkeit gab es damals noch nicht, und so liess Stephan Krotoman-tisch, der Banus von Bosnien, — eines wesentlich serbischen Landes — sich durch den König von Ungarn dazu bestimmen, den Kaiser Duschan anzugreifen. Dieser verwüstete nun Bosnien, verleibte es theilweise seinem Reiche ein, und der schöne Wohnsitz des Statthalters ging in Flammen auf. Im Jahre 1351 bot Duschan, um mit Hilfe der Türken Konstantinopel zu erobern, seine Tochter dem Emir Urkhan als Frau für einen von dessen Söhnen an. Allein Cantacuzenius wusste ein solches Bündniss zu hintertreiben, und Duschans Truppen wurden in der Nähe von Demotika von den Türken vollständig geschlagen. Diesen Zeitpunkt benutzte Ludwig, der König von Ungarn, um den Banus von Bosnien, dessen Schwiegersohn er eben geworden war, zu rächen, und fiel verwüstend in Serbien ein. Doch Duschan kam bald hervor aus den Wäldern, in die er sich geflüchtet hatte, und trieb die Ungarn wieder über die Donau zurück. Gleichzeitig schickte er, um einem Angriffe von jener Seite zuvorzukommen, und um an römisch-katholischen Mächten eine Stütze für seine Pläne gegen das byzantinische Kaiserthum zu finden, eine Gesandtschaft nach Avignon an den in der Verbannung lebenden Papst und liess diesem erklären, dass er, das Haupt der morgenländischen Kirche, sich ihm, dem Haupte der abendländischen Kirche, unterwerfe. Innocenz VI. pries dafür die Reinheit von Duschans Glauben und verlieh demselben im Namen der Christenheit den Titel eines Bekämpfers der Türken. Der Kaiser betrieb die ganze Sache aber nur als Spiegelfechterei und jagte, als er sich nicht mehr gefährdet glaubte, den Gesandten, welchen der Papst ihm geschickt hatte, einfach weg. Endlich an dem lange und sehnlichst erstrebten Ziele stehend, Venedig hatte ihm gegen Ueberlassung von einigen dalmatischen Städten ein festes Bündniss angetragen, raffte ihn der Tod dahin. Zu Jamboli in Thracien erlag er am 20. Dezember 1355 einem bösartigen Fieber, als er, über ein mächtiges Heer gebietend, sich gerade auf Konstantinopel werfen wollte. Ob er seine Pläne hätte durchführen können? Nun, die mit den Byzantinern verbündeten Türken sassen schon zu fest in Gallipoli und wären ihm vermuthlich zum Hemmnisse geworden. Um jedoch die verschiedenartigen Bestandtheile seines Reiches zusammenzuhalten, hätte es entweder einer klug durchdachten Zentralisation bedurft, deren Ausführung damals übrigens unmöglich gewesen wäre, oder einer Reihe kraftvoller, begabter Fürsten. Urosch, der 1369 ermordete Sohn Duschans, war aber ein Schwächling; an dem Marke der Serben nagte der Bürgerkrieg, und auf dem Schlachtfelde zu Kossowo — 1389 — erlagen dieselben nach heldenmüthiger Gegenwehr. Kossowo! ja das ist auch ein Name, der in Serbien täglich die Luft durchschwirrt. Im Abendlande weiss man kaum etwas von einer Schlacht bei Kossowo, und doch ragt dieselbe an Wichtigkeit weit hinaus über gar viele Schlachten, welche in den Geschichtsbüchern einen Platz gefunden haben. Die bedeutendste, jenen verhängnissvollen Tag behandelnde serbische Dichtung ist von Arminius Pawitsch und wurde durch Frau Mijatowitsch ins Englische übertragen, welche Uebersetzung ich bei der nachfolgenden Skizze benutzte. — Als Duschan gestorben war, fielen nach und nach die meisten Städte Rumeliens in die Hände der Türken. Dem Könige Wu-kashin gelang es zwar, dieselben zu schlagen, und er rückte auf Adrianopel vor. Doch 1374 wurde er am Ufer der Maritza in einer Nacht überrumpelt und, selbst im Kampfe fallend, sammt seinem Heere vernichtet. Sein Nachfolger, der zu Skopia (Uskub) gewählte Lazar, sah ein, dass er allein mit den Türken nicht fertig werden könne, und beeilte sich deshalb, möglichst schnell mit Ungarn und dem Könige von Bulgarien ein Bündniss abzuschliessen. Aber der Sultan Murad wusste durch Verräther hierum und liess dem Serbenfürsten nicht Zeit, sich mit seinen Bundesgenossen zu verständigen. Philippopel, Sofia, Nisch, Kruschewatz gleichsam im Vorübergehen erstürmend, zog der Sultan nach Alt-Serbien, dem Mittelpunkte des alten serbischen Kaiserreiches, woselbst Lazar seine Streitkräfte sammelte, und auf der weiten Ebene von Kossowo, dem Amselfelde, standen beide Heerschaaren sich gegenüber. Zu den Serben waren nur 20000 Bosnier unter Wlatco Hranitsch gestossen; doch auf türkischer Seite kämpften mehrere christliche Heerführer — Serben und Bulgaren — als Vasallen des Sultans und sogar auch die Söhne des Königs Wukashin, die Herren von Prilep und Kostur. Byzantinische Kaiser wie serbische Herrscher hatten in den mit einander geführten Kriegen leider beiderseitig nicht gezögert, abwechselnd mit den Türken Beziehungen zu unterhalten, und dadurch ein hässliches, folgenschweres Beispiel gegeben. Selbst in diesem Augenblicke, der über die Zukunft entscheiden sollte, durchwühlte der Verrath das serbische Lager, und Lazar wusste nur nicht recht, wer von seinen beiden Schwiegersöhnen — Milosch Obilitsch und Wuk Brankowitsch — der Abtrünnige sei. Die Türken, beseelt von all dem Glaubenseifer, den der Koran seinen Bekennern einzuflössen vermag, verbrachten betend die dem Schlachttage vorangehende Nacht. Ein mohammedanischer Geschichtsschreiber berichtet, dass der Sultan lange und inbrünstig flehte, Allah möge ihn der Gnade würdigen, für den Islam als Märtyrer zu sterben. Die Christen aber tranken und drehten dabei Stricke für ihre künftigen Gefangenen. Als am Morgen des Schlachttages, am 15. Juni 1389, die Heere zum Kampfe anrückten, verlangten drei der vornehmsten Serben — unter ihnen Milosch, Lazars Schwiegersohn —, vor den Sultan geführt zu werden. Der empfing sie mit ganz besonderer Auszeichnung, weil er meinte, sie würden zu ihm übertreten. Doch Milosch that, als ob er ihm den Fuss küssen wollte, und stiess ihm dabei einen Dolch in den Leib. Denen, die es versuchten, ihn zu fesseln, setzte er einen rasenden Widerstand entgegen, und erst nachdem er Wunder der Tapferkeit vollführt hatte, wurde er zum Gefangenen gemacht. Der Sultan Murad lebte aber nur bis zum Abende. Während der ersten Hälfte des Tages schien der Sieg den Serben zufallen zu wollen; da verliess jedoch Wuk, Lazars anderer Schwiegersohn, mit 12000 Kriegern das Schlachtfeld und machte dadurch die Türken zu Herren desselben. Lazar und die Truppen, welche ihm treu geblieben waren, harrten bis zum letzten Augenblicke mit unbeugsamem Muthe und unerschütterlicher Tapferkeit aus, und jenen vermochten die Türken erst zu bewältigen, nachdem er sammt seinem Pferde in eine Grube gestürzt war. Im Angesichte des sterbenden Sultans wurden Lazar, Milosch und die vornehmsten Serben enthauptet, und — so schreibt Frau Mijatowitsch — »als an jenem Abende die Sonne hinter den Bergen verschwand, lagen auf dem Amselfelde die Leichen der beiden Kaiser und die der tapfersten serbischen und türkischen Krieger. Die düstern, am Himmel heraufziehenden Wolken schienen aber hinweisen zu wollen auf die fünf Jahrhunderte der Dunkelheit und des bleiernen Druckes, welche auf dem serbischen Lande und Volke lasten sollten« Alle Einzelheiten jener Ereignisse leben in den zur Guzla oder Geige gesungenen Liedern. Doch es ist der Volksdichtung nicht gelungen, die verschiedenen Bruchstücke zu einem Ganzen zusammenzufassen und ein Werk wie die Ilias der alten Griechen zu schaffen. Die neuere Literatur hat dies zu thun versucht, und ausser Arminius Pawitsch haben auch A. d'Ävril und Stoyan Nowako-witsch die Schlacht bei Kossowo zum Gegenstande ihrer Schöpfungen gemacht. Frau Mijatowitsch berichtet, dass die Serben auch heute noch die sich abspielenden Ereignisse in Verse bringen, und führt ein seltsames Beispiel an. Die 1873 in Kragujewatz versammelte Skupschtina berieth über die Annahme des französischen Münzsystems. Einer von den Abgeordneten, der Bauer Anta Neshitsch aus Ripani, sagte nun an jedem Abende Verse her, in denen er die am Tage gepflogenen Verhandlungen wiedergab, und beim Klange der Guzla »sang« er auch das Budget. Zum Verständnisse von Serbiens gegenwärtiger Lage und äusserer Entwickelung mag nun ein Ueberblick über dessen neuere Geschichte folgen. Die Anführer der Janitscharen, die Dahis, bemächtigten sich im Jahre 1801 der Regierung und Hessen die Gemeindehäupter und die angesehensten Einwohner erwürgen. Es erfolgte nun ein allgemeiner Aufstand, der seinen Hauptherd in der waldigen Schumadia hatte, und an die Spitze desselben stellte sich Georg Petrowitsch, auch Kara, d.h. der »schwarze« Georg genannt; »kara« bedeutet nämlich im Türkischen »schwarz«. Die mohammedanischen Besitzer, die Spahis, unterstützten die Aufständischen, und diese verjagten die Dahis und die Janitscharen, trugen im September des Jahres 1804 bei Tschupria einen grossen Sieg über die ottomanischen Truppen davon und machten deren General zum Gefangenen. Der erste Senat wird nun zusammenberufen, und die Serben stellen sich unter den Schutz Russlands, das aber im Friedensschlüsse mit der Türkei — 1806 — nicht genügend für die Sicherheit des jungen Staates in die Schranken tritt. Es schürt vielmehr, um sich unentbehrlich zu machen, die Zwistigkeiten zwischen Kara-Georg und dem Senatspräsidenten Mladen. Die ottomanischen Truppen kehren zurück, und die Serben unterliegen — 1809 — bei Tschupria. Heldenmüthig vertheidigen sie Deligrad, und 1810 und 1811 gelingt es ihnen, mit Hilfe der Russen die Türken zu vertreiben. Das Jahr 1812 bringt dann einen Waffenstillstand. Doch der zwischen den Russen und der Pforte zu Bukarest geschlossene Vertrag stellt Serbiens Unabhängigkeit nicht sicher, und im folgenden Jahre — 1813 — überschwemmen die Türken in erdrückender Menge das Land. Sie verwüsten es, brechen überall den Widerstand seiner Bewohner, und Kara-Georg muss flüchten. Einen neuen, 1815 ausbrechenden Aufstand leitet Milosch Obrenowitsch. Den aus Bosnien kommenden Redschid Pascha und von Süden her anrückenden Ma-rashli Ali Pascha verjagt derselbe gleichzeitig, und 1817 wird ein vorläufiger Friede geschlossen. Wuitza, der Bürgermeister von Smederewo, tödtet den inzwischen heimgekehrten Kara-Georg, welcher als Gast in seinem Hause weilt; doch Milosch ist an diesem Verbrechen nicht betheiligt. Durch den Firman vom Jahre 1820 und den von Adrianopel wird den Serben das Recht zugestanden, die Regierung ihres Landes selbst zu führen und sich einen Fürsten zu wählen, wofür sie aber an die Pforte einen Jahrestribut zu entrichten haben. Dankschreiben werden nun an den Zaren, den »grossherzigen Beschützer Serbiens«, und, an den Sultan abgesandt. Allein die Machenschaften russischer Sendlinge arbeiten dem Emporringen des Volkes entgegen und wiegeln den Senat gegen Milosch Obrenowitsch auf. Diese Leute dringen auch darauf, über eine Verfassung abzustimmen. Bei den zwischen England und Russland sich abspielenden Kämpfen um den Einfluss siegt das Zarenreich, und Milosch, dessen Gegner damit am Ruder bleiben, wird — im Juni des Jahres 1839 — zur Abdankung gezwungen. Hierauf wählt man zuerst Milan und dann Michael Obrenowitsch — Milosch ist der Vater des letzteren — zum Fürsten. Aber zwei Feinde Michaels, die Senatoren Wucsitsch und Petronijewitsch, rufen die Türken zum Beistande gegen den Fürsten auf, und die Russen lassen denselben, weil er ihnen kein genügend gefügiges Werkzeug ist, im Stiche. Ein siegreicher Aufstand bricht aus, und Michael muss — 1842 — nach Oesterreich hinüberflüchten. Doch der zu seinem Nachfolger erwählte Alexander Kara-Georg macht sich unbeliebt. Der Senat widerstrebt ihm, die Pforte und Russland lassen ihn fallen, und im November 1858 ist er genöthigt, Belgrad zu verlassen. Jetzt wird Milosch zurückberufen, und unter ihm hat das Land ein patriarchalisches, kraftvolles und freiheitliches Regiment. Er stirbt im Frühlinge des Jahres 1860, und sein Sohn Michael, der ihm nachfolgt, stellt den Wahlspruch auf: »In Serbien entscheidet das Gesetz«. In Belgrad kommt es zwischen den Christen und Mos-lims zu Reibereien, worauf die letzteren, welche ja noch in der Festung sitzen, die Stadt beschiessen. Die Konsuln legen ihre Verwahrung ein, und man schreitet zur Bildung eines Volksheeres. Im Jahre 1867 erklären dann die Türken, die noch in ihrem Besitze befindlichen Festungen räumen zu wollen. Mit dem Senate und der Volksversammlung geht eine Umgestaltung vor sich, und der wie ein Selbstherrscher regierende Minister Kristitsch wird durch Ristitsch ersetzt, welcher den ge- schickten und fähigen Garashanin an seine Seite beruft. Am 25. Mai 1867 erfolgt die Ermordung des Fürsten Michael, worauf man dessen Vetter, Milan Obrenowitsch, zum Fürsten ausruft, und während der Minderjährigkeit des letzteren sitzt Blasnawatz der Regentschaft vor. Die Umgestaltung des Heeres, die Gewährung einer freisinnigen Verfassung und das Gesetz über die Pressfreiheit und den öffentlichen Unterricht finden nicht den Beifall Russlands, und Milan begiebt sich nach der Krim, um die guten Beziehungen zum Zaren zu erneuern. Die Ereignisse des russisch-türkischen Krieges, welche Serbien zum unabhängigen Königreiche machten, sind aber noch zu neu, als dass es nöthig wäre, sie hier aufzureihen. Aus Serbiens neuer Geschichte sind besonders zwei Dinge hervorzuheben — der Einfluss der russischen Politik und das nichtswürdige Verfahren von Männern wTie Wucsitsch. Russland wurde durch seine Feindseligkeit vollständig geblendet und um die Früchte seiner Opfer gebracht. Seiner Unterstützung verdankt Serbien allerdings zum grossen Theile die Unabhängigkeit und besonders den letzten Zuwachs. Doch der junge Staat sollte durchaus zu einem Anhängsel der Russen werden; damit hemmten diese die Entwicklung seiner Macht und Freiheit, und nährten in seinem Inneren die Zwietracht, weshalb er ihnen durchaus keine Dankbarkeit bewahrte. Die gleiche Politik, welche ihnen wie ihren Schützlingen schadet, haben sie ja in Bulgarien ebenfalls befolgt. Werden neue Staatswesen ins Leben gerufen, so muss man auch ihre Unabhängigkeit achten und ihren berechtigten Wünschen und Hoffnungen Rechnung tragen, und nur dann wird man in der Stunde der Gefahr auf sie zählen können. Männer wie Wucsitsch stehen aber mit dem Verräther vom Amselfelde, mit Wuk Brankowitsch, in einer Reihe. Sie wollten ihre Gegner im Inneren Laveleye, Balkanländer. IL stürzen und schreckten nicht davor zurück, sich auf Fremdlinge zu stützen. Derartiges, was von allen Parteien mit dem Brandmale des Verbrechens gestempelt werden sollte, ist aber eben nur möglich, weil die Grossmächte hier mit einander um den Einfluss ringen. — Beim Beginne des Bürgerkrieges war der Bildungsgrad der Bevölkerung ein fabelhaft niedriger, und im Jahre 1807 wurde eine besondere Verfügung erlassen, kraft welcher nur die des Lesens und Schreibens Kundigen zu hohen Staatsämtern zugelassen werden sollten. »Das war aber eine ganz vergebene Vorschrift«, berichtet Frau Mijatowitsch, »und 20 Jahre später nahmen Männer, welche kaum ihren Namen zu zeichnen wussten, die wichtigsten Stellungen ein«. Um die wirthschaftlichen Verhältnisse gründlicher kennen zu lernen, entschloss ich mich dazu, auf dem Landwege nach Konstantinopel zu gehen, und dabei also die Balkanhalbinsel von einem Ende bis zum anderen zu durchziehen. Die Eisenbahnlinie Belgrad-Nisch befand sich damals noch nicht im Betriebe; doch durch das Entgegenkommen der serbischen Regierung wurde mir das Reisen in ganz besonderer Weise leicht gemacht. Man stellte einen Postwagen zu meiner Verfügung und gab mir als Führer und Dolmetscher einen jungen Franzosen, Herrn Vavasseur, mit. Dieser war nach Serbien gekom -men, um in dem Unabhängigkeitskriege als Freiwilliger mitzukämpfen, und hatte dann eine junge Serbin gehei-rathet und im Ministerium des Innern eine Anstellung erhalten. Bei einem herrlichen Wetter reisen wir nach Smederewo (Semendria) ab. Im ganzen östlichen Europa sind die Sommer trocken und heiss, und den Regen hat immer nur der Sturm im Gefolge. Ungerne verlasse ich die »Weisse Stadt«, über welche die Morgensonne einen so heiteren Schimmer gebreitet hat, und das Bild, welches ich mit mir fortnehme, weicht weit, weit ab von den Eindrücken, die Blanqui im Jahre 1842 empfing. »Kommt man nach Belgrad«, sagt derselbe, »so geräth man, von einigen in europäischem Stile erbauten und mit grünen Fensterladen ausgestatteten Häusern abgesehen, in eine ganz türkische Umgebung hinein. Man steht zwischen zerbröckelnden Festungsmauern, weissen, schlanken, von Cypressen beschatteten Minarets und buntfarbigen Fenstergittern. Die Strassen haben ein holperiges Pflaster und viele Kehrichthaufen, and man kommt hier an Häusern, die sich im Zustande des Verfalles befinden, dort an grossen, unbenutzt daliegenden Plätzen vorüber und schreitet zwischen dunkeln und schmutzigen Läden, fensterlosen Querbauten und zerlumpten Gestalten dahin«. — Das serbische Wappen, welches ich auf öffentlichen Gebäuden bemerkt habe, zeigt auf rothem Grunde ein weisses Kreuz; zwischen den vier Armen desselben steht je ein goldenes »C«, und das ist die Abkürzung für »£ama, Qloga, Qpasiva, (perbi« — »Nur die Eintracht kann die Serben retten«. Als die »Weisse Stadt« aber hinter mir lag, sah ich mich zu meinem Erstaunen in eine nackte, öde Haide hineinversetzt, woselbst man vergebens nach Landhäusern oder Gemüsefeldern ausschaute. Das in Belgrad verbrauchte und sehr theuer bezahlte Gemüse wächst auf der anderen Seite der Sau, wo Bulgaren sich mit dem Anbaue desselben beschäftigen, und wird an jedem Morgen von Semlin aus herübergebracht. Es würde sehr lohnend sein, in der Nähe von Belgrad Milchwirthschaften und Gemüsegärten anzulegen, und statt bei der Regierung um Plätze zu betteln und unsichere, schwankende Unternehmungen ins Leben zu rufen, sollte man sich lieber mit erspriesslicheren Dingen beschäftigen. Ein ganz anderes Landschaftsbild umpfing uns jedoch, so- bald die Strasse an die Donau heranrückte. Jetzt wurde der Weg entzückend, und die Hügel, an denen er entlang führte, trugen Reben, Nussbäume und Eichen, während hin und wieder auch eine von Pflaumenbäumen umgebene Behausung zum Vorschein kam. In Serbien — auch in Bosnien — bilden die getrockneten Pflaumen einen wichtigen Handelsartikel, und mehr als 12000 Tonnen — 1 Kilogramm für 50 Centimes — wurden 1881 ausgeführt. Der aus Pflaumen bereitete und unter dem Namen »Sliwowitza« bei den Slawen bekannte Branntwein ist in gewöhnlichem Zustande sehr schwach; ein Liter kostet nur 20 Centimes, während von der konzen-trirten Sliwowitza ein Liter mit einem Franken bezahlt wird. In Grotschka wechseln wir die Pferde. Die Oesterreicher unter dem General Wallis erlitten 1739 nicht weit von hier eine demüthigende Niederlage, und diese machte ihrem dreijährigen, gegen die Türken geführten Kriege ein Ende. Damals steckte in dem Türkenreiche noch eine gewaltige Widerstandsfähigkeit, welche seitdem an den Versuchen, die Zivilisation des Westens anzunehmen, zerschellte. Gegen Mittag kommen wir in Smederewo an, und einen grossartigen Anblick gewährt hier die alte, 1432 durch Georg Brankowitsch erbaute Festung, deren hohe Thürme stolz auf die Donau hinabblicken. Die Hauptkirche ist dem heiligen Georg gewidmet; sie wurde von einem Zinzaren aufgeführt, und ich sprach bereits davon, dass die Zinzaren hier in diesen Ländern die grossen Baumeister sind. Am Hafen, wo's rege und geschäftig hergeht, sieht man Schweine nach langen, flachen Kähnen führen, während aus anderen Fahrzeugen schönes, krystallklares Salz ans Land gebracht wird. Diese Ladung kommt aus Siebenbürgen, aus den Salzbergwerken von Maros-Ujvar; dort habe ich Lage- rangen gesehen, welche mehr als 100 Meter dick waren und sich wie Steinbrüche ausnahmen. Im Gasthause, woselbst wir unser Mittagsmahl verzehren, finden wir österreichische, d. h. eine sehr gute Küche und viele serbische und ungarische Kaufleute. Die Bilder an den Wänden zeigen leicht gekleidete weibliche Gestalten in herausfordernden Stellungen, und nach diesem Zimmer-schmucke zu urtheilen, kann man sich von Smederewos Sittlichkeitsbegriffen gerade keine hohen Vorstellungen machen. Im Inneren des Landes habe ich eine derartige Ausstattung nirgends getroffen, und hier fanden sich an den Wänden die Bilder von Heiligen, von Fürsten und besonders von Helden aus dem letzten Kriege. In Serbien ist die Sittlichkeit, hat man mir aber gesagt, überall eine sehr grosse. Die Hügel, welche Smederewo überragen, tragen prächtige Reben, und Eutrop behauptet, dass hier der von den Soldaten des Kaisers Probus mit Wein bepflanzte »aureus mons« sich befindet. Hinter Smederewo biegt unser Weg von der Donau ab, und nun geht's an der Jessawa hinauf, welche zum Becken der fast ganz Serbien umspinnenden Morawa gehört. Der am anderen Flussufer — mit unserer Strasse in einer Richtung — hinführende Schienenstrang ist eine vorläufige, dem Frachtverkehr dienende Anlage; er ist aber der kürzeste, nach der Donau führende Weg und sollte deshalb nicht aufgegeben werden. Das Thal der Morawa liegt bis nach Nisch hin weit offen da und gleicht — in verkleinertem Maassstabe — dem des Rheines zwischen Strass-burg und Basel. Die an beiden Ufern hinlaufenden Berge sind bewaldet und nicht steil abfallend. Auf dem fruchtbaren und nicht zu schlecht angebauten Boden herrscht die dreijährige Koppelwirthschaft vor, und es folgen sich Weizen oder Roggen, Mais und dann die Brache. So wird's hier fast überall gehalten, und der Unterschied liegt nur darin, dass man den fruchtbaren Boden mehrere Tahre hinter einander mit Mais besät und den dürren eine längere oder kürzere Zeit brach liegen lässt. Die grossen, von allerlei Zubehör — Scheunen, Ställen — umgebenen Wohnhäuser stehen auf einem geräumigen und sorgfältig umfriedigten Hofe, welcher den Hausthieren als Tummelplatz dient. Gewöhnlich sind die Bauten aus Holz oder Stampferde aufgeführt und mit Stroh gedeckt, und der weisse Kalkanstrich verleiht ihnen ein freundlich-lachendes Aussehen; die Obstbäume, aus denen sie hervorgucken, bilden aber ein förmliches Gehölz. Bei jedem Dorfe befindet sich mitten auf einer grossen Wiese eine Gruppe von Eichen, wodurch das Landschaftsbild wirkungsvoll verschönt und den Heerden, welche man durchtreibt, ein Ruhe- und Weideplatz geboten wird. Im Durchschnitte besitzt eine Bauernfamilie fünf bis zehn Hektar Land, und ausserdem stehen ihr Anrechte an die Staats- und Gemeinde Waldungen zu. Gänse, Enten und Hühner sind in grosser Menge vorhanden, und als Eigen-thümer der Begüterung hat der Bauer es nicht nöthig, dieselben zur Aufbringung des Pachtzinses zu verkaufen. Er kann sie selbst verzehren und hat also ein »Huhn im Topfe«. Die Postpferde, welche vor unseren Wagen gespannt werden, stammen sämmtlich aus Ungarn. Die serbischen Pferde sind nicht grösser als ein Pony und von hässlichen Formen, dabei aber sehr ausdauernd und so geduldig wie ein Maulesel. Sie eignen sich mehr zum Tragen von Lasten, als zum Ziehen, und werden zu niedrigen Preisen verkauft. Im Inneren zahlt man 70 bis 150 Franken für ein Thier, und eins der besten Art kostet 300 Franken. Fürst Michael hat zur Hebung der einheimischen Pferderasse zwei Gestüte angelegt, eins in Pazarewatz und das andere bei Tschupria, in Dobritschewo. Nennens-werthe Erfolge sind aber immer erst im Laufe der Jahre und überhaupt nur unter thätiger Mitwirkung der Bauern möglich; doch im Falle des Gelingens würde dem Lande eine Einnahmequelle werden, aus der es mit leichter Mühe schöpfen könnte. Die unzähligen, noch recht waldursprünglichen Wagen, denen wir begegnen, sind sämmtlich mit einem Paar schwarzer, magerer Ochsen bespannt. Auf den einen schafft man Getreide, Weizen und besonders Mais nach der Donau, und die anderen bringen Salz, Salz und wiederum Salz und mitunter auch Zeuge und verschiedene sonstige Sachen heim. Fast ihre sämmtlichen Bedürfnisse beschafft sich jede Familie hier noch auf dem Wege des Hausfleisses, und so ist der Umsatz nur ein sehr geringer und äusserst einfach gestalteter. Als wir am Abende in die breite Dorfstrasse von Hadji-Begowatz (zwischen Welika-Plana und Lapowo) einbogen, rief mein Reisegefährte: »Was sehe ich? Da ist ja der todtgesagte Tondini!« Bischof Strossmayer hatte einen Geistlichen ausgeschickt, um den 5000 beim Eisenbahnbau beschäftigten italienischen Arbeitern die Sakramente zu spenden, und einer von diesen — so wussten Belgrader Zeitungen zu berichten — sollte den Abt ermordet haben. Derselbe freute sich, uns zu sehen, und wir wurden von ihm zum Aussteigen genöthigt und nach einem ganz in der Nähe liegenden Garten geführt. Dieser gehörte zu einem Hause, das ein französischer Ingenieur bewohnte, und dessen Kind hatte der Abt so eben getauft. An der mit Blumen, Früchten und Flaschen geschmückten Tafel sassen noch, mit dem Glase in der Hand, die Gäste, und in freundschaftlicher Vereinigung weilten Franzosen und Italiener beisammen. »Abt Tondini«, hatte einst Bischof Strossmayer zu mir gesagt, »ist ein Apostel im wahren Sinne des Wortes und dabei ein Gelehrter, der sich in zehn bis zwölf Sprachen mit der gleichen Geläufigkeit auszudrücken vermag«. Als der Abt in der »Contemporary Review« gegen den Panslawismus schrieb, sprach er von meinem, in der »Revue des Deux Mondes« erschienenen Artikel über Bakunin, und ein seltsamer Zufall war's, dass wir uns nun auf einer serbischen Landstrasse persönlich kennen lernten. Herr von Kailay hatte mir erklärt, dass Oesterreich die Partei der Römlinge keineswegs begünstige, und für die Wahrheit dieser Behauptung erhielt ich jetzt wieder einen neuen Beweis, als Tondini von seiner Ernennung sprach. Der päpstliche Nuntius in Wien erhob Einspruch gegen dieselbe, und zwar unter dem Vorgeben, dass man die Serben nicht reizen dürfe. Um jenen Widerstand zu besiegen, musste Bischof Strossmayer sich nun mit vollstem Nachdrucke ins Mittel legen. »Als Serbiens Bischof«, erklärte derselbe, »habe ich für die Seelsorge der dort auf mich Angewiesenen einzutreten, und ich weiss sehr gut, dass man sich in Belgrad darüber keineswegs beunruhigen wird. Tondini ist von mir berufen worden, und seine Ernennung kann ich nicht rückgängig machen, ohne meiner Aufgabe untreu zu werden«. Der Nuntius hatte dann vergebens damit gedroht, in Rom eine Berufung einzulegen, und Strossmayer war aus dem Kampfe als Sieger hervorgegangen. Die Eisenbahn läuft fast immer neben der Landstrasse her, welche mitten durchs Morawa-Thal hinführt. Die Abdachung ist hier eine kaum merkliche, und ich wundere mich nicht mehr darüber, dass man die Linie bis Nisch in zwei Jahren fertigstellen konnte. Keine schwierigen Arbeiten, weder Dammschüttungen, noch Einschnitte, waren nöthig, und die Gesellschaft, welche 160000 Franken für jeden Kilometer erhielt, wird eine erkleckliche Anzahl von Millionen eingeheimst haben. Das Abendessen nehmen wir in Bagredan in einer »Mehana« oder Herberge ein, die hier, wie überall, von einem Zinzaren gehalten wird. Man trägt die »Kissala Tscherba«, d. h. die »sauere Suppe« auf, welches treffliche, volkstümliche Gericht aus einer Art von Hühnerbrühe besteht, in der das zertheilte Geflügel herumschwimmt. Dann kommt geröstetes Hammelfleisch mit frischem Gemüse auf den Tisch, und der in der Umgegend gezogene Wein gleicht dem Mäconer. Ich hatte mich schon mit dem Gedanken, fasten zu müssen, vertraut gemacht und bin nun angenehm überrascht, die serbische Küche so gut und dabei so billig zu finden. Die Mehanas haben allerdings — wie die Bahnhöfe des Westens — ein amtlich festgesetztes Preisverzeichniss. Sie tragen keineswegs den Charakter des Privaten, sondern den der Oeffent-lichkeit, und je nachdem sie zur ersten, zweiten oder dritten Klasse gehören, müssen sie eine genau bestimmte Anzahl von Gastzimmern haben und eine Steuer von " 300, 250 oder 200 Franken entrichten. Lässt der Wirth sich's einfallen, den Reisenden zu Übertheuern, so setzt er sich damit der Gefahr aus, die zum Halten seiner Herberge nöthige Berechtigung zu verlieren, und zur Eröffnung eines Kaffeehauses oder eines Ausschankes von Getränken gehört gleichfalls ein besonderer Erlaubnissschein. In keinem anderen Lande werden die Vorschriften des Gesetzes so allgemein und so folgerichtig durchgeführt, worüber der Reisende sich hier wohl schwerlich beklagen dürfte. Leider hat die Gegenwart das Laster der Trunkenheit als ein beständig wachsendes zu verzeichnen, und die Zahl der Schenken wird schliesslich überall eine Kürzung erfahren müssen. Während der Nacht kommen wir durch die zwei wichtigen Ortschaften Jagodina und Tschupria, welche kleinen österreichischen Marktflecken gleichen und irgend etwas besonders Bemerkenswerthes nicht aufzuweisen haben. Am nächsten Morgen nehmen wir unser Frühstück in Alexinatz ein. Im letzten Kriege haben die türkischen Granaten diese Stadt zur Hälfte verbrannt, und ' verschönt ist dieselbe dann wieder emporgewachsen. Jetzt giebt's hier hübsche, freundliche Häuser, mit Bäumen bepflanzte Strassen und viele Läden und Kaffeehäuser. Durch das grosse, prächtig eingerichtete Brauhaus, welches an einem kleinen Zuflüsse der Morawa steht, hat Gambrinus aber von neuem bewiesen, dass er auf einem unwiderstehlichen Siegeszuge gegen den Gott des Weines, gegen Bachus begriffen ist. Stuart Mill behauptet, dass der durch Kriege oder Feuersbrünste verursachte Schaden ungemein schnell sich ausgleichen lässt, falls des Volkes Schaffenskraft nicht gelähmt ist. Das wunderbare Emporschnellen Frankreichs nach dem Kriege 70—71 hat die Wahrheit dieses Satzes bestätigt, und Alexinatz thut's gleichfalls. Wir gelangen auf den die Stadt überragenden Hügel und erblicken unter uns das Thal der bulgarischen Morawa, von wo die aus Nisch kommenden türkischen Heere vorrückten. Blutige und erbitterte Kämpfe sind hier geführt worden. Die auf dem Hügel stehende Pyramide wurde zu Ehren der gefallenen russischen Freiwilligen errichtet, und die umliegenden Höhen zeigen noch die Erdwälle, welche die serbischen Batterien schützten. Wendet das Auge sich aber nach Nordwesten — die Richtung nach Stalatsch verfolgend —, so sieht man, wie am Fusse hoher Berge die serbische und die bulgarische Morawa zusammenströmen. Den Serben ist der Vorwurf gemacht worden, dass sie den letzten Krieg gegen die Türken nicht mit der heldenmüthigen Tapferkeit geführt haben, welche sie in den Kämpfen um ihre Unabhängigkeit — 1805 bis 1815 — offenbarten. Ich kann jene Beschuldigung aber nicht unterschreiben. Wo für die Serben die Kampfesweise der Montenegriner, d. h. der Guerillakrieg, in Frage kam, haben sie sich ebenso tapfer und muthig wie die letzteren gezeigt. Auf offenem Felde konnten die schlecht bewaffneten und schlecht eingetheilten Milizen aber doch unmöglich über alte, mit der modernen Kampfesweise vollständig vertraute Soldaten siegen, welche überdies bessere Flinten und bessere Kanonen hatten. — Auf der Strasse nach Nisch ging's während einer Dauer von zwei Stunden durch eine weite, sehr fruchtbare und mit Mais oder Weizen besäte Ebene, woselbst aber weder Bäume noch Häuser sich zeigten. Es gehört hier eben die Zeit der Türkenherrschaft noch gar nicht lange der Vergangenheit an, und türkische Städte haben stets eine Einöde zu ihrer Umgebung. Die Bauern wagen es nicht, sich daselbst niederzulassen, weil sie die Erpressungen der Regierung und die Räubereien des Kriegsvolkes fürchten. Im Jahre 1840 ist diese ganze Gegend von den Türken verwüstet worden. Der Hatti-Scherif von Gülhan hatte alle Unterthanen des Sultans, die Christen wie die Moslims, für gleichberechtigt erklärt, worüber jene natürlich ebenso erfreut, als diese entrüstet waren. Doch nicht umsonst wollten die Türken das Heft in Händen haben, und sie rächten sich an denen, die man mit ihnen in eine Reihe zu stellen gewagt hatte. Die Forderungen wurden verdoppelt und die unglücklichen Bauern, denen man die Töchter entführte, mit Erpressungen und Beschimpfungen überhäuft. Die zum Aeussersten getriebenen Bulgaren erhoben sich und widerstanden tapfer einem ersten Angriffe, mussten dann aber vor der Artillerie zurückweichen. Eine vollständige Verwüstung bricht nun über den Bezirk Nisch herein, und 225 Dörfer werden in Brand gesteckt und niedergerissen. Die der Metzelei Entgangenen flüchten in die Wälder und nach Serbien hinüber. Vergebens wenden sie sich aber hilfesuchend an den Zaren Nikolaus und den Fürsten von Serbien, und keine Stimme wird zu ihren Gunsten laut. Jst's also wunderbar, dass man in allen unlängst von den Türken besetzt gewesenen Ländern die Dörfer nur weit ab von den Fahrstrassen findet? Nisch hat bereits ganz das Aussehen einer ungarischen Stadt erhalten. Beim Beginne der serbischen Herrschaft wanderten die Mos-lims aus, und ihre ganz aus Holz erbauten Häuser wurden zu niedrigen Preisen verkauft. Der Gemeinderath liess dieselben niederreissen, um Raum für breite Strassen zu gewinnen, und die neuen Steinhäuser mit ihren Läden tragen ein vollständig abendländisches Gepräge. Nur einige reiche Türken, die zurückgekommen sind, um die Veräusserung ihres Besitzes zu ordnen, erinnern noch an die ottomanische Herrschaft. Da sehe ich die Frau von einem derselben ihrer Behausung zuschreiten, und dem einem lilafarbenen Seidenballen gleichenden Wesen folgen zwei ebenfalls völlig verhüllte Dienerinnen. Als einzige merkwürdige Baulichkeit besitzt Nisch eine grosse, aus der Zeit der türkischen Eroberung stammende Festung, welche noch als Kaserne benutzt wird. Seit der Vereinigung mit Serbien hat sich alles in geradezu staunenerregender Weise gewandelt, und siegreich zog die Art des Abendlandes ein. Doch am meisten überrascht mich das gewaltige Gasthaus, in dem wir abgestiegen sind, und dessen ausgedehnte Nebengebäude einen grossen, mit Blumen und Sträuchern bepflanzten Garten umschliessen. Bei den Klängen ungarischer Weisen nehmen wir hier, im Freien also, unser Abendessen ein, und die Zahl der erschienenen Gäste ist eine bedeutende. Auch beim Billard drängen sich die Leute, und die sauberen und sogar elegant ausgestatteten Frem- denzimmer sind sämmtlich besetzt. Nisch stellt bereits einen wichtigen Handelsplatz dar und erhält aus Lesko- watz die Erzeugnisse Macedoniens — Wolle, Leder _ und über Saloniki englische Eisen- und Kurzwaaren. Auf der einen Seite wird es durch die Eisenbahn — über Pirot und Sofia — mit der Linie Sarambey-Konstantinopel, und auf der anderen — über Wranja — mit der Linie Mitrowitza-Saloniki verknüpft werden. Beim Abendessen erfreuen wir uns der Gesellschaft des Departements-Arztes, welcher sich über das serbische Gesundheitsgesetz *) und die Lebensweise der Einwohnerschaft auslässt. »Der Serbe«, berichtet er, »unterwirft sich gerne den Vorschriften des Gesetzes, falls deren Nutzen ihm einleuchtet. So begegnet die Impfung keinem Widerstande. Sie wird unentgeltlich ausgeführt, aber die Bezirks- und die Gemeinde-Aerzte erhalten für jeden Geimpften 40 Centimes aus der Gesundheits-Kasse und bleiben mit der Durchführung des Gesetzes also gleichsam verknüpft. Die Serben sind sehr gesund und kräftig und werden, obgleich der Mais den Hauptbestandtheil ihrer Nahrung ausmacht, von der italienischen Pellagra verschont. Sie essen aber auch alle Schweine- und Hammelfleisch und verbrauchen viel Salz, das zum Glücke recht niedrig besteuert ist. Auf den Kopf entfallen hiervon etwa 10 Kilogramm, und was den Zucker und den Kaffee anbetrifft, so verbraucht der Einzelne von jenem ungefähr 2 und von diesem iJ2 Kilogramm. Liegt darin nicht schon ein gewisses Zeichen des Wohlseins? Geschwächt werden die Bauern durch die Fasttage — die ganzen und die theilweisen —, deren Innehalten ihnen sehr viel mehr als der Kirchenbesuch am Herzen liegt, und welche beinahe eine Hälfte des Jahres ausmachen«. ') 1. Ii., 6. Kapitel. Die Wege sind zwar vollkommen sicher, doch hat eine weitere Liebenswürdigkeit des Ministerpräsidenten Pirotschanatz für Begleiter gesorgt. Als ich nämlich Nisch verlasse, um nach Pirot zu gehen, kommen der Präfekt und der Departementsarzt bis zur nächsten Haltestelle mitgefahren, und zwei Polizeisoldaten reiten uns voraus. In einiger Entfernung von der Stadt werde ich zum Aussteigen genöthigt und nach einem Denkmale ganz eigener Art geführt. Zuerst glaubte ich, den Ueber-resten eines römischen Thurmes entgegenzugehen, der aus grossen runden, weissen Steinen zusammengekittet ist. Doch beim Nähertreten wurden diese vermeintlichen Steine zu Menschenschädeln, und ich stand nun vor dem »Schädelthurme«, »Kele-Kalessi«, welcher an eine hel-denmüthige Begebenheit aus dem Unabhängigkeitskriege erinnert. Im Jahre 1809 wurden die Serben nicht weit von hier, bei dem Dorfe Kamenitza, von den Türken angegriffen und besiegt. Sie zogen sich jetzt unter ihrem Anführer Singgelitsch in einen Thurm zurück, den derselbe, als der Feind die Verschanzungen erstürmt hatte, in die Luft sprengte, und die Trümmer begruben die heldenmüthige Schaar sammt den Belagerern. Der siegreiche Pascha wollte dann den Schrecken als Bändigungsmittel brauchen und liess deshalb den >> Schädelthurm <' aufführen. Einen seltsamen Gegensatz zu dem schrecklichen Baue bildet aber dessen freundliche Umgebung. Mitten in einer Gruppe schöner Weiden hegt der 1860 durch Mahmud Pascha errichtete Brunnen, und auf seinem weissen Marmorbecken stehen Koranverse. Doch die Witterung und die Menschen zerren an dem fürchterlichen Thurme, und nimmt man sich seiner nicht an, so ist er dem Untergange geweiht. Früher wollten die Rajahs ihn gerne beseitigt wissen; jetzt sind sie doch aber befreit, und es fragt sich, ob's nicht vielleicht gut — 3i — wäre, ihnen gleichsam eine ständige Warnungstafel vorzuhalten. In jedem Falle müsste aber eine den Manen des tapferen Singgelitsch gewidmete Erinnerungstafel beschafft werden. Der Weg nach Pirot geht zuerst an der Nischawa entlang. Doch bald stürzt der Fluss sich in eine fürchterliche Schlucht, die von den steil abfallenden Felsen des Gufijanska-Gebirges eingerahmt wird. Kein Fusssteig führt durch dieselbe, und das Wasser rauscht über die hinuntergerollten Felsstücke hinweg. Wir überschreiten nun einen von den Ausläufern einer gewaltigen Gebirgsmasse, welche nach unten zu bewaldet und auf den steilen Gipfeln noch mit Schnee bedeckt ist. Sie heisst Suva-Planina und bildet den eigentlichen Anfangspunkt des Balkangebirges, das sich von hier in östlicher Richtung weiterzieht und am Schwarzen Meere beim Kap Emineh endet. Würden die Nadelhölzer nicht fehlen, so könnte ich meinen, in den Tiroler Alpen zu weilen. Aber die Waldungen bestehen hier — wie in Bosnien — aus Eichen, Buchen und Eschen; grosse Bäume sieht man sehr selten, und in wegbaren Bereichen sind dieselben überall abgehauen worden. Bevor der Präfekt von Nisch und der Departementsarzt sich verabschieden, vertrauen sie uns den Unterprä-fekten von Ak-Palanka an. Herr Stankowitsch — so heisst derselbe —, eine schöne Erscheinung in der kleidsamen Husarenuniform, war uns auf einem trefflichen russischen Pferde entgegengeritten, das er während des letzten Krieges gekauft hatte. Die beiden, ihn begleitenden Panduren sitzen auf kleinen Ponys und tragen die alte serbische Gewandung und den breiten Gürtel, der mit seinen Dolchen und Pistolen sich wie eine vollständige Rüstkammer ausnimmt. Während Herr Stankowitsch neben dem Wagen hertrabt, wird über den Distrikt ge- sprochen, in dem wir uns befinden. »Wir sind hier«, sagte der Unterpräfekt, »in einem von den wildesten Bezirken Serbiens. Diese engen Schluchten haben keinen Raum für den Ackerbau, und die Bevölkerung besteht fast nur aus Hirten, welche ihre Heerden nach den Bergen treiben. Aber wilde Thiere — Luchse, Bären, Wölfe, Adler und Raubvögel der verschiedensten Art — hausen hier in grossen Mengen, und die Bärenjagd gehört mit zu meinem Zeitvertreibe«. — Ich sprach nun davon, dass mir hier bei allen Waldungen das Fehlen grosser Bäume aufgefallen wäre, und er entgegnete: »Ja, die prächtigen Eichen, mit denen Serbien einst bedeckt war, schwinden in dem Maasse, in welchem die Bevölkerung sich vermehrt. Bereits im Jahre 1839 hatte Milosch zu ihrer Erhaltung strenge Verfügungen erlassen, und seitdem gingen in unserer Volksversammlung — 1847 und 1867 — zwei noch bedeutend verschärfte Gesetze durch, welche dem Staate ein unbedingtes Aufsichtsrecht zugestehen. Doch wie sieht's mit der Befolgung aus? Ihr Bau- und Brennholz haben die Bauern sich stets aus den Staats- und Gemeinde Waldungen geholt, und es ist ihnen dies nicht zu verbieten; man müsste sie aber davon zu überzeugen suchen, welch verhängnissvolle Folgen die Entholzung, besonders auf den Bergen, mit sich führt. Schöne Wälder werden Sie auf der Halbinsel Krajna finden, welche durch die Donau, den Pek und den Timok gebildet wird, und immerhin ist noch ein recht beträchtlicher Theil unseres Landes beholzt«. Ak-Palanka, welches wir gegen Mittag erreichen, ist ein kleines, nur aus einigen Häusern bestehendes Dorf. Hohe Berge schliessen es auf allen Seiten ein, und man hat das Empfinden, hier in diesem versteckten Winkel weit, weit ab vom Getriebe der grossen Welt zu sein. Die Mehana ist von einer waldursprünglichen Einfachheit. Die vorgeschriebenen drei Betten, welche sich allerdings vorfinden, sind weiter nichts als breite, hölzerne Bänke, und zum Schlafen muss man seinen Teppich überbreiten. Doch die Sauberkeit mangelt dieser Herberge keineswegs. Die Wände sind mit Kalk geweisst, und auf dem Tische liegt ein gesticktes Tafeltuch aus feinem Linnen. Man bringt eine »Kissala Tscherba«, gebratenes Hammelfleisch, ein Huhn, Salat und guten Nischer Wein, und der hierauf folgende Kaffee ist nach türkischer Art bereitet. Den Unterpräfekten eingeschlossen, sind wir Drei, und ich habe im ganzen vier Franken zu bezahlen. Einen befestigten Ort kann man Ak-Palanka heute nicht mehr nennen. Aber einst war dasselbe ein wichtiger strategischer Punkt und beherrschte durch seine Festung den aus Serbien nach dem übrigen Theile des ottomanischen Reiches hinführenden Weg. Jetzt ist die alte Festung nur ein Trümmerhaufen; ihr Thor, welches noch dasteht, erinnerte mich an die Alhambra, und ein umherliegender Säulenknauf an die Baukunst der alten Römer. Aus den Mauerstücken hat man für die Panduren eine kleine Kaserne und für den Unterpräfekten einen Konak errichtet. Dieses einstöckige, blockhausähnliche Gebäude umschliesst aber ein reizendes Empfangszimmer. Teppiche und Bärenfelle liegen auf dem Boden, Photographien und Kupferstiche hängen an den Wänden, Blumen stehen vor den Fenstern, und Sessel und Sophas laden freundlich zum Sitzen ein. Des Unterpräfekten junge Gattin hat den behaglichen und eleganten Raum geschaffen, und gar wundersam berührt's, zwischen diesen öden, steilen Bergen, auf denen die Bären hausen, mitten in dieser wilden Gegend solch eine Oase zu finden. Einem in Serbien allgemein üblichen Brauche entsprechend, bringt man uns Eingemachtes, das mit einem kleinen Löffel aus einer Krystallschaale gegessen wird, und ein Laveleye, Balkanländer. II. 3 Glas frisches Wasser. Frau Stankowitsch, die neben dem Serbischen das Französische und Deutsche mit der gleichen Geläufigkeit spricht, klagt darüber, dass sie im Winter Monate hindurch von jeder Verbindung abgeschnitten ist. Der Schnee hüllt dann das ganze Land ein, und in den Nächten hört man das unheimliche Heulen hungriger Wölfe. Wie so ganz anders wird's hier aber doch aussehen, sobald erst längs der Nischawa das Dampfross dahin schnaubt! Herr Stankowitsch will uns bis dahin begleiten, wo wir von den Panduren aus Pirot erwartet werden, und wir freuen uns über seine liebenswürdige Gesellschaft und seine lehrreiche Unterhaltung. Zur Bewillkommnung hat der Präfekt von Pirot uns seinen »Pissar« oder Sekretär entgegengeschickt, der in schwarzem Leibrocke und mit weisser Cravatte angeritten kommt und mit Medaillen und Ehrenzeichen — lauter Belohnungen für seine in den Unabhängigkeitskriegen bewiesene Tapferkeit — geschmückt ist. Die ihn begleitenden Panduren haben ein wildes Aussehen und bilden den vollständigen Gegensatz zu ihren eleganten Nisch er Kollegen. Unsere Aufmerksamkeit wird nun auf Hirten gelenkt, die sich mit einer ungeheueren Schaf- und Ziegenheerde hier niedergelassen haben. Mitten auf einem Felde errichteten sie eine Hütte aus Reisern, woselbst die Nacht verbracht und auch Käse bereitet wird. Die Thiere bilden das Eigenthum eines Dorfes und werden — wie in Schweizer Käsereien — gemeinsam nutzbar gemacht. Familiengemeinden sind in dieser Gegend noch zahlreich vorhanden, und die Behörden begünstigen die Bildung neuer und die Erhaltung bereits bestehender. In Gnilan traf ich mehrere solcher Vereinigungen, die genau so wie die in Kroatien (Anhang des i. Bandes) gestaltet waren, und darunter auch eine 24 Personen umfassende Zadruga, in welcher der Grossvater, Djenko Thodorowitsch, das Amt des Stareschina versah. Derselbe hatte drei verheirathete und zwei ledige Söhne, und die übrigen Familienmitglieder waren seine Schwiegertöchter und Enkelkinder. Diese Zadruga, welche als sehr arm galt, besass 20 »Plugowas« Land (ein Plugowa ist etwas weniger als ein Hektar), 60 Schafe und Ziegen, 8 Ochsen, 2 Pferde und 3 Schweine. An den Staat entrichtete sie eine Abgabe von 250 Franken, und was sie während der türkischen Herrschaft zu zahlen hatte, — der Zehnte und der an den Bey zu entrichtende Neunte (Dewehak) — drückte sehr viel schwerer. Ihre Mitglieder halten gewissenhaft die grossen Fasten, welche denen der römisch-katholischen Kirche entsprechen, und essen auch Mittwoch und Freitag nie Fleisch. Für gewöhnlich besteht die Nahrung aus Milch, Käse, vorzüglichem Roggenbrode und hin und wieder aus Fleisch. Zum Empfange reicht man uns »Sarmas«, d. h. zerhacktes, in Weinblättern gekochtes Fleisch, und einen vortrefflichen Wein, und das Aufgetragene steht auf einem kleinen, runden Tische, der, türkischer Weise entsprechend, 15 Centimeter hoch ist. Das Innere des Hauses befindet sich in ziemlich verfallenem Zustande und umschliesst drei Räume, von denen der eine als Essstube dient, während die beiden anderen als Schlafstätte und zu verschiedenen wirtschaftlichen Zwecken benutzt werden; der Fussboden ist ungedielt. Die Kleidung der Leute trägt einen vollständig bulgarischen Charakter, und als ihren Schutzheiligen verehrt die Zadruga den Sankt Arandjel. Der Genossenschaftsgeist hat übrigens auch unter den Handwerkern Serbiens sich entfaltet, und in Belgrad traf ich eine Buchdrucker-Zadruga. Den Berg hinuntersteigend, sehen wir plötzlich zu unseren Füssen eine weite, von Hügeln eingefasste Ebene, 3* die bebaut, aber kahl und ohne Bäume und Häuser ist. Nur in ihrem Mittelpunkte, am Ufer eines von Weiden umsäumten Flusses, zeigt sich eine Stadt mit hohen Mi-narets und einer alten Festung — das vollständig weiss-schimmernde Pirot, der Hauptort der zweiten, durch den Berliner Vertrag an Serbien gekommenen Provinz. Der Präfekt — Drobniak ist sein Name — holt uns zu einem Rundgange durch die Stadt aus unserer Mehana ab. Er entstammt einer Familie von Helden, und sein Grossvater war der »Probatine«, d. h. der »Blutsbruder«, des ruhmreichen Milosch. In Gegenwart des Popen hatten die Beiden am Altare, ihr Blut mit einander mischend, sich Brüderschaft geschworen, und überall — in Tschatschak, Jagodina, Krujewatz — kämpften sie gemeinsam gegen die Türken. Der Vater des Präfekten Drobniak war der vertraute Freund des Fürsten Michael, und was ihn selbst, den früheren Abgeordneten für Grotschka, anbetrifft, so bekleidet er sein hiesiges Amt seit der Einverleibung. Pirot gewährt noch den Anblick einer durch und durch türkischen Stadt. In den niedrigen und vollständig offenen Läden sieht man die Handwerker arbeiten und in anderen den Kaufmann mit gekreuzten Beinen mitten unter den Verkaufsgegenständen sitzen. Die Türken wanderten alle aus, und nur drei oder vier von den reichsten sind zurückgekehrt. Das Bad — der »Hamam« — und die Moscheen zerfallen, und für die beiden einverleibten Provinzen bleibt noch die berühmte Wakuf-Frage zu regeln. Die Wakufs sollen in den Besitz Serbiens übergehen, und die Pforte muss dafür eine eben noch festzusetzende Entschädigung erhalten. Ein interessantes Gebäude ist die alte griechisch-katholische Hauptkirche, und die Bilder und Holzschnitzereien, welche sie enthält, scheinen noch aus dem Mittelalter herzurühren. Im Hinblicke auf die 14000 Einwohner Pirots nimmt sie sich aber recht klein aus, und man macht es hier vielleicht wie in den Zadrugas, wo eins von den Familienmitgliedern für alle übrigen zur Messe geht. Einen Glockenthurm hat die Kirche nicht; überhaupt ist dieselbe von aussen durch nichts als solche zu erkennen, und eine grosse, fensterlose Mauer entzieht sie vollständig den Blicken der Vorübergehenden. Die Glaubenswuth der Moslims zwang die Christen, die Stätten ihres Gottesdienstes zu verbergen. In den kleinen Läden bemerkte ich eine Menge von Händlern, die Wollgarn in den schönsten und reinsten Farben feilboten, eine Masse von Färbern und auch viele Handwerker, welche silberne Schnallen in geschmackvoller byzantinischer Arbeit unter den Händen hatten. Man beschäftigt sich in Pirot hauptsächlich damit, eine besondere Art von Teppichen herzustellen, die nach dem Orte ihrer Entstehung benannt werden. Dieselben sind dünn, aber sehr haltbar, und haben auf beiden Seiten das gleiche Aussehen. Bei den äusserst geschmackvollen Mustern herrscht das Rothe, Weisse und Blaue vor, und die Farben waren früher unzerstörbar; jetzt beginnt man aber leider zu dem Anilin zu greifen. Fast in jeder Familie stellen die Frauen diese Teppiche vollständig mit der Hand und sogar ohne Schiffchen her. Sie sitzen in kauernder Stellung und lassen, ohne eine Vorzeichnung zu haben, gleichsam ihrer Eingebung folgend, das Garn durch die senkrecht gespannte Kette laufen. In zwölf Stunden verdient eine Arbeiterin nur 30 bis 40 Centimes. Dafür sind hier aber auch die Preise, weil eben die Marktplätze weit entfernt liegen, mittelalterlich niedrig, und man zahlt für einen Truthahn 1.50 Franken, für ein Huhn 50 und für zehn Eier 15 Centimes. Hier ist man unberührt geblieben von dem Zuströmen edler Metalle im 16. Jahr- hundert, von dem Einflüsse der Goldminen Australiens und Kaliforniens, und das Steigen der Preise stellt nicht, wie die Volkswirthschaftslehrer häufig behaupten, eine allgemeine Thatsache dar, sondern eine bis jetzt auf das Abendland beschränkte Erscheinung. Durch die Eisenbahnen und durch das Anschwellen der Bevölkerung wird jene Fluth nach und nach aber, noch vor dem Ende dieses Jahrhunderts, immer mehr um sich greifen, und mit den steigenden Preisen muss dann in diesen abgelegenen Gegenden auch der Verbrauch an edeln Metallen gleichen Schritt halten. Im Hinblicke auf ihre Beschaffenheit sind die Teppiche von Pirot ungemein billig. Ein Quadratmeter von ihnen kostet ungefähr 10 bis 12 Franken, und auf Wunsch werden sie in jeder beliebigen Grösse hergestellt. Sie sind sehr gesucht in Serbien, Bulgarien und selbst in der Türkei. Aber Bulgarien möchte eine Herstellung innerhalb der eigenen Grenzen begünstigen und will sich vielleicht auch dafür rächen, dass ihm ein Land, welches es als sein Eigenthum betrachtete, nicht zugesprochen wurde. So unterliegen denn die Teppiche bei der Einfuhr nach Bulgarien einem hohen Zolle, und daraus entspringen, heisst es, Scherereien der verschiedensten Art. Etwa zweihundert Familien Pirots nähren sich von dem Verweben der aus Saloniki kommenden Baumwolle, und der Handel nimmt hier weniger die Richtung nach Sofia, als die nach Wranja und Saloniki. Nach Konstantinopel gehen Butter und Käse in grossen Mengen. In dieser Gegend giebt's hauptsächlich Wiesenland, und manche Gemeinden besitzen fast gar keinen pflügbaren Boden, so dass man eben auf die Heerden angewiesen ist. Da sehe ich einen Hirten, dem grosse Pistolen im Gürtel stecken, eine Schaar langhaariger Ziegen vorübertreiben. Diese Thiere, welche denen von Tibet gleichen, werden wie die Schafe geschoren, und ihr dickhaariges Fell liefert ein sehr schönes Pelzwerk. Die alten und wohlhabenden Einwohner Pirots hüllen sich in einen weiten Kaftan, der mit Fuchspelz besetzt und gefüttert ist. Sie tragen auch einen Fez und sehen bei ihrem ruhig-würdevollen Wesen ganz wie Türken aus. Die Ziegenhaare verwebt man zu einer besonderen Art von Decken und zu sehr haltbaren Hafersäcken, und ein Kilogramm hiervon wird mit dem fabelhaft niedrigen Preise von 80 Centimes bezahlt. Beim Aufführen des Mauerwerkes huldigt man hier noch einem sehr waldursprünglichen Verfahren. Pfähle werden in die Erde gerammt, und hierüber kommen hölzerne Querbalken; die Zwischenräume füllt man mit einer Thonmasse aus, und zum Schutze gegen den Regen wird diese wenig kostspielige Mauer ihrer ganzen Länge nach mit einem kleinen Strohdache bedeckt. Man beschäftigt sich auch schon damit, Ziegel zu brennen. Allein ein Tausend von ihnen kostet 20 Franken, während man sie bei der Anwendung des belgischen Verfahrens und bei den hier so wenig hohen Arbeitslöhnen für die Hälfte dieses Preises herstellen könnte. Die neuen Häuser sind bereits Ziegelbauten. Der Barbier hatte sich die Wände mit Kupferstichen geschmückt, welche aus Moskau stammten und nicht gerade von der feinsten Sorte waren. Da sah man auf ihnen den Uebergang der Russen über die Donau, die Uebergabe von Plewna, den Kampf bei Iswor und den Tod Kireeffs, die Bilder des russischen Kaisers, des Fürsten Nikita von Montenegro und Skobe-leffs. Auf einem führten Teufel die Bösen dem Lucifer zu, und darüber waren die Sieben Todsünden mit den entsprechenden Strafen dargestellt. Diese Hölle erinnerte an Florenz, an die Hölle von Santa-Maria-Novella. Mit der Todtenfeier nimmt man's in Pirot noch sehr viel ernster als in Belgrad. Man bereitet zu derselben einen besonderen Kuchen, »Panaia« genannt, und vertheilt am Geburtstage der Verstorbenen deren Lieblingsspeisen unter die Armen. Der zum Feste des Schutzheiligen, zur Slawa, gebackene Kuchen heisst »Koliewo«. Ich kostete einen Maiskuchen und fand denselben bedeutend besser als den italienischen, die »Polenta«. Man weilt hier im Bereiche einer Vermischung von Rassen. Der Präfekt versichert, dass das Serbische, welches in dieser Gegend gesprochen wird, bereits sehr viel von dem Bulgarischen in sich aufgenommen hat, und die Guzla trifft man hier mit drei Saiten an, während sie sonst in Serbien nur mit einer einzigen versehen ist. Die Kleidung der Bauern hat ein vollständig bulgarisches Gepräge. Die Männer tragen ein enges Beinkleid aus grobem, weissem Tuche, an welches die Strümpfe — wie man dies bei den Barbaren auf dem Konstantinsbogen in Rom sieht — durch Riemen befestigt sind, und diese Riemen stehen wieder mit denen der schwerfälligen Opankas in Verbindung. Der Oberkörper steckt in einer Art von Blouse, welche auch aus einem weissen Wollenstoffe gefertigt ist und mit einem breiten, rothen Gürtel abschliesst, und auf dem Kopfe sitzt eine Mütze aus Schafsfell. Die Frauen tragen über ihrem langen, hemdartigen Kleidungsstücke zwei schwarze Wollschürzen, die eine nach vorne und die andere nach hinten genommen, und bei manchen sieht man auch das weite, hellgelbe oder rosafarbene Beinkleid der Türkinnen. Ihren Gürtel halten schön gearbeitete und sehr grosse kupferne oder silberne Schnallen zusammen. Eine beträchtliche Anzahl von Goldschmieden schafft unter den Augen des Publikums, und alle Bäuerinnen aus der Umgegend machen hier ihre Einkäufe. Auf dem Kopfe tragen die Frauen eine Art von hellfarbigem Diademe und stets Blumen, — 4i — welche auch bei lang herunterhängenden Zöpfen mit eingeflochten werden. Steht man auf der über die Ni-schawa führenden türkischen Brücke, so erblickt man ein Bild voll frischen, heiteren Lebens, und das Auge gleitet über all die Mannigfaltigkeit in den Formen und Farben der Gewandung und über die vielen kleinen, mit bunten Wollenstoffen gefüllten Läden. Vor den, übrigens ziemlich seltenen, Schenken bemerkte ich kleine Tonnen, deren Inhalt, eine schwärzliche Schmiere, dazu bestimmt war, die Räder der Ochsenkarren einzufetten. Mit stolzer Befriedigung weist der Präfekt darauf hin, in welcher Weise gleich nach der Einverleibung für den Unterricht gesorgt worden ist. Zunächst zeigt er uns die Elementarschule, welche eine ganz entzückende Heimstätte gefunden hat. Sie ist in einem türkischen Hause mit geschnitzter Holzdecke und einem Vorbaue untergebracht, und an den Wänden hängen Landkarten und naturgeschichtliche Abbildungen und sogar auch Tafeln, auf denen die einzelnen Theile des menschlichen Körpers wiedergegeben sind. In einiger Entfernung von der Elementarschule liegt das Gymnasium, für welches Zuschüsse von der Stadt und dem Departement bewilligt wurden. Gute Schüler erhalten ein monatliches Stipendium von 24 Franken und Bücher, und unter seinen 14000 Einwohnern zählt Pirot 700 Schulkinder. Zwei Stunden entfallen täglich auf gymnastische und militärische Uebungen, und mit der Leitung dieses Unterrichtes sind ehemalige Offiziere betraut. Späterhin müssen dann die jungen Leute den Milizen beitreten, wodurch das stehende Heer eine beträchtliche Entlastung erfährt, und selbst die dem geistlichen Stande sich Widmenden sind verpflichtet, die Waffen führen zu lernen. Unter den Türken war das Bulgarische die Unterrichtssprache, und die meisten Familiennamen haben die bul- garische Endung »of«, welche man nun aber in das serbische »itsch« zu verwandeln beginnt. In geographischer Hinsicht gehört Pirot mehr zu Nisch, als zu Sofia. Von jenem ist es nur halb so weit wie von diesem entfernt, und dann liegen ja auch beide Orte — Pirot und Nisch — an den Ufern desselbigen Flusses, an der Nischawa. Allein dieser Bezirk wurde stets als bulgarisches Gebiet betrachtet und trägt allerdings auch weit mehr ein bulgarisches,' als ein serbisches Gepräge. Dass die Bevölkerung zu Bulgarien hinneigt, hat sich damals, als Fürst Alexander Pirot besetzte, klar und deutlich gezeigt. Den Nataschalnik lud ich ein, mit uns in der Me-hana das Abendessen einzunehmen. Er fürchtete, dass dort der Wein nicht gut wäre und brachte Negotiner mit, der sehr dunkelfarbig, fast schwarz ist, 13 Prozent Weingeist enthält und leichtem Porter gleicht. Doch er schmeckt zu herbe und müsste, um einem West-Europäer zu munden, erst gemildert werden; ich ziehe den Rebensaft aus Nisch und der Schumadia vor. Auf die Bereitung der serbischen Weine wird überhaupt eine zu geringe Sorgfalt verwendet. Aber sie wandern doch bereits ins Ausland, und 1882 wurden 40000 Hek-tolitei verkauft, von denen 13000 nach Frankreich gingen. Das einen Raum von 150000 Hektar umfassende Weinland Serbiens liefert etwa eine Million Hektoliter Wein, und in Pirot kostet ein Liter 20 bis 25, aber in Belgrad schon 40 bis 50 Centimes. Der Präfekt erklärt, dass jede Feindseligkeit gegen die Türken geschwunden und dass die Duldung eine vollständige ist. Die Gemeinde besoldet einen mohammedanischen Priester und giebt demselben ausserdem monatlich 25 Franken als Unterhaltungskosten für die Moschee, und die Juden — ihrer Abstammung nach ! Spanier — sind geachtete und meistens wohlhabende oder selbst reiche Leute. Mohammedanische Zigeuner haben sich hier in einer Zahl von etwa 30 bis 40 Familien niedergelassen. Sie widmen sich dem Ackerbau, und einer von ihnen ist Richter gewesen. Auch in Negotin findet man unter den Mitgliedern des Gerichtshofes einen Zigeuner. Es herrscht vollständige Ruhe im Lande; unter den friedfertigen Einwohnern kommen Verbrechen nur sehr selten vor, und lange hat das Ge-fängniss bloss einen einzigen Insassen gehabt. Durch die Eisenbahn wTird Pirot einen schnellen Aufschwung nehmen, und die türkischen Holzhäuser beginnen ja bereits starken Ziegelbauten Platz zu machen. Auch die Decken und Teppiche Pirots können zu einem wichtigen Handelsartikel werden, und steht denselben erst der Westen offen, so wird ihre Herstellung eine gewaltige Ausdehnung erfahren. Eine weitere Fundgrube des Reichthums stellen die heissen, in der Nähe der Stadt emporsprudelnden Quellen dar, welche den berühmten Bädern von Bania — bei Alexinatz — an Heilkraft gleichkommen. Das Gespräch über derartige Dinge hielt uns lange beisammen, und ausser dem Präfekten hatte auch der Postmeister sich eingefunden. Eine feurig - glühende Vaterlandsliebe sprach aus diesen Männern, und es schwebt denselben beständig die Grösse und Machtfülle des serbischen Volkes vor, dem einst, so glauben sie, eine Hauptrolle auf der Balkanhalbinsel zufallen wird. Die gewonnenen Eindrücke zusammenfassend, komme ich zu dem Schlüsse, dass Serbien eins der glücklichsten Länder ist. Es besitzt alles, was eine glänzende Zukunft verheisst, und umschliesst die Grundbedingungen jener wahren Zivilisation, welche sittliche, freie, aufgeklärte und in behaglichen Verhältnissen lebende Menschen schafft. Hier besteht noch die fest mit der Vergangen- heit verwebte Gemeindefreiheit, während man dieselbe im Westen erst wieder hervorsuchen und neu beleben muss. Das Wachsen des Reichthumes ist noch beschränkt; aber alle Familien leben auf ihrem eigenen Grund und Boden, und ein gewisser Wohlstand wird einem Jeden. Die so schmerzlich berührenden Gegensätze zwischen höchstem Wohlleben und äusserstem Mangel prallen hier nicht an einander. Allerdings ist die Bildung noch nicht allgemein genug verbreitet; doch die Regierung hat's auch wohl begriffen, dass sie auf diesem Felde mit Einsetzung vollster Kräfte schaffen muss. Die Dichtkunst und die Geschichte finden aber in den Volksliedern am häuslichen Herde eine Stätte. Durch die von allen Steuerzahlern gewählten Abgeordneten regiert das Volk sich selbst, und die Demokratie, welche man anderswo, oft um den Preis blutiger Umwälzungen, ins Leben zu rufen bemüht ist, besteht hier als etwas Althergebrachtes und gleichsam Ererbtes. Ueberdies hat Serbien, um dem Fortschritte die Wege zu bahnen, den Gesetzen des Abendlandes das Beste entlehnt. Mich quält aber ein Bedenken, und ich äusserte dasselbe auch bereits. Ich fürchte, dass man bei dem Bestreben, den äusseren und nach jeder Richtung hin so theuer bezahlten Glanz westeuropäischer Hauptstädte nachzuahmen, unvermittelt mit der Vergangenheit bricht und dadurch die Freiheit aufs Spiel setzt. Durch die Zentralisation, durch das thatkräftige Eintreten der Behörden wird dem Weiterschreiten eines Volkes allerdings eine schnellere, regelmässigere und gleichförmigere Gangart gegeben. Allein an ihrem Schaffensdrange, an ihrer angeborenen Willenskraft erleiden diejenigen eine sehr bedenkliche Schwächung, welche man von ihrem Wege fortzerrt und auf einen fremden hindrängt. Das haben die Russen der Eisenhand Peters des Grossen zu verdanken, und ich glaube nicht, dass sie darauf stolz sein werden. Die Gestaltung westeuropäischer Verhältnisse ist keineswegs beneidenswerth genug, um auf der Balkanhalbinsel als Vorbild zu dienen, und man kann nicht wünschen, hier genau die Schwierigkeiten emporwachsen zu sehen, welche anderswo den Menschen so unendlich zu schaffen machen. Durch seine rasend vielen und meistens auf steinigen, unfruchtbaren Boden fallenden Ausgaben wird Serbien zu fortwährenden Anleihen gezwungen. Hieraus schimmert mir eine grosse, das Land bedrohende Gefahr entgegen, und alle serbischen Staatsmänner, welcher Partei dieselben auch angehören mögen, kann ich gar nicht genug auf jenen Punkt aufmerksam machen. Als Bürgschaft verpfändet man den Darleihern gewisse Steuererträge und giebt ihnen damit ein Recht, sich in die inneren Angelegenheiten des Landes zu mischen. Bei den Türken, die nicht an den kommenden Tag denken und um jeden Preis Geld brauchen, ist so etwas ja ganz natürlich. Doch was kann's Bedauerlicheres geben, als einen jungen Staat, dem die Zukunft gehört und der sich dabei unbarmherzigen Gläubigern in die Hände liefert! Die ägyptischen Verhältnisse dürften hier eine Wiederholung erfahren, und die stolzen, freien Serben werden dann zur Befriedigung abendländischer Gläubiger wie die Fellahs arbeiten müssen. Bleibt die Zahlung aber einmal im Rückstände, so würde die durch alle europäischen Börsen gestützte »Länderbank« die Oesterreicher zur Besetzung Serbiens drängen, um den abendländischen Shylocks zu dem Ihrigen zu verhelfen. Eine Finanzwirthschaft wie die serbische gehört eben in einem westeuropäischen Staatswesen zu den Unmöglichkeiten. Die beständig wachsenden Steuern müssen aber die Unzufriedenheit der Serben wachrufen, und solche Regungen möchte man doch ersticken. Alsdann wird man die Press- und die Redefreiheit unterdrücken, weil auf diesem Wege der Geist des Widerspruches sich in aufbrausender und wohl auch in aufrührerischer Weise Bahn zu brechen vermag. Schliesslich arten solche Maassnahmen zur Gewaltherrschaft aus. Serbien ist aber auf eine solche, nur mit Hilfe der Waffen mögliche Regierungsform nicht vorbereitet, und es gilt hier mehr als anderswo das Wort: »Die Bajonette gewähren wohl eine Stütze, aber keinen Ruheplatz«. In einem von der Liebe zur Freiheit so vollständig durchtränkten Lande kann ein Herrscher nicht lange durch Gewaltmittel am Ruder bleiben und seiner Unbeliebtheit trotzig die Stirne bieten. Er wird bald in die Lage kommen, in welcher Napoleon III. sich am Ende seiner Regierung befand, und dann zu Bündnissen mit andern Ländern, zu Kriegen und Abenteuern greifen. Wie sieht's aber bei dem von seinem Volke schlecht unterstützten Fürsten mit dem Siege aus? An dem Tage des Jahres 1870, an welchem in London die französische Kriegserklärung bekannt wurde, frühstückten Louis Blanc und ich bei unserem beiderseitigen Freunde Somerset Beaumont. »Wir werden«, rief der ganz bestürzte Louis Blanc aus, »unterliegen und dabei allerdings wohl die Schmach des Kaiserreiches von uns abschütteln. Doch welch ein Schicksal ist unserem theueren Frankreich alsdann beschieden? Die Lage des Jahres 1793 hat sich umgekehrt, und während damals die Franzosen als Vorhut gegen die Gewaltherrschaft ankämpften, bilden heute die Deutschen das gegen den Cäsarismus in Waffen stehende Demokratenthum«. Zweites Kapitel. Von Pirot nach Sofia. — Bulgarien. Aus seiner Geschichte und Völkerkunde. Zwischen Pirot und Sofia hat man eine lange und beschwerliche Reise zurückzulegen. Der Weg befindet sich in keinem guten Zustande, und Postpferde und Poststationen gehören hier zu den unbekannten Dingen. Den in Belgrad erhaltenen Wagen durfte ich bis Sofia benutzen. Doch der Pferdewechsel war eben die grosse Frage, und Herr Queille*), der General-Finanz-Kontrolleur, hatte unlängst auf dem selbigen Wege das eine von seinen Thieren verloren; vor Ermüdung war es todt zu Boden gefallen. Von Pirot ab geht's bis zur bulgarischen Grenze durch eine gut bebaute Ebene, auf der man aber — ganz wie im Bereiche von Nisch — vergebens nach irgend welchen Gebäuden ausschaut. Derartige Erscheinungen sind ja eben die unvermeidlichen Folgen des türkischen Regimentes, das die Leute nach möglichst abgelegenen Orten trieb. Die Strasse, die uns unserem Ziele entgegenführt, wird von Weiden beschattet, und es bilden dieselben das Wahrzeichen Midhat Paschas, welcher alle von ihm angelegten Wege mit solchen Bäumen bepflanzen liess. Frauen gehen an die Arbeit. Von ihrem langen, hemdartigen Kleidungsstücke heben eine schwarze Schürze und ein rother Gürtel sich ab, und ihren Kopf bedeckt ein in italienischer Weise geschlungenes rothes Tuch. Auf ihrem Rücken tragen sie in einem Sacke ein Kind, und an einer Stelle sah ich ein kleines Mädchen, welches, von einem Hunde bewacht, in einer ') i. Band, S. 225. - 4s - zwischen den Weidenbäumen angebrachten Hängematte schlief. Das Feld, auf welchem die vertrockneten Maisstengel liegen geblieben sind, wird mit einem ungemein plumpen und schwerfälligen Pfluge bearbeitet, und zwei Paar Ochsen ziehen denselben vermittelst einer beide Joche verbindenden Stange. Bei einem Ochsenfuhrwerke fielen mir die äusserst urzeitlich gestalteten Räder auf. Die vier Theile, welche die Scheibe oder vielmehr das »Polygon« bildeten, stiessen nicht an einander, sondern waren durch einen gewissen Zwischenraum getrennt, so dass sie den Eindruck des Unfertigen machten. Sie sind hier alle derartig gestaltet, und der Kutscher sagte mir, dass man sie damit elastischer machen wolle. Bulgarischen Boden betraten wir bei dem Zollhause von Sukofski-Most Man sieht's, dass hier weder geschichtliche, noch geographische Verhältnisse, sondern nur die Bestimmungen eines Vertrages die Grenze zogen, und zwei Pfähle ausgenommen deutet nichts auf einen Uebergang hin. Wir fuhren in einem der serbischen Regierung gehörenden Wagen, und so traten die bulgarischen Soldaten vor uns ins Gewehr, und die Zollbeamten durchsuchten nicht unser Gepäck. Da war aber ein Jude, welcher in einem grossen Frachtwagen österreichische Zeuge von Smederewo nach Sofia brachte, und ich konnte mich davon überzeugen, wie viele Umständlichkeiten auf den armen Menschen herabregneten. Die Fahrt ist eine unendlich langwierige und kostspielige, und die Eisenbahn wird man mit tausend Freuden begrüssen. Serbien hat bis jetzt einen sehr massigen Zolltarif beibehalten, welcher über drei bis fünf Prozent des Werthes nicht hinausgeht und auch auf der Ausfuhr liegt. Der bulgarische ist höher und trägt ein schutz-zöllnerisches Gepräge. So belastet er die Oka Wein (1,020 kg) mit 25 Centimes, und während dieselbe in Pirot 20 Centimes kostet, wird sie in Sofia mit 80 Centimes bis einem Franken bezahlt. Der Zollbeamte sagte mir, dass man hauptsächlich Butter und Käse von Serbien nach Bulgarien bringt, und dass diese Artikel bis nach Konstantinopel gehen. Aber auch Hanf und Taue werden eingeführt. Die 1882 über Sukofski-Most eingegangenen Waaren stellten einen Werth von 2500000 Franken dar, und der ganze Handel zwischen Bulgarien und Serbien wies im selben Jahre — die Ein- und Ausfuhr zusammengenommen — einen Umsatz von 4500000 Franken auf. Mit diesen ungemein niedrigen Zahlen steht die beschwerliche Verkehrsart natürlich in engstem Zusammenhange, und man fühlt sich wirklich versucht, von einer die beiden Länder trennenden chinesischen Mauer zu sprechen. Die beiden Nachbarstaaten hätten ein Interesse daran, diese Zollgrenze verschwinden zu lassen, die für jeden von ihnen nicht mehr als 30000 Franken abwirft. Der Unterhalt der Grenzwächter und der sieben Zollhäuser mit ihren Beamten muss ja mehr wie diese Summe verschlingen, und eine thatsächliche Zollvereinigung könnte sich hier selbst ohne das Abschliessen eines besonderen Vertrages vollziehen. Is-t die Linie Belgrad-Sofia erst dem Betriebe übergeben, so würde ein einziges Zollamt an der bulgarischen Grenze genügen. Aber im Hinblicke auf die allgemeine Wohlfahrt und auf die Zukunft des Slawenvolkes wäre immer ein hohes Ziel und eine wahrhaft vaterländische Aufgabe im Auge zu behalten, nämlich das vollständige Verschwinden der Zollgrenze zwischen den beiden Nachbarländern, und nach dieser Richtung hin müsste man eine unentwegte Thätigkeit entfalten. Von der Schatzkammer könnte dabei keine Gegenströmung ausgehen; 1883 hat Serbien ja aus all seinen Zöllen nur eine Summe von etwa drei Millionen Laveleye, Balkan länder. IL 4 Franken eingenommen, und hiervon müssen doch die Unterhaltungskosten für die 31 Zollämter in Abzug gebracht werden. Die aus der Zollvereinigung sich ergebenden Ausfälle wären so unbedeutend, dass sie gar nicht in Frage kämen. Mit der Vollendung des Schienenweges Belgrad-Sofia-Konstantinopel wird aber eine solche innere, den Verkehr hemmende Schranke sich noch sehr viel unangenehmer fühlbar machen, als dies jetzt schon der Fall ist, und von den Einfuhr-Staaten, hauptsächlich also von Oesterreich-Ungarn, würde das Schwinden jenes Hemmnisses mit Freuden begrüsst werden. Ueber ebenes Land geht's bis nach Zaribrod; aber im Norden, Süden und besonders im Osten sieht man schon die mit Gesträuch bedeckten Ausläufer des Balkangebirges. Die wichtige Frage des Pferdewechsels soll sich hier entscheiden, und zur Beseitigung aller Schwierigkeiten hat der Präfekt von Pirot seinen Pissar (Sekretär) beauftragt, uns bis nach Sofia zu begleiten. Doch obgleich dieser biedere und gefällige Beamte die Fahrt im Fracke und im Schmucke all seiner Ordenszeichen zurücklegt, gelingt es ihm nicht, auch nur ein einziges Pferd aufzutreiben; wir würden aber drei oder vier Thiere brauchen, und auf gut Glück hin muss der Weg also mit den bisher benutzten Rossen fortgesetzt werden. In Zaribrod ist mirs, als ob ich urplötzlich nach Russland geflogen wäre. Da lese ich auf einem vollständig russischen Schilde, welches aber einem Bulgaren angehört, »Dimitri Bochkoff«. Auch der zu unserer Begrüssung herbeigekommene Unter-Präfekt hat ein russisches Aussehen; er erinnert an Skobelew und ist wie dieser ganz weiss gekleidet. Den Säbel trägt er auf russische Art, und sein grosser russischer Bart breitet sich fächerartig aus. An den Füssen hat er hohe und derbe Stiefel und auf dem Kopfe eine weisse Mütze mit grüner Borte, und seine Panduren mit den weiten Beinkleidern, den braunen, schwarzbestickten Jacken und den Astrachan-Mützen machen einen äusserst kriegerischen Eindruck. Der kleine Marktflecken besteht aus einer einzigen breiten Strasse, die sich zwischen Holzhäusern und den niedrigen und offenen türkischen Läden hinzieht. Aber auch hier führt man schon aus Ziegeln einstöckige Häuser auf, und eine Freude ist's, eine ganz neue Schule — ein gutes Zeichen für die Zukunft! — zu erblicken. Ich lud den Unter-Präfekten ein, mit uns in der Mehana das Mittagsessen einzunehmen. Hier herrschte eine grosse Eigenheit; doch die Möbel glänzten hauptsächlich durch ihre Abwesenheit, und in den beiden Schlafzimmern befand sich statt des Bettes eine Art von Bank, auf welcher der Reisende mit seinen Decken und Kissen die Nacht verbringen konnte. An den sauber geweiss-ten Wänden hingen Kupferstiche, die griechisch-katholische Heilige darstellten. In einem grösseren Rahmen prangte das Bild des Fürsten Alexander, und zwei Löwen in aufrechter Stellung überreichen dem »Knezen von Bulgarien« gereimte Strophen; etwas weiter nach unten liegen zwei gefesselte weibliche Gestalten, Macedonien und Thracien, und flehen denselben — auch in Versen — an, dass er sie von dem türkischen Joche befreien möge. In dieser Gegend haben die Russen ihre Beliebtheit noch nicht verloren, and neben den aus Moskau stammenden Heiligenbildern bemerkte ich überall Stiche, auf denen die Helden aus dem letzten Kriege: Kaiser Alexander, Fürst Nikita von Montenegro, Skobelew, Gurko und Kireew zu sehen waren. Ueber den wahrhaft heldenmässigen Tod des Letzteren berichtet der hervorragende englische Geschichtsschreiber Froude, und zwar in seiner Vorrede zu Frau Olga von Nowi-kows »Russland und England«. Diese Dame ist die Schwester Kireews, der seine wahren Absichten seiner Familie gar nicht offenbarte und Russland unter dem Vorgeben verliess, als Abgesandter des »Rothen Kreuzes« den Verwundeten Hilfe bringen zu wollen. Die russische Regierung, welche den Krieg keineswegs wünschte, hatte ihn nicht im mindesten ermuthigt. In Belgrad stellte er sich an die Spitze einer Schaar von Freiwilligen, und er war der junge, ganz weiss gekleidete Held, der »schöne Hadji-Guiren«, von dem die englischen Zeitungen zu berichten wussten. In der Schlacht bei Iswor — 1876, am 6. Juli alten, am 18. neuen St. — befehligte Nikolaus Kireew eine durch serbische Milizen verstärkte Freiwilligenschaar. Er sollte in Rokowitz eine türkische Verschanzung nehmen, und während er mit der Fahne in der Hand vorrückt, zerschmettert eine Kugel ihm den Arm. Schnell fasst er nun das Banner mit der anderen Hand und marschirt weiter. Da strecken ihn zwei Kugeln zu Boden. Aber er ist noch nicht todt, und mit dem Rufe: »Vorwärts!« sich erhebend, macht er einige Schritte. Jetzt wirft ihn ein neuer Schuss zu den Todten, und seine ihm an Opfermuth und Schönheit gleichkommende Frau, welche sich bei den Krankenpflegern eingereiht hatte, versucht es vergebens, seinen verstümmelten Körper aufzufinden. Laut priesen die russischen Zeitungen den Märtyrer der slawischen Sache, und in den Kirchen wurden zu seinem Gedenken feierliche Gottesdienste veranstaltet. Sein Tod versetzte die öffentliche Meinung aber so in Wallung, dass er eine von den Ursachen bildet, welche Russlands Einschreiten beschleunigten oder zum Entschlüsse brachten. Froude stellt Kireew als denjenigen hin, dem Serbien und Bulgarien das Erreichte verdanken, und gerne schliesse ich mich seiner Meinung an. Der Unter-Präfekt, welcher aus Sistow stammte, hatte den letzten Krieg gegen die Türken mitgemacht und war ein begeisterter Verehrer Gurkos. »Hätte man auf den General gehört«, sagte er, »so würde der Krieg schon beinahe am Anfange aufgehört haben. Dann wären die Russen nicht in die Lage gekommen, alle ihre Streitkräfte zusammenziehen zu müssen, und doch nur mit Hilfe der Rumänen zu siegen. Plewna hätte nicht angegriffen und verbrannt, sondern durch 50000 Mann umzingelt werden sollen. Auf der anderen Seite des Gebirges marschierte General Gurko muthig auf Adrianopel los, und zu seiner Unterstützung wären die verfügbaren Truppen sehr nöthig gewesen. In Konstantinopel hatte man ja den Kopf verloren, und der Sultan traf bereits Vorkehrungen, um nach Asien überzusetzen. Osman Pascha wäre durch ihn zurückberufen worden, und so hätte man den Krieg beenden können, ohne Ströme von Blut zu vergiessen. Ja, das Gelingen würde dann in einer so wuchtigen Weise sich vollzogen haben, dass die Engländer gar nicht daran gedacht hätten, der vollständigen Befreiung des Balkangebietes zu widerstreben. Nun ist das Werk nur halb gethan, und zu seiner Vollendung wird ein neuer Krieg nöthig sein«. — Der Un-ter-Präfekt redete in deutscher Sprache zu mir, verfügte aber auch über einige französische Worte, und auf dem Telegraphenamte antwortete man mir in letzterer Sprache, mit welcher in Bulgarien fast alle Gebildeten einiger-maassen vertraut sind. Die Schilder der Kaffeehäuser tragen hier die Bezeichnung »Kaphe« und in Serbien »Kaphana«. Um 1 Uhr ungefähr verliessen wir Zaribrod. »Gelingt es Ihnen, Sofia noch heute zu erreichen, so können Sie froh sein«, sagte der Unter-Präfekt beim Abschiede. »Ein Sturm hat auf dem Wege schlimm gehaust«. — Um Zaribrod herum sieht's mit dem Anbaue sehr kläglich aus, und einige Haferfelder hatte das Unkraut ganz überwuchert. Auf den Maisfeldern, deren Früchte hier die Hauptnahrung bilden, waren die Bauern damit beschäftigt, die Erde zum zweiten Male aufzuwerfen. Bald biegt der Weg in die Derwent-Schlucht ein, welche aber nicht zwischen senkrechten Felsen, sondern zwischen hohen, schroffen und mit Gesträuch bedeckten Abhängen hinläuft. Vom blauen Himmel heben sich hier und dort mit Schnee überpuderte Gipfel ab, und mit dem Gesteine fehlen zugleich, ganz wie im Schweizer Oberlande, auch die Nadelbäume. Der Weg folgt dem die Schlucht durchströmenden Flusse. Er befindet sich in einem sehr schlechten Zustande und wird durch nichts gegen das Wasser geschützt, welches ihn unterwühlt und theilweise fortgespült hat. Hier hatte man sich durch's Flussbett zu wagen, und an einer anderen Stelle, wo's bergauf ging, war vom Wege nur noch ein so schmaler Streifen geblieben, dass das dritte Pferd abgespannt werden musste. Die beiden anderen Thiere standen still, der Wagen glitt zurück, und vom Abgrunde waren wir bloss noch einen Zoll breit entfernt. Dem riesenstarken Pissar gelang es zum Glücke, einen Stein unter den Wagen zu legen und denselben auf diese Weise aufzuhalten. Dann wurde losgeknallt, und nun waren wir gerettet. Weiterhin geht's über eine Brücke, und es ist dies die einzige, welche wir antreffen. Sie besteht aus Balken, die an einander gelegt und mit Erde bedeckt sind. Aber einer derselben hat nachgegeben und damit eine klaffende Lücke gebildet; doch wir kommen auch hier ohne Unfall fort. So also sieht der Hauptweg aus, welcher von Serbien nach Sofia und Konstantinopel führt, und der zur wichtigsten Verkehrsader der Balkanhalbinsel werden müsste. Midhat hat ihn noch angelegt, und der Handel, die Post, die Verwaltung, das Heer — kurz alles bleibt auf ihn angewiesen. Jene Verwüstungen hatte der Sturm schon vor Wochen angerichtet, und doch war noch nichts geschehen, um den Schaden auszugleichen. Bulgarien, so fährt's einem durch den Sinn, scheint nach einem möglichst erleichterten Verkehre mit dem Nachbarlande nicht eben gerade zu dürsten. Dabei bleibt allerdings eins zu berücksichtigen — dass hier nämlich die Türken vor noch gar nicht allzu ferner Zeit hausten, und dass in diesem Umstände auch für das Absonderlichste eine Erklärung liegt. Während der vierstündigen Fahrt durch diese unheimliche Schlucht begegnen wir nur einer einzigen menschlichen Behausung, einer Herberge, und an derselben wird den Pferden Zeit zum Verschnaufen gegeben. Als wir nun das Innere betreten, um ein Glas Sliwowitza zu trinken, meine ich in eine Höhle zu kommen. Auf dem ungedielten Fussboden liegen Knochen und Abfälle aller Art, und die Wände und Dachbalken hat der Russ vollständig geschwärzt; der eiserne Ofen ist eben ohne Kamin und Abzugsstelle. Nach einem Stuhle oder Tische sucht man vergebens, und es finden sich nur einige plumpe Schemel vor. An den aus ungebrannten Backsteinen aufgeführten Wänden hängen eben erst abgezogene Hammelfelle, die einen entsetzlichen Geruch verbreiten, und der Wirth und seine Frau sehen ganz so russfarben aus wie ihre schmutzige Behausung. Die Beiden leben von zwei mit Mais bepflanzten Morgen Land und von einer kleinen, in den nahen Bergen weidenden Schaf- und Schweineheerde. Sie sind auch Zinzaren, und ihnen sollen, so heisst's, iooooo Franken gehören; der Zinzare gilt mit Recht für sparsam und fleissig zugleich. In einiger Entfernung von der Herberge nahm ich eine grosse Schildkröte auf, die nun unsere Reisegefährtin wurde, und ich wunderte mich darüber, sie in einer solchen Höhe anzutreffen. Aber der Kutscher sagte mir, dass diese Thiere hier keineswegs selten sind. Endlich kommen wir an den Dragoman-Pass. Nun biegt der Weg vom Strome ab, an dem er bisher sich hinzog, und führt in sehr steilem Zickzack aufwärts. Den kahlen, röthlichen Felsen fehlt's an Grossartigkeit, und nirgends unterbricht eine schöne Berglandschaft das Trostlos-Düstere der ganzen Umgebung. Als der Wagen die Höhe erreichte, ging's nicht, wie ich gewähnt hatte, bergab. Der Blick gleitet vielmehr über eine unabsehbar scheinende Ebene hin, welche aber nicht Weide-, sondern unangebautes Land ist, und einzelne Stellen sind auch mit Mais besät. Am Wege stand nicht eine einzige Wohnung, und nur weit, weit ab von demselben erspähte ich einige Strohdächer. Sie schimmerten hinter den Felsen hervor, welche die Ebene im Norden begrenzen, und in jenem versteckten Winkel hauste die Bevölkerung. Der Weg zwischen Zaribrod und Sofia ist ein ebenso schlecht angelegter wie schlecht unterhaltener, und das Wasser sammelt sich hier, weil Abzugsgräben fehlen, in grossen Lachen an. Beseitigen Hessen sich diese Uebelstände mit sehr geringen Geldmitteln, und es gehören dazu bloss Sorgfalt, Klugheit und ein tüchtiger Wege-Baumeister. Doch seitdem ich weiss, dass alles, was die Wege betrifft, einem russischen Officiere unterstellt ist, wundere ich mich nicht mehr. Plötzlich fährt man überrascht empor. In dieser jammervoll-traurigen Oede erinnert etwas Entzückendes, Anmuthiges an die Civilisation — ein Brunnen mit weis- sem Marmorbecken, auf welchem Koranverse eingegraben sind. Daneben stehen zwei kleine Mädchen mit Gefässen aus grobem Stoffe, aber von zierlichen Formen und schöpfen Wasser. Woher die Kinder gekommen sind, weiss ich nicht. Als ich nun aber näher trete, um aus dem Brunnen zu trinken, verbergen sie ihr Gesicht und eilen erschreckt davon. Der Koran ermahnt ja gleich der Bibel zu nützlichen Werken. Gewiss hat nun einst ein frommer Moslem daran gedacht, dass es ihm auf dem Dragoman-Passe an Wasser fehlte, und einen Theil seines Besitzes zum Wakuf gemacht, mit der Bestimmung, in jener unwirthlichen Einöde einen Brunnen anzulegen. In mohammedanischen Ländern trifft man sie überall, diese anmuthigen, neben schönen Bäumen liegenden Schöpfungen. Sie speisen die durstigen und ermatteten Menschen und Thiere und dienen den Gläubigen zu den vorgeschriebenen Abwaschungen. An diesem Brunnen auf dem Dragoman-Passe spürt man aber auch wieder so recht den Gegensatz zwischen den religiösen Idealen des Islams und der tatsächlichen Politik und Verwaltung des Türkenreiches. Dem Boden wird nicht sein Recht, die Bevölkerung ist unsichtbar, und die Frauen eilen bei dem Herannahen eines Fremden hinweg. In ihrer Abscheulichkeit richtet die türkische Wirthschaft das Land zu Grunde. Eine Stunde haben uns die ermüdeten Pferde in kurzem Trabe über den Dragoman geführt, als aus weiter Ferne die bulgarische Hauptstadt wie ein weisser, glänzender Punkt herüberschimmert. Der vor uns liegende nackte, flache und baumlose Raum scheint eine Länge von 7 bis 8 und eine Breite von 2 bis 3"Meilen zu haben. In seiner Färbung gleicht er dürrem Grase, und von den Spuren menschlicher Ansiedelungen bemerkt man auf ihm — das in seinem Mittelpunkte befindliche Sofia ausgenommen — nichts. Wäre er nicht von einer ununterbrochenen Hügelkette eingerahmt, so könnte ich mich nach einer afrikanischen Wüste versetzt glauben. Der Begriff der Hochfläche tritt selten so scharf und klar wie hier in die Erscheinung, und nachdem wir seit der Abreise aus Zaribrod fünf Stunden gestiegen sind, um auf den Gipfel des Passes zu kommen, liegt nun fast auf der gleichen Höhe diese ungeheuere Ebene vor uns. Einst scheint sie das Becken eines Sees gewesen zu sein. Sie findet, sich auf der Nordseite des grossen Balkans, und wenn die Isker dort nicht durch eine Art von Spalte, der einzigen in die Kette einschneidenden, hinausgedrungen wäre, würde die ganze Fläche um Sofia noch unter Wasser stehen. Um 6 Uhr Abends ist Sliwnitza erreicht, und nun gehören noch vier Stunden dazu, um die Strecke bis Sofia — 32 Kilometer — zurückzulegen. Die Pferde und auch wir bedürfen einer Stärkung. Aber jene sind besser dran, denn sie leiden keinen Mangel an Hafer und Heu, während es um unsere Speisung kläglich genug aussieht. Die, wie gewöhnlich, von einem Zinzaren gehaltene Herberge hatte nichts aufzuweisen als Maisbrei, einige Schnitte kaltes Hammelfleisch, eine entsetzliche, mit Fliegen bedeckte Fettmasse und einen abscheulichen Wein. Zum Glücke warf der Wirth sein Netz in den kleinen, das Dorf durchziehenden Bach, und wir bekamen dann ein Gericht gebratener Fische vorgesetzt. Im Inneren der Herberge sah's fast ebenso widerwärtig aus als in der garstigen Hütte am Derwent. Das grosse, vom Rauch geschwärzte Zimmer mit dem ungedielten Boden enthielt als einzige Ausstattung hölzerne Tische und Bänke, und hinter dem in der einen Ecke befindlichen Gitterwerke, woselbst auch der Gastwirth weilte, standen auf Querbrettern neben Gläsern einige Flaschen Sliwowitza und Raki. Der zur Schlafstube für die Reisenden bestimmte Raum barg aber buchstäblich weiter nichts als einige schlecht mit einander verbundene Planken, die an der Wand in Form einer Bank sich hinzogen, und hier konnte der in seinen Mantel gehüllte Reisende die Nacht verbringen. Nur in den Bergen Ga-liziens und in Spanien habe ich einsame Posadas getroffen, welche an Nacktheit diesem Han von Sliwnitza glichen. Ueber solche Einzelheiten berichte ich aber, um zu zeigen, in was für einem Zustande die türkische Regierung den Hauptweg dieser Gegend zurückgelassen hat. Der, welcher von Sofia über Berkowitza zur Donau, nach Lom-Palanka, führt, ist jedoch keineswegs besser, und für die Bedürfnisse der Reisenden hat man daselbst ebenso wenig gesorgt. Allerdings sind diese Leute nicht zahlreich; seitdem die serbische Grenze hinter uns liegt, begegneten wir noch keinem Frachtoder sonstigem Fuhrwerke, keinem Fussgänger, und es kreuzte buchstäblich kein menschliches Wesen unseren Weg. Zwischen Sliwnitza und Sofia läuft die Strasse in gerader Richtung über eine vollständige Ebene hin. Aber sie befindet sich trotzdem in einem erbärmlichen Zustande, und als in der Ferne bereits die Lichter der Stadt emportauchen, wird uns ein sehr unangenehmes Halt geboten. Der angeschwollene Bach hat die über ihn führende Brücke fortgerissen, und wir machten uns schon darauf gefasst, die Nacht im Wagen zubringen zu müssen, als der Kutscher etwas weiter abwärts eine Furt entdeckte. Doch es bedurfte unserer vereinten Kraftanstrengung, um den abgematteten Pferden das Gefährt aus dem Flussbette ziehen zu helfen, und die Ankunft in Sofia erfolgte erst um n Uhr Abends. Hier wurde mir im Hause des Herrn Queille die gastlichste Aufnahme, und ich konnte mich nun von den Strapazen der langen Fahrt erholen. Jetzt sah ich mich plötzlich in ein künstlerisch ausgestattetes Heimwesen versetzt, das geschmückt war mit morgenländischen Teppichen, persischen Tapeten, seltenen Waffenstücken, Aquarellen, Gemälden, Büchern, kurz mit allem, was das Pariser Leben zu bieten vermag. Nach der beschwerlichen Fahrt über den Balkan und der Bekanntschaft mit den höhlenähnlichen Behausungen muthete mich dieser Wandel gleich einem Traume an. Meine Absicht war's, die geschichtlichen und die Bevölkerungs-Verhältnisse dieser Gegenden kennen zu lernen. Während meines Aufenthaltes in Sofia kam ich nun häufig mit Herrn Jiretschek, dem hervorragenden czechischen Literaten, zusammen, welcher das beste Geschichtswerk über Bulgarien geschrieben hat und von der Regierung herberufen wurde, um bei der Gestaltung des öffentlichen Unterrichtes den Vorsitz zu führen. Der bulgarischen Geschichte wohnt eine fesselnde Anziehungskraft inne; bereits seit acht Jahrhunderten pul-sirt in ihr jene gefürchtete und auf so manchen Schlachtfeldern blutig besprochene Frage: Wem wird Konstantinopel zufallen, den Griechen oder den Slawen? Die der turanischen Rasse angehörenden Bulgaren verlassen im fünften Jahrhundert die Ufer der Wolga und überschreiten die Donau. Sie schlagen ihre Wohnsitze im östlichen Theile der Balkanhalbinsel auf, vermischen sich hier mit der slawischen Bevölkerung und nehmen deren Sprache und Sitten an. Genau in der gleichen Weise haben die germanischen Franken nach der Eroberung Galliens zu romanisch sprechenden Franzosen sich umgebildet. Im Jahre 559 erscheinen die bulgarischen Heere an den Ufern des Aegäischen Meeres; sie belagern Konstantinopel, und dieses sieht sich nur durch Beiisar gerettet. Das am Ende des siebenten Jahrhunderts durch Asparukh gegründete »Königreich der Bulgaren« — mit der Hauptstadt Preslaw — wird unter dem Zaren Krum so mächtig, dass es Byzanz zur Zahlung eines Tributes zwingt, Adrianopel besetzt und mit Karl dem Grossen ein Bündniss schliesst. Der 864 zum Christenthum übertretende Zar Michael Boris stiftet eine Kirche, welche lange ihre Selbstständigkeit wahrt und weder die Obergewalt Roms noch die Konstantinopels anerkennt. Im neunten und zehnten Jahrhundert kämpfen die Bulgaren siegreich gegen die Magyaren im Norden und die Griechen im Süden. Sie stehen nun auf dem Gipfel ihrer Macht, und der Zar Simeon nimmt den Titel an »Kaiser der Bulgaren und Walachen, Herr der Griechen« — Imperator Bulgarorum et Blacorum. Er schlägt die byzantinischen Heere vollständig, bemächtigt sich sogar der Vorstädte von Konstantinopel und herrscht über die ganze Halbinsel (893—927). In der Hauptstadt Preslaw oder Predslawa, deren Trümmer noch in der Nähe von Schumla zu finden sind, standen prächtige Paläste, und hier hielt er sein Hoflager mit all dem in Byzanz gepflegten asiatischen Pompe. Auch herrliche Kirchen besass Preslaw, und diese Marmor-bauten mit den Metallkuppeln waren von griechischen Baumeistern nach dem Muster der Sofien-Kirche aufgeführt worden. Mit wechselnden Erfolgen befehdeten sich Byzanz und die Bulgaren bis zur Ankunft der Türken. Bulgarische Zaren führten zu verschiedenen Malen Helden-thaten wie die Simeons aus, und die Griechen wurden vollständig geschlagen. Zu jenen Herrschern gehört zunächst Samuel Chichman, dessen Machtbezirk vom Adriatischen bis zum Schwarzen Meere und von der Donau bis zum Aegäischen Meere reichte. Er liess sich auch zum Kaiser aller Slawen ausrufen, wie wenn ihm schon der Gedanke an ein durch die Rasseneinheit zusammengehaltenes Staatswesen vorgeschwebt hätte (976). Mit Michael starb 1257 das so ruhmvolle Herrscherhaus der Asenniden aus, welches Tirnowa zur Hauptstadt hatte. Johann Chichman nannte sich wie Simeon »unumschränkter Herrscher aller Bulgaren und der Griechen« (1379), und im Kloster zu Rilo liegt noch ein Firman, der hierüber Auskunft giebt. Zwei Jahrhunderte hindurch (1018 bis 1196) war Bulgarien allerdings bloss eine byzantinische Provinz gewesen; aber Kaloyan richtete das bulgarische Kaiserthum wieder auf und führte die Niederlage herbei, welche die von Balduin befehligten Kreuzfahrer bei Adrianopel erlitten. Joanice-Asen II. (1218—1241) hatte fast die ganze Halbinsel unter seinem Scepter. Er erzwang auch vom Patriarchen die Anerkennung einer selbstständigen griechisch-bulgarischen Kirche und belagerte Konstantinopel, das die Italiener 1236 entsetzten. Bald darauf kamen die Tartaren, welche im ganzen Lande furchtbar hausten, und dann überschwemmten die Türken die Halbinsel. Den vereinten Griechen, Bulgaren und Serben wäre es vielleicht gelungen, die Moslems nach Asien zurückzutreiben; aber bis zum letzten Augenblicke hatten sie eben damit zu thun, sich gegenseitig zu befehden. Unter ihrem grossen Kaiser Duschan schlössen die Serben ein Bündniss mit den Bulgaren. Sie bedrohten Konstantinopel und schienen zu einem mächtigen Staatswesen heranzuwachsen. Doch es gelang ihnen nicht, etwas Dauerndes zu gründen, und in der entscheidenden Schlacht bei Kossowo — 1389 — unterlagen sie den Türken. Im Jahre 1393 nahm Tschelebi, Bajazets Sohn, Tirnowa, die bulgarische Hauptstadt, ein. Die Herrschaft der Moslems beginnt nun, die bulgarische Kirche wird wieder vom griechischen Patriarchate abhängig, und das bulgarische Volksthum scheint von der Erde zu verschwinden. Der Geschichtsunterricht kümmert sich wenig um das, was in diesen Gegenden geschieht, denen doch eine so grosse Zukunft vorbehalten ist. Beim Gedanken an jene vielhundertjährigen, zwischen den Griechen, Serben, Bulgaren und Magyaren sich abspielenden Wirren wird man vom Jammer umkrallt. Das thörichte Menschenvolk kämpft mit einander um Provinzen, während doch zu friedlichem Gedeihen Raum für alle da ist, und man wünscht — ach, wie so heiss! — dass dies der Gegenwart zum Verständniss kommen möge. Es lässt sich ja, Dank der Freiheit und der örtlichen Selbstverwaltung und -regierung, ein Staatswesen gründen, in welchem verschiedene Völkerschaften ohne Zank und Streit neben einander zu gedeihen vermögen, wie man's an der Schweiz, den Vereinigten Staaten und an Belgien sieht. Was soll heute denn unter Völkern, die gemeinsam wirken müssten, all dieses Stossen, Bohren, Gnagen, dieses Ringen um den Vortritt? Aus der Geschichte der Bulgaren geht aber auch die wichtige Thatsache hervor, dass dieses Volk im Mittelalter, unter dem Einflüsse von Byzanz und des Christenthums, einer Civilisation sich erfreute, welche nur wenig hinter der des Westens stand. All jene Errungenschaften gingen dann mit dem Eindringen der Tartaren und Türken vollständig verloren, und nun gilt's, Entschwundenes wieder heimzuholen. Doch noch eins lässt sich nicht übersehen — die Tapferkeit, welche die bulgarischen Heere den Griechen und Ungarn gegenüber an den Tag gelegt haben. Bis zu welchem Punkte sind die Bulgaren und Serben denn von gleicher Abstammung und Sprache? Hiervon hängt ja zum grossen Theile die Frage ab, ob einst am Balkan ein mächtiger slawischer Staat sich bilden kann. Der mit der Geschichte Bulgariens nach jeder Richtung hin vertraute Herr Jiretschek spricht von der Verwandtschaft des Bulgarischen mit den anderen slawischen Mundarten und dem Serbischen im Besonderen. Er sagt mir, dass diese letztere eine sehr nahe ist, und dass die Bulgaren und Serben sich verstehen. An den Ufern der Wolga — also vor ihrer Ankunft auf der Balkanhalb-insel — sprachen jene nicht, was auch heute noch fälschlich behauptet wird, das Finnische, sondern das Tura-nische, die Mundart der Türken, Hunnen, Magyaren, Rumänen und Petschnegen. Doch aus ihrer alten Sprache ist nur sehr wenig in ihre jetzige übergegangen, und diese enthält lange nicht so viel von jener, als das Französische vom Fränkischen. Der berühmte Slawist Miklo-witsch1) ist damit beschäftigt, die turanischen Bestand-theile der slawischen Sprachen festzustellen. Zunächst unterscheidet sich das Bulgarische vom Serbischen dadurch, dass in ihm — wie im Rumänischen, Albanesischen und Norwegischen — der Artikel am Ende der Wörter steht. Diese Eigenthümlichkeit entstammt aber nicht dem Turanischen, sondern dem Illyrischen oder Thracischen, das heisst jener alten Sprache der Balkanhalbinsel, welche im Albanesischen bis auf die Gegenwart gekommen ist. Die alten bulgarischen Mundarten am Rhodopus und Debra, in Macedonien, haben drei Arten des End-Artikels; so heisst's glavata, glavasa, glavana, wie man im Lateinischen caputhoc, caputillud, caputistud sagen würde. Das Serbische ist sehr accen- l) In einer der Wiener Academie der Wissenschaften mitgetheilten Arbeit (v. 2. Januar 1884) theilt Miklowitsch die turanischen Elemente des Bulgarischen in drei Abschnitte, und er spricht 1) von der Zeit vor der Niederlassung der Slawen im Süden der Karpaten, 2) von den Resten der alten Sprache der Bulgaren und Kumanen und 3) von den aus dem Türkischen herrührenden Bestandtheilen. tuirt, während das Bulgarische keine langen und kurzen Silben unterscheidet und deshalb also einförmiger klingt. Jenes hat Beugungen wie die im Russischen, Czechischen und Polnischen vorkommenden, und dieses bildet die Fälle, gleich dem Französischen, durch den Artikel und verschiedene Verhältnisswörter. Die Druck- und Schreibschrift beider Sprachen ist die gleiche, nämlich die cyrillische; doch es giebt im Bulgarischen — wie im Russischen — stumme Endbuchstaben und im Serbischen besondere Zeichen für die weich gesprochenen Konsonanten und den lateinischen Buchstaben »y«. Zu einer Sprache wären aber das Bulgarische und Serbische ebenso schwer zu verschmelzen als das Portugiesische und Spanische oder das Schwedische und Norwegische. Die alten bulgarischen Bücher sind im Kirchen-Slawischen geschrieben, welches jedoch eine starke Beimischung gesprochener Dialekte enthältl). Als dem Sturze der christlichen Reiche die türkische Herrschaft gefolgt war, ging's mit dem Einflüsse der Kirchensprache bergab. Mit dem Anfange dieses Jahrhunderts beginnt das Wiederaufwachen zu literarischem Leben, und nun wurde die im östlichen Bulgarien heimische Volkssprache, auf welche das alte Kirchen-Slawische einen reinigenden Einfluss geübt hatte, zur bulgarischen Schriftsprache. Hier, wie in jedem Lande, weichen die verschiedenen Bezirke in ihrer Mundart von einander ab. Doch über derselben steht eine amtliche und literarische Sprache, welche in Bulgarien, Rumelien und Macedonien die gleiche ist. Eine andere wichtige Frage dreht sich darum, ob das Bulgarische in dem Russischen einen nahen Verwandten besitzt. Nach Herrn Jiretscheks Ausführungen liegt es von diesem durch seine Grammatik und seine ') Anhang, »Alte bulgarische Bücher«. Laveleye, Balkanländer. II. s ganze Ausdrucks weise viel weiter ab als vom Serbischen. Im Bulgarischen und Serbischen — wie im Lateinischen — wird die Vergangenheitsform der Zeitwörter durch Nachsilben gebildet; aber in den slawischen Dialekten des Nordens, im Russischen, Polnischen, Czechischen, wendet man — wie im Französischen — Hilfszeitwörter an. Besonders macht jedoch die verschiedene Betonung die Wörter zu ganz anderen, und bulgarischen und russischen Soldaten fällt es schwer, sich mit einander zu verständigen. Immerhin wird aber ein gebildeter Bulgare ohne besondere Mühe ein russisches Buch zu lesen vermögen. Das alte Kirchen-Slawische ist die Sprache des heiligen Cyrillus und des heiligen Methodius, welche, so scheint es, zur Zeit jener beiden Männer in Saloniki im Gebrauche war. Sie hat einen grossen Einfluss auf die Mundarten aller der griechisch-katholischen Kirche angehörenden Slawenstämme ausgeübt und diesen Völkern zur Bezeichnung religiöser, sittlicher und philosophischer Begriffe einen gemeinsamen Wortschatz zugeführt. Die unter römischem Einflüsse stehenden Polen und Czechen haben ganz andere Ausdrücke und verstehen das Bulgarische nicht. Ihrer Wurzel nach sind die meisten Wörter sich ja allerdings gleich; doch sie behielten im Norden und Süden eben nicht die selbigen Formen, sondern wurden mit der Zeit zu etwas von einander ganz Verschiedenem. Auf dem bekannten Panslawisten-Kongresse zu Moskau mussten die Vertreter der verschiedenen Zweige der slawischen Rasse zu ihrer gegenseitigen Verständigung sich des Französischen oder des Deutschen bedienen. Daran, dass eine gemeinsame Mundart erstehen könnte, ist nicht zu denken. Doch an die Möglichkeit zu glauben, dass die West- oder Süd-Slawen sich zum Gebrauche des Russischen bequemen würden — dies wäre gleichfalls ein blosses Hirngespinnst. Das Slowenische hat ja trotz seiner nahen Verwandtschaft mit dem Kroatischen ganz abgesondert von demselben sich ausgebildet, und hieraus kann man sehen, dass das Bulgarische mit dem Serbischen oder Russischen ebenso wenig zu einer Sprache zu verschmelzen ist als das Holländische mit dem Deutschen oder das Norwegische mit dem Schwedischen. Doch ein Bund von Staaten vermag auch zu bestehen, ohne dass man in jedem dieser Länder die gleiche Sprache redet. Dass dem Bulgarenthum eine unzerstörbare Lebenskraft innewohnt, hat es besonders durch seinen Widerstand gegen den Hellenismus bewiesen, und hierin liegt ein wichtiges Kapitel aus der Geschichte dieser Länder. Nach dem Einzüge der Türken verlor die vormals selbstständige bulgarische Kirche ihre Unabhängigkeit und stand bis in die jüngste Zeit hinein unter dem Patriarchate von Konstantinopel. Mit den Bulgaren ging die fanariotische Geistlichkeit nicht anders um als mit den Bosniern. Die höchste Würde der morgenländischen Kirche übertrug die Pforte dem Meistzahlenden, und dieser verkaufte die Bischofssitze, um zu seinen Vorschüssen zu kommen1). In gleicher Weise verfuhren ') Schon im 17. Jahrhundert stand dieser Handel mit geistlichen Aemtern in voller Blüthe, und ein französischer Reisender berichtet darüber: »Im Laufe der zwei Jahre, welche ich in Konstantinopel zugebracht habe, erhielt der Sultan von zwei nach der Patriarchatswürde lüsternen Bischöfen Geschenke, von dem einen 50000 und von dem anderen 60000 Thaler. Können diese Geistlichen einen reichen Kaufmann auftreiben, der bereit ist, Vorschüsse zu geben, so lassen sie ihre Wünsche dem Grossvezier vortragen. Der steht nicht an, auf die Seite des Meistzahlenden zu treten und die Sache beim Sultan zu fördern. Der alte Patriarch wird ab- und der neue eingesetzt, und den Griechen geht — unter Androhung von Prügelstrafen, von Einziehungen des Vermögens oder einer Schliessung der Kirchen — der Befehl zu, dem Letzteren zu gehorchen und so schnell wie möglich die durch seine Beförderung verursachten Kosten zu decken. Zuerst kommt diese Weisung zu allen Erz- 5* dann die Bischöfe mit den Pfarrämtern und Popen, und die armen Rajahs hatten die ganzen Kosten dieses Stellenschachers zu tragen. Sämmtliche Bischöfe waren aber unwissende, die Volkssprache verachtende Fanarioten. Bei der Verwaltung bediente man sich des Türkischen, und für die Kirchen und Schulen kam nur das Griechische in Frage. Die Bulgaren, welche im allgemeinen des Griechischen nicht kundig waren, standen somit ohne jede Pflege ihres geistigen Lebens da, und einen Augenblick konnte man das Land für vollständig hellenisirt halten. Dem Erwachen des Volksthumes stand die hohe Geistlichkeit in erbittertster Feindschaft gegenüber, und als die türkische Regierung ein Gesetz erlassen hatte, um die Gemeinden zur Gründung von Schulen zu zwingen, kämpften die fanariotischen Bischöfe mit allen erdenklichen Mitteln hiergegen an. Vom Erzbischof von Nisch erzählt man folgende, damals gefallene Aeusserung: »Die Schulen zeitigen nur Ketzer, und es ist besser, das Geld zur Erbauung von Kirchen zu verwenden«. Der Erzbischof der alten Hauptstadt Tirnowa liess aber eine werthvolle Sammlung von Manuscripten verbrennen, welche, aus der Zeit vom 7. bis zum 16. Jahrhundert stammend, auf die Geschichte Bulgariens sich bezogen und im Dome aufbewahrt wurden. Ja, schlimm, sehr schlimm steht es um das Land, welches in den Häuptern seiner Kirche zugleich auch die Feinde seines Volksthumes hat. Mit dem geistigen Wiederaufleben der Bulgaren ist bischöfen, welche sie dann ihren Bischöfen schicken. Die fordern nun ihren Popen und Pfarrkindern die Summe ab, mit welcher der neue Patriarch sie angesetzt hat, und, die Gelegenheit benutzend, auch noch etwas mehr; es muss dabei der Vorwand herhalten, dass ausserdem besondere Kosten und Geschenke zu decken sind«. (»Reise nach Konstantinopel«, von Grelot, 1681.) — Einem solch abscheulichen Unwesen waren die Serben und Bulgaren unterworfen, und den Slawen Macedoniens zwingt man dasselbe auch heute noch auf. der Name des ehrwürdigen Bischofs Sophronius (oder Stoiko) Radoslawow verknüpft. Derselbe wurde 1739 zu Kazan (Kotel) geboren und starb 1816 in Bukarest. Mehr als zwanzig Jahre hat er in seiner Heimathsstadt in wahrhaft vaterländischem Sinn und Geiste gewirkt, und er war der erste Seelsorger, welcher nicht in griechischer, sondern in der Volkssprache predigte. Ihm sind aber auch noch andere Männer anzureihen. Ein Mönch vom Berge Athos, der 1720 geborene Paisii, gab 1762 in slawisch-bulgarischer Sprache eine Geschichte der bulgarischen Zaren und Heiligen heraus; der Ruthene Georg Venelin — aus Nagy Tibar in Ungarn gebürtig — liess 1829 in russischer Sprache »Die alten und die neuen Bulgaren« und hierauf »Die Volkslieder« der Slawen des Donaugebietes erscheinen; für das Gebiet des Unterrichtes sehr nützliche Bücher hat der 1871 in Paris verstorbene Peter Beron geschrieben, und dem Dichter und Geschichtsschreiber Rakowski verdankt man ein Gedicht, welches die Heiducken zum Gegenstande hat, und Studien über die alten bulgarischen Zaren. Der »Correspondant« (Oktober 1885) veröffentlicht einen Artikel, in dem Sainson über eine fast unbekannte Thatsache berichtet. Sarah Wladislaiewitsch, ein Slawe aus Ragusa, überreichte Peter dem Grossen im Jahre 1722 eine Uebersetzung von Orbinis »Storia sul regno degli Slavi« (Pesara 1601). Zugleich bat er den Zaren, die Süd-Slawen unter seinen Schutz zu nehmen, und wies dabei auf die Vortheile hin, welche Russland aus dieser Vereinigung ziehen könnte. Als im Jahre 1807 Peter, der Wladyka von Montenegro, dem Marschall Marmont erklärte, das russische Bündniss dem französischen Schutze vorziehen zu wollen, lebte das Rassen-bewusstsein bereits in ihm, und er sagte: »Das Zusam- menwirken mit unseren Brüdern, den Russen, umschliesst unseren Ruhm und unsere Hoffnungen. Mit ihnen wollen wir leben oder sterben, und ihre Feinde sind auch die unserigen.« In seinem Buche »Bulgarien« weist Leger darauf hin, dass das literarische Erwachen, wie überall, so auch hier in Bulgarien, den Vorläufer der politischen Wiedergeburt bildete. Die »bulgarische Zeitschrift von Braila« bringt — durch Drinow zusammengestellte — Auszüge aus dem merkwürdigen Buche des Mönches Paisii, und denselben entnimmt Leger das Folgende: »Ich habe gesehen, dass viele Bulgaren der Sprache und den Sitten des Auslandes sich zuwandten, und schreibe nun zur Belehrung derselben. O, Du unvernünftiges Volk, warum schämst Du Dich Deines Namens? Denkst Du nicht in Deiner Sprache? Bildeten die Bulgaren nicht ehemals ein mächtiges Reich? Die Griechen, heisst es, sind ein staatskluges, ein gebildeteres Volk. Da es aber noch berühmtere Völker als die Griechen giebt, so müssten diese letzteren doch auch auf ihre Eigenart verzichten. Einst waren die Bulgaren auf der ganzen Erde berühmt, und den gewaltigen Römern wie den klugen Griechen haben sie oft einen Tribut auferlegt. Von allen slawischen Völkern sind sie am ruhmbedecktesten und am frühesten getauft. Sie haben zuerst einen Patriarchen gehabt und am meisten Eroberungen gemacht, und die höchsten slawischen Heiligen gehören unserer Rasse an.« — Das Legers che Buch bringt auch die Denkwürdigkeiten des Bischofs Sophronius. Hier schildert derselbe den Zustand Bulgariens am Ende des letzten Jahrhunderts und spricht von dem Pascha von Widin, der an den Ufern der Donau ein unabhängiges Fürstenthum schuf. Um ihre Kirche wieder zu einer selbstständigen zu machen, haben die Bulgaren länger als 15 Jahre mit zäher Beharrlichkeit und diplomatischer Schlauheit gekämpft. Sie machten sogar auch eine Wendung nach Rom hin, und dieses hoffte damals, sie den unirten Griechen beitreten zu sehen. Schliesslich — 1869 — erkannte der Sultan, trotz des heftigen Widerspruches der fanariotischen Geistlichkeit, die Selbstständigkeit der Landeskirche an. Nach den Bestimmungen des betreffenden kaiserlichen Firmans gehören alle Bisthümer mit ausschliesslich bulgarischer Bevölkerung zum »bulgarischen Exarchate«, und der Exarch, welcher seinen Wohnsitz in Konstantinopel hat, erhält seine Bestallung vom Sultan. Der Bevölkerung aus den Verwaltungsbezirken Adrianopel und Macedonien, einer nach den letzten Aufnahmen zu zwei Dritteln bulgarischen, wird das Recht zugestanden, dem bulgarischen Exarchate beizutreten. Kurz vor dem letzten Kriege sind auf diesem Wege die beiden Bisthümer Ve-lese (Keuprüli) und Ochrida mit dem bulgarischen Exarchate verknüpft worden; doch es giebt noch neun Bisthümer, wo die vorherrschend bulgarische Bevölkerung vergebens nach einer Wiedervereinigung mit ihrer Kirche verlangt. Die türkische Regierung befolgt in diesem Punkte jetzt eine ganz andere Politik: sie wendet sich gegen die Bulgaren und stützt den Fanar. Als sie letzthin zwei bulgarische Bischöfe für Macedonien ernannt hatte, liess sie sich durch die heftigen Drohungen der griechischen Kirche einschüchtern, und jene beiden Geistlichen haben ihren Bestallungsbrief auch heute noch nicht erhalten. Der Berliner Vertrag sichert den Christen des türkischen Reiches Gewissens- und Glaubensfreiheit zu, und die Bulgaren haben doch folglich das Recht, sich der von ihnen erwählten Kirche anzuschliessen. Dieses hat ihnen ja auch schon die Pforte durch den Firman vom Jahre 1869 in feierlicher Weise zugestanden, und trotzdem werden sie unter das Joch griechischer Bischöfe gezwängt, welche gegen sie mit den Türken im Bunde stehen. Man schliesst die mit ihrem Gelde erbauten Schulen und Kirchen ,| schickt ihre Geistlichen ins Ge-fängniss oder in die Verbannung und hat es ganz besonders auf ihre Schullehrer abgesehen. Sie sind somit jeder Pflege ihres sittlichen und geistigen Lebens beraubt. Wo's gilt, den Wünschen der Bevölkerung zu widerstreben, muss der Berliner Vertrag stets als Deckmantel herhalten; sollte sich aber keine Macht finden, welche für die von demselben verbürgte Gewissens- und Glaubensfreiheit die Durchführung verlangt? Die bulgarischen Mönche und Popen leben von dem, was sie für ihre gottesdienstlichen Verrichtungen erhalten, und ihre Unwissenheit entspricht ganz den Wünschen der griechischen Bischöfe. Als Vertreter des Volksthumes haben sie aber unter den Bauern einen grossen Anhang, wenngleich diese ebenso schlechte Kirchenbesucher wie die Serben sind. Drittes Kapitel. Das heutige Bulgarien. Der bulgarische Schriftsteller Drandar berichtet in seinem Buche »Der Fürst Alexander von Battenberg in Bulgarien« in sehr klarer und treffender Weise über die erste Zeit aus dem Verfassungsleben des Fürstenthums. Er schreibt unterhaltend und lehrreich zugleich, und sein Werk hat mich an jenen Roman Stendahls erinnert, den Sainte-Beuve so sehr bewunderte, an »Das Karthäuserkloster von Parma«. Dort wird man an einen kleinen italienischen Hof versetzt und steht mitten in dem Ge- triebe von Palast-Ränken und erschütternden Begebenheiten, unter welchen das ehrgeizige Ringen und Streben sich abspielt. Nach der Unterzeichnung des Berliner Vertrages hatte die Versammlung zu Tirnowa dem Lande eine ebenso freiheitliche Verfassung gegeben, wie Belgien sie besitzt. Vom besten und edelsten Wollen beseelt, betrat Fürst Alexander den bulgarischen Boden; doch er war jung und unerfahren und blickte wenig vertrauend auf die soeben vom Volke angenommene, durch und durch freisinnige Verfassung hin. Er warf sich sogleich der konservativen Partei in die Arme, deren Führer Stoilow, Grekow und Natschowitsch waren. Diese Herren meinten, man müsse die Verfassung beschneiden und die Machtbefugnisse der Regierung erweitern. Aber das Volk dachte anders, und nach den Wahlen des Jahres 1879 hatte das Ministerium in der Kammer unter den 170 Abgeordneten höchstens 30 auf seiner Seite. Zehn Tage später wurde die Sitzung geschlossen und die Kammer aufgelöst. Das Ministerium liess nun seinen ganzen Einfluss spielen, und trotzdem sah es in der neuen, am 4. März 1880 zu Sofia zusammentretenden Kammer eine noch entschlossenere Mehrheit gegen sich gekehrt. Fürst Alexander glaubte jetzt, vorläufig dem Willen des Volkes nachgeben zu müssen. Deshalb berief er ein ausgesprochen freisinniges Ministerium, und zwei hervorragende und sehr beliebte Männer, Zankow und Ka-rawelow, standen an der Spitze desselben. Die konservative Partei betrachtete sich aber keineswegs als besiegt. Man wusste den Fürsten davon zu überzeugen, dass sein gegenwärtiges Ministerium die Zukunft des Landes nach innen und aussen hin gefährde, und trieb ihn zu einem Staatsstreiche. Dieser fand am 27. Mai 1881 statt, also kaum zwei Jahre nachdem die zu Tirnowa gegebene Verfassung verkündet worden war, über deren Werth man sich mithin noch gar nicht klar sein konnte. Von der einberufenen, ausserordentlichen Versammlung verlangte der Fürst eine auf sieben Jahre bemessene Vollmacht und das Recht, die Verfassung einer Durchsicht zu unterziehen. Der russische General Ehrenrooth trat ins Ministerium ein, und mit Hilfe der Gendarmerie und durch besondere Bevollmächtigte gelang es ihm, der freien Abstimmung vollständig den Garaus zu machen. Die wie wilde Thiere gehetzten Freisinnigen enthielten sich der Wahl, und als einige von ihnen — so in Sofia der vortreffliche Balaba-now — trotzdem aus der Urne hervorgingen, schloss der Vorsitzende der gesetzgebenden Versammlung, der Sobranje, sie einfach aus. Mit derartigen Vorgängen war übrigens der Zar durchaus einverstanden, wie der russische General-Konsul Hitrowo ausdrücklich erklärt hatte. In Bulgarien ging's nach dem 27. Mai so zu wie in Frankreich nach dem 2. Dezember, das heisst die that-sächliche Gewaltherrschaft hüllte sich in einen blassen Schimmer verfassungsmässigen Wesens. Der Senat wurde durch einen Staatsrath ersetzt, und Natschowitsch und Grekow zogen wieder ins Ministerium ein. Im ganzen Lande gärte es gewaltig. Zankow und Balabanow, die hervorragenden Führer der Freisinnigen, wurden überall, wo sie sich zeigten, mit Begeisterung empfangen, und das Ministerium wähnte, durch die Entfernung des ersteren die Aufregung besänftigen zu können. Es liess denselben festnehmen und nach Wratza bringen, erreichte mit dieser Willkür aber keineswegs das Gewünschte; man reizte und erbitterte bloss die Gegenpartei. Ein sehr ehrenvolles Zeugniss hat das bulgarische Volk sich durch das Verhalten seiner hohen Beamten ausgestellt, die an die Spitze des Widerstandes traten, und es erinnert dies an die Vorgänge in Hessen zur Zeit Hassenpflugs. So unterzeichneten in Sofia 55 höhere Beamte, darunter der Vorsitzende des Rechnungshofes, Mitglieder des Kassationsund des Appellations-Gerichtes, Stadträthe, fast alle Sections-Chefs aus den Ministerien, eine Eingabe, welche an den Staatsrath gerichtet war und diesen um Schutzmaassregeln gegen die Willkür der Regierung anging. Eine solche That muthvoller Entschlossenheit kann man aber gar nicht genug bewundern. Um bei den neuen Wahlen die ministeriellen Kandidaten durchzubringen, wurden nun Generäle gebraucht, und eine entsprechende Bitte traf deshalb in Petersburg ein. Der Zar war sich über den Stand der Dinge klar und schickte zwei sehr tüchtige Officiere, die Generäle Kaulbars und Sobolew. Diese militärische Hilfe wirkte denn auch, und im ganzen Lande fielen die Wahlen für die Konservativen günstig aus. Die Freisinnigen waren gewaltsam in den Hintergrund gedrängt worden. Doch bald zogen Natschowitsch und Grekow und sogar auch der Fürst selbst gegen die russischen Generäle zu Felde, und es wurden mir hierüber recht bezeichnende nähere Angaben gemacht. Uneingeladen erschienen die Generäle mit ihren Adjutanten an der Mittagstafel des Fürsten, und bei seinen Abendgesellschaften that derselbe, als ob er sie gar nicht bemerke; er war empört darüber, sich von ihnen als ihren Schützling betrachtet zu sehen. Wie die alleinigen und unumschränkten Herren und Gebieter traten diese russischen Minister auf, und ihre einheimischen konservativen Kollegen versuchten es, in der Kammer gegen sie den Sturm des Widerstandes zu entfesseln, und sie damit zu beseitigen. Aus Petersburg Hefen jetzt aber Winke ein, dass man dort die Aufgabe der Generäle Sobolew und Kaulbars erst mit dem Rücktritte der Herren Natschowitsch und Grekow als beendet ansehen könne. Natürlich kämpften diese nun um so erbitterter und.hartnäckiger. Sie gingen selbst so weit, sich den Freisinnigen zu nähern, um nur die russischen Generäle zum Verlassen des Landes zu zwingen, und der Fürst weigerte sich standhaft, die Letzteren zu empfangen. Russland sah ein, dass es mit dieser Begünstigung der Reaction einen Fehler begangen hatte, und im August des Jahres 1883 nöthigte der russische Konsul Yonin den Fürsten Alexander dazu, sich wieder zur Verfassung von Tirnowa zu bekennen. Die Konservativen begriffen, dass sie das Spiel verloren hatten, und thaten alles, um an den Freisinnigen eine Stütze zu gewinnen. Der unlängst noch geächtete Zankow wurde zum Herrn der Lage und nahm die ihm vom Fürsten angebotene Machtstellung unter der Bedingung an, dass vom Wege der Verfassung nicht mehr abgewichen werden solle. Kaulbars und Sobolew, denen es unter diesen Umständen an jeder Stütze fehlte, kamen um ihre Entlassung ein und zogen aus Sofia ab. Die Konservativen, welche sie herbeigerufen hatten, freuten sich ganz offen über ihre Abreise, während die Radicalen in der lärmendsten Weise auf ihre Seite traten. Russland bekundete sein Missvergnügen über diesen Rückzug damit, dass es die Adjutanten des Fürsten abberief, ohne diesen persönlich davon zu benachrichtigen. Ueber eine solche Beleidigung wollte derselbe seinerseits natürlich quittiren, und er verabschie-dete zu diesem Zwecke die noch in seinem Gefolge befindlichen russischen Officiere, während er zugleich die in Russland studirenden bulgarischen Officiere zurückkommen liess. Darin lag ja nun eine ganz offenbare Feindseligkeit. Um also den Zaren zu besänftigen, sandte man an ihn Balabanow als den geeignetsten Vertreter Bulgariens ab, und in Petersburg fand derselbe auch eine günstige Aufnahme; der Friede wurde somit hergestellt. Kaulbars erhielt vom Kaiser den Befehl, zurückzukommen, und dem nun getroffenen Abkommen entsprechend, sollten die in Bulgarien weilenden russischen Officiere nur um ausschliesslich militärische Dinge sich kümmern dürfen. Das Gesammt-Ergebniss des Errungenen war ein wichtiges — man hatte sich den Schlingen der russischen Vormundschaft entzogen. Die Freisinnigen und die Konservativen waren zur Bildung eines Ministeriums zusammengetreten, welche Vereinigung jedoch von keiner langen Dauer sein- sollte. Die Letzteren versuchten es, den Fürsten und den russischen Konsul zu beeinflussen und Zankow auf diesem Wege zum Rücktritte zu zwingen. Dessen Stellung war aber vorläufig noch eine zu befestigte, und so mussten seine Gegner ihm weichen. Seit seinem Aufenthalte in Wratza sah man im Volke zu dem hochbegabten Staats-manne wie zu einem Abgotte auf. Trotzdem unterlag er späterhin bei den Wahlen; der linke Flügel der Freisinnigen siegte, und ein Ministerium Karawelow kam ans Ruder. Der Fürst hatte es ohne Zögern angenommen und dabei laut erklärt, dass er hinfort nicht anders als in Uebereinstimmung mit dem Willen des Volkes zu regieren gedenke. Was Zankows Beliebtheit ebben liess, war sein früheres Einvernehmen mit den Konservativen und die eingegangene Verpflichtung, die Verfassung von Tirnowa durch Schaffung eines Ober-Hauses nach rechts hin abändern zu wollen. Das Volk hängt fest an seiner Verfassung, und so soll's auch sein. Als Minister hat übrigens Karawelow die seltene Kunst verstanden, sich in der Gunst des Volkes und auch in der des Fürsten zu erhalten. Lässt man an seinem Geiste all die abtretenden Ministerien, all die Umstürze, Umwälzungen, Umwandlungen vorüberziehen, deren Schauplatz das Fürstenthum seit seinem Entstehen gewesen ist, so starrt man in einen vollständigen Ueberfluss des Reichthumes hinein. Ueber die Scene scheint eins von diesen Wandelstücken zu gehen, in denen zur einen Thür fortwährend Schauspieler hereinkommen, um zur anderen herauszugehen. An ausdauernder, festzugreifender Beharrlichkeit hat es vollständig gefehlt, und dieselbe ist ja überall, aber doch ganz besonders für ein neu ins Leben tretendes Staatswesen unentbehrlich. Der Fehler liegt zunächst an dem Fürsten und seinen Rathgebern. Von oben her wurde dem demokratischen Hange des Landes mit Misstrauen begegnet, und dasselbe sollte sich durchaus die Regierungsweise eines unumschränkten Herrschers gefallen lassen. So etwas wäre aber nur mit Hilfe eines grossen russischen Heeres durchzuführen gewesen. Doch der Zar weigerte sich, bei einem solch übel angebrachten Versuche zu Gunsten der Gewaltherrschaft die Hand zu bieten, und er hat damit seiner Beliebtheit unter den Slawen der Balkanhalbinsel und dem europäischen Frieden in gleicher Weise genützt. Ich habe mich (in meinen »Etudes et Essais«) zu zeigen bemüht, wie Leopold I. in Belgien der Freiheit eine Stätte gründete, indem er die Belgier einfach sich selbst regieren liess. Er wurde zum beliebtesten und am meisten bewunderten Herrscher seiner Zeit, und die Fürsten, denen die Regierung in diesen jungen Staaten an den Ufern der Donau obliegt, würden, glaube ich, gut daran thun, sich ihn zum Muster zu nehmen. Beim Könige von Rumänien ist dies offenbar schon, und wohl nicht zu seinem Schaden, der Fall. Der Herrscher mindert seine Verantwortlichkeit, indem er die Wahlen völlig freigiebt und Ministerien beruft, welche mit der Mehrheit des Parlamentes im Einklänge stehen. Dadurch macht er sich beim Volke beliebt und entgeht in gewissem Maasse persönlichen Eifersüchteleien und den Ränken des Ehrgeizes, wie besonders denen der fremden Mächte. Dem Ergebnisse der Parteikämpfe muss er sich damit allerdings anbequemen. In einem Verfassungsstaate sind dieselben aber unvermeidlich, und ihre Quelle liegt in der verschiedenen Ansicht über dasjenige, was zum Wohle des Landes geschehen müsse. Deshalb steckt in ihnen auch etwas Förderndes. Eine Regierungsweise wie die bezeichnete umschliesst zugleich noch einen anderen Vortheil, und der kommt ganz besonders für diese Länder in Frage, welche beständig gegen die Forderungen ihrer mächtigen Nachbarn anzukämpfen haben. Er gewährt eben eine grössere Widerstandsfähigkeit gegen solche Ansprüche, indem man sich doch auf die Nothwendigkeit einer Verständigung mit dem Parlamente und der öffentlichen Meinung berufen kann. Durchaus nothwendig ist es aber, sich vor diesem Absetzungsübel zu hüten, welches einigen bulgarischen Ministern als Handhabe dienen musste. In Amerika bringt bekanntlich jeder Präsidentschaftswechsel eine Neubesetzung der Haupt-Aemter mit sich, und diese Unsitte ist nach dem allgemeinen Urtheile eine so schwerwiegende, dass sie in grossem Maasse die Vortheile der demokratischen Satzungen aufhebt. In Frankreich ist die Regierungsmaschine trotz aller Wirren und Umwälzungen stets trefflich im Gange geblieben, weil man gemeiniglich an der Stellung der Beamten nicht rüttelte. Leopold I. willigte nie in solche Absetzungen. Er hatte eine gewisse, seinen Ministern wohlbekannte Schublade, und diese war sein Meer der Vergessenheit, worin alle von ihm nicht gebilligten Vorschläge versanken. Dieses Unwesen, die alten Beamten durch Schleppenträger des neuen Ministeriums zu ersetzen, hat ein ganzes Heer von Widerwärtigkeiten im Gefolge. Aus den Beamten müssen damit politische Parteigänger werden, die mehr darauf bedacht sind, ihrem Anhange zum Siege zu verhelfen, als für die Förderung des allgemeinen Wohles zu wirken, und es geht ihnen, was für eine Regierung doch so wesentlich ist, die Erfahrung ab. Sie machen einander die Zügel nicht etwa streitig, um die Angelegenheiten des Staates besser leiten, sondern um sich vielmehr auf Kosten des Volkes bereichern zu können. Als Entgelt für die Sicherstellung der Beamten verlange man von denselben unbedingte Ehrlichkeit, stätiges Arbeiten und genaueste Pflichterfüllung, aber keine politischen Dienstleistungen, und statt ihre Zahl zu vermehren, gewähre man ihnen lieber eine auskömmliche Besoldung. In Deutschland und Oesterreich können die Regierungsbeamten, die ausgenommen, welche ein Amt von politischem Charakter bekleiden — wie z. B. der Statthalter einer Provinz — nur dann ent- oder gegen ihren Willen versetzt werden, falls sie nach einer vorangegangenen gerichtlichen Untersuchung verurtheilt worden sind1). In Spanien werden bei jedem Ministerwechsel Tausende von Beamten entweder mit dem halben Gehalte oder überhaupt ohne jede Entschädigung zurückgestellt, um den Anhängern der obsiegenden Partei Platz zu machen. Natürlich haben diese Vertriebenen, die »cesantes«, nichts Eiligeres zu thun, als sich aufs Wühlen und Ränkein zu verlegen, und dabei bleiben sie dann so lange, bis wiederum ihre Flügelmänner am Ruder stehen. — Die jungen Donau-Staaten neigen dazu, beim Aufbaue ihrer Gestaltung sich Frankreich oder Belgien zum Muster zu nehmen. Damit thun sie aber einen ganz entschiedenen Missgriff. Der ländlich-demokratische Cha- ') Ulbrich, Lehrbuch des österreichischen Staatsrechtes, S. 203—234. — 8i — rakter ihrer Bevölkerung verweist sie vielmehr auf die Schweiz und auf Norwegen und empfiehlt ihnen die Einrichtungen dieser Länder zur Nachahmung. Die Fürsten dürfen darüber nicht erschrecken; in einem bäuerlichdemokratischen Staatswesen ist die Bevölkerung stockkonservativ, jedoch unter der Bedingung, dass man an ihren Geldbeutel nach keiner Richtung hin grosse Ansprüche macht. Russland könnte aus den Ereignissen der Neuzeit eine sehr nützliche Lehre ziehen. Es verzichte darauf, sich durch die Ränke seiner Sendlinge im geheimen einen Einfluss wahren zu wollen, und bekunde besonders seinen Aerger über das Misslingen derartiger Machenschaften nicht in sehr unangebrachter Weise. Im Namen des Rechtes und der Menschlichkeit trete es nach jeder Richtung hin für die Freiheit und Wohlfahrt der Slawenstämme ein, ohne jedoch die Hand auf den Degengriff zu legen und somit eine drohende Haltung anzunehmen. Die ihm im Morgenlande klar vorgezeichnete Aufgabe besteht darin, diese zwei grossen Strömungen zur Geltung zu bringen, denen die Zukunft gehört — die Rassengemeinschaft und die Volksherrschaft. Dann wird es sich auch leicht über die Undankbarkeit der Grossen hinwegzusetzen vermögen, weil eben die Völker zu ihm stehen. — Aus der Geschichte des bulgarischen Fürstenthums grinst das widerwärtige Gebahren dieser Stellenjäger hervor, welche nicht anstanden, mit Hilfe fremder Wühler ihre Gegner zu bekämpfen oder zu stürzen. Es ist ein Verbrechen gegen das eigene Vaterland, den Grossmächten zu einer Einmischung in dessen innere Angelegenheiten zu verhelfen, und über derartiges müsste die öffentliche Meinung unweigerlich den Stab brechen. Leute, die sich solcher Schandthaten schuldig machen, sollten als Verräther geächtet werden. Laveleye, Balkanländer. II. ^ Balabanow ist der einzige Politiker, mit dem ich hier zusammentreffe. Bei den Konservativen führen meine Freunde mich nicht ein, und von den Vertretern der Gegenpartei sitzt Zankow in Wratza, und Karawelow ist verreist. Herr und Frau Balabanow empfangen mich in liebenswürdigster Weise. Sie bewohnen ein altes, aber elegant ausgestattetes Haus, welches in der Nähe des Palastes liegt, und nachdem der reizenden Sitte, Eingemachtes zu verzehren und dabei kaltes Wasser zu trinken, genügt ist, dreht das Gespräch sich um die Zukunft des Landes. Balabanow, der sich viel mit der Volkswirthschaftslehre beschäftigt hat, setzt grosse Hoffnungen auf den Ausbau der Eisenbahnen. »Aber«, ruft er aus, »wir werden uns billiger einzurichten wissen als unsere serbischen Freunde. Dort wurde man etwas zu hart von den Pariser Banquiers angefasst, und wir wollen ohne diese Herren arbeiten. Das zwischen Oesterreich, Serbien, Bulgarien und der Türkei getroffene Abkommen verpflichtet uns zum Ausbaue der etwa hundert Kilometer langen Bahnlinie von Tzaribrod nach Wakarel über Sofia. Letzteres wird hierdurch mit Rumelien verknüpft, aber es muss auch mit dem Theile Bulgariens, welcher nördlich vom Balkan liegt, in Verbindung treten; sonst würde ja die neue Linie, wie die von Wranja, hauptsächlich den fremden Reisenden nützen«. Inzwischen hat der bulgarische Banquier Iwan Grosew es unternommen, die Linie für 17 Millionen Franken herzustellen. Der Preis ist kein zu hoher, denn zwischen Tzaribrod und dem Gipfel des Dragomans wird man gewaltigen Schwierigkeiten begegnen; die bulgarische Regierung müsste die Ausführung des Baues aber auch aufs gründlichste überwachen. Diese grossen Geldgeschäfte bilden eine sehr gefährliche Klippe für jedes junge, unerfahrene und wenig reiche Staatswesen, in welchem die Erinnerung an den türkischen Bakschisch nistet. Eine fremde Gesellschaft bietet zu einem Unternehmen ihre Dienste an und erzwingt einen Preis. Mindestens ein Drittel desselben betrachtet sie als den ihr zukommenden Gewinn, und ein Theil dieser Summe ist dazu bestimmt, Minister und andere einflussreiche Leute, Zeitungen, ja wohl auch den Herrscher selbst zu erkaufen. Wie soll der Versuchung widerstanden werden? Im vorigen Jahrhundert sprach man auf einer Abendgesellschaft zu Versailles mit der Königin von Frankreich über Dinge, die vermittelst klingender Münze zu erlangen waren. — »Meinen Sie, dass iooooo Franken die Sache ans Ziel bringen könnten?« — »Pfui! man wird Sie von den Bedienten zur Thüre hinauswerfen lassen«. — »Thä-ten's vielleicht 200000?« — »Nicht daran zu denken! Schweigen Sie!« — »Ei 300000?« — »Wie? Sie scherzen, nicht wahr?« — »Keineswegs; man würde selbst bis zu einer Million aufrücken«. — »Nun, wir wollen darüber sprechen«. Ob die Million an der Donau weniger verführerisch klingt als in Versailles? Man schaut da in ein sehr düsteres Zukunftsbild hinein, und die Bestechlichkeit frisst alle zur politischen Welt Gehörenden an. Den, welcher standhaft und arm bleibt, nennt man einen Tropf. Jedes Unternehmen wird damit zu einer sehr schwierigen oder ungemein kostspieligen Sache, wie man's an der Türkei sieht, und die Geldleute des Westens bringen mit dem Bakschisch ihren Willen durch. Das Volk sinkt zum Sklaven von einigen grossen Banken herab, und hinter denen sitzen die Länder, in welchen sie sich niedergelassen haben. Wie stände wohl Bulgarien, falls es bei der Wiener Länderbank verpfändet wäre, den Forderungen eines Gläubigers gegenüber, der eine Million Bajonette ins Spiel bringen kann? Es ist sehr vernünftig 6* von den Bulgaren, dass sie ihre Angelegenheiten selbst durchführen wollen, und in den Blättern der Finanzwelt mag man sie doch immerhin als Zurückgebliebene und Barbaren bezeichnen. Sie müssten sich aber auch vor den Unterschleifen im eigenen Hause zu bewahren wissen. Was indessen über die zur Zeit des Staatsstreiches gemachten Ausgaben verlautet, hat durchaus keinen reinen Klang. Marko Balabanow wurde 1837 zu Klissura in Rumelien geboren und frühzeitig nach Konstantinopel gebracht. Nachdem er dort gelernt hatte, was man sich damals in den Schulen der türkischen Hauptstadt aneignen konnte, ging er nach Paris. Hier studirte er die Rechte, worauf er nach Konstantinopel zurückkehrte und sich daselbst bei der Advocatur einschreiben liess. Bei dem religiösen Kampfe zwischen dem bulgarischen Exarchate und dem griechischen Patriarchate von Konstantinopel stellte er sich ganz entschieden auf die Seite des ersteren. Da die Bulgaren, um deren kirchliche Rechte es sich handelte, sämmtlich Rajahs waren, wurde der Exarch auch in bürgerlicher Hinsicht als deren Haupt betrachtet. Im Jahre 1875 brach bekanntlich der erste Aufstand in der Herzegowina aus und läutete damit die Erhebung der unterdrückten Balkanvölker ein. Damals gründete Balabanow unter dem Titel »Wiek« — das Jahrhundert — eine Zeitung, deren von glühender Vaterlandsliebe durchwehte Artikel eine zündende Wirkung hervorbrachten. Als Schriftführer der bulgarischen Synode that er sich durch seine in griechischer Sprache abge-fasste Ausarbeitung der Verhandlungen hervor, und gleichsam zum Zeitvertreibe war er mit Uebersetzungen beschäftigt. Zunächst übertrug er Molieres »Geizhals«, denselben dem Leben und Treiben der Bulgaren anpassend, ins Bulgarische und dann auch George Sands »La Mare au Diable«. In Paris liess er 1869, ohne sich als Verfasser zu nennen, eine kleine Schrift »Die Türken in Bulgarien« erscheinen. Der General Hafiz Pascha und der Statthalter von Sofia, Mazhar Pascha, unterdrückten 1876 mit unerhörter Grausamkeit den Aufstand einiger Bulgaren, und die Bewohner von Zlatitza und Otlukeui, welche den Aufständischen Herberge gewährt hatten, wurden unbarmherzig niedergemetzelt. Da erhielten Balabanow und Zankow vom Exarchate den Auftrag, die Grossmächte um eine Vermittelung anzugehen. Bei ihrem Aufenthalte in London veröffentlichten die beiden Abgesandten eine kleine Schrift »Bulgarien« und erregten damit die öffentliche Meinung Europas zu Gunsten ihrer unterdrückten Landsleute. Während des türkisch-russischen Krieges wurde Balabanow zum Unter-Statthalter von Tirnowa ernannt. In der daselbst tagenden Volksversammlung war er dann unter den Abgeordneten, und vom ersten Augenblicke an nahm er als Redner die erste Stelle ein. Die innerhalb der Partei sich vollziehende Spaltung brachte ihn an die Spitze der gemässigten Freisinnigen. Nach seiner Thronbesteigung hatte Fürst Alexander ihn mit der Bildung eines Kabinettes beauftragt, und er selbst übernahm damals das Ministerium des Auswärtigen, während Burmow den Vorsitz führte. Als sein Freund Zankow im Ministerium sass, vertrat er Bulgarien in Konstantinopel und wurde bald darauf in den inzwischen unterdrückten Staatsrath berufen. Zur Zeit des Staatsstreiches, den Fürst Alexander 1881 ins Werk setzte, schloss er sich vollständig den Freisinnigen an, unter denen er, der zu den gebildetsten Männern seines Landes gehört, eine wichtige Rolle spielt. Einige Angaben über den in Bulgarien gleichfalls sehr beliebten Slaweikow habe ich den Zeitungen ent- nommen. Dieser kleine, starkschulterige, rege und geistvolle Mann wurde ums Jahr 1825 zu Tirnowa geboren. Das Französische ist ihm nicht sehr geläufig, aber das Bulgarische, Griechische und Türkische beherrscht er dafür um so vorzüglicher. In dem Kampfe der bulgarischen Kirche gegen das griechische Patriarchat von Konstantinopel war er einer der beredtesten Streiter der ersteren, diesem Kern- und Sammelpunkte des über die Balkanhalbinsel zerstreuten bulgarischen Volksthumes, und in jener Zeit schlug seine Beliebtheit Wurzel. In Konstantinopel gründete er mehrere bulgarische Zeitungen, die aber nach und nach der entsetzlichen Censur und den Beschlagnahmen des Pressbüreaus unterlagen. Jede Unterdrückung eines Blattes brachte ihn für zwei oder drei Monate nach den ekelhaften Gefängnissen Stambuls und legte ihm auch bedeutende Geldstrafen auf; natürlich wurden die betreffenden Summen aus der Kasse der bulgarischen Vaterlandsfreunde bezahlt. Während der ihm von den Türken gewährten Müsse schrieb er mehrere kleine Werke — Lustspiele und Gedichte — welche in Bulgarien sehr bekannt geworden sind. Im Jahre 1879 wählte man ihn zum Mitgliede der ersten konstituirenden Versammlung zu Tirnowa, und er wurde nun einer von den Führern und den beliebtesten und am meisten gehörten Rednern der Freisinnigen. Petko Karawelow, der bulgarische Ministerpräsident, verdankt seine Stellung zum Theil der beständigen Freundschaft und der ungeheueren Bescheidenheit Sla-weikows, der stets hinter denjenigen trat, welchen er seinen Schüler nannte. Als Fürst Alexander dabei beharrte, mit den Häuptern der konservativen* Minderheit regieren zu wollen, beschloss Slaweikow, sich an das Land und an die Kabinette der Grossmächte zu wenden. Zu diesem Behufe gründete er die »Vereinigung Bulga- -Syrien« (Tzelokupna Bulgaria) und legte hier die Wünsche und Bestrebungen der grossen Mehrzahl des Volkes dar. Die weit verbreitete Zeitung zerfiel natürlich in eine bulgarische und in eine französische Hälfte, und erstere stand unter Slaweikows Leitung und letztere unter der eines französischen Ingenieurs. Dieses Blatt und seines Gründers Beliebtheit versetzten das Land aber in eine Stimmung, durch welche Fürst Alexander zu dem Entschlüsse gebracht wurde, die Führer der freisinnigen Partei ans Ruder gelangen zu lassen. Gegen einen Ministerposten hat Slaweikow stets einen grossen Widerwillen gehegt. Mehrmals ist er Vorsitzender der Kammer (Narodno-Sobranje) gewesen, und in zwei Fällen war er genöthigt, ins Kabinett einzutreten, mit Dragan Zankow in dem einen und mit Petko Karawelow im anderen Falle. Zum Abgeordneten wurde er stets in mehreren Bezirken gewählt. Doch noch einen von Bulgariens Staatsmännern darf ich nicht unerwähnt lassen. Er spielt eine sehr bedeutende Rolle, und so lange die Macht in seinen Händen ist, kann man um des Landes Würde und Börse unbesorgt sein, was eben im Hinblicke auf die Nähe des Schwarzen Meeres nichts Geringes bedeutet. Den Namen Karawelow spricht ganz Bulgarien mit der grössten Ehrfurcht aus. Die beiden Brüder, Lubin und Petko, sind in Kopritschitza geboren, und dieses nicht weit von Philippopel gelegene Dorf gab 1876 das Zeichen zur Erhebung. Lubin war Schriftsteller und Dichter und hatte es sich zur Aufgabe seines Lebens gemacht, die Bulgaren zum Abschütteln der türkischen Herrschaft anzufeuern. Ganz besonders verehrt man ihn aber als eine von den Zierden des literarischen Lebens, und viele seiner Ausdrücke sind in die Volkssprache übergegangen. Seine klassisch gewordenen Werke — Novellen, Romane, Gedichte — spiegeln das Bulgarien der Gegenwart wieder, und jeder des Lesens Kundige versenkt sich in dieselben oder lernt sie auswendig. Er war der Erste, welcher hier für eine Vereinigung sämmtlicher Balkanstaaten in die Schranken trat, wovon seine zu Bukarest erschienenen Schriften — »Swoboda« (Freiheit), »Nesawicimost« (Unabhängigkeit), »Znanje« (Wissenschaft), u. s. w. — Zeugniss ablegen. Den grösseren Theil seines Lebens hat er als Verbannter in Rumänien und Serbien zugebracht, und erst kurz vor dem Zusammentritte der Volksversammlung zu Tirnowa, zur Zeit des Werdens der Verfassung, kehrte er nach Bulgarien zurück. Es war ihm nicht vergönnt, das befreite Bulgarien zu schauen; während der russischen Besetzung, 1878, ist er in Rustschuk gestorben. Neuerdings haben ihm zu Ehren Kundgebungen in den Kreisen der studirenden Jugend, der männlichen und der weiblichen, stattgefunden, und zur Errichtung eines Denkmals für ihn ist eine Sammlung eröffnet worden. Petko Karawelow, Lubins jüngerer Bruder, hat sich viel mit wirthschaftlichen und finanziellen Fragen beschäftigt. An der philosophischen Fakultät der Universität Moskau beendete er 1871 seine Studien; aber sein Vaterland war ihm damals, also zur Zeit der Türkenherrschaft, verschlossen, und so blieb er bis zum Beginne des Krieges in der alten russischen Hauptstadt. Er gab daselbst in wohlhabenden Familien Privatstunden und ertheilte an einem Gymnasium den Unterricht in der Geschichte und Geographie. Das Russische, Französische, Deutsche und Englische kennt er gründlich; doch es fällt ihm schwer, sich in diesen letzten beiden Sprachen mündlich auszudrücken. Während der russischen Besetzung kehrte er nach Bulgarien zurück und wurde sogleich zum stellvertretenden Statthalter von Widin ernannt. Im Jahre 1879 wählte man ihn in mehreren Be- zirken zum Abgeordneten für die erste Volksversammlung, in welcher er einen thätigen Antheil an der Be-rathung über das Grundgesetz genommen hat. Ja, man kann ihn die Seele der Verfassung von Tirnowa nennen, und eifrig und unentwegt tritt er für dieselbe ein. Er hat in allen Ministerien gesessen, welche zwischen dem Sturze des ersten bulgarischen Kabinettes und dem Staatsstreiche des Fürsten Alexander am Ruder waren, und in Philippopel, wohin er sich 1881 zurückzog, fuhr er fort, die Sache seines Landes zu vertheidigen. Zwei Jahre währte sein Aufenthalt in dieser Stadt, woselbst er das Amt eines Bürgermeisters und zugleich das eines Lehrers der Weltgeschichte am Gymnasium versah. Durch seinen Takt und sein vielseitiges Wissen übte er auf Aleko Pascha einen grossen, nach neuen Bahnen hinführenden Einfluss aus, und ihm schien Rumelien ein besserer Hort der Freiheit zu sein als das Fürstenthum. Nach der Wiederherstellung der Verfassung fielen die Wahlen zu Gunsten des linken Flügels der Freisinnigen aus, und bei der Eröffnung der Kammer verfügten Karawelow und Slaweikow über eine grosse Stimmenmehrheit. Der Fürst entschloss sich, jenen mit der Bildung des neuen Kabinettes zu beauftragen, und sagte bei der ersten Zusammenkunft zu demselben: »Mein lieber Karawelow, ich gelobe zum zweiten Male, mich dem Willen des Volkes zu unterwerfen und genau nach der Verfassung von Tirnowa zu regieren. Wir wollen die Vorgänge während des Staatsstreiches vergessen und gemeinsam zum Wohle des Vaterlandes arbeiten«. Und mit diesen Worten umarmte der Fürst den Herbeigerufenen. Karawelow hat es dann verstanden, mit den nicht gerade segensreichen Folgen des Staatsstreiches gründlich aufzuräumen, und die verschiedenen, von ihm eingebrachten Gesetze sind einstimmig durchgegangen. Ohne Uebertreibung kann man ihn als den Schöpfer der gegenwärtigen Zustände Bulgariens bezeichnen, und für seinen allumfassenden Einfluss haben die dort sich abspielenden Vorgänge hinreichend Zeugniss abgelegt. Seine Rechtschaffenheit wird selbst von seinen politischen Gegnern anerkannt. Er ist ein freisinniger Demokrat und liebt die Russen,- deren für die Unabhängigkeit seines Vaterlandes gebrachte Opfer er keineswegs verkennt. Doch er duldet es nicht, dass der Sendling einer anderen Macht sich in die inneren Angelegenheiten des Fürstenthumes mischt. Sein Wahlspruch lautet: »Bulgarien den Bulgaren«, d. h. Bulgarien soll frei sein, unabhängig von jedem fremden Einflüsse. Bis jetzt hat er nur ein Werk — »Anmerkungen und kritische Erörterung über die Verfassung« — veröffentlicht, welches in der Philippopeier »Naouka« (Wissenschaft) erschien, und dabei durch die vielen Citate aus verschiedenen Sprachen seine gründlichen Kenntnisse auf dem Felde der politischen Wissenschaft erwiesen. Früher hatte er die Gewohnheit, seinen äusseren Menschen sehr zu vernachlässigen; er trug lange Haare, und sein ungepflegter Bart bot seinen Feinden eine Handhabe, ihn bei der russischen Regierung als Nihilisten zu verhetzen. Seit seiner Verheirathung ist das aber anders geworden, und nun fürchtet man, dass er sich in entgegengesetzter Richtung schaden könne. Seine Frau hat zu Moskau in der Anstalt für die Töchter des Adels eine sehr gute Erziehung erhalten. Sie übersetzte Stuart Mills »Logik«, und das Englische ist ihr so geläufig wie ihre Muttersprache. Die bulgarischen Zeitungen und Zeitschriften bringen ihrer Feder entstammende Aufsätze über die Erziehung des weiblichen Geschlechtes, und an der Mädchenschule zu Sofia wirkt sie unentgeltlich als Lehrerin. Sie geht auch, heisst es, ihrem Manne hilfreich — 9i — zur Hand. Während des letzten Krieges hat sie sich als eine vorzügliche Krankenwärterin erwiesen und Bulgaren und Serben mit gleicher Sorgfalt gepflegt. Karawelow lenkte das tief im Volke wurzelnde Streben nach einer Vereinigung beider Bulgarien, und 1884 gingen bekanntlich an die Grossmächte in diesem Sinne gehaltene Denkschriften ab, welche nördlich wie südlich vom Balkan mit Unterschriften bedeckt worden waren. Die ganze Erhebung wuchs ausschliesslich im eigenen Lande empor, und kein Fremder hat sie ermuthigt oder auch nur darum gewusst. Ahnungslos weilte Fürst Alexander in Warna, wo er sich dem Genüsse der Seebäder hingab, als Karawelow ihn aufsuchte und ihm auseinandersetzte, was mit unwiderstehlicher Gewalt zum Vollzuge kommen würde. Der Minister fand Verständniss und Vertrauen. Alexander begriff, dass derselbe dabei war, sich an die Spitze einer durchaus berechtigten volks-thümlichen Bewegung zu stellen, welche einer lenkenden und zügelnden Hand bedurfte. Zur Ehre Karawe-lows muss aber die Thatsache hervorgehoben werden, dass bei dem Aufstande nicht ein Tropfen Blut geflossen und nicht eine Gewaltmaassregel zur Anwendung gekommen ist. Selbst die Moslems leisteten keinen Widerstand, und sie haben sich nicht darüber zu beklagen gehabt. Ein grosses Verdienst Karawelows liegt, so sagt man mir, in seinem entschlossenen Wollen und in seiner Fähigkeit, sich Gehorsam zu verschaffen. Als die russischen Officiere zum Rückzüge genöthigt waren, ergötzte Fürst Kantakuzenos, der Kriegsminister und russische General, sich bei dem Gedanken an die Verwirrung, in welche Bulgarien seiner Meinung nach jetzt gerathen musste. Karawelow fasste aber sofort den Entschluss, die abziehenden Russen durch bulgarische Hauptleute zu ersetzen. — »Unmöglich!« rief Kantakuzenos ihm zu. »Ich will diese Ernennungen nicht unterzeichnen«. — »Wir brauchen sie aber«. — »Nein, oder ich gebe meine Entlassung«. — »Wie's Ihnen beliebt; ich bin bereit, Ihre Stelle einzunehmen«. — Beide beeilten sich, mit dem aus Wien zurückgekehrten Fürsten Alexander zusammenzutreffen, und Karawelow behielt dessen Vertrauen und gewann die Oberhand. Bekannt ist es, wie jene bulgarischen Hauptleute, deren Ernennung in Frage kam, bei Sliwnitza, am Dragoman-Pass, bei Tzaribrod und bei Pirot gekämpft haben. Dem Fürsten rühmt man nach, dass er während jener verhängnissvollen Wirren eine bewunderungswürdige Haltung an den Tag legte. Er war allein, ohne Stab, und sofort ordnete er von Philippopel aus auf telegraphischem Wege selbst alles Nöthige an. Jeden einzelnen Officier kannte er ganz genau, und man hatte in ihm einen wahren, aus der preussischen Schule hervorgegangenen Soldaten zu bewundern. Auch die Bauern widmeten sich mit schrankenloser Hingebung der Sache ihres Vaterlandes. Die Schuldscheine, welche man ihnen über die gelieferten Pferde und Lebensmittel ausstellte, zerrissen sie; in den armen, nahe am Kriegsschauplatze gelegenen Dörfern wurden die Soldaten unentgeltlich verpflegt, und jeder steuerte hierzu nach seinem Vermögen bei. Ohne innere Erregung, ohne Gesang und Trompetengeschmetter, aber mit dem festen Entschlüsse, ihre Pflicht zu thun, rückten die Milizen an, und die das Geleite gebenden Frauen sahen ihnen mit thränenlosen Augen nach. Alle Beamten aber, deren Besoldung mehr als tausend Franken betrug, — den Fürsten eingeschlossen — opferten die Hälfte ihres Einkommens. Auch von der konservativen Partei verlautet Rühmliches, und im Hinblicke auf das gefährdete Vaterland allen Zwist beiseite schiebend, stützte dieselbe rückhaltslos ihren politischen Gegner Karawelow. Von einigen Staatsmännern wird allerdings berichtet, dass sie sich auch fernerhin zu den Russen hielten, und dass sie sogar eine Kundgebung gegen den Fürsten Alexander in Scene setzen wollten. Derartiges wäre eben so nichtswürdig, dass man's kaum zu glauben vermag. Der Zar hat sich durch seine Haltung eines ungeheueren Irrthumes schuldig gemacht, und seine Bevollmächtigten spielen in Sofia eine ebenso unheilbringende als ungeschickte Rolle — das sind nun einmal nicht wegzuleugnende Thatsachen. Die russischen Sendboten wollen Drahtpuppen nach ihrem Willen beliebig lenken können. Bäumt dann das Land im Bewusstsein der eigenen Würde sich dagegen auf, so sind jene Leute bemüht, alles durcheinander zu wirren, die Minister zu stürzen, den Fürsten kalt zu stellen, und ihre eigene Unenfbehr-lichkeit darzuthun. Doch all solche Machenschaften werden es nur dahin bringen, aus dem Gedächtnisse der Bulgaren die Erinnerung an die russischen Dienste und aus ihrem Herzen jede Spur von Dankbarkeit wegzu-löschen. Russland müsste eine ganz andere Rolle spielen und beschützen und rathen, ohne je zu befehlen oder zu ränkein. Es hat Bulgarien ins Leben gerufen und sollte demselben auch zur Unabhängigkeit verhelfen; warum will es dem Gedeihen des eigenen Kindes hemmend in den Weg treten? Es wandele doch wiederum die Wege, auf denen es sich früher bei den Slawen beliebt gemacht hat. In jedem Falle müsste es in Konstantinopel und im Rathe Europas für die Rajahs sprechen und einfach im Namen der Menschheit und der Wohlfahrt des ganzen Erdtheiles auf ein freies und glückliebes Balkangebiet hinarbeiten. Dann nur kann es seinen Einfluss wiedererlangen, während derselbe sonst in Bulgarien und Macedonien nicht besser als in Serbien und Kroatien gewahrt bleibt. __ Viertes Kapitel. Sofia. — Die wirtschaftlichen Zustände Bulgariens. Zur Römerzeit war Sofia unter dem Namen »Serdica« eine wichtige und bevölkerte Stadt, und der Kaiser Konstantin sagte von ihr, ehe er in Byzanz seinen Wohnsitz aufschlug: »Serdica ist mein Rom«; im Süden, auf dem Wege nach Berkowitza, sind noch die Spuren der alten Stadtmauern anzutreffen. Ihren gegenwärtigen Namen verdankt die Stadt einer byzantinischen Prinzessin Sofie, welche hier die St. Sofien-Kirche erbauen liess. Später wurde dieses Gotteshaus in eine Moschee verwandelt, und heute verkünden noch seine Trümmer, wie gross und bedeutend es einst gewesen ist. Sofia, welches gegenwärtig 20000 Einwohner und 2968 Häuser hat, theilte im Mittelalter mit Tirnowa und Preslaw die Ehre, des Landes Hauptstadt zu sein. Die alten Viertel mit den engen und krummen, zwischen offenen Läden und ärmlichen Holzhäusern sich hinwindenden Strassen haben einen vollkommen türkischen Anstrich, und die einzigen bedeutenden, nicht eben erst entstandenen Baulichkeiten sind acht oder neun Moscheen, von denen eine sehr schön ist, und dann noch eine Badeanstalt, woselbst heisses Wasser in reicher Fülle einem grossen, weissen Marmorbecken zuströmt. Eine Moschee wurde zur Aufnahme einer Druckerei und einer öffentlichen Bibliothek zweckentsprechend umgewandelt. Im östlichen Theile der Stadt befindet sich das neue Viertel. Mehr als 5000 Mohammedaner waren ausgewandert, und ihre verfallenen Häuser wurden angekauft und niedergerissen, so dass ein Netz breiter, geradliniger Strassen Platz finden konnte. Hier steht auch der Palast des Fürsten, ein prachtvoller Bau, welcher, heisst es, mehrere Millionen Franken gekostet hat. Ihm gegenüber erhebt sich, ein Abbild seiner Kollegen in der Wiener Ringstrasse, ein grossartiger, glänzend eingerichteter Gasthof, der ein Speise- und ein Kaffeehaus und Läden umschliesst und mit Vergoldungen und gewaltigen Spiegelscheiben ausgestattet ist. Weiterhin folgen — wahre Paläste — die Konsulate Englands, Russlands, Oesterreichs, Italiens und Deutschlands, ferner ausgedehnte, ganz weisse Gebäude, in denen die Ministerien, die von den Russen gegründete Militärschule und das Officierkasino untergebracht sind. Dann stösst man auf eine ziemlich beträchtliche Anzahl hübscher Landhäuser, die mitten im Garten liegen und nach römischer Art nur ein Erdgeschoss haben, was zwar der Bequemlichkeit sehr gut entspricht, aber auch viel Platz in Anspruch nimmt. In dem Hause des Herrn Queille, woselbst ich wohne, ist die Raumeseintheilung folgende: auf einen im Mittelpunkte befindlichen Vorraum münden rechts das Speise- und das Gesellschaftszimmer und gegenüber das Arbeitskabinett und das Hauptschlafgemach und links drei Wohnzimmer. Hinten, in einem kleinen abgesonderten Bau, liegen Küche und Zubehör. An Kellern fehlt's nicht, wohl aber an einem Bodenräume, denn das bunte, nach russischer Art eingerichtete und mit Blech überkleidete Dach ist sehr niedrig. Der Werth dieses Hauses lässt sich auf etwa 30000 Franken veranschlagen; der Preis des Bodens beträgt für den Meter 14 bis 15 Franken und steigt in der Nähe des grossen Marktplatzes auf 40 bis 50 Franken. Die Steine, welche man zum Aufführen der Gebäude verwendet, kommen aus der Umgegend und verschwinden unter der in geschmackvoller Eigenheit angebrachten Stuckarbeit. Sehr theuer ist das Bauholz, weil man es aus einer Entfernung von vier bis fünf Tagereisen auf Ochsenkarren herbeiholen muss. Ich kenne aber keine Stadt, die so ungünstig liegt wie Sofia. Auf drei Seiten breitet eine unabsehbare nackte Ebene sich aus, und im Süden ragt in scharf abgeschnittenen Linien eine Granitmasse, der Witosch, empor, dessen 2330 Meter über dem Meeresspiegel befindlicher Gipfel einen Theil des Jahres hindurch mit Schnee bedeckt bleibt. Als Ganzes macht diese Erhebung einen grossartigen Eindruck; aber sie ist völlig kahl. Die Bäume sind abgehauen worden, und die Ziegen benagen Alles, so dass nur Gestrüpp sich vorfindet. Doch gegen diese Uebelthäter wird man im Wege des Gesetzes vorgehen, damit Eichen und Buchen endlich wiederum ausschlagen können. Der einzige Spazierweg führt nach Bali-Effendi, woselbst neben einem Bache und einigen Weiden eine gute Gastwirthschaft und Kaffeehäuser sich befinden. Auf dem schattenlosen Wege wirbeln indessen die vorüberfahrenden Wagen so dicke Staubwolken auf, dass man buchstäblich nicht um sich sehen kann. Beim Austritt aus der Stadt weilt man auch sofort in der Steppe. In der Umgegend haben die Türken — wie in Bosnien — die Bäume abgeschnitten, um sich vor Ueber-fällen zu sichern, und beim englischen Konsul stritt man einmal lange darüber, ob bei Sofia noch vier oder bloss drei Bäume zu finden seien. Die Ebene, auf der die bulgarische Hauptstadt sich erhebt, ist zehnmal so gross, aber sehr viel oder und düsterer als die römische Cam-pagna. Die Falten ihres Bodens sollen von weitem gar nicht sichtbare Dörfer bergen, und diese werden, meint man, von Abkömmlingen der besiegten Petschnegen bevölkert, denen die Byzantiner im 11. Jahrhundert hier Wohnsitze anwiesen. Auf dieser 545 Meter über dem Meeresspiegel liegenden Hochfläche jagt im Winter ein eisiger Nordwind erstarrend durch die Glieder, während man im Sommer unter den glühenden Sonnenstrahlen versengen zu müssen glaubt. Die Schwankungen des Thermometers sind ganz ungeheuerlich. Im Januar sinkt dasselbe bis 20 Grad unter und im August steigt es bis 39 Grad über Null, was also einen Unterschied von 59 Grad ergiebt, während die Abweichungen an einem einzigen Tage sehr oft auf 15 bis 16 Grad sich belaufen. Mitunter wird der Boden auch durch Erdstösse erschüttert; 1858 stürzten in einem solchen Falle viele Häuser ein, und heisse Quellen sprudelten hervor. Der schlimmste Uebelstand liegt aber darin, dass es von Sofia aus einer zweitägigen, ermüdenden und unberechenbaren Zufällen ausgesetzten Reise bedarf, um entweder die Donau oder in Tatar-Bazard-schik die Eisenbahn zu erreichen. Manche Abgeordnete müssen fünf bis sechs Tage unterwegs sein, um nach der im äussersten Südwesten des Landes befindlichen Stadt zu gelangen, Tirnowa, welches in einem wundervollen Thale am Abhänge des Balkans liegt und die geschichtliche Hauptstadt ist, müsste eigentlich der Sitz der Regierung sein. Für Sofia entschied man sich zunächst, weil die grosse strategische Linie es durchschneidet und der Eisenbahnweg, welcher Konstantinopel mit dem Abendlande verknüpfen wird. Dereinst soll es aber ja — ein Streben, das in den Vertrag von San Stefano hineinpasst — zur Hauptstadt von Rumelien und Macedonien werden, und von- diesen Bezirken liegt Tirnowa doch weiter ab. Um den Aufenthalt in Sofia angenehmer zu gestalten, müsste man vor allen Dingen die Ebene beholzen und neben der Stadt einen grossen Park — wie den von Topschidere bei Belgrad — anlegen. Das wäre auch mit keinen besonderen Schwie- Laveleye, Balkanländer. II. 7 rigkeiten verknüpft, weil ein bedeutender Theil des Grund und Bodens dem Staate und der Stadt gehört. Bäume würden die trübselige Umgebung freundlicher und anmuthender machen, und das Anpflanzen derselben ist weit dringlicher, als das Aufführen palastartiger Bauten. Da einem kohlenarmen Lande unter heutigen Verhältnissen der Gewerbebetrieb in grossem Umfange verschlossen bleibt, so sind im Hinblicke auf Bulgariens gewerbliche Zukunft die entsprechenden Auslassungen eines Fachmannes von höchster Wichtigkeit. Dieser, der Ingenieur Thonard, welcher seine Fachbildung in Lüttich erhielt, und dem, als oberstem Leiter, die bulgarischen Bergwerke unterstellt wurden, hatte die Liebenswürdigkeit, mir sehr genaue Angaben zu machen, und durch ihn erfuhr ich, dass in verschiedenen Theilen des Landes Kohlen vorkommen. Die Schichten bei Trawna, am Nordabhange des Balkans, dehnen sich ver-muthlich bis nach Grabowo und Elena hin aus, und die am Südabhange, bei Sliwno und im Nordwesten von Kazanlik, gehören wahrscheinlich dem selbigen Becken an; die Erhebung der Balkankette hat eine Scheidung bewirkt. Vor dem letzten Kriege gruben die Türken in den drei Lagern bei Trawna. Die Kohlen sind gut, doch verschlang die Weiterbeförderung zu viel Geld. Bis nach Tirnowa und selbst bis zur Donau nach Sistow wurde dieselbe durch Ochsenkarren und auf dem dritten Theile des Weges — auf einer Strecke von etwa 50 Kilometern — auf dem Rücken von Pferden bewerkstelligt. Man stellte den Betrieb eben ein, weil es in der bisherigen Weise nicht länger fortgehen konnte. Auch bei Trojan und Belagradschik sind Steinkohlenlager gefunden worden, und das 90 Quadratkilometer grosse Becken von Tscherkowa, welches eine sehr gute Braunkohle enthält, liegt nur 28 Kilometer von Sofia — in südwestlicher Richtung — entfernt. Für die Hauptstadt, wo das Holz ungeheuer viel kostet und mit jedem Jahre im Preise steigt, ist dies sehr günstig. Eine Tonne Kohlen kostet dort 24 Franken; aber es werden nicht mehr wie jährlich 16000 Tonnen aus der Tiefe heraufgeholt, weil das Weiterbefördern auf Karren zu theuer ist. Eine kleine schmalspurige Eisenbahn wäre hier sehr am Platze, und Herr Grosew, welcher von der bulgarischen Regierung für 15 Jahre das Betriebsrecht im Becken von Tscherkowa erworben hat, ruft eine solche vielleicht ins Leben. Eisenerz kommt wohl an verschiedenen, aber meistens weglosen Stellen des Balkans vor, die vorläufig eine gewinnbringende Ausnutzung nicht ermöglichen. Am Witosch tritt es in einer ganz besonderen Form auf. Der Syenit nämlich, aus welchem jene Erhebung besteht, ist mit kleinen Theilchen titanenhaltigen Eisens untermengt, und Regen und besonders schmelzender Schnee spülen einen eisenhaltigen Schlamm herab, der in einer dünnen, schwärzlichen Schicht sich absetzt und 60 bis 70 Prozent magnetisches Eisen birgt. Er wird gewaschen und in katalanische Oefen gebracht, und je nachdem der Witosch mehr oder weniger Schnee hat, sind die Ablagerungen, welche man in gleicher Art in Schweden antrifft, mehr oder minder reich. Die Hüttenwerke in Samakow werden von den Fluthen des Iskers getrieben, und das Eisen, welches man hier gewinnt, steht noch über dem schwedischen. Es wird durch die ganze Türkei hin und bis nach Kleinasien verschickt und hauptsächlich zur Anfertigung von Waffen gebraucht. Noch beläuft seine jährliche Verwendung sich auf etwa 2000 Tonnen, welche Zahl aber im Abnehmen begriffen ist, weil das bedeutend billigere englische Eisen den Vorrang gewinnt. Silberhaltige Bleierze sind bei Elena, Küstendil, Trojan und Etropol vorhanden, besonders aber bei Tschiprowitza, woselbst sich noch Spuren von dem Wirken jener sächsischen Bergleute erkennen lassen, die durch türkische Uebergriffe vertrieben wurden. Dem Lande fehlen Wege, und wird dasselbe erst von einem Strassennetze durchzogen, so ist damit auch der Bann gebrochen, welcher es von seinen unterirdischen Schätzen trennt. Lord Edmund Fitz-Maurice hatte mir ein Schreiben des auswärtigen Amtes an Herrn Lascelles, den englischen Gesandten, mitgegeben, und als ich mich bei demselben einfinde, werde ich in sein Arbeitskabinett geführt. Hier hängt eine grosse Karte der Balkanhalbinsel, woselbst mit rothen und sehr deutlichen Linien die durch den Vertrag von San Stefano geschaffenen Umrisse Bulgariens und in blauer und minder sichtbarer Färbung die auf dem Berliner Kongresse festgesetzten Grenzen bezeichnet sind. Während ich nun aufmerksam darauf hinblicke, tritt der Gesandte ein. »Meine Kollegen behaupten«, sagt er, »dass ich diese Karte entfernen müsste, weil in ihr gefährliche, den Umsturz predigende Gedanken sich bergen.« — »Nein«, entgegnete ich, »dieselben sind vielmehr sehr vernünftig, und eine nahe Zukunft wird sie zur Thatsache machen. Doch gestatten Sie mir zugleich den Ausdruck tiefen Bedauerns über das Unheil, welches Ihr Tory-Kabinett durch das Umstossen des Vertrages von San Stefano angerichtet hat.« Alles, was ich hier sehe und höre, lässt mich das durch Lord Beaconsfield auf dem Berliner Kongresse Errungene als ein Verbrechen gegen die Gerechtigkeit und die Menschheit verwünschen. Und doch klatschte England dem Lord bei seiner Rückkehr aus Deutsch- land Beifall zu! Bulgarien zerschnitt er in zwei Fetzen, in das Fürstenthum und in Rumelien, und Macedonien zwängte er wieder unter das türkische Joch. Damit hat er zunächst die christliche Bevölkerung dem geopfert, was seiner, übrigens sehr irrigen Meinung nach der Vortheil Englands erheischte. Aber er machte sich auch einer grossen Unklugheit schuldig; er schuf ja ein Feld, das dem russischen Einflüsse stets offen ist, welchen er doch ausmerzen wollte, und streute dadurch den Samen der Zwietracht und Wirrniss aus. Mit dem Bulgarien von San Stefano hatte Russland die Orientfrage zu einem fast endgiltigen Abschlüsse gebracht, welchem jeder Menschenfreund nur zustimmen konnte. Fast alle Bevölkerungen bulgarischer Zunge waren vereint und befreit und bildeten einen Staat von ungefähr 5 Millionen Einwohnern. Der stellte ein Ganzes dar, welches sich an seiner eigenen Kraft emporzuranken vermochte, und dem seine Vertheidigung und das Durchführen seiner Wünsche und Bestrebungen auch ohne fremde Hilfe gelungen sein würde. Russland hatte eben recht namhafte Erfolge errungen. Es ist der Einwand erhoben worden, dass jenes grosse Bulgarien eine gewisse Anzahl von Dörfern mit gemischter Bevölkerung in sich aufgenommen und so das Griechenthum unterdrückt haben würde. Allein man hat ja trotz dieser Schwierigkeit aus Rumelien einen halb-unabhängigen Staat gemacht, und so kann dieselbe auch keineswegs gegen die Befreiung Macedoniens ins Feld geführt werden, weil die Griechen dort verhältnissmässig nicht zahlreicher sind. In einem Lande mit so verschiedenen Bevölkerungselementen müssen die Grenzen aber durchaus nach der überwiegend vorhandenen Rasse bemessen werden. Was die in der Minderheit Befindlichen anbetrifft, so taste man ihre Sprache und ihre Religion nicht an, und als gleichberechtigten Mitgliedern der Gesammtheit würde ihnen jeder Anlass zur Klage fehlen. Die Zerstückelung Bulgariens hat einen fortwährend dräuenden Vulkan geschaffen. Das zeigte der Sommer des Jahres 1884 mit seinen Massen-Kundgebungen, die eine Vereinigung Ru-meliens mit dem Fürstenthume anstrebten, und die Ereignisse, welche mit der feierlich ausgerufenen Verschmelzung zusammenhängen, lehren es gleichfalls. In Macedonien steht's gegenwärtig schlimmer denn je um die Christen, weil die Türken sich darüber klar sind, dass das Emporkommen der Rajahs nur durch die vollständige Unterdrückung derselben zu vereiteln ist. England hat die beiden vormals dort unterhaltenen Vice-Konsulate aufgehoben. Es will die traurigen Folgen dessen, was Lord Beaconsfield anstiftete, nicht mit ansehen, und so bleiben die Türken bei ihrem Treiben den Blicken Europas entrückt. Doch zum Glücke sprechen die Reisenden, und hier in Sofia, wie in Philippopel hallen die Klagen der Opfer wieder. Aus den englischen »Blaubüchern« schöpfend, hat Saint-Marc Girardin die Leiden der christlichen Bevölkerung türkischer Provinzen geschildert. Damit trug er nicht wenig dazu bei, jenen Unglücklichen das Mitgefühl Europas zu gewinnen, und solche Regungen führten dann schliesslich zur Befreiung Bosniens, Serbiens, Bulgariens und Ru-meliens. Heute müsste man den Rajahs Macedoniens, welche England auf dem Berliner Kongresse fallen liess, in gleicher Weise helfend entgegenkommen. Ihre Lage ist trostlos, und die Unbilden, welche sie von den Ar-nauten und der türkischen Soldateska zu ertragen haben, spotten jeder Beschreibung. Der dem Lord Beaconsfield und dem Lord Salisbury befreundete Marquis von Bath — also ein Tory — hat die Balkanhalbinsel bereist und äussert sich in einem darauf veröffentlichten Buche fol- — ic-3 — gendermaassen: »Macedonien zeigt in diesem Augenblicke, wie's in einem unter türkischem Joche schmachtenden Lande aussieht. Der Regierung fehlt jeder Ein-iluss, oder sie will vielleicht auch von dem, was sie vermag, gar keinen Gebrauch machen. Weder Blut noch Gut steht gesichert da, und Ordnung ist nirgends, Gesetzlosigkeit aber überall zu finden. In den von einer Eisenbahn durchzogenen Gegenden droht die Gefahr, Mördern in die Hände zu gerathen, falls man 200 Schritte vom Bahnhofe sich entfernt, und ausserhalb der Stadt-thore schwebt über dem Leben das Schwert des Da-mokles. Nur unter dem Schutze einer starken Bedeckung wagen die Kaufleute es, eine Reise zu unternehmen, und doch werden sie häufig trotz dieser Begleitung — oder vielleicht auch gerade mit Hilfe derselben — angefallen, ausgeraubt und ermordet. Einen Rajah bringen die albanesischen oder türkischen Beys wohl täglich um. Den Frauen thun dieselben Gewalt an, und die Dörfer werden entweder geplündert oder mit einem schweren Lösegelde belastet. Von den türkischen Behörden ist nun aber einmal kein Schutz zu erlangen, und alle solche Vorgänge spielen sich im Angesichte der befreiten und vor Entrüstung zitternden Bulgaren ab.« (Ueber bulgarische Angelegenheiten, S. 80.) Arthur Evans entwirft nach seiner Reise durch Macedonien von dieser unglücklichen Provinz ein ebenso betrübendes und grell schimmerndes Bild. Die im Morgenlande gewonnenen Eindrücke aufzeichnend, sagt der Marquis Huntly: »Von den Bulgaren habe ich eine hohe Meinung bekommen. Die Bewegung, welche auf eine Vereinigung von Bulgarien und Rumelien hinarbeitet, ist eine ganz naturgemässe, denn die Macht des Sultans wird mit jedem Tage hinfälliger. Gewiss geht der Wunsch der Bulgaren, die einzelnen, von ihrer Rasse bewohnten Theile der europäischen Türkei zu einem Ganzen zu vereinen, in Erfüllung, und nach meinem Denken ist ihnen unter den Völkern Ost-Europas eine tonangebende Rolle vorbehalten.« (Fortnightly Review, i. Dezember 1884.) Auch Elisa Reclus weissagt den Bulgaren eine gute Zukunft. »In den gemischten Lehranstalten Konstantinopels«, schreibt er, »kommen regelmässig die jungen Bulgaren am besten fort und legen damit doch ein beredtes Zeugniss ab für ihres Volkes kraftstrotzende Lebensfülle. Lange ist dasselbe gleichsam aus der Geschichte gestrichen gewesen; doch auf dem betretenen Wege fortschreitend, wird es von neuem einen seiner wTürdigen Platz auf der Weltbühne einnehmen können.« (Nouv. Geogr. univ., B. I, S. 228.) Ueber die in Macedonien begangenen Gewaltthätig-keiten habe ich zu wiederholten Malen in der »Pall Mall Gazette« gesprochen, und hieran anknüpfend, sagt Lord Huntley, dass die Lage dieses unglücklichen Landes eine schreckliche ist. »England und die Mitunterzeichner des Berliner Vertrages«, fügt er hinzu, »haben durchaus die Verpflichtung, dieser Schandwirthschaft den Garaus zu machen. Wir enthielten dem Lande die Selbstständigkeit vor und sind also doch moralisch und rechtlich gezwungen, es gegen Unbilden und Uebergriffe zu schützen.« — Die in Macedonien obwaltenden Verhältnisse müssen durchaus an die Oeffentlichkeit gebracht werden. Man that also sehr vernünftig daran, eine Zeitung — »La Voix de la Macedoine« — ins Leben zu rufen, und hier (in französischer Sprache) über die in Macedonien begangenen Verbrechen zu berichten, welche in englischen Zeitungen Arthur Evans so beherzt ans Licht gezogen hat. Man schickt das Blatt den Vertretern der fremden Mächte zu, und über die öffentliche Meinung wird schliesslich eine solche Entrüstung kommen, dass die türkische Regierung entweder ihrer Verpflichtungen gedenkt, oder dass Europa, wie in den Jahren 1827, 1828 und 1876, sich ins Mittel legt An der Mittagstafel des englischen Gesandten sitzen die meisten der in Sofia anwesenden Diplomaten. Doch man hat das Gefühl, auf einem unterwühlten Boden zu weilen, und ist daher sehr zurückhaltend. Nur als die Frage besprochen wird, auf welche Weise die Fische am besten von der Donau nach Sofia zu schaffen wären, schlagen die Wogen etwas höher an. Nach der Einnahme des Kaffees spielt man Whist, und es herrscht nun tiefes Schweigen. Die lebhafte, muntere und sehr geistreiche Frau Lascelles erzählt mir von den Leiden aus der ersten Zeit ihres hiesigen Aufenthaltes. In den neuen, völlig unwegsamen Strassen verloren die Fussgänger ihre Schuhe, während die Wagen, wie zur Zeit der Frau von Sevigne, im Kothe stecken blieben. Schöne Pflastersteine, welche viel kosteten, hatte man wohl mit grosser Sorgfalt hingelegt; doch als im Frühjahre Tauwetter eintrat, verschlang der aufgeweichte Lehmboden dieselben. Die aus Lom-Palanka — über Berkowitza — kommenden Seefische wurden häufig vergebens erwartet, und Valet *) hätte sich hier somit alle acht Tage tödten können. Aber nun ist das alles anders und besser geworden. In Sofia lebt sich's sehr angenehm, und man kommt recht häufig, fast täglich, zusammen. Ganz besonders zufrieden sind die Jäger und die Schlittschuhläufer, und auf dem Witosch und dem Balkangebirge können die Jagdfreunde nach Herzenslust dem Bären zu Leibe rücken. Mit den Küchenangelegenheiten hat man allerdings noch seine liebe Noth. Am besten sieht's hiermit beim fran- J) Ein berühmter französischer Koch; er tödtete sich (1671), weil er, heisst es, Seefische nicht rechtzeitig zu besorgen vermochte. zösischen Gesandten aus; dessen Köchin — eine Belgierin — weilt aber gegenwärtig zur Kur in Karlsbad, und darüber trauern nun alle Feinschmecker. Ueber die Bulgaren lässt Frau Lascelles sich recht rühmend aus. Sie bezeichnet dieselben als genügsame, rechtschaffene und sehr arbeitstüchtige und anstellige Leute, als rechte Mitglieder eines durchaus kernigen Volkes. Das Brod kostet hier (ein Kilogramm) 20 bis 30 Centimes, das Fleisch 1 Frank bis 1 Frank, 25 Centimes und ein * Hühnchen 60 Centimes bis 1 Frank, 50 Centimes. Ein mit Abbildungen versehenes Werk über Bulgarien liegt zur Hand, und es wird darin geblättert. Kanitz, dessen Verfasser, hat Bulgarien nach allen Richtungen hin durchstreift und seine Eindrücke, sagt man mir, sehr genau und getreu wiedergegeben. Die Herren Guerow, Balabanow, Sarafow und Po-mianow geben mir zu Ehren ein Mittagsessen in Bali-Effendi, woselbst das hübsch gelegene Gasthaus an einen vom Witosch herabkommenden Fluss stösst und von Weiden und Pappeln beschattet wird. Ich wage es hier wiederum — wie schon in Belgrad — für den heimischen Gewerbelleiss das Wort zu ergreifen. Ihn, der dauerhafte, dem Klima und den Landessitten ange-passte Sachen schafft, sollte man zu fördern suchen, statt durch allerlei Begünstigungen, durch Hilfsgelder und Zölle, grossartige Unternehmungen künstlich aufzuziehen, welche doch nur minderwerthige Waaren liefern. Bulgarien muss hauptsächlich mit dem Ackerbau sich beschäftigen. Dies entspricht durchaus der Veranlagung seiner Bewohner, denen nur eine bessere praktische Vorbildung fehlt, damit in ihrem Lande die Wohlhabenheit recht fest Wurzel schlagen kann. Das zu erstrebende Ziel gipfelt ja nicht, wie mancher vielleicht wähnen mag, in einem grossartig betriebenen Ausfuhrhandel, sondern vielmehr darin, dass allen Bedürfnissen der Bevölkerung reichlich genügt wird. Beatinimium agricolae! Unsere Tafel ist mit den vorzüglichen rumelischen Weinen besetzt, und auf das Wohl unserer freien Länder, auf die Zukunft Belgiens und Bulgariens werden die Gläser geleert. Nach den von Sarafow sorgfältig classificirten Aufnahmen aus dem Jahre 1881 hatte Bulgarien damals 349905 Haushaltungen, die in 339870 Häusern untergebracht waren, und die Bevölkerungsziffer wies 1016 730 Männer und nur 975253 Frauen auf. Aus den folgenden Zahlen, welche die Erträge und die Ausfuhr betreffen, kann man sich eine Vorstellung von der Ergiebigkeit des Landes machen. Der Weizen stand mit 800000, der Mais mit 150000, die Gerste mit 375000, der Roggen mit 185000 und der Hafer mit 225000 Tonnen verzeichnet, und das Grossvieh belief sich auf 489115 Stück. Von den verschiedenen Getreidearten wurden — im Mitteljahre — mehr als 200000 Tonnen ausgeführt, und zwar gingen 78684 Tonnen nach den Donauhäfen — Rust-schuk, Sistow, Nikopoli, Rahowa, Lom-Palanka, Widin — während der übrige Theil über Warna ins Schwarze Meer gelangte. Weil es an Eisenbahnen fehlt, müssen die Waaren auf Fuhren weitergeschafft werden. Für je eine Tonne und einen Kilometer zahlt man aber einen bis zwei Franken, und so ist dieses Hinbefördern nach den Hafenplätzen gerade keine vortheilhafte Sache. Hohe Preise erzielt man im Innern jedoch auch nicht. Wein wird besonders in der Umgebung von Warna, Küstendil und Tirnowa gebaut; aber derselbe ist so schlecht bereitet, dass er das Weiterbefördern nicht aushält, und in Marseilles trifft er schon sauer ein. Um nicht im Heere den Christen gehorchen zu müssen, sind sehr viele Moslims ausgewandert, und die Zahl derselben schätzt man auf 200000. Dadurch hat in den Städten die Einwohnerschaft eine bedeutende Verminderung erfahren, und in Widin soll die Bevölkerungsziffer von 30000 auf 13602 gefallen sein. Beklagens-werth sind diese Vorgänge aber keineswegs, und man kann sich vielmehr darüber freuen, von einem Samenkorne der Zwietracht befreit zu sein. Die geringen Preise, welche die Auswandernden bei der Veräusse-rung ihres Besitzes erzielten, haben überdies den Käufern zum Vortheile gereicht. Dass der Wegzug der Moslims das Land nicht sonderlich schädigte, geht schon aus dem Aufschwünge des Handels hervor; im Jahre 1879 bezifferte der Umsatz sich auf 52230654 und 1882 bereits auf 90279000 Franken. Oesterreich nimmt hierbei — wie in Serbien — die erste Stelle ein, und die zweite fällt den Engländern, die dritte den Rumänen zu. Was Frankreich anbetrifft, so stehen die Handelsbeziehungen fast auf dem Nullpunkte, und die Einfuhr französischer Waaren ist 1881 nur mit 3019800 Franken zu verzeichnen gewesen. Die Russen bemühen sich sehr, Bulgarien mit ihren Handelsinteressen zu verflechten, und denken an den Bau einer Eisenbahn, wrelche von den Donaumündungen bis nach Sofia gehen und das Land also quer durchschneiden soll. Im Oktober des Jahres 1882 hat Russland, um die Dampfschifffahrt zwischen Odessa und den Stapelplätzen der Donau zu fördern, dem Fürsten Gagarin 1200000 Rubel als jährlichen Zuschuss bewilligt; doch der Erfolg ist zweifelhaft. Die russische Industrie kann nun einmal nicht siegreich gegen den Westen ankämpfen, und überdies sind die wirthschaftlichen Verhältnisse Russlands und Bulgariens zu gleichartig, als dass ein grosser Austausch möglich wäre. Trotz der aufopfernden, hingebenden Thätigkeit des Herrn Queille, welcher in Frankreich und Algerien bei seiner Wirksamkeit als Finanzbeamter einen reichen Schatz an Erfahrungen aufgespeichert hat, befindet die Umgestaltung des Steuerwesens sich noch weit im Rückstände. Der früher in Naturalien zahlbare Zehnte ist in eine feste Steuer umgewandelt worden, und bei der Regelung derselben richtete man sich nach der Durchschnittssumme, welche die während der letzten drei Jahre erhobene Abgabe aufzuweisen hatte. Doch damit sind die Errungenschaften auch schon sammt und sonders gebucht. Es giebt hier keine Controlleure und Steuereinnehmer, und die Dörfer zahlen dem Staate gemeinsam die Steuer. Der Schulze stellt den Antheil der Einzelnen fest und erhebt die Beträge, ohne ordentlich darüber zu quittiren, woraus natürlich zahllose Ungehörigkeiten sich ergeben müssen. So behauptet man z. B., dass es dem Bezirk Widin gelungen ist, die Hälfte seines steuerpflichtigen Einkommens zu verhehlen. Die Grundsteuer — der türkische Werghi — belegt das unbewegliche Eigenthum mit zwei Fünftel und den Miethwerth desselben mit drei Prozent Die Einkommensteuer beläuft sich auf drei Procent, und es giebt ferner eine Vieh-, eine Tabak- und eine Getränksteuer. Im Jahre 1884 brachten die Steuern 35 Millionen Franken ein, von welcher Summe die Hälfte aus der Grund- und der Viehsteuer sich ergab, während man durch die Zölle fünf und durch die den Tabak belastende Abgabe zwei Millionen erzielte. Was die Ausgaben anbetrifft, so entfallen elf Millionen auf das Kriegsbudget, zwei auf die dem Kriegsminister unterstellte Gendarmerie, 600000 Franken auf die Civilliste des Fürsten und 300000 auf die Kammer. Den Mitgliedern derselben werden die Reisekosten ersetzt, und für die Dauer der Sitzungen zahlt man ihnen Wohnungsgelder. Mit dem 16. Theile der Gesammt-Einnahme — also mit mehr als zwei Mil- lionen — steht das Unterrichtsministerium verzeichnet, was für den Anfang schon etwas bedeutet.*) In einem Bericht an die Volksversammlung weist Herr Queille auf die Mängel hin, welche der gegenwärtigen Art und Weise der Steuereintreibung anhaften. »In jedem Bezirke«, schreibt derselbe, »drehen die Steuerangelegenheiten sich hauptsächlich um den Kreisrath. Der kann Alles machen, und das Herabsetzen und Ausschreiben liegt ganz in seiner Hand. Uebrigens fürchtet er die Steuerzahler, weil dieselben ihn zu wählen haben. Unterschleife vermag er ohne die geringste Schwierigkeit ins Werk zu setzen. Es hindert ihn ja Nichts, mit seinen Gefälligkeiten einen schmählichen Handel zu treiben, und der Kassierer, dem er Rechenschaft schuldet, ist sehr viel mehr als der Schatzmeister sein Mann; er wird in jedem Jahre von neuem gewählt »Was ich vom Kreisrath gesagt habe, gilt in verstärktem Maasse vom Schulzen. Derselbe bildet die erste Sprosse dieser sonderbaren Gliederung, welche durch ihre unklaren Befugnisse alle Missbräuche rechtfertigt. Er empfängt von den Steuerpflichtigen ohne weiteres Geld und quittirt aus dem einfachen Grunde nicht, weil die Höhe seiner Bildungsstufe ihm dies in den meisten Fällen zur Unmöglichkeit macht. Um einen Begriff von seiner Unabhängigkeit und der Art und Weise seines Wirkens zu bekommen, darf man nur daran denken, dass er von den unter ihm Stehenden gewählt und besoldet wird. Doch seine Besoldung erfolgt nicht nach einem feststehenden Satze, sondern nach gegenseitigem Uebereinkommen. »Unter solchen Umständen müssen die Rückstände und die nicht eingetriebenen Steuern zu Bergen anwach- l) Anhang, »Bulgariens Einnahmen und Ausgaben im Jahre 1884«. sen. Doch wen soll man fassen, die Präfekten, die Rathsherren oder die Schulzen? Der Minister hat eben kein Mittel in Händen, um Ordnung in diese Einkassierungen zu bringen, und die Wirrnisse können also ungestört fortwuchern. Ohne Zögern müsste man daran gehen, von der Central-Regierung abhängige und derselben verantwortliche Steuereinnehmer anzustellen.« Die Anschläge für den Staatshaushalt werden nie rechtzeitig gemacht, und daraus müssen natürlich doch auch zahl- und schrankenlose Missbräuche hervorwachsen. Herr Queille räth Folgendes: i) man trenne in jedem Ministerium die ständigen von den ausserordentlichen Ausgaben; 2) man stelle in jeder von diesen beiden Haupt-Abtheilungen so viele Rubriken auf, als es bestimmte Zweige giebt; 3) man bringe in jede Rubrik nur die auf den gleichen Gegenstand bezüglichen Dinge; 4) man trenne bei jedem Zweige die Ausgaben für das Personal von denen für sachliche Erfordernisse ab. Doch der vielerfahrene Mann hat Sofia verlassen, ohne Etwas ausrichten zu können, und es lohnt sich wahrlich nicht der Mühe, vom Auslande einen Rathgeber zu erbitten. Diese abscheuliche Art und Weise der Steuereintreibung rührt von den Türken her und ist auch in Rumelien und Serbien im Gebrauche. König Milan bezeichnete es als etwas Vortreffliches, dass man beim Einziehen der indirekten Steuern keines Beamten bedürfe. Einen dunklen Punkt am finanziellen Horizonte Bulgariens bildet eine Klausel des Berliner Vertrages, welche sich auf die Bahnstrecke Rustschuk-Warna bezieht. Dem Westen kommt diese Linie im Hinblicke auf die Verbindung mit der türkischen Hauptstadt wohl sehr gelegen, doch den Bulgaren schafft sie nicht den mindesten Nutzen; sie soll 50 Millionen kosten und ist noch nicht 20 werth. Von dem Augenblicke an, wo die Strecke Belgrad-Sofia-Sa- rambey in den Verkehr tritt, ist sie ausserdem ja völlig überflüssig, und man wundert sich über die Unterstützung, welche England solch unbilligen Forderungen angedeihen liess. Bulgarien hat, wie Serbien, Griechenland, Rumänien und Finnland, das französische Münzsystem angenommen, nennt das Frankstück aber »Lew«, was Löwe bedeutet. Die alten bulgarischen Münzen trugen einen Löwen, woraus der Gebrauch sich erklärt, in Rumänien mit dem türkischen Worte »Aslandi« — von »Aslan«, Löwe — und mit dem rumänischen Worte »Leu« die Münzeinheit, die Franken, zu bezeichnen. Die Landesbank, welche der belgischen nachgebildet wurde, hat nicht das Recht, Banknoten auszugeben, aber sie discontirt und giebt unter gewissen Bedingungen auch Vorschüsse. Der ehemalige rumelische Finanzminister Gueschow, einer von den ausgezeichnetsten Männern seines Volkes, steht an der Spitze dieser Bank. Aus seinen Mittheilungen ersehe ich aber, dass vorläufig noch nicht viele Geschäfte abgeschlossen werden, und zwar aus Mangel an »Discontirbarem«. In der mir vorliegenden Bilanz vom 31. Mai 1885 schliessen Activa und Passiva mit 11371857 Franken ab. Das Kapital besteht aus zwei Millionen Franken, welche der Staat eingezahlt hat, und aus 1493991 Franken an Reserven. Der Rein-Gewinn aus dem Jahre 1884 beträgt 604000 Franken, und der Zinsfuss beläuft sich für gewöhnlich auf acht Procent. Die Rechnungskammer ist in ihrer Thätigkeit darauf beschränkt, die geleisteten Zahlungen zu verzeichnen. Um jedoch Veruntreuungen und Unterschleife wie die in neuerer Zeit vorgekommenen fernerhin unmöglich zu machen, wäre es nöthig, dieselbe völlig unabhängig zu stellen. Sie müsste aus unabsetzbaren Mitgliedern bestehen und die Befugniss haben, alle Anweisungen einer vorgängigen Prüfung zu unterziehen; keine dieser Rechnungen dürfte ohne ihren Zustimmungsvermerk, für den sie verantwortlich wäre, berichtigt werden. Derartige Umgestaltungen scheinen mir von höchster Dringlichkeit zu sein, und die Nothwendigkeit einer solchen Beaufsichtigung geht schon aus dem Ergebniss der Untersuchungen hervor, welche die Kammer 1885 über die unter dem Ministerium des Staatsstreiches vorgekommenen Missbräuche anstellen liess. Da zeigt sich's, dass 2553556 Franken zum Bau und zur Ausstattung des Palastes nicht genügten, und dass ohne Genehmigung der Kammer und auf einen blossen Erlass des Fürsten hin 200000 Franken mehr ausgegeben wurden. Zu Besoldungszuschüssen und um die Reisekosten des Fürsten zu bestreiten, entnahm man der Schatzkammer oder der Landesbank 200000 Franken, und zwar gleichfalls, ohne die Zustimmung der Kammer vorher oder nachher einzuholen. Derartiges widersprach aber selbst unter dem Staatsstreiche der Verfassung. Die socialen Verhältnisse sind in Bulgarien — gleich denen in Serbien — so günstig, als man sie überhaupt wünschen kann. Hier giebt's keine grossen Begüterungen, keinen Adel, keinen Klassenhass, und fast überall besitzen die Bauern den von ihnen bewirthschafteten Boden, welcher ihren Bedürfnissen genügt. Einen Pachtkontrakt kennt man nicht. Im Südwesten des Fürstenthums, am Rhodopus und nach Küstendil hin, hatte die türkische Lehnsherrschaft Bestand behalten, und die Dorfländereien gehörten den Beys. Zum Beiramfeste lieferten die Bauern denselben Getreide, Butter, Käse und Holz, und ausserdem waren sie verpflichtet, auf den Pachtgütern die Bestellungsarbeiten auszuführen. Beim Tode des Familienvaters hatte der Bey das Recht, gewisse Lieferungen in Naturalien zu beanspruchen — eine Erbschaftssteuer, Laveleye, Balkanländer. II. " wie sie während des Mittelalters im Abendlande ganz allgemein üblich war. Solche Zustände schreiben sich aber, heisst es, erst aus dem Anfange dieses Jahrhunderts her. Damals rückten die türkischen Beys aus den Bezirken von Wranja und Küstendil gegen die Serben und Kara-Georg ins Feld, und ihre Furcht, vertrieben zu werden, bekamen die Rajahs zu fühlen, welche nun zu blossen Fronbauern herabsanken. In einigen Bezirken kommt die Pachtwirthschaft also zwar vor; doch man begegnet ihr nur noch selten, weil die türkischen Beys in grosser Anzahl ausgewandert sind und ihren Besitz billig an die Bauern verkauft haben. Im Hinblicke auf den Ackerbau hat sich seit dem Jahre 1842 wohl kaum etwas geändert. Damals bereiste Blanqui Bulgarien, und dessen Aufzeichnungen malen m scharfen Umrissen die Schwelle einer neuen Zeit. »Bulgarien«, heisst's in den interessanten Blättern, an denen sich späterhin das inzwischen Erreichte und Errungene abmessen lässt, »bietet seinen Bewohnern die besten Stützen für ein gesichertes Bestehen — einen reichen Boden, ein mildes Klima, bestellbare Ebenen, bewaldete Berge, zahlreiche, einen fast unbeschränkten Zuwachs versprechende Viehheerden und an der Grenze einen grossen Fluss. Von allen rühmlichen Eigenschaften des Volkes treten ganz besonders dessen Sinn und Geschick für den Ackerbau in den Vordergrund. Das Gewerbe nimmt erst die zweite Stelle ein, und der Handel bewegt sich in äusserst bescheidenen Grenzen, weil eben Wege fehlen und man weitab von den grossen Markt- und Handelsplätzen wohnt. »Der Mais ist das Hauptgetreide der Türkei und besonders Bulgariens. Die anderen Getreidearten kommen erst hernach, und ihr Anbau hat nur eine geringe Ausdehnung. Gedüngt wird der Boden noch nicht; es geschieht dies mitunter bloss zufällig und ist alsdann dem Verweilen der Rinder, Schafe und Pferde zu danken. Den Rasen brennt man wohl, aber meistens ohne Umsicht und leider nur zu häufig zum Schaden der Wälder. Von einer künstlichen Bewässerung lassen die Bulgaren sich nichts träumen; sie verstehen es indessen vortrefflich, selbst die geringste Wasserader auszunutzen. Auf den bebauten Feldern nisten Disteln, Farnkräuter und Königskerzen bisweilen unausrottbar fest sich ein und mindern so die Erträge recht fühlbar. Mergel ist wohl im Ueberflusse vorhanden; doch es denkt niemand daran, durch ihn auf den an vielen Stellen leichten Boden einzuwirken, dessen Werth hiermit bedeutend steigen würde. Die Leute meinen vielleicht, dass es nicht nöthig wäre, sich mit gelehrten Geschichten abzugeben, da das fruchtbare Land zum weitaus grössten Theile brach daliegt oder bloss als Weideplatz benutzt wird. Man darf nur die Bulgaren beim Einernten beobachten, um zu wissen, wie wenig ihnen an dem Stroh gelegen ist. Sie halten es gar nicht der Mühe werth, die Maisstengel einzusammeln, und dieselben bleiben, verfaulend oder vertrocknend, am Boden liegen. Der Mais ist übrigens die einzige Pflanze, welche man sorgfältig behandelt, und alle anderen Gewächse, Reis und Tabak ausgenommen, bleiben der Fürsorge des Himmels überlassen. »Die Rebe wird besonders zwischen dem Balkan und der Donau und auf den südlichen Ebenen angebaut. Allein der Wein ist schlecht bereitet, schal, dickflüssig, wenig zum Halten geeignet, sehr dunkelfarbig und, falls er altern konnte, gelb. Früher wurde er, worauf Anzeichen fast in allen Dörfern hindeuten, in weit grösserem Umfange gezogen. Aber mit jedem Jahre nimmt dieser Anbau ab, und daran ist ein entsetzliches Plün- 8* — iiö — derungssystem schuld. Der Rajah kann ja gar nicht auf den Ertrag der Lese rechnen, weil jeder sich in seinem Weinberge wie an einer offenen Tafel erquickt. Mehr und mehr wird die Traube zu einem Ziergewächs, welches in den Gärten Schutz vor türkischer Raubgier sucht. »Die Bulgaren haben Obstbäume sehr gerne, von denen jedoch nur wenige Arten bei ihnen vertreten sind. Die Pflaumenbäume mit den bläulichen Früchten trifft man am häufigsten an und begegnet ihnen in der Nähe jedes Dorfes; benutzt werden diese Früchte zum Einmachen, zur Bereitung wohlschmeckender Sorbetarten und eines besonderen, auf dem Wege der Gärung erhaltenen Liqueurs. Diese Bäume sind auch die einzigen, welche ich schachbrettförmig oder überhaupt regelmässig angepflanzt getroffen habe. Man zählt sie nach Tausenden, und aus ihrer blossen Anwesenheit ist auf das Vorhandensein von Dörfern zu schliessen, welche gewöhnlich weitab vom Wege und in den Gehölzen versteckt liegen. Kirschbäume kommen nicht gerade selten vor; doch sie sind klein und tragen sauere und wilde Früchte. Die Pfirsichbäume bedürfen keines Spaliers, sondern wachsen ganz frei, und Nuss-, Aepfel-und Birnenbäume zieren die Gärten. Mandel-, Quitten-und Aprikosenbäume sind in reicher Fülle vorhanden, und zwar nimmt ihre Zahl besonders in dem Maasse zu, als das Marmara-Meer und Konstantinopel näher rücken. Der Maulbeerbaum gedeiht vorzüglich und hat mitunter ein ganz ausserordentlich gewaltiges Geäst, das einen sehr grossen Raum beschattet; so giebt's in Sofia einen, von welchem ein Kreuzweg vollständig überdeckt wird. »Es liegt auf der Hand, dass der Gartenbau in einem Lande, welches selbst von dem Vorhandensein unserer so schönen und so mannigfaltigen Obstsorten nichts zu wissen scheint, nur einen beschränkten Umfang haben kann. Auch sah ich wenig Gemüse, sowohl auf den Märkten, wie in den Gärten Bulgariens. Die Kartoffel kennt man hier wohl kaum, und während meiner ganzen Reise gelang es mir nicht, irgendwo eine vorgesetzt zu erhalten. Unter den mehlhaltigen und nahrhaften Pflanzen stehen die überall vorkommenden Bohnen obenan, denen im Morgenlande ungefähr die Rolle zufällt, welche die Kartoffeln im Abendlande spielen. Um ihretwillen sorgt man auch eifrig für die Bewässerung. Kürbisse, Melonen, Gurken, einige Kohlarten, Zwiebeln, Salat und als Zuthat Knoblauch, Tomaten, — damit ist das Verzeichniss dessen, was türkische und bulgarische Gärten zu bieten vermögen, auch bereits erschöpft; übrigens sind die Bulgaren die Gärtner der Türken. Artischocken, Erbsen, Linsen, Rüben, Spargel, Bocksbart, Mangold wird man vergebens suchen und höchstens in Konstantinopel antreffen, aber mehr wie eine naturgeschichtliche Seltenheit denn als Gemüsepflanzen. »Die Zukunft hat dem Lande durch den Anbau gewisser Pflanzen eine schöne Einnahmequelle vorbehalten; ich möchte dieselben Nutzpflanzen nennen und zähle zu ihnen Reis, Flachs, Tabak, Krapp, Sesam, Baumwolle und Rosen. In der Gegend von Eski-Zagra und Kazanlik zeigen sich diese lieblichen, regelrecht angelegten Rosenfelder, auf denen junge und schöne Mädchen umsichtig walten und schaffen. Während der Zeit, in welcher man sich mit der Bereitung des Rosenöles und des Rosenwassers beschäftigt, sind die Dörfer mit den Blumenblättern der Rose buchstäblich übersät, und die Pferde gehen wie auf einer wohlriechenden Streu. Das Morgenland bildet den Marktplatz für diese duftende Waare, welcher es nie an Abnehmern fehlt, trotzdem sie ein Gegenstand des Aufwandes und des, vielleicht aller- grossesten, Ueberfhisses ist. Der Tabak, ein weiterer Luxusartikel, wirft gleichfalls recht bedeutende Summen ab und gedeiht besonders in den niedrigen und fruchtbaren Bezirken. Zugeben muss ich, dass der türkische Tabak weit über allen anderen Arten steht wegen seines milden und fast angenehmen Duftes, welcher mit dem in Frankreich, Belgien und Deutschland verbrauchten Blatte nichts gemein hat. »Die landwirthschaftlichen Erfolge Bulgariens würden besonders durch die Züchtung des schon zahlreich vorhandenen Viehes eine Steigerung erfahren. Rinder, hauptsächlich aber Schafe und leider auch Ziegen besitzt das Land in beträchtlichen Schaaren; doch die erzielten Preise sind keine hohen, und für ein Schaf oder zwei Ziegen zahlt man fünf und für ein Paar Arbeitsochsen noch nicht einmal 80 Franken. Geflügel — in erster Reihe Haus- und Truthühner — hat Bulgarien in so reicher Fülle, dass die Thiere pro Stück für 25 bis 50 Centimes abgegeben werden und die Kosten für das Hinschaffen nach Konstantinopel einbringen. Nach dort lässt man sie von zwei berittenen Männern treiben, und zwar in Schaaren von 1500 bis 1800 Stück. Herrschen in Bulgarien dereinst geordnete, Geld und Blut sicherstellende Zustände, so werden die ungeheueren, heute nutzlos daliegenden Bereiche, auf denen theilweise die Ziegen verwüstend hausen, der Bebauung anheimfallen und dann die drei-, vielleicht auch die fünffache Zahl der jetzigen Bevölkerung ernähren können.« Früher lebten die Bauern in Familiengemeinden oder Zadrugas bei einander. Doch das Bewusstsein des eigenen Ichs durchhaucht das gegenwärtige Zeitalter und untergräbt jene Vereinigungen vollständig. In den Ortschaften nördlich vom Balkan hat Kanitz indessen noch viele Zadrugas gefunden, und über eine im Dorfe Suschindol gelegene Hausgemeinde, welche ihm gastliche Aufnahme gewährte, lässt er sich folgendermaassen aus: »Die Familie umfasste vier Geschlechter, und die zur Wittwe gewordene Schwiegertochter war mit ihren sechs Kindern in der Gemeinschaft geblieben. Liebenswürdige, auf die Schwiegermütter gemünzte Worte hat man bekanntlich überall in Bereitschaft, von Australien bis nach England hin. Doch bei den Süd-Slawen finden dieselben keinen Widerhall, und die Bulgaren stimmen nicht ein in das albanesische Sprichwort: »Die Schwiegermutter im Hause gleicht einem Mantel im Dornenbusche.« Der Stareschina schlichtet alle Streitigkeiten und führt auf der gemeinschaftlichen Meierei, welche gewöhnlich einen grossen Flächenraum einnimmt, ein strammes Regiment. Die meines Wirthes zu Suschindal umfasste vier Wohnhäuser, zahlreiche Kornböden, umfriedigte Plätze für das Vieh und kleine Ställe. Die Einzel-Wohnungen liegen neben dem gemeinsamen Hause, und dieses besteht gewöhnlich aus einem Erdgeschosse, unter welchem der Keller sich befindet, in dem man die Oel- und Fleisch-vorräthe aufbewahrt. Eine auf einen Vorbau mündende Treppe führt nach dem Wohnräume, zwischen dessen zwei grossen Zimmern der sie beide gemeinsam erwärmende Heerd liegt. Eins von ihnen ist der Fest- und Vereinssaal, und in dem anderen werden die Fremden untergebracht.« Lord Bath berichtet, dass es im Osten Bulgariens Gemeinden giebt, wo — wie im russischen Mir (der Gemeinde) — das als Gesammt - Eigenthum geltende Land zu bestimmten Zeitpunkten von neuem an die Familienhäupter vertheilt wird. Alle Dörfer und sogar Städte haben unveräusserliche Gemeindeweiden und wohl auch Waldungen, und um die Behausungen zieht eine Wiese sich hin, auf der das Vieh umherschweifen kann. Aristarchi Bey spricht hiervon in seinem vortrefflichen Buche über die türkische Gesetzgebung. Vergegenwärtigt man sich die wirthschaftliche Lage dieser Länder, so wird man ohne weiteres an die Verhältnisse erinnert, welche zur Zeit Karls des Grossen überall in Europa zu finden waren und im Innern Indiens auch heute noch zu finden sind. Weil es eben an ordentlichen Verkehrswegen fehlt, muss man am Orte für alles Nöthige sorgen. Jede Familie erntet das zu ihrem Unterhalte Erforderliche und fertigt selbst ihre Kleider, Geräth-schaften und Arbeitswerkzeuge an, so dass von einem Austausche und einer Theilung der Arbeit wenig die Rede sein kann. Auf einer Begüterung, wie sie zur Zeit Karls des Grossen gestaltet war, verwebte man ja auch den selbstgebauten Flachs und die Wolle von den eigenen Schafen und fand hier in kleinem Kreise sein Genügen. Die bulgarischen Frauen schmücken verschiedene Theile ihrer Kleidung mit wundervollen Stickereien. Doch sie arbeiten nur für den eigenen Bedarf, und es hält ungemein schwer, sich etwas von jenen reizenden Sachen zu verschaffen. Was die Völker gedeihen lässt, ist den Bulgaren in höchstem Maasse eigen — ungemein viel Arbeitsvermögen, ausdauerndes Beharren, natürlicher Verstand und sparsames Wirthschaften. Sie sind gute Landwirthe, gute Zimmerleute und gute Maurer und bauen auf der ganzen Balkanhalbinsel und längs der Donau, von Semlin bis nach Bukarest und Braila hin, das in den Städten verbrauchte Gemüse. In jedem Jahre gehen 30000 von ihnen zur Aushilfe bei der Ernte nach Serbien und Rumänien, wo sie auch vielfach als Maurer, Zimmerleute und Tischler thätig sind. Die von den türkischen Soldaten durchzogenen Ebenen haben sämmt-lich einen noch sehr waldursprünglichen wirthschaft- liehen Betrieb. Von einem unförmlichen, mit vier oder sechs Ochsen bespannten Pfluge wird die Erde mehr aufgerissen als bearbeitet, und nach einer zwei- bis dreimaligen Bestellung bleibt sie als ödes, den Vieh-heerden preisgegebenes Brachland liegen. Diese schlechte Bewirthschaftung hat Herr von Biowitz flüchtig und oberflächlich mit angesehen, und darauf gründet sich sein so abfälliges Urtheil über das gesammte Schaffen Bulgariens. Er wusste augenscheinlich nicht, dass in diesem Theile des Landes das ihm so sehr ans Herz gewachsene mohammedanische Element überwiegt. Er hätte — gleich den Herren Kanitz und Queillö — nach den bergigen Bezirken sich begeben sollen und besonders nach den am Fusse des Balkangebirges liegenden Thälern, so würde er, weitab von den Heerstrassen, blühende Flecken, reizende, zwischen Obstbäumen versteckte Dörfer gesehen haben, gut bestellte Felder, Weinberge, Maulbeerbäume und Nutzpflanzen, wie Tabak, Flachs und Hanf. Der zur Arbeit stets bereite Bulgare wird, da er sehr sparsam und gewinnsüchtig ist, auch schon ein Zweites, nämlich das Kapital, zu schaffen wissen. In den meisten Städten findet man Kaufleute, welche ein kleines Vermögen erspart haben und behaglich eingerichtete Häuser bewohnen. Dieselben verstehen sich auf den Handel, knüpfen gerne Verbindungen mit fremden Ländern an und besuchen regelmässig die Handelsplätze des Westens, um dort ihre Einkäufe zu machen. Bei ihren Streifzügen durch Bulgarien haben die Herren Kanitz und Queille zu ihrer grossen Ueberraschung viele werthvolle Bauten und Kunstgegenstände angetroffen — Kirchen, Brücken, öffentliche Gebäude, Holzschnitzereien, Gold- und Silberwaaren, sogar Gemälde. Alle diese Dinge wurden aber von Handwerkern, von ein- fachen, ungebildeten Arbeitern hergestellt, die Baumeister und Künstler sind, ohne es zu wissen. Herr Queille, ein feiner und scharfer Beobachter, hat auch den kernigen Charakter und die Wissbegierde des Bulgaren wohl bemerkt, und er schreibt: »Fehler kleben dem jungen Bulgarien an; doch wer ist ohne Mängel? Ganz vorzüglich verstehen seine Bewohner es aber, sich — langsam, doch stetig — das Wissen anzueignen, nach dem ihre ganze Rasse so sehr verlangt. Sie begreifen nicht schnell, werden aber nie sagen, dass sie etwas verstanden haben, ehe dies wirklich der Fall ist. Das Ungefähre bringt sie in Verwirrung; sie treten fest auf und brauchen einen starken Untergrund. Bezeichnend für die bulgarischen Schulen ist die in den Arbeitssälen herrschende Ordnung. Die Kinder belehren sich gegenseitig, und die vorgerückteren helfen den schwächeren. »Dieses Streben, sich Bildung anzueignen, wird gleichsam von einer unbewussten Triebfeder gelenkt, der die ganze Kraft des Instinktes innewohnt. Ein solcher Naturtrieb lässt doch wohl den Bauern, dessen Geiz ja sprichwörtlich geworden ist, und dessen von den politischen Parteiführern beständig genährtes Sehnen auf das Abschaffen der Steuern hinausläuft, ohne Murren in den Beutel greifen, so bald es sich um die Schule handelt. Das Gleiche geht auch im Inneren des Kindes vor, welches mit der Bedingung, die Schule besuchen zu dürfen, einen Dienst annimmt, und im Wirthshaus-knechte, der am Abende nach seinem ermüdenden Tagewerke bei einem bulgarischen, mitunter sogar bei einem französischen Buche sich überraschen lässt. Ueberhaupt erweckt die geregelte Lebensführung dieser Naturkinder ein Gefühl der Freude. »Am meisten ist der Bulgare aber seines unver- wüstlichen gesunden Menschenverstandes und seiner Selbstbeherrschung wegen zu rühmen. Auch bei seinen Fehlgriffen pflegt er selten über ein gewisses Maass hinauszugehen, während hingegen der Russe, im Guten wie im Schlimmen, in Extremen sich bewegt —. Ich habe hier natürlich den unverfälschten Bulgaren im Sinne; derjenige, welcher zur sogenannten wohlhabenden Klasse gehört, der in den Städten geboren und aufgewachsen ist, gilt schon weniger«. (Johann Erdic — Queille —, »In Bulgarien«, S. 88—90.) Vom Serben unterscheidet der Bulgare sich gewaltig. Jener ist lebhafter, offener, verschwenderischer, beredter, ritterlicher, dichterischer veranlagt, aber weniger arbeitsam und ausdauernd. Der kalte, verschlossene, bedächtige und selbst schweigsame Bulgare geht langsam und sicher seinem Ziele entgegen und wird mehr zum wirth-schaftlichen Fortschritte beitragen. Er gleicht dem Cze-chen oder Sachsen; der Serbe hingegen erinnert an den Polen und bildet den Förderer des literarischen Lebens. Der sittliche Standpunkt wird mir als ein sehr hoher bezeichnet. Selten vergeht ein junges Mädchen sich und seltener noch eine Frau, und die Kaffeehäuser mit den Concerten und willfährigen Schönen konnten nicht Wurzel schlagen. Midhat Pascha liess dieselben als Sprösslinge abendländischer Gesittung in den Städten an der Donau eröffnen; doch sie vermochten hier ebenso wenig wie in Sofia sich einzubürgern. Während des Tages sind die Männer beschäftigt, und den Abend verbringen sie gerne im Kreise ihrer Familie. Die Bulgaren erweisen sich als eine kernige, kraftvolle, schaffensfreudige und sittenstrenge Rasse und als vortreffliche Bausteine zu einem freien und glücklichen Staatswesen. Die meisten Reisenden, selbst die Engländer rühmen dieses Volk; so Lord Bath, Marquis Huntly, Georg Campbell, der einstige Unterrichtsminister Forster und — ein gewiss unverdächtiger Zeuge — Lord Stralford von Red-cliffe, dessen Schriften von seiner Frau gesammelt worden sind. Auf meiner Fahrt nach dem Witosch kam ich an dem Exercierplatze vorbei, woselbst junge Recruten eingeübt wurden. Dieselben trugen einen Anzug aus grauer Leinwand und die volksthümliche Hammelfellmütze, den Kaipak, und der Säbel hing quer über Schulter und Brust. Die Uebungen wurden tadellos - regelrecht ausgeführt und die Befehle in russischer Sprache und von russischen Officieren ertheilt. Ein Hauptmann schildert mir die Bulgaren als vortreffliche, als nüchterne, gehorsame und nicht leicht zu ermüdende Soldaten. Nach der letzten Zählung, deren Ergebnisse in bulgarischer und in französischer Sprache aufgesetzt sind, umfasste das stehende Heer 16625 Mann, während die Gesammt-Bevölkerung auf 1998983 Seelen sich belief. Die Verfassung unterwirft aber jeden Bulgaren der Militärpflicht, und so werden — in dem Maasse als der Staatshaushalt dies gestattet — sich leicht Ersatzmannschaften zusammenbringen lassen. Gegenwärtig würde das Fürstenthum, meint man, im Kriegsfalle 60000 Mann zu den Fahnen einberufen können, wobei die Freiwilligen nicht miteinbegriffen sind. Im russisch-türkischen Kriege haben die neu eingerichteten bulgarischen Legionen den grössten Muth an den Tag gelegt. Bei Eski-Zagra wurden von den 1800 am Kampfe theilnehmenden Freiwilligen 800 getödtet oder verwundet, und bei Schipka hat die bulgarische Legion Depreradowitsch mit bewunderungswürdiger Tapferkeit gefochten. Herr Queille sagt hierüber in den geistvoll und gründlich abgefassten Aufzeichnungen, aus denen ich bereits schöpfte, Folgendes: »Zu Kischinew und Ploesci traten die bulgarischen Freiwilligen während des Zusammenziehens der russischen Heere eilig in den Dienst, und die kaum eingekleideten und ausgerüsteten und noch gar nicht eingeübten Mannschaften überschritten mit den ersten Truppenmassen die Donau und blieben bis Eski-Zagra bei General Gurkos Schaaren. Während der Gefechte am 16. und 31. Juli 1877 haben sie nach der Aussage eines Augenzeugen mit »wahnwitzigem Muthe« gekämpft. »Zu den bekanntesten Begebenheiten des Feldzuges gehören jene Zusammenstösse zwischen den Türken und Russen, wobei es sich um den Besitz des Schipka-Passes handelte. Doch wie viele Abendländer wissen, welch überwiegenden Antheil die bulgarischen Milizen an der Ehre haben, dass jene wichtige Uebergangsstelle, deren Verlust die ernstesten Verwickelungen nach sich gezogen hätte, Suleyman Paschas ganzem Heere gegenüber gehalten wurde? Den Schipka-Pass vertheidigten nur das Orelsche Regiment und die fünf bulgarischen »Drujinas«, in welche die vorangegangenen Kämpfe doch schon Lücken eingerissen hatten. »Drei Tage, vom 21.—23. August (9.—11. August russ. Zeitrechnung) widerstand diese kleine Schaar den Angriffen, welche die 40000 Soldaten Suleymans »ohne Aufhören, ohne Aufschub, ohne Unterbrechungen« ausführten. Als am 23. August sich Abends die vom General Ra-detsky ausgeschickten Verstärkungen zeigten, waren die heldenmüthigen Vertheidiger trotz ihrer zusammengeschmolzenen Zahl, ihrer Uebermüdung, trotz des Mangels an Lebensmitteln und auch an Munition nicht einen Schritt vor dem Feinde zurückgewichen. Suleyman bezweckte ja nichts Geringeres, als die Russen über die Donau zurückzuwerfen, und die Einnahme des Schipka-Passes hätte diese Pläne in bedenklichster Weise geför- — I2Ö — dert. Man wird also die Ausdauer der russisch-bulgarischen Truppe zu schätzen wissen, und die bulgarischen Geschichtsschreiber haben das Recht, am Eingange zu den Gedenkbüchern ihres Vaterlandes Worte unvergänglichen Ruhmes einzuzeichnen«. Nicht die Heereseinrichtung der Grossmächte, welche sie zu Grunde richten würde, sondern die der Schweiz sollten die kleinen Balkanstaaten sich zum Muster nehmen. Man denke an eine gute Artillerie, eine vorzügliche Bewaffnung, einen tüchtigen Stab und an Milizen, die regelmässige und sehr gründliche Uebungen durchzumachen hätten. Eine solche Ordnung der Dinge würde hier sich ebenso gut wie in der Schweiz bewähren, weil der Bauer an den Gebrauch der Waffen und an das Ertragen von Strapazen gewöhnt ist. Die Truppen, deren Siege noch in frischem Andenken leben, bestanden ja zum grossen Theile aus Milizen. Bulgarien dürfte somit wenig verausgaben, um zu einem sehr zahlreichen Heere zu kommen, und die Ortsverhältnisse sind zu einem Ver-theidigungskriege vortrefflich geeignet. Napoleon III. soll die Freiheit bekanntlich als einen Ausfuhrartikel betrachtet haben. Mit noch grösserer Berechtigung lässt sich das aber von den Russen im Hinblicke auf die Verfassung behaupten, welche Bulgarien von ihnen erhielt, und die zu den freiheitlichsten Verfassungen Europas gehört. Sie entspricht ungefähr der belgischen Verfassung, umschliesst das allgemeine Wahlrecht, aber keine zweite Kammer und gewährt die weitgehendsten Freiheiten. Die Bevölkerung hat das Recht, Vereine zu bilden und sich ohne Waffen zu versammeln, und die Presse steht frei, ohne Caution und Censur, da. Die Gerichtshöfe allein fällen ein Strafurtheil, selbst in Pressangelegenheiten, und urtheilen über Civilsachen ab, und Confiscatiofien finden nicht mehr statt. Das Brief- geheimniss ist unverletzlich und der Unterricht obligatorisch und unentgeltlich. Ueber jedes Gesetz und jede Steuer muss aber die Volksversammlung abstimmen. Die Mitglieder derselben werden durch direkte Wahlen berufen. Ihr Mandat gilt für drei Jahre, und auf je 10 ooo Einwohner kommt ein Abgeordneter. Jeder 20jährige Bürger kann wählen und jeder 30jährige, falls er des Lesens und Schreibens kundig ist, gewählt werden. Die Volksversammlung hat das Recht, Gesetzentwürfe einzubringen und Abänderungsvorschläge zu machen, und die Rechnung für den Staatshaushalt muss in jedem Jahre vorgelegt und genehmigt werden. Die Sitzungszeit reicht für gewöhnlich vom 15. October bis zum 15. December, kann aber mit Genehmigung des Fürsten und der Versammlung verlängert werden. Handelt es sich darum, an der Verfassung etwas zu ändern, so muss die grosse Volksversammlung einberufen werden. Diese umfasst doppelt so viele Abgeordnete, und der eingebrachte Vorschlag geht nur durch, falls zwei Drittel der anwesenden Mitglieder für ihn stimmen. Der Fürst, als Haupt eines verfassungsmässig regierten Staates, muss sich mit verantwortlichen Ministern umgeben. Er ernennt und entlässt dieselben, und sie haben das Recht und die Pflicht, den Sitzungen der Volksversammlung beizuwohnen. Was bewog Russland nun dazu, 1879 in Tirnowa jene Verfassung ins Leben treten zu lassen? Dieselbe gewährt ja den Bulgaren so viele Rechte, von denen die Russen kein einziges besitzen, und es ist dies für die Letzteren sicherlich nicht schmeichelhaft. Man kann darin den Beweis grosser Uneigennützigkeit erblicken, denn Bulgarien dürfte doch wohl schwerlich geneigt sein, seine Freiheiten gegen die Regierungsform des russischen Reiches umzutauschen. Böse Zungen behaupten aller- dings, dass die Russen dem neuen Fürstenthume beim Abschiede eine Pandora - Büchse zurücklassen wollten, aus der des Uebels viel, sehr viel entschlüpfen sollte. Dann würde man sie bitten, wiederzukommen, und ihnen so die Möglichkeit geben, sich als rettende Engel aufzuspielen. Das wäre ja beinahe auch geschehen, und es fragt sich, an wem die Schuld lag, ob an der Verfassung oder am Fürsten oder an seinen Unterthanen? Im Widerspruche mit der allgemein geäusserten Ansicht mache ich der bulgarischen Verfassung nicht den Vorwurf, dass sie zu demokratisch ist, sondern dass sie es im Gegen-theile nicht genügend ist. Man müsste bis zum »Kommunalismus« gehen, d. h. bis zu jener Ordnung der Dinge, welche in den puritanischen Colonien Neu-Englands vor der Revolution des Jahres 1780 herrschte, und gleichzeitig den Missbräuchen des parlamentarischen Treibens allerschleunigst ein Ende machen. Der aus selbstständigen Gemeinwesen gebildete Staat und eine Volksvertretung, welche nicht direct, sondern durch die nach Wahlbezirken gruppirten Gemeinden gewählt wurde, — das hätte des Pudels Kern zu sein. Auf dem Wege der Volksabstimmung, welche seit den ältesten Zeiten im Gebrauche ist, vermögen die Bulgaren ihre örtlichen Angelegenheiten vortrefflich zu ordnen. Mit einer Abstimmung über ihnen bekannte und sie nahe berührende Dinge kommen sie ohne weiteres zurecht. Bei den Wahlen sehen sie sich aber zwei oder drei Parteien gegenüber, die einander den Rang ablaufen wTollen, und zwischen denen eine Grenzlinie oft sehr schwer zu ziehen ist. Dann wissen sie sich nicht mehr zurechtzufinden und folgen den Weisungen des Fürsten, des Ministeriums, des Popen oder beliebiger anderer Persönlichkeiten. Ueberdies gehen sie nur un-gerne zur Wahlurne, weil die Arbeit damit einen Tag verliert, und in dem Queilleschen Buche findet man die Vorgänge geschildert, welche zu Küstendil bei einer — solch freien Wahl sich abgespielt haben. Ich will nicht sagen, dass man das allgemeine Wahlrecht streichen soll; aber es dürfte nur da ausgeübt werden, wo dies mit Sachkenntniss geschehen könnte. Die Parteien ringen um den Ministersessel und die Stellen, und bei diesen Kämpfen spielen immer die verschiedenartigsten Einflüsse fremder Mächte eine Rolle. Darin steckt aber die sehr gefahrdrohende Klippe, an welcher das Rechtsbewusst-sein der leitenden Kreise zerschellen könnte. Man sollte sich die Wahlordnung zum Muster nehmen, welche früher in einigen Kantonen der Schweiz im Gebrauche war und es in Frankreich bei den Wahlen zum Senate auch heute noch ist. Die bezirksweise geordneten Gemeindevorsteher hätten den Abgeordneten zu wählen, und sie würden sich über die geeignete Persönlichkeit schon klar werden können. Wo es sich um die Ernennung von Magistratsbeamten handelt, gelangt das allgemeine Wahlrecht ja in gleicher Weise zur Anwendung. Hinsichtlich der einander ablösenden Ministerien steht Bulgarien mit seiner allzu reichen Fülle noch über Frankreich und Italien, und unter solchen Umständen kann die Regierungsmaschinerie unmöglich geordnet-regelmässig im Gange bleiben. Herr Queille hat sehr ausführlich begründete, die Finanzverwaltung betreffende Vorschläge aufgesetzt, und Herr Thonard dies in Bezug auf das Minenwesen gethan. Die Arbeiten wurden auch gedruckt und der Kammer vorgelegt, womit sie ihre Rolle dann aber vollständig ausgespielt hatten. Doch wie kann's überhaupt anders sein? »Verdammte Politik!« sagte einer von den Gesandten zu mir. »Bulgarien muss ja Sehnen von Stahl und Eisen haben, um das aushalten zu können«. In Amerika ertönt bei den Wahlenkämpfen Lareleye, Balkanländcr. II. 9 das Feldgeschrei »Den Siegern die Beute«, d. h. die Stellen, und es kann vor einem solchen Unwesen gar nicht genug gewarnt werden. Mit der Stellung der Beamten muss man's wie in Deutschland halten. Dadurch werden dieselben unabhängig gemacht, während die politischen Kämpfe an Schärfe verlieren und die Zahl der Stellenbewerber sich mindert. Ohne jene Sicherstellung züchtet man förmliche Heere von Unzufriedenen und von Strebern, die, gleich den Söldnerhauptleuten des Mittelalters, um zwei oder drei Anführer sich schaaren und um die Macht mit einander streiten. Wie will man es dann aber fertig bringen, all diese Wünsche und Begierden zu befriedigen? Die »Stellenjäger«, heisst's, sind eine von den Plagen Griechenlands. In Spanien spielen nach jener Richtung hin sich folgende Vorgänge ab: »Das Ministerium des Innern um-fasst ungefähr 1500 Beamte, von denen beim Einzüge eines neuen Ministers mindestens 900 ihre Stelle verlieren. Diese beziehen so lange kein Gehalt, bis ihre Beschützer wiederkommen, und der Stellenwechsel beginnt alsdann von neuem. In den anderen Ministerien geht's aber ebenso zu. Dieses Mal handelt es sich darum, die verschiedenen Gruppen der Liberalen zu befriedigen, von denen jede einen umfangreichen Stab hat. Die Zahl derjenigen, welche alte Parteigenossen zu sein behaupten und demgemäss Ansprüche erheben, spottet jeder Beschreibung«. (Independance beige, 5. Dezember 1885.) Bulgariens demokratische Verfassung wird schliesslich ihr Werk regelmässig thun, doch unter zwei Bedingungen. Zunächst müsste der Fürst darauf verzichten, persönlich regieren zu wollen, und er hätte die ihm von der Mehrheit bezeichneten Minister zu berufen. Dann wäre die Selbstständigkeit der Gemeinden zu wahren und dabei zu bedenken, dass eine verschärft durchge- führte Centrahsation dem Parlamente das Leben nur unnöthig sauer macht. Als König Leopold nach Belgien kam, glaubte er auch, dass die Verfassung vom Jahre 1830 der ausübenden Gewalt zu wenig Machtvollkommenheit verleihe, und dass mit ihr deshalb überhaupt nicht zu regieren sei. Sein Freund Stockmar rieth ihm, einen Versuch zu machen, und für das Gelingen desselben legt ein halbes Jahrhundert Zeugniss ab. In Bulgarien wird's ebenso gehen; doch man möge sich hier hüten vor der Stellenjägerei und den Missbräuchen des parlamentarischen Lebens, jenen zwei Uebeln, an denen besonders ein anderes freies Land der Balkanhalbinsel, nämlich Griechenland krankt. Die Volksversammlung, die Narodro-Sobranje, hat in ihrer Mitte viele »Hammelfelle«, d. h. Bauern, welche» von der Landestracht nicht lassend, in einer mit Pelz verbrämten Jacke umhergehen. Ihr Anzug sticht gewaltig ab von jener Eleganz, wie sie an fürstlichen Tafeln und auf Hofbällen zu finden ist. Sie sind überdies sehr sparsam und stehen dem Auslande — nicht mit Unrecht — äusserst misstrauisch gegenüber. Was Luxus-Ausgaben anbetrifft, so werden sie nicht leicht Gelder bewilligen. Doch eine ausgezeichnete Stütze findet an ihnen jede Regierung, welche die alten Gebräuche des Landes, seine hundertjährigen Einrichtungen wahrt und nicht die beklagenswerthe Gewohnheit des Westens annimmt, zu viel auszugeben und das Deficit durch wiederholte Anleihen zu decken. Ich kann es nicht unterlassen, des Strikes der Popen zu gedenken, welcher zu seiner Zeit in Bulgarien grossen Lärm geschlagen hat. Ein Kampf zwischen dem Staat und der Kirche, wie er bei römisch-katholischen Völkern geführt wird, kommt in griechisch-katholischen Ländern gar nicht in Frage. Dort fällt es niemandem ein, der weltlichen Macht nicht die erste Stelle einräumen zu wollen, und die Lebensführung der griechisch-katholischen Geistlichen ist überdies auch keine abgesonderte. Die bulgarischen Priester haben stets von den freiwilligen Gaben ihrer Getreuen gelebt; sie werden von denselben ernannt und können auch von ihnen abgesetzt werden, und die geistliche Weihe erhalten sie durch den Bischof. So ging's, ehe Rom mit seinen Anmaassungen hervortrat, in allen christlichen Gemeinden zu, und hierüber hat Bordas-Demoulin ein treffliches Buch geschrieben. Die Städte und Dörfer sind in Pfarrämter eingetheilt, von denen jedes einem Popen unterstellt ist und mindestens 150 Häuser oder Familien umschliesst. In den Städten erhalten die Popen die bei Taufen, Trauungen, Beerdigungen, ferner die für das Weihwasser u. s. w. zu entrichtenden Gebühren, und zwei Mal im Jahre besucht der Pope jede Familie seines Bezirkes, um ihr Weihwasser zu bringen. Zwei oder drei Kirchendiener begleiten ihn, und in den Säcken, welche dieselben mit sich führen, werden die aus Naturalien bestehenden Gaben — Wolle, Mehl, Früchte, Eingemachtes, Wachskerzen und andere Verbrauchsgegenstände — aufgespeichert. Ein Mal im Jahre findet eine Feier zum Gedächtnisse der Todten statt, wobei für jede Seele 5 Centimes eingehen. Die Dorfpopen bekommen ausserdem den Zehnten der Erträge, und viele von ihnen bebauen ihr Feld. Unwissend ist die Geistlichkeit aber in hohem Grade, und die Bezeichnung »Popenschrift« bedeutet so viel wie »schlechte Schrift«. Die Nothwendigkeit, dass die Geistlichen eine bessere Vorbildung erhalten müssen, erkennen alle Parteien an. Seminare sind auch bereits in Tirnowa und Samakow gegründet worden; doch über die Erfolge kann man eben noch kein Urtheil haben. Die freisinnige Partei — und ganz besonders Kara- welow — dachte durchaus nicht daran, der Kirche den Krieg zu erklären; denn hier gilt ja keineswegs Gam-bettas berühmtes Wort: »Der Priester ist der Feind«. Aber zur Zeit des Staatsstreiches strebten der Fürst und die Konservativen danach, die Popen auf ihre Seite zu bringen, und bewilligten deshalb den einflussreichsten derselben, und ganz besonders denen aus grossen Städten, eine gewisse staatliche Besoldung. Auf die Dorfpopen erstreckte diese Freigebigkeit sich jedoch nicht. Als Karawelow nun wieder das Ruder in Händen hatte, wollte er zunächst die Finanzen ordnen. Für die Besoldung der Geistlichkeit war aber von der Kammer nichts ausgesetzt worden, und so musste er jene Zahlungen einstellen. Zur Sobranje sagte er jedoch: »Wollen Sie den Priestern eine bestimmte Besoldung gewähren, so bewilligen Sie zu diesem Zwecke besondere Gelder«. Die äusserst sparsame Mehrheit zog es indessen vor, die betreffenden Summen lieber für den Unterricht nutzbar zu machen. Die mit Russland im Bunde stehenden Konservativen drängten jetzt die ihrer festen Besoldung beraubte Geistlichkeit zu einem Strike. Sie hofften, hierdurch einen Aufstand des Volkes und den Sturz der Minister herbeizuführen, verrechneten sich dabei aber gründlich. Die Gemeinden nahmen gegen ihre Seelsorger Partei, und mehrere Popen wurden — zu Sofia, Rustschuk, Tirnowa — aus ihrem Amte vertrieben. Uebrigens dauerte der Strike gar nicht lange. Als die Priester nämlich an den Gemeinden keine Stütze fanden, traten sie einen ehrenvollen Rückzug an, und der Streit war somit geschlichtet. Da legte aber der Exarch sich ins Mittel, und Russland drückte in einer Note den Wunsch aus, die Lage der Popen gebessert zu sehen. Die Konservativen haben diese Einmischung eines fremden Staates nicht entschie- den zurückgewiesen, sondern die Forderung vielmehr unterstützt. Karawelow befand sich unbedingt im Rechte, als er den Popen die von der Kammer nicht genehmigte Besoldung entzog. Doch ein Kampf gegen dieselben wäre sehr übel angebracht, weil sie ja die festesten Stützen des Volksihumes sind. Den römisch-katholischen Priester macht sein Dogma zum Feinde der Freiheit und zum Träger einer fremden Gewalt, zum Werkzeuge Roms. Die griechisch-katholischen Geistlichen werden aber durch die Bande gemeinsamer Interessen mit dem Volke verknüpft; sie sind verheirathet und bilden nicht eine besondere Kaste, sondern arbeiten gleich den Bauern. Eine höhere Bildungsstufe würde sie zum besten Treibrade des Fortschrittes machen. Ihre Lage und die der Lehrer müsste gehoben und der Einfluss dieser Leute begünstigt werden, womit die freiheitlichen Einrichtungen eine feste Grundlage bekämen. An einem Markttage wandere ich durch die Tschartsia. Sie ist, wie in Serajewo, die Strasse der Läden, trägt aber ein sehr viel weniger eigenartiges Gepräge als die der bosnischen Hauptstadt. Man hat sie mit kleinen Akazien bepflanzt, und von der grossen Moschee ausgehend, durchläuft sie ganz Sofia. In den nach türkischer Weise vollständig offenen Läden bemerke ich jedoch leider nichts, was den einheimischen Gewerbefleiss veranschaulicht. Die Zeuge, Teppiche, Stickereien, die Gegenstände aus Kupfer, welche in den meisten Dörfern hergestellt werden, dienen einzig und allein dem örtlichen Bedarfe, und es denkt niemand daran, diese Sachen nach der im äussersten Südwesten gelegenen Hauptstadt oder nach anderen Orten zum Verkaufe zu bringen. Die Läden, an denen ich jetzt vorübergehe, bergen nur Zeuge der schlechtesten Art und abscheuliche Schmucksachen aus nachgemachtem Golde, und man könnte ihren Inhalt als den Ausschuss gewerblicher Thätigkeit bezeichnen. Käufer werden durch die billigen Preise angelockt, welche den wirklichen Werth des Ausliegenden aber immer noch ums Doppelte oder Dreifache übersteigen. Aus Oesterreich kommen jene widerwärtigen Erzeugnisse, und spanische Juden halten dieselben feil. Drei Viertel der Kaufleute gehören dem jüdischen Bekenntnisse an, und am Sonnabende sind also die Läden zum grössten Theile geschlossen. Eigenartig gekleidete Bauern füllen am Freitage die Strassen und Marktplätze. Die Männer umhüllt ein grober weisser Wollenstoff, und ihre Beinkleider stehen durch Riemen mit den Opankas in Verbindung. Sie tragen grosse hellfarbige Gürtel und auf dem Kopfe eine Mütze aus feinem schwarzen Pelze. Das lange, hemdartige Kleidungsstück der Frauen ist an den Aermeln und am Halse mit wundervollen, meisterhaft schönen Stickereien bedeckt. Zum weiblichen Anzüge gehören ferner zwei dunkelfarbige Schürzen, von denen eine nach vorne und eine nach hinten herunterhängt, und Reihen aus Gold-und Silbermünzen, welche am Gürtel, am Halse und auf der Stirne getragen werden; den Kopf der Frauen bedeckt aber oft ein ganzer Aufbau von Blumen. Einen sehr seltsamen Eindruck machen mehrere junge Mädchen durch die Schnüre aus grünen oder rothen Glasperlen, mit welchen sie sich das Gesicht zur Hälfte bedeckt haben, und woran sie, höre ich, als Bräute zu erkennen sind. Warum streben die Männer und Frauen der wohlhabenden Klasse aber nicht danach, die Landestracht zu erhalten? Sie könnten sich dabei an der Königin von Rumänien und dem Prinzen von Wales ein Beispiel nehmen. Wien und Pest schicken altmodische Kleider und Hüte her und lassen sich diese geschmacklosen Sachen theuer bezahlen. Die bulgarischen Damen, welche dieselben benutzen, laufen damit Gefahr, unfein und lächerlich zu erscheinen, während ihnen die Landestracht weit besser stehen und sehr viel mehr wahre Eleganz verleihen würde. Und was für die Frauen gilt, trifft's nicht auch für die Männer zu? Herr Queille kam in Tirnowa mit einem an der Landestracht festhaltenden jungen Mädchen zusammen, deren Vater sein Wirth, Dr. B.—, war, und berichtet hierüber: »Wir standen einem reizenden jungen Mädchen gegenüber, welches, bulgarischer Weise entsprechend, in kurzem Rocke, weissem Hemde mit weiten, gestickten Aermeln, rother Schürze und Schnüren aus Münzen einherging. Fräulein B. war eben erst aus einer Pensionsanstalt in Odessa zurückgekehrt, und bei diesem Festhalten an der heimischen Art konnte vielleicht so etwas wie Gefallsucht eine Rolle spielen. Doch ich kenne nichts Kleidsameres als diese unverkün-stelten Trachten. Mich wundert's nur, dass die in der Kunst des Gefallens so bewanderten Frauen sich fast sämmtlich dahin verirren, etwas Eigenartiges und Verschönerndes gegen eine europäische Kleidung zu vertauschen und damit die Wogen der Allgemeinheit über sich zusammenschlagen zu lassen«. (Johann Er die, »In Bulgarien«, S. 118.) In einem Artikel der »Moskauer Zeitung« vom 9. November 1884 beschäftigt Katkow sich mit den Angelegenheiten Bulgariens. Man hätte, meint er, dem Lande lieber republikanische Einrichtungen geben sollen und daselbst den Statthalter von Ost-Rumelien, unter der Bedingung, dass derselbe wie Aleko Pascha ein Bulgare sei, zum Präsidenten ernennen können. Die Unabhängigkeit Bulgariens würde darunter nicht gelitten haben, während der Sultan sich vermuthlich gefreut hätte, an der Spitze eines befreiten Landes den Statthalter einer ihm unterworfenen Provinz zu wissen. Weilen noch russische Officiere in Bulgarien, fügt Katkow hinzu, so sollen sie nur mit militärischen, keineswegs aber mit politischen und Wahlangelegenheiten sich beschäftigen. Russland kann ja nur wünschen, dass Bulgarien nach Maassgabe seiner eigensten Interessen und frei von jedem Einflüsse regiert wird. — Gut gesagt! Aber warum hat Russland nicht danach gehandelt? Ich spreche im Unterrichtsministerium vor, treffe den Minister aber nicht an. Doch Fürst Hilkow, der dem Ministerium der öffentlichen Bauten beigegebene russische Ingenieur, empfängt mich. Man schreibt ihm einen grossen Einfluss zu, und oft giebt's Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und zwei anderen Ingenieuren, einem Engländer und einem Schweizer. Diese über einen Schatz von Kenntnissen verfügenden Ehrenmänner gaben auch den höchst verständigen Rath, die Eisenbahnlinie Tzaribrod- Wakarel mit grösster Sorgfalt auszubauen; dieselbe sei doch, führten sie an, eine Strasse für den Weltverkehr, und die Dampfwagen müssten hier 45 Kilometer in einer Stunde zurücklegen können. — Noch hat Bulgarien beim Auslande keine Anleihe gemacht, und auch die Kriegskosten wurden aus eigenen Hilfsquellen bestritten. In Serbien sieht's damit schon ganz anders aus. Bei einer Schuldenlast von 260 Millionen Franken entfallen auf den Einzelnen etwa 144 oder ungefähr 600 Franken auf jede Familie, und unaufhörlich werden — bald handelt es sich um Flinten, bald um Kanonen — neue Anleihen gemacht. Auf diesem Wege muss Serbien ja schliesslich zu einer Sclavencolonie werden, wo man nur noch zur Befriedigung auswärtiger Gläubiger zu schaffen hat. Nun will ich das Schreiben eines Diplomaten wiedergeben, welcher in demselben — nach mehrjährigem Aufenthalte in Sofia — die in Bulgarien empfangenen Eindrücke schildert. Er tritt für die Vereinigung der beiden bulgarischen Provinzen ein und erklärt und rechtfertigt somit im Voraus, was nach der Abfassung seines Briefes sich vollzogen hat. Er deutet auch unumwunden darauf hin, wie schwer dieses junge Land durch das fortwährende Eingreifen und Einmischen fremder Mächte zu leiden hat. — »Um Ihre Fragen zu beantworten, will ich Ihnen das Ergebniss eigener Anschauungen mittheilen. Im Frühlinge des Jahres 1880 habe ich die ganze Balkanhalbinsel, von Belgrad bis Konstantinopel, durchstreift und dabei die meisten Flecken Ost-Rumeliens, bis nach Burgas am Schwarzen Meere hin, und alle bulgarischen Städte, von Warna und Silistria bis nach Widin und Belogradschyk, besucht. Sie reisten ja dort auch herum und können sich also denken, was ich auf diesem kleinen Ausflüge an Hemmnissen und Unannehmlichkeiten zu kosten bekam. »Man muss sehr genau unterscheiden zwischen den Bulgaren des Fürstenthums und ihren slawischen Landsleuten aus Ost-Rumelien. Letztere sind mit den Griechen in Berührung gekommen und haben besonders mit der türkischen Hauptstadt fortlaufende Beziehungen unterhalten, wodurch sie dem politischen Leben gerüsteter gegenüberstehen. Ein grosser Theil der Jugend besuchte das Robert-Gymnasium zu Rumeli-Hissar, und viele junge Leute gingen dann noch zu ihrer weiteren Ausbildung nach Europa, d. h. nach Deutschland, Frankreich und England. Aus ihren Reihen sind dem Fürstenthume übrigens viele Staatsmänner und hohe Beamte erstanden. »Die Rumelioten wissen sehr viel mehr von der europäischen Politik. Doch die Bulgaren des Fürstenthums sassen fest zwischen der Donau und dem Balkangebirge und standen fast nur mit Wien, Bukarest und Moskau in Verbindung. Die türkischen Paschas sahen es nicht gerne, dass die bulgarischen Rajahs andere Länder besuchten, und Konstantinopel lag weit ab. Hier (d. h. im Fürstenthume) war der Handel unbedeutend und sehr viel weniger rege als in Rumelien, und den öffentlichen Aemtern standen Türken, Griechen oder Armenier vor. Den Bulgaren blieben nur drei Berufsarten unverschlossen — das Lehrfach, das Predigtamt und die Thätigkeit als Arzt. Um aber Lehrer oder Mediciner werden zu können, musste man durchaus in Russland studiren, und so erklärt sich's, dass das Russenthum in Bulgarien fester als in Rumelien wurzelt. »Wenn es einem gewöhnlichen Sterblichen gestattet ist, über das Thun der Götter ein Urtheil zu fällen, so erkläre ich, dass man auf dem Berliner Congresse mit der Abtrennung Rumeliens von Bulgarien einen schweren Fehler beging. Indem man Russlands Errungenschaften auseinanderzerrte, galt's, einer schlecht angebrachten Eigenliebe zu fröhnen. Doch die Westmächte verstanden sich wenig auf ihre Interessen und Hessen künftigen Forderungen und Ansprüchen die Thüre offen. »Fast alle Politiker Ost-Rumeliens sagten zu mir: »Man muss nicht glauben, dass wir den Russen ergeben »sind. Vor einigen Jahren hatten wir unsere Hoffnung »auf Frankreich und England gestellt, wohin unsere In-»teressen und natürlichen Neigungen uns ziehen. Aber »wir mussten dann sehen, wie diese Völker zum Schaden »unserer volkstümlichen und politischen Bestrebungen »immer nur den Türken beschützten, und begriffen nun, »dass sie nichts thun würden, um uns von dem ver-»hassten, schwer auf uns lastenden Joche zu befreien. »So waren wir also gezwungen, uns an die Russen zu »wenden. »Und auch heute noch bleibt uns nichts weiter übrig, »als nach ihnen hinzuschauen, denn man hat in Berlin ein »schlecht ersonnenes und unhaltbares Werk gethan: unsere »Provinz muss mit dem Fürstenthume vereinigt werden.« »Ich halte diese Leute für aufrichtig, und es genügt, das im Laufe der letzten drei Jahre Geschehene zu prüfen, um sich von der Richtigkeit ihres Urtheils zu überzeugen. Man vereinige diese beiden Provinzen, und der bulgarische Staat wird schon ein unabhängiges Leben zu führen wissen. Die natürlichen Neigungen seiner Bewohner werden allerdings den Russen gewahrt bleiben, weil die Gemeinsamkeit der Rasse und der Religion dies bedingt. Doch die Bulgaren möchten ihre Angelegenheiten selbst besorgen, und Russland müsste in seinem eigensten Nutzen ihnen dabei keinen Hemmschuh in den Weg legen, indem es sie von sich abhängig erhalten will. »Sollte aber das hauptsächlich betheiligte Oesterreich-Ungarn nicht ein überwiegendes Interesse daran haben, die bulgarische Frage von der Tagesordnung abzusetzen und an der Ostgrenze ein kleines, ruhiges Volk schalten und walten zu lassen? Das Schreckbild einer russischen Einmischung wäre ja damit theilweise gebannt. Es würde sich sodann noch um das fast vollständig bulgarische Macedonien handeln, dessen Vereinigung mit Bulgarien vorläufig aber aussichtslos ist, und Oesterreichs bezügliche Absichten könnten durch den Anschluss Rumeliens an Bulgarien nicht ernstlich gefährdet werden. »Man darf es nicht vergessen, dass Rumeliens Bevölkerung nur auf eine Million sich beziffert. Aber gerade diese Bulgaren hatten durch den letzten Krieg am meisten zu leiden. Sie kamen um Hab und Gut, und mehrere von ihren Städten — Karlowo, Kalofer, Kazanlik, Eski-Zagra, Jeni-Zagra u. s. w. — sind zum grossen Theile zerstört worden; es haben ausserdem auch sehr beträchtliche Metzeleien stattgefunden. — I4i — »Für die Bulgaren des Fürstenthums erwiesen die Ereignisse der Neuzeit sich dagegen als recht gewinnbringend. Sie verkauften ihren Befreiern zu theuerem Preise Lebensmittel und erlitten an ihrem Besitze keine Schädigung. Ueberdies bereicherten sie sich auf Kosten der auswandernden Türken, indem sie deren Eigenthum billig erwarben. Nach dem Kriege waren sie durch die Rubel, welche die russischen Heere millionenweise verausgabt hatten, reicher als vor demselben, und beim Abzüge der Russen empfanden sie dieses Bedauern, welches, sobald der Herbst die Reisenden vertreibt, den Schweizer überkommt. Im Jahre 1879 war ich in Rustschuk und Tirnowa Zeuge der Räumung. Spielend und singend zogen die Regimenter vorüber, und die »Maritza«, das bulgarische Volkslied, ertönte aus ihren Reihen. »Ein alter Diplomat sagte eines Tages zu mir: »In der Politik giebt es keine schlechten Thaten«. Die Trennung Bulgariens und Rumeliens ist aber mehr als eine schlechte That, ist ein Fehler gewesen. »Die Rumelioten haben sich noch liebenswürdiger gegen die russischen Soldaten gezeigt, und das folgende Geschichtchen scheint dies zu beweisen. In Kazanlik führte der Unter-Präfect mich einst nach einem Frauenkloster, wo er auf zwei junge, sehr hübsche Mohammedanerinnen, von denen jede ein kleines Kind auf dem Arme trug, hinwies und dabei mit biblischer Unbefangenheit sagte: »Während des Krieges hat das eine dieser »Mädchen den Oberst X. und das andere den Major Z. »kennen gelernt. Als nun zwei Kinder geboren wurden, »nahm die Gemeinde dieselben aus Dankbarkeit gegen »die Befreier als eigene an. Die Mütter wohnen im »Kloster, wo sie vollständig frei sind und auf Kosten »der Gemeinde unterhalten werden«. Ein griechischkatholisches Frauenkloster hat man sich überhaupt nur als eine Art von Beginenkloster vorzustellen, in dem ein zurückgezogenes Leben gar nicht verlangt wird. Auf meine Frage, ob die Aufgenommenen sich dem Islam ab-und der griechisch-katholischen Kirche zugewendet haben, entgegnete die Oberin: »Noch nicht; doch wir sind zu »der Hoffnung berechtigt, dass dieses frohe Ereigniss »sich vollziehen wird«. Nun, warten wir eine neue russische Besetzung ab! »Auch das bulgarische Fürstenthum könnte durch seine Vereinigung mit Rumelien bloss gewinnen. Zunächst würde wohl eine Verlegung der Hauptstadt erfolgen müssen, denn bei der Wahl Sofias machte man sich eines ganz entschiedenen Missgriffes schuldig, und die verschiedensten Gebiete und Beziehungen haben darunter zu leiden. Russland beging diesen Fehler übrigens durchaus absichtlich. Sofia, ein zwischen Rumelien, Macedonien und der Donau liegender strategischer Punkt, wird nach dem Ausbaue der Eisenbahn den Weg nach Konstantinopel beherrschen, und wer hier sitzt, kann ungehindert die von der Donau kommenden Truppen über den Balkan schaffen und sich mit ihnen nach Thracien und Macedonien werfen. Als die Russen glaubten, Bulgarien sammt seiner Regierung in Händen zu haben, beeilten sie sich, Sofia noch vor der Ankunft des Fürsten Alexander zur Hauptstadt zu machen. Diese unglückselige Wahl hat nun den Sitz der Regierung nach dem äussersten Westen des Landes verlegt und mitten in eine Bevölkerung hineingebracht, die von allen Bulgaren am weitesten zurück ist, und der seit Menschengedenken jeder Verkehr mit der Aussenwelt fehlte. Wer die Bulgaren wirklich kennen lernen will, muss nach Tirnowa, Elena oder besser noch an den Südabhang des Balkangebirges, nach Sliwno und Kazanlik, gehen. »Auf dem Berliner Kongresse scheint man übrigens ein Verständiss für jenen Fehler gehabt zu haben, denn es wurde Tirnowa (Artikel 4) zum Sitze der konstituiren-den Versammlung auserkoren; doch niemand schlug diesen Ort als Hauptstadt vor. Sind die beiden Bulgarien mit einander vereinigt, so wird man entweder Philippopel oder Tirnowa zum Sitze der Regierung machen müssen. Es kommt ja wenig darauf an, wo die Hauptstadt liegt, falls man im Lande leicht von einem Orte zum anderen gelangen kann; doch in einem Bereiche, dessen ganzes Verkehrsnetz aus einigen schlechten Wegen besteht, darf dieselbe der Grenze nicht gar zu nahe sein. Die Bewohner mancher Ortschaften vermögen — bei wegsamen Strassen! — Sofia erst in 7 Tagen zu erreichen. »Schon für die Regierung an sich ist die gegenwärtige Hauptstadt durchaus kein geeigneter Boden. Die Bevölkerung besteht zum dritten Theile aus Juden, und eine wirkliche öffentliche Meinung giebt's hier überhaupt nicht. Um einem regen politischen Treiben zu begegnen, muss man erst einen von den Balkanzweigen überschreiten. Die Einigung Bulgariens hätte somit auch den Vortheil, die Leitung der Staatsgeschäfte dem vorgerücktesten Theile des Volkes zu übergeben. »Im Jahre 1879 kam ich zum ersten Male nach Sofia. Als ich dem Statthalter einen Besuch machen wollte, traf ich in seiner Behausung einen Mann in Hemdärmeln an, welcher eben Möbelstücke nach dem ersten Stockwerke schaffte. Ich erkundigte mich bei ihm, ob der Statthalter zu sprechen sei, worauf er mich fragte: »Was wollen Sie von ihm?« Nachdem ich mich genannt und meine Karte abgegeben hatte, sprang er, immer vier Stufen zugleich nehmend, die Treppe hinauf, um sehr bald in einem schönen schwarzen Ueberrocke zurückzukommen. Er sagte mir allerlei Höfliches, bat mich, ihm zu folgen, und belehrte mich selbst darüber, dass ich den Statthalter beim Forträumen seiner Möbel angetroffen hatte. Sein Thun und Treiben war »spartanisch«, aber der Jetztzeit wenig angemessen.1) »Im Hinblicke auf die Vereinigung der beiden Bulgarien bemerke ich noch, dass das doppelte Budget den Fortschritt keineswegs fördert. Vorläufig sind diese Länder zu arm, um sich einen solchen Luxus erlauben zu dürfen, und eine einheitliche Regierung würde die Kosten bedeutend vermindern. Das Ersparte Hesse sich dann nutzbringend verwenden, und man könnte an Arbeiten gehen, welche dem allgemeinen Besten dienen. »Rumelien befand sich 1880 im Zustande grosser Erregung, und man blickte immer nur auf Sofia, als auf die Quelle alles Heiles, hin. Doch 1881, zur Zeit des Staatsstreiches, gab die Haltung des Fürsten den Rume-lioten zu denken. Dieselben sind ja grösstentheils Freisinnige, das heisst Parteigänger einer verfassungsmässigen Regierung, und Alexanders Bild, welches in jeder Behausung zu finden war, wurde nun — der Wand zugekehrt. Man sieht also, was Staatsstreiche selbst in Bulgarien zeitigen. — Nach meiner Ueberzeugung sind die Verhältnisse in Serbien heute so ziemlich die gleichen, und König Milan muss sich in seinem Thun entweder ändern, oder er kann die Tage, für welche der Thron ihm noch sicher steht, zählen. »Inzwischen — die Nothwendigkeit macht sich ja schliesslich immer gebieterisch geltend — ist Fürst Alexander anderen Sinnes geworden und hat wenigstens eingesehen, dass er ohne Fühlung mit dem Lande nicht weiterregieren könne. Ob die Herzen der Rumelioten sich ihm durch dieses Einlenken von neuem zuwendeten, 1) Ich für nieine Person liebe dieses Cincinnatusartige ganz entschieden. Machte Lincoln nicht Eisenbahnschwellen, und pflegt Gladstone in Hawarden nicht häufig den Rock auszuziehen und einen Baum zu fällen? ich weiss es nicht. Hätte er sein Schiff aber gut gesteuert, so wäre die Einigung Bulgariens entweder schon eine Thatsache, oder sie stände doch auf dem Punkte, es sehr bald zu werden, — das glaube ich versichern zu können. »Als preussischer Lieutenant hat man mit 21 Jahren (1879) noch immer nicht das Zeug, Völker zu regieren. Die auf prächtige Paläste, grosse Heere, Ordenszeichen und europäische Bündnisse gerichteten Gedanken schaffen nichts, und es bewahrheitet sich schliesslich immer die Fabel von dem Sternforscher, welcher, hinauf zum Himmel blickend, in einen Brunnen fiel. »Berlin ist nicht Sofia und Sofia nicht Berlin. Fürst Alexander macht einen anmuthenden Eindruck; doch er kam nach Bulgarien, ohne auch nur entfernt zu ahnen, was es mit so einer Regierung denn eigentlich auf sich habe. Ich war in Tirnowa, als er im Juli des Jahres 1879 daselbst einzog, und konnte mich durch eigenen Augenschein davon überzeugen, wie hoffnungsfreudig man ihm zujubelte. Die von Europens übertünchter Höflichkeit wohl noch wenig beleckten, aber durch und durch gut gearteten Bulgaren kamen ihm hingebend entgegen. Sie sind weit fügsamer als die Serben, Rumänen und Griechen, und er hätte mit ihnen, Menschen und Dinge kennend, unschwer fertig werden können. Allein er gedachte es dem deutschen Kaiser gleichzuthun. Die bulgarischen Minister waren ihm zuwider, und er bemühte sich, mit denselben möglichst wenig in Berührung zu kommen. Für uns, die fremden Diplomaten, hatte er oft, für die bulgarischen Minister aber fast nie einen Platz an seiner Tafel, und können gewöhnliche Menschenkinder auch ganz nach ihrem Belieben Einladungen ergehen lassen, so fällt diese Freiheit für einen Fürsten doch weg. Laveleye, Balkanländer. II. 10 »Ich erinnere mich eines Neujahrtages, an dem wir amtlich empfangen wurden, ohne mit dem Minister des Aeusseren oder irgend einem anderen Minister zusammenzutreffen. Man hatte sich aus guten Gründen gehütet, diese Herren einzuladen. Sie mussten im Nebenzimmer warten und wurden erst nach uns vorgelassen. Ob solche Maassnahmen wohl die richtigen waren? Der Fürst hat die Stunde nicht wahrgenommen, und es wird neuer Anstrengungen bedürfen, um dieselbe nochmals schlagen zu lassen. »Alexander von Battenberg besitzt eine Eigenschaft, die bei einem Privatmanne sehr wohl, bei einem Fürsten jedoch gar nicht am Platze ist — eine weitgehendste Offenherzigkeit. Er bleibt mit seinen Gedanken nicht hinter dem Berge und schüttet dem ersten Besten sein Herz bis auf den Grund aus. Hoffentlich ist er gegenwärtig von dieser in der Politik als gefährlich sich erweisenden Neigung geheilt! »Einer theilweise unumschränkten Regierung bin ich gar nicht abgeneigt, wo es sich um einen so jungen Staat wie dieses Bulgarien handelt, welches nie sein eigener Herr war und lange unter türkischem Joche schmachtete. Dann müsste aber auch ein ganz besonders geeigneter Dictator auf dem Platze sein, und bei mangelndem Stützpunkte ist dessen Rolle eben nicht leicht zu spielen. Mit dem Abwerfen der einengenden Verfassung glaubte man sich gerettet und athmete erleichtert auf, nicht einsehend, dass die Schwierigkeiten nun erst recht anfangen würden. Man hätte einen sehr genau durchdachten Feldzugsplan und die Mittel, ihn durchzuführen, haben müssen. »Diesen kleinen, neugebackenen morgenländischen Fürsten gab Gladstone unlängst den klugen Rath, »sich durchaus mit ihren Völkern zu verständigen«. Sie scheinen's aber nicht zu begreifen, dass eine Verfassung ihnen wohl nach innen hin einen gewissen Hemmschuh anlegt, dass dieselbe aber auch am besten gegen das Einmischen und Eindringen mächtiger Nachbarn zu schützen vermag. Da kommt z. B. der Vertreter Oesterreichs, Deutschlands,. Russlands oder der Pforte und bittet mehr oder minder dringend um eine Gunst, einen Dienst, klaubt auch vielleicht einen angeblichen Rechtsanspruch hervor; was kann der in seinem Lande unumschränkt gebietende Fürst nun sagen? So eine gute kleine Verfassung giebt aber eine prächtige Rückendeckung ab, und betrübt heisst's dann: »Ich bedauere unendlich, Ihnen nicht »dienen zu können; doch die Sache liegt ausserhalb »meines Bereiches, und Sie wissen's ja, dass die Ver-»fassung meine Befugnisse einschränkt. Der Minister »des Aeusseren, das Parlament u. s. w. —«. Zwischen seinen vier Wänden schlägt man natürlich eine andere Tonart an, und ein Fürst, der seine Leute zu nehmen weiss, kann einer Verfassung auch so ziemlich alles abringen. »Wenn der Fürst wenigstens gute Rathgeber gehabt hätte, um aus dem Staatsstreiche Kapital schlagen zu können! Doch nein, es waren nur Höflinge in seiner Umgebung, und die Vertreter der fremden Mächte glaubten ihre Pflicht zu erfüllen, indem sie hinsichtlich der dem Fürsten zu ertheilenden Rathschläge sich gegenseitig befehdeten. Mehr wie 25 Jahre zählte im Palaste niemand, und es wohnte hier also wohl die Hoffnung, aber nicht die Erfahrung. »Man wollte die Leute mit Hilfe der Kaserne erziehen, und der Fürst erklärte: »Nur das Regiment vermag ein »Volk heranzubilden. Fleisch, Geflügel u. s. w. ist hier »ja in Fülle vorhanden, und die Leute könnten sich also »sehr viel besser als anderswo nähren. Doch sie be- 10* »gnügen sich mit dem in der Asche gebackenen Brode »und mit Zwiebeln. Kommen die Recruten nun nach »der Kaserne, so giebt man ihnen Fleisch, und sie sind »zunächst 14 Tage krank, gewöhnen sich schliesslich »aber doch an die neue Lebensweise. Weilen sie dann »wieder bei den Ihrigen, so werden sie dieselben auch »zur Fleischnahrung bekehren«. Dieser praktische Unterricht nach preussischer Art ist dem Lande theuer zu stehen gekommen, und von den 27 Millionen, auf welche die Ausgaben sich bezifferten, verschlang das Heer 13 Millionen. Dafür hegte man aber die feste Hoffnung, die Bulgaren zu Fleischessern zu machen. »In Sofia wurden schöne Kasernen, ein prächtiger, mehrmals umgebauter Palast, welcher 3% Millionen Franken gekostet hat, und ein Ministerium, natürlich das des Krieges, aufgeführt. An Schulen und Krankenhäuser hat man dagegen wenig gedacht. »Ich glaube, dass das bulgarische Volk unter richtiger Leitung einer glänzenden Zukunft entgegengeht, denn es besitzt ja alles, was zum Wohlstande und Reichthume führt. Aber man muss ihm nicht sofort ein ganzes Eisenbahnnetz, Fabriken und prunkschimmernde Städte aufdrängen wollen, sondern ihm Zeit lassen, sich zu entwickeln. Der unverfälschte Bulgare misstraut instinct-mässig allen grossen finanziellen Anschlägen. Er weiss, was die Türken sich durch die in Paris, Wien und London gemachten Anleihen besorgten, und selbst in durchaus nützlichen Unternehmungen wittert er eine Schlinge; er meint, man will ihn bestehlen und sich mit seinen Rubeln bereichern. »Der Einfuhrhandel kann sich nur langsam entwickeln. Der äusserst sparsame Bulgare hat nicht viele Bedürfnisse, und auf dem Lande sorgen die Bauern selbst für alles Nöthige. Sie spinnen und weben die Wolle zu ihrer Kleidung — »Schaik« oder »Abah« —, wie ihre Leinwand und Baumwolle. Bei den Hammelfellen, welche sie zu ihren Anzügen verwenden, werden die Haare im Winter nach innen und im Sommer nach aussen gekehrt, und Schuhe tragen sie nicht, sondern eine Art von Sandalen aus Ziegenleder. Die Kopfbedeckung verfertigen sie immer aus Hammelfell, und auch ihre Kerzen bereiten sie sich selbst. Von den Häusern eines Dorfes sind stets die meisten mit Glasscheiben versehen. »Die Türken dagegen liebten den Luxus und verbrauchten verhältnissmässig viele Einfuhrartikel. Einer von den grössten bulgarischen Kaufleuten aus Sistow sagte zu mir: »Früher nahmen uns die Türken viele »europäische Waaren ab. Eine türkische Frau verbraucht »ungefähr drei Mal mehr als eine bulgarische Städterin, »und lässt jene sich drei Kleider kommen, so pflegt »diese kaum eins zu kaufen. Der Fortzug der Türken »hat den Absatz bedeutend eingeschränkt«. »Ganz Bulgarien ist sehr fruchtbar. Seine hauptsächlich ackerbautreibende Bevölkerung wird dem Boden also schliesslich grosse Reichthümer zu entlocken wissen, falls ihr Wege und bessere Arbeitsgeräthe nicht mehr fehlen und sie Fuhrwerke gebraucht, welche keine Achteck-, sondern die sonst üblichen runden, mit einem eisernen Reifen umlegten Räder haben. Heute ladet der Bauer sein Korn auf einen Karren, der aus einigen fragwürdigen, schlecht zusammengefügten Planken besteht, und dessen Risse durch Stroh oder Zeug überbrückt werden. Dieses Gefährt, welches dem vorgeschichtlichen Zeitalter anzugehören scheint, wird dann mit zwei Ochsen bespannt, und nun schwanken Menschen, Thiere und Wagen schwerfällig längs des sogenannten Weges hin und her, bis die nächste Stadt oder ein Donauhafen erreicht ist. Oft gehen dabei fünf und auch noch mehr Tage verloren, und dann muss man fast immer leer zurückkehren. Mehr als der dritte Theil der Ladung wird übrigens verschüttet, woran der unebene Boden und die schlechten Räder in gleichem Maasse betheiligt sind. »Alle Feldfrüchte gedeihen in Bulgarien vorzüglich. Doch man versteht es leider nicht, das Getreide gehörig zu reinigen, was den Werth desselben verringert und seiner Ausfuhr ein Hemmniss entgegensetzt. Gedroschen wird auf blosser Erde und mit Pferden, und die Körner sind mit Steinen vermischt. Im Bezirke von Dubnitza baut man einen vorzüglichen Tabak, und auch der Wein gedeiht dort ausgezeichnet; die Weine von Plewna und Dubnitza sind ihrer Natur nach trefflich, aber man versteht es nicht, sie ordentlich zu bereiten. Würde man etwas mehr Sorgfalt auf dieselben verwenden, so könnten, wie in Serben und Rumelien, grosse Mengen davon nach Frankreich ausgeführt werden. »Nach meiner Schätzung ist in Bulgarien kaum der sechste Theil des fruchtbaren Bodens bebaut. Die Bevölkerung beziffert sich gegenwärtig auf etwa 2 Millionen, während das Land ganz gut 10 Millionen zu ernähren vermag. »Jedem Bauern gehört der Boden, den er bewirth-schaftet, und die Gemeinden besitzen ausgedehnte Ländereien, welche von der Bevölkerung gekauft oder gepachtet werden können. Will jemand, der nicht Mitglied der Gemeinde ist, in derselben ein Stück Land erwerben, so steht einem Ansässigen oder auch der Gemeinde das Recht zu, gegen Hinterlegung der gleichen Summe den betreffenden Grund und Boden an sich zu nehmen. Der bulgarische, wie jeder andere Bauer hält die Erde sehr hoch, und Gesetz und Gewohnheit machen es hier überdies möglich, sich gegen den Zuzug von aussen zu wehren. Die Gegenwart mag daran vielleicht einen Hemmschuh haben; doch im Hinblicke auf die künftige Wohlfahrt der Bevölkerung scheinen mir diese Verhältnisse sehr vortheilhaft zu sein. »In Bulgarien finden sich keine grossen Begüterungen und gewaltigen Capitalien, und der Wohlstand ist ein allgemeiner; unter der einheimischen Bevölkerung wird man keinem Armen begegnen. Es fehlt aber auch an dem, was man »leitende Kreise« nennt, und dies ist ein für das parlamentarische Leben sehr fühlbarer Mangel. »Zur Zeit meines Aufenthaltes besass Bulgarien — ich sehe dabei von der Eisenbahnlinie Rustschuk-Warna ab — nur eine einzige kleine Dampfmaschine, deren man sich im Zeughause von Rustschuk bediente. Ein Land Europas, das 64000 Quadratkilometer umfasste und zwei Millionen Einwohner zählte, vermochte also ohne — Dampfmaschine auszukommen! »Man muss nicht zu viel verlangen, sondern mit seinem Urtheile warten, bis dieses so lange unterdrückte und getretene Volk Zeit gehabt hat, sich der Freiheit und des Rechtes der Selbstregierung würdig zu erweisen. Ich sehe der Zukunft dieser sanftmüthigen, arbeitsamen, anspruchslosen und haushälterischen Menschen vertrauensvoll entgegen. Es fehlt denselben an Bildung, an ordentlichen Verkehrswegen — Eisenbahnen und Landstrassen —, an einer besseren Bebauung des Bodens, an der Ausnutzung ihrer Bergwerke. Hat man all diesen Mängeln aber abgeholfen, und ist die griechisch-katholische Geistlichkeit so vernünftig gewesen, die Zahl der Festtage zu verringern, von denen es mit Einschluss der Sonntage mindestens 120 giebt, so werden die Bulgaren unbedingt den Weg des Fortschrittes wandeln. Sie gehen vielleicht etwas langsam, jedenfalls aber sicher und unbeirrt, und vor ihnen liegen als Absatzgebiete ganz Thra-cien und Kleinasien. Die Serben sind streitsüchtige Na- turen; sie verfügen hinsichtlich des landwirtschaftlichen Betriebes über geringere Hilfsquellen, und ihr Staat, welcher minder gross ist, berührt nicht das Meer. Man lasse die Bulgaren nur ruhig und ungestört arbeiten und verzichte auf Staatsstreiche und eine Regierung durch russische Generäle. Wer es bedauert, in Sofia nicht den Lohengrin und die Nibelungen hören zu können, muss eben in Berlin oder Darmstadt bleiben, statt sich in die Regierungsangelegenheiten der Bulgaren zu mischen«. Zu den höchst unbilligen Forderungen, mit welchen der Berliner Congress das Fürstenthum bedachte, gehören auch jene auf die Verträge sich beziehenden Bedingungen. Der Artikel 8 ist folgendermassen abgefasst: »Die Handelsund Schiffahrtsverträge, wie alle sonstigen Verträge und Vergleiche, welche zwischen den fremden Mächten und der Pforte abgeschlossen wurden und heute noch bestehen, gelten auch für das Fürstenthum Bulgarien, und es kann hier hinsichtlich keines Staates ohne dessen Zustimmung eine Aenderung erfolgen.« Den Bulgaren wurde also eine sehr drückende Fessel angelegt, und sie vermochten es nicht einmal, in ihren Städten den Eingangszoll auf den Alkohol zu erhöhen. Die Vertreter der Mächte stimmten damals sammt und sonders ein Zetergeschrei an. Diese Verträge bauen einen Staat im Staate auf und berechtigen die fremden Mächte dazu, allein über ihre Angehörigen abzuurtheilen. Derartiges mag wohl in die Türkei hineingehören, weil von den Gerichtshöfen derselben kein unparteiisches Urtheil zu erwarten ist, doch nicht in einen Verfassungsstaat, dessen Richter der Mehrzahl nach durch die Universitäten des Westens gebildet wurden. Als Frankreich und England sahen, dass Bulgarien einer Gerechtigkeitspflege nach europäischem Zuschnitte sich befleissigte, verzichteten sie auf ihre bezüg- liehen Vorrechte, während Oesterreich, Serbien und Griechenland das nicht gethan haben. Es spukt also immer noch genug von diesem Unwesen herum, worunter zum SchadenAller die Machtvollkommenheit der bulgarischen Gerichte leidet. Die Bulgaren halten sich möglichstfern von jedem Fremden, welcher unter dem Schutze der Verträge steht, und das ist ihnen durchaus nicht zu verdenken. Herr Ludskanow, der früher in Bulgarien beim Ministerium des Aeussern als Secretair thätig war, hat über jenen Gegenstand eine Flugschrift in französischer Sprache herausgegeben. Von der Lage der mohammedanischen Bevölkerung Bulgariens entwerfen dessen Feinde ein sehr düsteres Bild. In Wirklichkeit sieht's damit aber ganz anders aus, und ich will mich nun über das, was mir der wahre Sachverhalt zu sein scheint, auslassen. Die Moslims wanderten nicht fort, weil man sie schlecht behandelte, sondern weil von Constantinopel aus in entsprechender Weise gebohrt wurde. Unter dem Vorwande, in den Moscheen vor den versammelten Gläubigen predigen zu wollen, fanden sich in jedem Jahre Softas ein, denen die Regierung anfangs durchaus kein Hemmniss in den Weg legte; sie kam ihnen imGegentheile noch fördernd entgegen. Schliesslich nahmen aber die Auswanderungen und Aufstände der Moslims einen höchst bedenklichen Umfang an, und es wurde eine besondere Commission gebildet, welche die Sache zu untersuchen hatte. Nun zeigte sich's, dass die Moslims ganz unter dem Einflüsse jener aus Constantinopel gekommenen Softas standen. Diese hetzten gegen die Ungläubigen, welche ja gestern noch, so sagten sie, türkische Rajahs waren, und es sei eine Schande, denselben Steuern zu zahlen. Für die Moslims ist übrigens mehr als für den anderen Theil der Bevölkerung geschehen. Sie besitzen die allen Unter- — i54 - thanen zustehenden Rechte, werden in der Kammer durch 25 Abgeordnete vertreten, und den Muftis zahlt die Regierung fast die Hälfte dessen, was die bulgarische Geistlichkeit erhält, obgleich die türkische Bevölkerung nur den vierten Theil der bulgarischen ausmacht. Die türkischen Schulen sind frei, und oft werden für sie Zuschüsse, in der Weise wie für die bulgarischen, festgesetzt; ausserdem unterhält die Regierung in Schumla ein mohammedanisches Seminar, wofür sie mehr als 12000 Franken ausgiebt. Im Heere trennt man die türkischen Soldaten von den christlichen. Jenen steht sogar das Recht zu, sich ihre Kost besonders und den Vorschriften ihrer Religion entsprechend zu bereiten, und die bulgarischen Officiere ertheilen ihnen die Befehle in türkischer Sprache. Solche Maassnahmen und die Berichte von Türken, welche ausgewandert waren und enttäuscht zurückkehrten, haben der türkischen Bevölkerung denn auch die Augen geöffnet. Die Angelegenheiten Bulgariens sind derselben nun schon nicht gleichgiltig, und Thatsachen bezeugen es, dass eine ernstliche Feindschaft zwischen den beiden Rassen gar nicht mehr vorhanden ist. Ein ganz offenbarer Beweis hierfür liegt doch auch darin, dass die Mohammedaner in dem Kriege gegen die Serben sich tapfer für Bulgarien geschlagen haben. Als Schakir Pascha, der Abgesandte der Pforte, die Verwundeten aufsuchte, bemerkte er unter denselben viele Moslims, bulgarischeUnterthanen,under beglückwünschte dieselben, weil »sie, ihr Vaterland vertheidigend, treu ihre Pflicht gethan hatten«. Wenn ich mich an die Bulgaren wenden dürfte, würde ich denselben zurufen: Nehmt Euch nicht unsere centralisirten Staaten zum Vorbilde, sondern vielmehr einen Bundesstaat wie die Schweiz, deren sociale Verhältnisse denen Eures Vaterlandes gleichen, und festigt die örtliche Selbstregierung, besonders die der Gemeinden. Beschneidet so viel wie möglich die parlamentarischen Kämpfe und die Treibjagden nach den Ministersesseln, indem Ihr den Ministern das Recht entzieht, über die Stellen verfügen und so ihre Geschöpfe belohnen zu können. Der Parlamentarismus der Gegenwart kennzeichnet sich ja als recht schadhaft, weil es doch fast überall nicht ordentlich mit ihm klappen will. Erfolgen bei jedem Wechsel im Ministerium nun noch zahlreiche Absetzungen und neue Ernennungen, so züchtet man damit, wie in Amerika, eine Quelle der Entsittlichung oder sogar, wie in Spanien, eine Art von Bürgerkrieg. Zu Eurer Vertheidigung braucht Ihr viele Truppen. Führt aber die Heereseinrichtung der Schweiz bei Euch ein, und vermeidet es damit, dass ein stehendes, zu Prätoren umgeschaffenes Heer in den Händen eines Despoten zum Werkzeuge Eurer Knechtung werden kann. Wie in jedem verfassungsmässig regierten Lande müsste das Amt eines Ministers oder irgend eine hohe politische Stellung nur ein geborener oder ein naturali-sirter Bulgare einnehmen dürfen. Betrachtet alle Versuche des Auslandes, sich in Eure inneren Angelegenheiten zu mischen, als ein pestähnliches Uebel, und ächtet und brandmarkt jeden Politiker, der zur Bekämpfung seiner Gegner von Fremdlingen Hülfe annimmt, als Schuft und Verräther. Bleibt dabei, sparsam umzugehen mit dem Gelde der Steuerzahler, und schafft keine Staatsschulden. Hütet Euch aber besonders davor, bei einer Anleihe die eine oder die andere von Euren Einnahmequellen zu verpfänden, damit Euer freies Land nicht zum Sclaven abendländischer Gläubiger herabsinkt; die würden es, um zu ihren Zinsen zu kommen, im Nothfalle besetzen lassen. Nehmt Euch also in acht vor der Finanzwelt des Auslandes, und lasst Euch von ihr nicht verderben, zu Grunde richten und knechten. Empfanget dagegen die Gewerbtreibenden, die Kaufleute und die Ackerbaukundigen, welche bei Euch einwandern, entgegenkommend und ohne engherzige Eifersüchtelei. Scheut nicht Opfer, wo es gilt, der Bildung weitere Kreise zu ziehen und den geistigen Standpunkt der Lehrer und Popen zu heben. Begünstigt aber ganz besonders die Verbreitung technischer und landwirtschaftlicher Kenntnisse und Fertigkeiten. Wahrt Euch Eure kleinen Begüterungen, welche es dem Bebauer des Bodens ermöglichen, »unter seinem Weinstocke sitzen« und die ganze Frucht seiner Arbeit für sich behalten zu können. Wehrt dem Entstehen grosser Besitzungen und seht, was dieselben Euch gegenüber, auf dem anderen Ufer der Donau, zeitigen. Dort ist der Boden sehr, sehr fruchtbar, und der Bauer dabei sehr, sehr arm, weil er für einen Herrn sich abmühen muss. Erhaltet Euch auch — gleich den Bosniern — das den Nachbarn zustehende »Rückzugsrecht«, welches die Mohammedaner als »Scheffaa« oder »Suf« bezeichnen, und nehmt ein Gesetz an, wie man es in Serbien und Bosnien hat, und durch das jeder Familie ein Haus und ein unverpfänd-bares Stück Land gesichert wird. Legt Wege und Eisenbahnen an, befleissigt Euch dabei aber, nach dem Vorbilde der Schweiz, einer tüchtigen und gründlichen Arbeit. Trachtet nicht danach, durch Prämien und Zoll begünstigungen den umfangreichen Gewerbebetrieb des Westens zu Euch hereinzulocken, denn nur zu bald wird derselbe ohne Hilfe besonderer Maassnahmen sich entwickeln. Hütet vielmehr Euren heimischen, von den Voreltern ererbten Kunstfleiss, welcher Euch gute und hübsche, dem Klima Eures Landes angepasste Stoffe liefert. Die Herren und Damen der wohlhabenden Klasse müssten sich die Königin von Rumänien und den Prinzen von Wales zum Vorbilde nehmen und die Landestracht anlegen, welche weit anmuthender und geschmackvoller ist als unsere trübselige, einengende Kleidung. Mögen Eure Gemeinderäthe die türkischen Volksbäder, diese für die Gesundheit so ungemein förderliche Einrichtung, erhalten. Auch die Moscheen sollte man nicht verfallen lassen, denn sie sind schöne Bauten und die Zierde Eurer Städte und Flecken und könnten als Kirchen, Schulen und Bibliotheken dienen. Das Steuerwesen gleicht einem Netze von Adern, welche das Blut regelmässig zum Herzen zu führen haben, und es muss deshalb von der Centrai-Regierung aus geleitet werden, in deren Dienst auch die Steuereinnehmer zu stellen sind. Umzugestalten giebt's ja viel; doch unterwerft erst alles einer reiflichen Prüfung, und meidet Ueberstürzungen. In dieser Beziehung wird man Euch übrigens, glaube ich, nichts vorzuwerfen haben, und das italienische Sprichwort »Chi va piano, va sano, e chi va sano, va lontano« klingt ganz so, als ob ein Bulgare es aufgestellt hätte. Nun möchte ich die Frage aufwerfen: nehmen die Russen einen Platz im Herzen der Bulgaren ein? Die englischen Tories fürchteten, dass diese befreiten Provinzen dem nordischen Reiche auf seinem Wege nach Constantinopel als Vorposten dienen könnten; waren solche Muthmaassungen begründet, oder waren sie es nicht? Marquis Bath hat erklärt, dass die Bulgaren den Grossmächten in dem Maasse zugethan sind, als sie an ihnen eine Stütze zu finden hoffen, und hierin liegt meines Erachtens nach des Pudels Kern. Den Franzosen stehen die Bulgaren, und zwar ohne Hintergedanken, innerlich nahe, weil sie von denselben nichts zu fürchten haben. Frankreich trat stets für die Rassenfrage ein; 1858 schuf es Italien, im Morgenlande beschützt es die Christen, und einer Einigung Bulgariens würde es durch- - i58 - aus keinen Hemmschuh entgegenstellen. Ueberdies hat es in Sofia einen ausgezeichneten Vertreter gehabt, dessen gastliches Haus zu den Zierden der bulgarischen Hauptstadt gehörte, den später nach Montenegro gesandten Herrn Schefer. England wird schon mit sehr gemischten Empfindungen betrachtet. Gladstone ist der Gegenstand höchster Verehrung, und man weiss dessen Reden über die »bulgarischen Greuel« auswendig, verabscheut aber Beaconsfield und die Tories, die verblendeten Freunde der Türken. Auch für Oesterreich hegen die Bulgaren nicht gerade ein zärtliches Empfinden. Sie sehen dasselbe als einen Feind ihrer Freiheiten und der Slawen an und meinen, dass es den Fürsten auf den Weg der Reaction hindrängt. In erster Linie erheben sie aber gegen das Donaureich den Vorwurf, dass es sich der Befreiung Macedoniens widersetzt, um sich desselben bemächtigen zu können und der römisch-katholischen Kirche die Bahn zu ebnen. Unduldsam sind sie keineswegs, und selbst die mohammedanischen Pomaken betrachten sie als Brüder, weil dieselben der bulgarischen Rasse angehören. Aber seit den kirchlichen Fehden aus der Zeit von 1860 bis 1872 fürchten sie sich ungemein vor den Ränken der päpstlichen Sendlinge und der Jesuiten. Dass Russland sie um den Preis ungeheuerer Opfer an Menschen und Geld befreit hat, erkennen sie durchaus dankbar an; der Zar wird von ihnen als »Befreier und Beschützer« verehrt, und die sanftmüthigen, gutartigen und gefälligen russischen Soldaten hatten sich eine allseitige Zuneigung erworben. Die Rassen- und Religionsgemeinschaft bildet ein mächtiges Band, und überdies war das Land durch den ersten Statthalter, den Fürsten Dondukow, vorzüglich verwaltet worden. Derselbe schuf das Heer, gründete Schulen, sorgte für die Anlage von Wegen und pflanzte in der durch eine lange Ge- waltherrschaft geistig gebrochenen Bevölkerung das Be-wusstsein der eigenen Würde und die Hoffnung auf. Immerhin aber wollen die Bulgaren keine Russen werden und sich auch nicht weiter von denselben regieren lassen, und die Art und Weise, in der man sich in Rumelien und dann auch in Bulgarien der russischen Unterstützung entledigte, beweist das hinreichend. Sollten die anderen Mächte dem Lande jedoch weiter nichts als Gleichgiltigkeit oder Feindseligkeit entgegenbringen, so würde es sich wiederum den Russen zuwenden, und wer wollte ihm dies verargen? Uebrigens haben die Vertreter Russlands, und besonders Herr Jonin, stets, schon um den Oesterreichern entgegenzuarbeiten, die freisinnige Partei gestützt. Will man für immer die Gefahr beseitigen, Bulgarien zum Werkzeuge der den Russen zugeschriebenen ehrgeizigen Absichten werden zu lassen? Nun, man ermögliche es den Bulgaren, ein durch sich selbst genügend kraftvolles Staatswesen zu bilden, welches einen Angriff der Türkei nicht weiter zu fürchten hat. Die Vereinigung Bulgariens und Rumeliens entsprach dem sehnlichen Wunsche der gesammten Bevölkerung und den geographischen und Rassen-Verhältnissen, wie der Geschichte. Sie ist ebenso berechtigt wie die durch Frankreich und auch durch England unterstützte Vereinigung der Moldau und Walachei und müsste von Seiten Europas und der Pforte, als Lehnsherrin, in aller Form anerkannt werden. Damit würde man einen den europäischen Frieden bedrohenden Zankapfel ausmerzen, welcher zugleich auch darauf hinarbeitet, die türkischen Finanzen vollends zu untergraben. Für den brudermörderischen Krieg, welchen die Serben und Bulgaren gegen einander geführt haben, giebt es gar keine Rechtfertigung. Die Menschen sind boden- los thörieht, dass sie, wie im Mittelalter, die Köpfe sich blutig schlagen, um noch einige Bezirke zu erschnappen, während sie doch Ländereien, welche ihnen gehören, unbenutzt liegen lassen. Man wird an Shakspeares »Hamlet« erinnert, woselbst es in der 4. Scene des vierten Aufzuges heisst:1) Hamlet. Gilt es dem eigentlichen Polen, Herr, Oder nur einem Grenzbezirk? Hauptmann. Die Wahrheit zu gestehn, ganz ohne Zuthat, Wir gehn, ein Fleckchen Landes zu erobern, Das weiter keinen Werth hat als den Namen. Für fünf Ducaten, fünf, möcht' ich's nicht pachten; Mehr brächt's auch Polen oder Norweg nicht, Würd' es verkauft als Lehn. Hamlet. Zweitausend Seelen, zwanzigtausend Goldstück' Wird sie der Streit um diesen Strohhalm kosten. Eines kleinen Wiesenlandes wegen wären die Serben und Bulgaren sich neuerdings beinahe in die Haare gerathen. Man tauschte zahlreiche Schriftstücke mit einander aus, und der ganze Streitgegenstand ist noch nicht einmal soviel werth, als man um seinetwillen für Papier und Federn verausgabt hat. Nach den Bestimmungen des Berliner Vertrages soll der Timok, von der Donau an gerechnet, die Grenze zwischen Bulgarien und Serbien bilden. Letzteres erhob nun aber Ansprüche auf eine bei Bregowa gelegene Wiese, welche »Kraliowa Livada« heisst und einen Umfang von ungefähr 15 Hektar hat, weil dieselbe auf dem linken oder serbischen Ufer des alten Flusses sich befindet. Der Timok fliesst heute l) Bodenstedtsche Uebersetzung. jedoch in einem neuen Bette dahin, und dieses hat den fraglichen Fetzen Land auf der rechten oder bulgarischen Seite. Der bulgarische Minister Balabanow machte den Vorschlag, die Wiese bis zur endgiltigen Beilegung des Streites unbenutzt zu belassen. Allein in Belgrad verlangte man, dass die Serben, welche auf jener Wiese seit langem ein Wachthaus gehabt hatten, dieselbe unverweilt zurückerhalten sollten, und als innerhalb dreier Tage keine Ge-nugthuung gegeben wurde, rief man aus Sofia den Vertreter Serbiens zurück und brach mit dem Fürstenthume allen diplomatischen Verkehr ab. Ueber solche Vorgänge kann nur ein verdammendes Urtheil gesprochen werden, und die beiden Nachbarn hätten in dem Gedanken daran, dass sie doch Brüder sind, unter den Schiedsspruch einer befreundeten Macht sich stellen sollen. Durch dieses Ueberwerfen und Entzweien bei der geringsten Meinungsverschiedenheit steht man ja immer auf dem Sprunge, mit Mord und Todtschlag gegeneinander zu wüthen, und so dem Einmärsche einer fremden Macht die Wege zu ebnen. Die Serben und Griechen verdanken ihre Unabhängigkeit den Folgerungen der Rassenfrage, haben sich aber im Gegensatze zu dieser auf die Theorie von dem Gleichgewichte des Balkangebietes1) berufen. Dadurch wurde auf der einen Seite Staunen, auf der anderen Entrüstung hervorgerufen, und keine Macht, kein Staatsmann hat diese Theorie ernst genommen. *) Anhang, »Der serbisch-bulgarische Krieg«. Laveleye, Balkanländer. II. I I Fünftes Kapitel. Rumelien und Macedonien. Von Sofia aus begebe ich mich nach Tatar-Bazard-schik, um hier die Eisenbahn zu besteigen. Den das Gebirge überschreitenden Weg von 115 Kilometern legt man für gewöhnlich, in Jchtiman übernachtend, in zwei Tagen zurück. Doch es gelingt mir, einen kleinen, leichten, mit vier Pferden bespannten Wagen — zum Preise von 120 Franken — aufzutreiben, und so werde ich in einem Tage ans Ziel gelangen, aber unter der Bedingung, dass die Abfahrt um 4 Uhr morgens erfolgt. Mein Begleiter ist der junge Advocat Guerow, welcher in Lüttich studirt hat; er kennt das Land sehr genau, und das Türkische ist ihm ebenso geläufig wie seine Muttersprache, d. h. das Bulgarische. Auf der weiten, menschenleeren Ebene, die unabsehbar um Sofia sich breitet, lagert ein silbergrauer Morgennebel. Bald muss dieser Schleier aber der Sonne weichen, und nun sieht man vom perlfarbenen Himmel in bläulichen Linien die beiden Balkanzweige sich abheben, welche dieses alte Seebecken einschliessen. Eine hölzerne Brücke führt über den vom Rilo-Dagh herabkommenden Isker, an dem weiter aufwärts Sama-kow liegt, und der mit einer Menge von Adern den gelblichen Lehmboden durchzieht. Das Land erscheint wie ausgestorben. Es begegnen uns nur einige Ochsenkarren, auf denen aus dem Walde von Bellowa, dessen Eigenthümer der Baron Hirsch ist, Bau- und Brennholz nach Sofia geschafft wird. Dazu braucht man vier bis fünf Tage, und die Ochsen müssen am Wege nach Futter suchen, während die Treiber ihre Maisnahrung bei sich führen. Unermessliche Reich- thümer besässen diese Bezirke, welche Jahrhunderte lang durch Kämpfe und Bedrückungen zu leiden hatten, wenn — wie in der Schweiz — die Höhen bewaldet wären, und die Regierung sollte vor allen Dingen darauf bedacht sein, die Berge zu beholzen, und gleichzeitig ein gutes Waldschutzgesetz zu schaffen. Jetzt sind Bau- und Brennholz in der bulgarischen Hauptstadt rasend theuer. Den Witosch rechts lassend, überschreiten wir den Balkanzweig, welcher die Wasserscheide zwischen der Donau und dem Aegäischen Meere bildet. Er ist nicht sehr hoch und besteht aus abgerundeten, mit Gestrüpp bewachsenen Hügeln. Hier und dort stösst man auch auf die Spuren der Eisenbahn, welche vor zehn Jahren in Angriff genommen wurde, um Sofia mit der Linie Sarambey-Constantinopel zu verbinden. Brückenpfeiler, die zur Hälfte fertig sind, gucken aus den Schluchten hervor; da und da und da hegen Quadersteine herum; an anderen Stellen sieht man Erd- und Schutthaufen, welche von Regengüssen zerspült und durchrissen wurden, und hin und wieder stecken unter Kräutern und Sträuchern auch sogar Eisenschienen. All diese Dinge erzählen aber in ungeschminkter Wahrheit die traurige Geschichte von der Ohnmacht und Unfähigkeit der türkischen Herrschaft, es anders und besser werden zu lassen. Die Pforte hatte sich nämlich mit dem Unternehmer — Baron Hirsch — überworfen und wollte mit eigener Hand den Ausbau des Bahnnetzes vollführen. Der Pascha jedoch, welchem man die Arbeiten unterstellte, fand sein Amt sehr angenehm und einträglich, und es rückte nichts vorwärts. Er wurde nun abberufen und durch einen anderen Pascha ersetzt, welcher es aber in allen Stücken seinem Vorgänger gleichthat. Schliesslich war die Regierung des Zahlens müde und liess die Arbeiten einstellen, nachdem sie um die Hälfte 11* mehr, als zur Legung der ganzen Linie genügend gewesen wäre, verausgabt hatte. In dem aus strohgedeckten Häusern bestehenden Dorfe Wakarel wird angehalten, um die Pferde zu tränken. Die türkische Inschrift des Brunnens ist mit griechischen Buchstaben niedergeschrieben, und ein Händler hat die Aufschrift seines Ladenschildes in bulgarischer, in hebräischer und in französischer Sprache abgefasst. Mein Reisegefährte erkundigt sich bei einem Bauern nach den wirthschaftlichen Verhältnissen dieser Gegend, und derselbe antwortet ihm: »Alle haben wir so viel Land, als wir bebauen können. Jeder von uns ist Grundeigen-thümer und besitzt zwei Ochsen, ein Pferd und 40 bis 50 Hammel, während den Reichsten vier Ochsen und 300 bis 400 Hammel gehören. Auf die 200 Häuser des Dorfes kommen 5000 Ziegen und Hammel, und wir bringen genug hervor, um unsere Bedürfnisse reichlich befriedigen zu können. Wir haben auch keine Armen unter uns, da jede Familie für ihre kranken und arbeitsunfähigen Mitglieder sorgt. Handelt es sich aber darum, zur Bezahlung der Steuern klingende Münze in die Hand zu bekommen, so stehen wir vor grossen Schwierigkeiten. Am Orte selbst kauft niemand etwas, und die Märkte, wo wir unsere Erzeugnisse absetzen können, liegen so weit weg. Doch es geht nun alles besser wie früher. Unter türkischer Herrschaft trieben dieSpahis den Zehnten ein, wobei sie ganz willkürlich verfuhren, und eine wahre Wolke von Steuererhebern und Schreibern überschwemmte das Land gleich einem Heuschreckenschwarme. Die reifen Früchte konnten vor der Besichtigung und Abschätzung durch die Beamten gar nicht eingebracht werden, und man musste diesen Leuten Geld zustecken, damit sie überhaupt rechtzeitig kamen und die Ernte nicht auf dem Felde verderben Hessen. Nun ist der Zehnte dauernd festgesetzt; jedes Dorf weiss, was es zu zahlen hat, und vertheilt den Betrag auf seine Bewohner.« Der Weg nach Ichtiman führt durch ein schönes, sehr fruchtbares und nicht schlecht angebautes Thal, woselbst Weizen, Roggen und Mais vortrefflich stehen. Der Hochzeitszug, welcher gerade die Stadt verlässt, macht einen wundervollen Eindruck. Die aus Ichtiman stammende junge Frau wird nach dem Dorfe des Gatten geleitet, und die Männer führen dabei eine Art von Kampfspiel auf und feuern Flinten- und Pistolenschüsse ab. Eine sehr viel lebhaftere und gefälligere Farbenzusammenstellung, als man sie im mittleren Bulgarien zu sehen bekommt, zeigt die entzückende Gewandung der Frauen. Auf den Haaren, welche in langen, mit Blumen durch-flochtenen Zöpfen herunterhängen, sitzt schmuck ein ganz mit Perlen und Federn bedecktes griechisches Sammet-mützchen; unter der kleinen, mit Goldlitzen besetzten und vorne weit offenen Jacke sieht ein schönes Hemd hervor, das am Halse und an den Aermeln mit bunter, hellfarbiger Wolle bestickt ist, und auf den gleichfalls bestickten braunen Rock fällt ein wundervoller Rock aus rother Seide herab. Hier sehen die Leute ganz anders aus als die Bauern in der Gegend von Sofia. Die Frauen haben eine helle Gesichtsfarbe und blonde Haare, und die Männer schauen nicht so finster drein, sondern blicken offener und freier. Wir sind nun in Ost-Rumelien, und der Zollbeamte, welcher unsere Koffer durchsucht, bittet dabei sehr höflich und in französischer Sprache um Entschuldigung. Einen gleichfalls rechr guten Eindruck machen die Polizeibeamten mit ihren weiten, blauen, in hohen Stiefeln steckenden Beinkleidern, dem weissen Mantel und der mit einem kupfernen Kreuze geschmückten Mütze aus Astrachanpelz; ihren Säbel tragen diese Leute nach russischer Weise. Malerisch sieht das Haus aus, an dem wir halten, und das ein türkischer Gastwirth sich eben erst, und zwar ganz aus Holz errichtet hat. Ein grosser Vorbau ragt in die Strasse hinein, und im Innern heben sich, dem türkischen Geschmacke entsprechend, die hellblau gezeichneten Blumen und Arabesken scharf und unvermittelt ab von den mit Kalk geweissten Wänden. Von der geringen Sorgfalt aber, mit welcher der ganze Bau vollführt wurde, kann man sich kaum eine Vorstellung machen. Im ersten Stockwerke sieht man durch die Ritzen des Fussbodens, was im Erdgeschosse sich zuträgt; die Bretter, welche die Scheidewände zwischen den einzelnen Zimmern bilden, sind auf einen als Querstange dienenden rohen, unabgeschälten Baumstamm genagelt, und die schlecht gefügten Dachziegel werden schwerlich dem Regen den Eintritt verwehren. Von dem Bestreben, sich behaglich und dauerhaft einzurichten, spricht hier nichts, und in dem Beobachter steigen unwillkürlich allerlei Fragen auf: Fehlt's an Geld? Sorgt man nicht um den kommenden Tag? Denkt man an die nächste Feuersbrunst, oder wirkt vielleicht, wenn auch unbewusst, die Erinnerung an das Nomadenleben und seine Zelte? Mohammedaner im Turban und mit gekreuzten Beinen sitzen ernst und traurig auf hölzernen Bänken im Kaffeezimmer des Erdgeschosses. Sie rauchen aus langen Pfeifen oder verzehren mit Hilfe der Hände ein aus Reis und geröstetem Lammfleisch bestehendes Gericht. Zum Nachtisch essen sie etwas Käse aus Molken — »Yurt« —, und andere Getränke als Kaffee und Wasser kommen nicht über ihre Lippen. In ihnen sieht man Mohammedaner von altem Schrot und Korn vor sich, die das Abendland noch nicht verdorben hat. Sie sind nicht mehr wie ehemals die unumschränkten Herren, stehen aber mit den Bulgaren auf gutem Fusse. Es war eine unvergleichliche Eingebung Mohammeds, die Abwaschungen zu ge- und das Hinunterspülen von Weinen und Liqueuren zu verbieten, und die Beobachtung solcher Vorschriften bewahrt viel besser als alle Mässigkeitsvereine vor dem ausschweifenden Genüsse geistiger Getränke, dieser Pest der Neuzeit, welche so viele Opfer verschlingt. Die Hauptstrasse Ichtimans läuft zwischen türkisch eingerichteten, d. h. offenen und niedrigen Läden hin, und auf den Bauerhöfen bemerkt man an der Innenseite der Eingangsthüre Pferdeschädel, welche auf Pfählen ruhen und gegen böse Geister schützen sollen. Die bulgarische Kirche ist eine kleine, sehr niedrige und unscheinbare Baulichkeit aus Stampferde und macht den Eindruck, als ob sie nicht bemerkt sein wolle. Ihre Glocken hängen in einem äusserst kunstlosen Glockenturme, der einfach durch vier Stangen mit einem daraufliegenden kleinen Strohdache gebildet wird. Die Moschee aber mit ihrem spitzen Minaret ragt hoch empor. Neben ihr befindet sich die türkische Schule, welche zwei Klassenzimmer hat, in denen es jedoch weder Bänke und Tische, noch sonstige Ausstattungsgegenstände giebt. Die Schüler sitzen auf der Erde und schreiben auf Schiefertafeln, und was man ihnen beibringt, besteht hauptsächlich in dem Auswendiglernen von Koranstellen. Der »Hamam«, das öffentliche Bad, hat ein flach gewölbtes Kuppeldach, durch dessen dicke, wie Flaschenböden geformte Glasscheiben ein grünliches Licht in den Baderaum fällt. Leider schwinden diese vortrefflichen Anstalten, d. h. die öffentlichen Bäder, mit der mohammedanischen Bevölkerung eines Ortes, während man dieselben im Gegenteile, hierin von den Türken lernend, unterhalten und im Abendlande allgemein verbreiten sollte. In mohammedanischen Ländern strömen die Menschenmassen in Folge der vielen Bäder und täglichen Abwaschungen, welche der Koran vorschreibt, nie diese ekelhaften Dünste und Gerüche aus, durch die man anderswo so sehr belästigt wird. Von der Ausführlichkeit jener auf die Reinigung bezüglichen Gebote, denen die Moslims durch ihre Religion unterliegen, kann man sich kaum eine Vorstellung machen. Es ist vorgeschrieben: i) Das vollständige Bad im Hamam, welches mindestens ein Mal in jeder Woche genommen werden muss. 2) Der »Taherat«, eine Art von Dousche, die man, ein Becken — »Ibrik« — gebrauchend, nach dem Essen vornimmt. 3) Der »Guslü«, die »Reinigung«, nach jeder aufgeregt verbrachten Nacht. Hierzu hat jedes Haus eine Wanne aus Holz oder Marmor, »Naouzi Gusli« — bei den Römern »Labrum« genannt —, worin man 3 Mal untertauchen muss. 4) Das Bad1) der Braut am Abende vor der Eheschliessung, welches auch in Russland gebräuchlich ist. 5) Der »Abdest« oder die Abwaschung vor dem Gebete, und besonders vor dem Eintritte in die Moschee. — Um dieser letzteren Vorschrift nachkommen zu können, haben sich die Moslims neben ihren Gotteshäusern stets Brunnen eingerichtet. Sie glauben, dass der Betende reinen Herzens und rein an seinem Körper sein muss, damit Allah an dem Gebete Wohlgefallen finde, und man erzählt, dass in der Wüste Karawanen vor Durst umgekommen sind, weil sie einen Theil ihres Wassers zu den Abwaschungen aufheben wollten. Fehlt es aber an Wasser, so kann man in Ermangelung desselben auch Sand oder Gras benutzen. Beim Abdest wäscht man sich das Gesicht, die Ohren, den Hals, die Hände, die Arme u. s. w. Während der Feste, welche bei der Einweihung des Suezkanals veranstaltet wurden, hatten die Araber der Wüste ihre i) Erster Band, S. 231. Zelte Ismailia gegenüber, auf der anderen Seite des Süss-wasserkanals, aufgeschlagen, und am Rande desselben konnte man sie zur Zeit des Sonnenunterganges in langer Reihe kauern und den Abdest in sorgfältigster Weise an sich vornehmen sehen. Sie scheuten durchaus nicht die Nähe des öffentlichen Weges, den gerade die Kaiserin Eugenie in Begleitung eines glänzenden und zahlreichen Gefolges benutzte, und dem Auge bot sich hier ein ganz eigenartiger Anblick dar. In der Vorstadt von Ichtiman wohnen, in Hütten aus Schilfrohr hausend, mohammedanische Zigeuner. Diese Leute mit der gebräunten Gesichtsfarbe, den krausen Haaren, der hellfarbigen Kleidung, der zahlreichen, ganz nackt im Sande herumkrabbelnden Kinderschaar, sie bleiben sich stets gleich, und man hat in ihnen richtige indische Sudras vor Augen. Im Wirthshause erprobte sich mir jene türkische Redlichkeit, von der ich so oft sprechen gehört hatte. Der Wirth rechnete und rechnete; er fuhr sich in die Haare, er schrieb mit dem Finger Zahlen in seine Hand hinein, und ich machte mich schon auf ein Ungeheuer von Rechnung gefasst. Da höre ich, dass — 82 Centimes zu zahlen sind. Wir hatten allerdings Vorräthe mitgebracht, uns aber doch Käse, Früchte, Brot, Kaffee und den Pferden Heu geben lassen. Aus Ichtiman heraustretend, sieht man sich auf einer weiten, grünen Ebene, die von Weiden und einigen schönen Eichen umsäumt wird. Es ist dies die Gemeindewiese, und alle Städte der Balkanhalbinsel besitzen eine solche; hier werden die Herden, mit denen man unterwegs ist, und die Gespanne hingetrieben. Nun gilt's, über den Hügelwall zu kommen, welcher vor dem Becken der Maritza sich aufthürmt und Eichen-und Buchengehölze, darunter aber keine grossen und auch nicht einen einzigen Nadelbaum trägt. Der Weg ist gut und sehr viel besser als im Fürstenthume, dessen Grenze hinter uns liegt, unterhalten. Auf der Höhe trifft man den Unterbau eines römischen Triumphbogens, der 1835 noch vollständig vorhandenen »Trajanischen Pforte«, und Chosrer Pascha, der sie zerstören liess, hat sich die Alterthumsforscher wohl nicht zu Freunden gemacht. Ein Marmorstück trug eine lateinische Inschrift, von der aber nur noch einige Buchstaben zu entziffern waren, und bei der Errichtung des Blockhauses, in dem wir uns Milch geben liessen, hatten Trümmer jenes römischen Baues Verwendung gefunden. Der Ort, ein rumeliotischer Wachtposten, heisst Kapujuk, was im Türkischen so viel wie »kleine Pforte« bedeutet. »In dieser ganzen Gegend«, sagte der Sergeant, von den Greuelthaten erzählend, welche die türkischen Horden während des letzten Krieges begangen haben, »ist das Blut in Strömen geflossen. Wenn die Türken, welche wir uns um einen solchen Preis vom Halse schafften, doch nur nicht wiederkämen! Leider droht ein solches Unheil uns beständig, denn sie haben ja das Recht, den Balkan von neuem zu besetzen.« Ueberau habe ich hier ein peinigendes Gefühl der Unsicherheit angetroffen, und dasselbe wurzelt in jenem abscheulichen Artikel des Berliner Vertrages, welcher nur Schlimmes zeitigen kann. Wollten die Türken davon Gebrauch machen, um nach Rumelien zurückzukehren, so würde ja die gesammte Slawenbevölkerung der Balkanhalbinsel wie ein Mann sich erheben. Am Ausgange des Gebirges — etwa vier Wegstunden von Ichtiman entfernt — liegt das umfangreiche bulgarische Dorf Wetren. Dessen grosse, meistens aus Holz oder Stampferde aufgeführte Häuser sind von Scheunen und Ställen umgeben und haben, was hier als ein Zeichen bedeutenden Wohlstandes gilt, eine Ziegelbedachung. Der Gemeindehirte — i7i — treibt eben die Hammel ein, und die Ochsen, den schweren und unförmlichen hölzernen Pflug nach sich ziehend, kommen vom Felde zurück; den dabei aufwirbelnden Staub aber wandelt die untergehende Sonne in ein Goldgeflimmer. Bunt und hellfarbig gekleidete Frauen sitzen um den Brunnen herum, über den die herkömmliche weisse Marmortafel mit einer Koranstelle als Inschrift hervorragt, und es ist ein ganz eigener Reiz, welchen der malerische Anzug der Dorfleute über das gewöhnliche Treiben des Landlebens breitet. Wundervoll — am Rande einer Felsenschlucht, wo die blassgrünen Blätter der Farnkräuter an das röthlich-gelbe Gestein sich schmiegen — liegt ein kleines Gehöft. Um dasselbe hat man eine Einfriedigung von Strauchwerk gezogen, damit hier das Vieh sich frei tummeln kann, und eben spielen Kinder mit drei munteren Ferkelchen herum. Ihm gehören, erzählt der auf dieser Besitzung ansässige Bauer, bei dem wir eingetreten sind, -zwei Arbeitsochsen, aber keine Pferde und Hammel. Der letzte Krieg hatte ihn um all sein Vieh gebracht, und er muss sparen, um wieder auf den vorigen Standpunkt zu kommen. Jeder hier in Wetren ist Eigenthümer des Hauses, in dem er wohnt, und besitzt Land genug, um sich und die Seinigen zu ernähren. Sein Weinberg aber liefert ihm so viel Wein, dass er selbst vollauf trinken und auch noch verkaufen kann, und für den so gewonnenen Erlös beschafft er sich alsdann die Dinge, welche er nicht selbst herzustellen vermag. In den Nachbardörfern, die abseits vom Wege liegen und daher nicht so vom Kriege gelitten haben, ist sehr viel mehr Vieh vorhanden, und die reichsten Bauern besitzen dort 300 und auch wohl 400 Hammel. — Die in einem Schuppen untergebrachten Ackerbaugeräthe, nach denen ich mich umsehe, sind äusserst einfacher Natur. Der Pflug scheint unvermittelt aus den Händen Triptolems zu kommen; er hat zwar ein eisernes Messer, aber kein Streichbrett, und die Stöcke an den Seiten müssen dasselbe ersetzen. Ausserdem sind nur noch eine sehr leichte Egge, eine Hacke, eine Heugabel und ein kleines Butter-fass vorhanden. Das Innere des Hauses umschliesst zwei Zimmer, von denen das eine als Küche dient, und hier brodelt über offenem Feuer in dem an einem Kesselhaken hängenden Topfe der Maisbrei, die Polenta. Das Schlafzimmer hat einen Ofen, aber kein Bett, dessen Stelle ein auf die Erde gebreiteter Teppich vertreten muss, und nur einige Schemel, nicht aber Tische und Stühle sind da. In den sehr kleinen Fenstern stecken keine Glasscheiben, die hier überhaupt zu den seltenen Prachtstücken gehören. Vor den Oeffnungen sind vielmehr Holzgitter angebracht, worüber in der Nacht Laden gelegt werden, und im Winter hat man zwischen Kälte und Dunkelheit zu wählen. Wände und Decke sind vollständig vom Rauche geschwärzt, und die ganze Behausung besteht keinen auch noch so entfernten Vergleich mit dem Heime eines holländischen oder dänischen Bauern. Aber diese Leute, welche so schlecht wohnen, essen — was ja für alle nicht dicht bevölkerten Länder zutrifft — gut. Morgens giebt's Brod und Milch, Mittags Fleisch und dazu Polenta oder Bohnen und Abends Milch, Käse und Eier, und von Zeit zu Zeit kommt ein Lamm oder ein Huhn dazu. In dieser ganzen Gegend, wie überhaupt in jedem mohammedanischen Lande, bildet der Hammel, dieses Thier der unbebauten Bezirke, das eigentliche Schlachtvieh, und es ist unerhört, wie viel man davon verbraucht. Vor den Herbergen hängen die abgezogenen Thiere und die frischen Häute, und das geröstete Fleisch wird in Stücken verkauft. Hier in Wetren, das man früher Jeni-Keui nannte, weilte Lamartine zwanzig Tage, als er, aus dem Morgenlande zurückkehrend, vom Fieber ergriffen wurde, und in seinen Aufzeichnungen schreibt er hierüber: »Eine tiefe Schlucht trennt die beiden Hügel, auf deren Abhängen die zwischen Obstgärten und Wiesen zerstreut umherliegenden Häuser sich erheben. Alle Berge sind an ihrem Fusse bebaut und auf ihrem Rücken mit schönen Wäldern bedeckt, während ihre Gipfel aus Felsen bestehen. Es war mir auch vergönnt, im Verkehr mit den Familien die Lebensweise des Volkes kennen zu lernen. Die Bulgaren sind einfache, gutartige, arbeitsame Menschen, welche voll Ehrfurcht zu ihren Priestern aufsehen und in ihren Sitten den Bauern der Schweiz und Savoyens gleichen. Ihre hübschen, lebhaften und an-muthigen Frauen und Töchter kleiden sich ungefähr so wie die Bergbewohnerinnen der Schweiz, und die ländlichen Tänze, an denen man sich hier ergötzt, sind auch in unseren französischen Dörfern heimisch. Die für die Unabhängigkeit vollständig reifen Bulgaren (es ist dies im Jahre 1833 geschrieben!) bilden mit ihren Nachbarn, den Serben, die Grundlage für das, was dereinst auf dem Boden der europäischen Türkei erstehen wird. Bei ihrer Liebe zur Mutter Erde würde das Land bald ein anmuthi-ges Gartengefilde sein, falls man sie mit etwas grösserer Sicherheit arbeiten liesse. Hieran aber fehlt's eben, und zwar durch die Dummheit und Verblendung nicht der Regierung, sondern der türkischen Verwaltung.« Bei seiner Wanderung durch Serbien bewundert Lamartine noch die schönen Wälder, diese Wiege der Freiheit, welche heute bereits der Vergangenheit angehören. »Hinter Nissa betraten wir den Waldocean Serbien«, schreibt er. »Sechs Tage waren wir unter diesen Eichen und Buchen, deren herrliches Laubdach gleich einer undurchdringlichen Kuppel uns beschattete, und das Auge weilte immerfort auf diesen endlosen Reihen hoher, markiger Stämme, auf dem vom Winde geschaukelten Laube, den Hügeln und Bergen, welche im Schmucke hundertjähriger Baumriesen prangten.« Einen Blick auf die Zukunft werfend, sagt Lamartine: »Serbien gehört eben zu den wesentlichen Bestandtheilen in dieser Gruppe von freien Staaten, welche die durch das Verschwinden des türkischen Reiches entstehende Lücke auszufüllen haben, und der Politik Europas sind die Wege also schon vorgezeichnet.« Weiterhin schliesst er dann mit dem Rufe: »Ich möchte gerne gemeinsam mit diesem Volke um die Krone der Freiheit ringen!« Es sind das schöne, erhebende Worte, welche da vor einem halben Jahrhundert ausgesprochen wurden. Doch heute ist das Herz Europas erstarrt, und Recht und Freiheit, sie finden dort keinen Widerhall mehr. Rüttelt ein Volk an seinen Ketten, so fallen ja die Papiere. Ist das nicht schlimm, allzu schlimm? Die Geknechteten müssen also wieder zurück ins Joch, und man freut sich darüber, dass der Türke von neuem für Ordnung sorgt. Von Wetren nach Tatar-Bazardschik führt der Weg durch eine fruchtbare und gut angebaute Ebene, auf welcher Weinland und Gersten-, Hafer- und Maisfelder mit einander wechseln, die aber nur wenig Weizen und gar keine Kartoffeln aufweist. Ueber die Abwesenheit dieser Knollenfrucht, welche auf der baltischen Ebene so viel gegessen wird, kann man sich jedoch recht freuen, da sie nur einen sehr massigen Nährwerth besitzt und durch ihre Billigkeit zur Herabdrückung der Löhne beiträgt. Rechts erheben sich in düsterer Grossartigkeit die Gipfel des Rhodope-Gebirges, von denen einige mit Schnee bedeckt sind, und am Fusse derselben, auf dem rechten Ufer der Maritza, liegt der Wald von Bei- Iowa. Ueberraschend gross ist die Anzahl der Gräber, an welchen der Weg vorüberführt. Doch man steht damit vor einer Erscheinung, die für ganz Bulgarien zutrifft, und wohl nirgends wütheten die Menschen mehr als hier mit Mord und Todtschlag gegen einander; beim Aufgraben einzelner Hügel hat man Waffen aus den verschiedensten Zeitabschnitten gefunden. Herodot (Buch V, Kap. 8) berichtet von diesen Grabhügeln der Thracier; er schildert, wie reiche Leute beerdigt wurden, und bemerkt dabei, dass man nach dem Verbrennen oder Hinuntersenken der Leichen einen Hügel aufschichtete. Um 9 Uhr abends kommen wir in Tatar-Bazardschik an. Unsere wackeren Pferde machen ihrer ungarischen Abstammung alle Ehre, denn sie sind seit 4 Uhr morgens auf den Beinen und haben mittags nur zwei Stunden Rast gehabt. In einem grossen, ganz neuen Gasthofe, den die griechisch-katholische Kirche dicht an der Maritza aufführen liess, linden wir ein sehr gutes Unterkommen. — An den Ufern der Maritza, dem Hebrus der Alten, wurde ja Orpheus von den erzürnten Thracier-innen getödtet, und die Strömung führte den zerstückelten Leichnam hinweg. Mein Auge schaut auf den Fluss hinab, der in einem wenig tiefen Kieselbette sich bewegt. Ueber die dunkle Fluth hat der Mond seinen silbernen Schimmer gebreitet, und ich gedenke Virgils und Ovids. Spretae ciconum quo munere matres, Inter sacra deum nocturnique orgia Bacchi, Discerptum latos juvenem sparsere per agros. Tum quoque, marmorea caput a cervice revolsum Gurgite quum medio portans QEagrius Hebrus Volveret, Eurydicen vox ipsa et frigida lingua Ah! miseram Eurydicen! anima fugiente, vocabat; Eurydicen toto referebant flumine ripae. Georgica, IV, 520—527. Caput, Hebre, lyramque Excipis et, mirum, medio dum labitur amne, Flebile nescio quid queritur lyra, flebile lingua Murmurat exanimis; respondent flebile ripae. Ovid, »Die Metamorphosen«, XI, 50—53. Als Orpheus starb, seufzte der Rhodopus, dessen Gipfel in bläulichen Linien zu mir herüberschimmern: Flerunt Rhodopeiae arces! Wer wohnte damals in dieser Gegend, welche nach dem Glauben der Alten in ewigem Froste starrte? Solus Hyperboreas glacies Tanaimque nivalem Arvaque Rhipeis nunquam viduata pruinis Lustrabat — ? Warens schon Slawen? Die Geschichte lässt eine solche Frage unbeantwortet. Albert Dumont hat auf dem türkischen Friedhofe von Tatar-Bazardschik — dem alten Bessapara — einen Marmorstein aus der Zeit Alexanders gefunden, und er berichtet darüber: »Die Türken halten ihn für heilig; sie breiten Fäden, die aus den Kleidern der Kranken herausgezogen wurden, über ihn hin und holen sich von hier Staub, welcher ihrer Meinung nach wunderthätige Kräfte besitzt.« Das Grabmal, ein Obelisk aus einem einzigen Steine mit einer Inschrift in sehr schönen Schriftzeichen, beweist es, dass hier vormals eine in griechischen Händen befindliche Stadt gelegen hat. Diese Inschrift gedenkt der Festreden, der Verehrung Apollos, der Preise, welche die aus den Spielen als Sieger Hervorgegangenen erhielten. Durch das ganze Land hin hat man überdies an vielen Orten Münzen gefunden, welche ebenso vollendet wie die Attikas sind, und auch Inschriften und Werke der Bildhauerkunst, die für viele bedeutende, nun längst dahingeschwundene Städte Zeugniss ablegen. Zur Zeit der römischen Herrschaft scheint man in den Städten und selbst in den Dörfern das Griechische gesprochen zu haben. Tatar-Bazardschik ist eine Kreisstadt mit 15000 Einwohnern, die ihr türkisches Aussehen noch nicht verloren hat, obgleich die osmanischen Truppen bei ihrem Rückzüge einen Theil derselben zerstörten und verbrannten. Der Präfect, mit dem wir nach dem Abendessen zusammentreffen, sagt, dass Mohammedaner und Christen friedlich neben einander leben. Jene meinen allerdings, der gegenwärtige Zustand der Dinge wäre nur ein einstweiliger, und die Zeiten der unumschränkten türkischen Gewaltherrschaft würden wiederkehren. Geschähe dies, wenn auch nur vorübergehend, so rächen die Moslims sich gewiss furchtbar dafür, dass das Gesetz es jetzt wagt, sie mit anderen Bekennern in eine Reihe zu stellen. »Die Unsicherheit«, erklärt der Präfect, »bringt einzig und allein der Rhodopus ins Land. Aus den wilden Schluchten desselben stürzen Räuberbanden hervor, welche plündernd unsere fruchtbaren Ebenen durchstreifen und sich, werden sie verfolgt, nach Macedonien hinüberflüchten, woselbst wir ihnen nicht weiter beikommen können.« — Die Oka Hammelfleisch — 1.278 kg — kostet hier einen Franken; für 1% Franken bekommt man ein Paar Hühner und für 600 Franken ein Joch Ochsen. Im Verhältniss zum Preise der Lebensmittel werden die Arbeiter gut bezahlt, und es erhält z. B. ein Tagelöhner zwei und ein Tischler täglich vier bis fünf Franken. Vermittelst der Eisenbahn erreicht man von Tatar-Bazardschik aus in 1 V2 Stunden Philippopel, die Hauptstadt Ostrumeliens. Der Schienenstrang durchläuft das äusserst fruchtbare Thal der Maritza, wo die niedrigen Weinberge denen Frankreichs an strotzender Kraft und Fülle gleichen und all die Trauben weder von der Reb- Laveleye, Balkanländer. IL 12 laus, noch von dem Traubenpilze, dem Oidium, behelligt werden. Man gewinnt hier einen Wein von vorzüglicher Güte, von dem ein Liter 30 bis 40 Centimes kostet; derselbe ist sehr kräftig und steht in der Mitte zwischen dem Burgunder und spanischen Val-de-Penas. Die Felder tragen Weizen, Mais und in besonderer Menge Gerste welche man hier — wie in Asien — mehr als den Hafer zum Füttern der Pferde verwendet. Rechts, in einer Linie mit der Maritza, zieht das Rhodope-Gebirge, der Despoto-Dagh und links, in weiterer Ferne, die Balkankette, der Hämus der Alten, sich hin. In der Mitte der Ebene tauchen aber plötzlich drei vereinzelte Syenithügel auf, und diese tragen Philippopel und seine Vorstädte. Doctor Tschomakow erwartet uns auf dem Bahnhofe, und wir werden von ihm nach seinem glänzend ausgestatteten Heimwesen geleitet und hier in gastlichster Weise bewillkommnet. Unser Wirth ist zu Kopriuschtitza, in Ostrumelien, geboren und hat in Pisa und in Paris studirt. Dann liess er sich in Philippopel als Arzt nieder und wirkte als solcher bis zum Ausbruch der Fehde zwischen den Bulgaren und der griechisch-katholischen Geistlichkeit. Im Jahre 1862 sandte man ihn als Vertreter der Bulgaren nach Constantinopel. Er wurde nun die Seele der auf eine unabhängige Kirche hindrängenden Bestrebungen, und nach der Ernennung des ersten Exarchen — 1872 — wählte man ihn zum Mitgliede für den gemischten Rath des Exarchates. Bis zum Abschluss des Berliner Vertrages blieb er in Constantinopel. Er ist Vorsitzender des Gesundheitsrathes und Mitglied der gesetzgebenden Versammlung und gehört zu den bedeutendsten Männern des Landes; das Türkische, Griechische, Bulgarische, Französische und Italienische spricht er mit der gleichen Vorzüglichkeit. Philipp, der Vater Alexanders des Grossen, ist der Gründer Philippopels, welches im Bulgarischen »Plovdiv« heisst. Vom Bahnhofe nach der eigentlichen Stadt läuft eine breite und lange, auf beiden Seiten mit Bäumen bepflanzte Strasse hin; hier liegen mitten in Blumengärten hübsche Landhäuser, und in grossen und schönen Gebäuden sind die verschiedenen Consulate untergebracht. Im Inneren der Stadt gemahnt nichts an das Morgenland, und man könnte meinen, in einer alten befestigten Stadt Süd-Italiens zu weilen. Die engen Strassen gehen über steile Abhänge zwischen sehr hohen Häusern hin, deren obere, oft hölzerne Stockwerke überstehen und dabei durch Balken oder Mauervorsprünge gestützt werden. Einzelne Behausungen gleichen römischen Landhäusern, wie man sie auf den Frescogemälden Pompejis sieht. Oeffnet sich die schwerfällige Pforte, welche in eine hohe Mauer eingelassen und mit grossen Nägeln und eisernen Stangen beschlagen ist, so steht man auf einem mit weissen Marmorfliesen ausgelegten Hofe, und hier breiten Kirschbäume mit leuchtend rothen Früchten und Akazien ihre Zweige über den Brunnen und über den Behälter, in dem sich das Regenwasser ansammelt. Dahinter liegt das Haus mit seinen schlanken Säulen und hohen Pfeilern. Der ganze Bau trägt auf weissem Untergrunde hellblaue Adern und Arabesken, und über die Vorderseite winden sich Weinreben, zwischen denen bläuliche Trauben blinken. Hier und dort durchbrechen Sonnenstrahlen das Laubwerk, goldene Streiflichter über den. weissen Marmor und die Blumen werfend, und mitten in dieser köstlichen Frische und bei diesen heiteren Farben rings herum kommt über den Eingetretenen so etwas wie Glück und Lebensfreude. Solche Eindrücke bilden aber einen grell abstechenden Gegensatz zu den Berichten über die während des 12* letzten Krieges von den Türken planmässig begangenen Grausamkeiten. Man suchte die Bevölkerung mit lähmender Furcht zu erfüllen und so von einer Erhebung beim Näherkommen der Russen zurückzuschrecken. In Philippopel wurden täglich 20, 30 und einmal sogar 60 Bulgaren gehängt. Als dann auf Beschwerden der Gesandten hin Achmed Vefikz Pascha sich einfand, um den Schlächtereien ein Ende zu machen, liess — gleichsam zur Feier seiner Ankunft — Suleiman Pascha 6 Rajahs vor dem Konak aufknüpfen, und zwar, wie er behauptete, infolge geheimer Weisungen, welche ihm aus Constantinopel zugegangen waren.1) Die Gegend zwischen der oberen Maritza und dem Balkan hatte damals am meisten zu leiden, und der jeweilige Vor- oder Rückmarsch des russischen oder türkischen Heeres machte sich dort den Leuten sofort fühlbar. Die wohlhabende Handelsstadt Karlowo fiel nach dem Abzüge des Generals Gurko der Plünderung anheim; 1500 seiner Einwohner metzelte man kaltblütig nieder, und es sollen dadurch, heisst es, mehr als 900 Frauen zu Wittwen geworden sein. Einen angesehenen Mann, den Doctor l) Graf Bourgoing, der französische Gesandte, schrieb am 16. August 1876 über die Amnestie, welche die Pforte den Bulgaren gewährte, und wobei sie »die Führer der Empörung und diejenigen, welche an derselben einen thätigen Antheil gehabt hatten«, ausnahm: »Bei diesen Einschränkungen sinkt der Er-lass zu einem vollständigen Gaukelspiel herab und verhindert es durchaus nicht, dass Verfolgungen in grossem Maassstabe betrieben werden. Man wird einige elende Kerle laufen lassen, doch dabei beharren, ohne Gnade und Barmherzigkeit die aus irgend einem Grunde Verdächtigen zu packen.« Baron Avril aber sagt (Corrcspondant, 25. Juli 1884): »Man kann unmöglich daran zweifeln, dass mit dieser Beseitigung der »Führer« das bulgarische Volksthum südlich vom Balkan planmässig ausgerottet werden sollte.« Heute verfährt man in Macedonien nach dem gleichen Grundsatze und bethätigt denselben nur mit etwas anderen Mitteln. Die hauptsächlichsten Vertreter des Bulgarenthums werden nun nicht aufgeknüpft, sondern als Verbannte ans Ufer des Rothen Meeres und nach Kleinasien geschickt; doch das Ergebniss ist das gleiche, nämlich — der Tod. Popow, welcher friedlich in seiner Behausung weilte, schleppte man von Karlowo nach Philippopel, wo man ihn aufknüpfte, ohne sich auch nur mit der Form eines Processes befasst zu haben. Kalofer, das Dorf Schipka, Eski-Zagra, Kazanlik, der Hauptort des R osenthales, wurden ganz oder theilweise geplündert und verbrannt, und amerikanische Zeitungen haben damals über all jene Vorgänge sehr genau berichtet. Es liegt also auf der Hand, welch ein Entsetzen die Leute hier bei dem Gedanken an eine etwaige Wiederkehr der Türken befällt. Sie wissen nur zu gut, was ihrer dann harrt, und Europa kann sie unmöglich einer fürchterlichen Rache preisgeben wollen. Man führt hier bittere Klagen über den Artikel 10 des Grundgesetzes, wonach dem Sultan das Einspruchsrecht gegen die von der Provinzialversammlung genehmigten Gesetze zusteht. Von dieser Befugniss macht der Beherrscher der Gläubigen nun Gebrauch, um sich einer Reihe vortrefflicher Maassnahmen zu widersetzen, und zu diesen gehören: Ein Gesetz, das die Regierung dazu ermächtigt, den während des letzten Krieges geschädigten Bauern 2 580000 Franken gegen hypothekarische Sicherheit vorzuschiessen; einCivilstandsgesetz; ein Waldschutzgesetz; ein Pressgesetz: ein Gesetz, welches die Wakufs zu Freigütern macht; ein Unterrichtsgesetz; ein die Besitztitel regelndes Gesetz; ein Gesetz, das die zur Ausfuhr bestimmten Weine und Spirituosen als zollfrei erklärt, und der Bau einer Eisenbahn, welche Burgas, den einzigen guten und nun doch fast werthlosen Hafen Rumeliens, mit dem bereits im Betriebe befindlichen Schienennetze verbinden würde. Die Bevölkerung ist sehnsüchtig bestrebt, in eine bessere Lage hineinzukommen, und sieht sich dabei an eine fremde, launenhafte, rücksichtslos gebietende Macht gefesselt, welche nicht das geringste — l82 - Interesse an dem Gedeihen des Landes hat. Vor dessen Fortschritten muss sie im Gegentheile zittern, wohl wissend, dass alle neugewonnenen Kräfte zu Waffen gegen die verhassten Tyrannen werden. Sind derartige Verhältnisse nicht namenlös grausam? Trotzdem war es möglich, gewisse wichtige Verbesserungen durchzuführen, die sich in Folgendem verkörpern: in der Einrichtung eines Grundbuches, der Annahme des Decimalsystems, der Reorganisation des Elementarunterrichtes, der Regelung des Gesundheitsdienstes, der Gründung von Land-wirthschaftsbanken, der Enteignung in Sachen des Allgemeinwohles und der Einrichtung einer Stadt- und Landpolizei. Die von sieben Vertretern der Grossmächte aufgesetzte Verfassung Rumeliens ist so freiheitlich und demokratisch, als man's nur wünschen kann. Sie wurde, oft wörtlich, nach dem Vorbilde der belgischen Verfassung niedergeschrieben und sichert alle Freiheiten und Rechte. Die gesetzgebende Versammlung besteht aus dem Mufti, dem Oberrabbiner der Provinz und den Häuptern der fünf Christengemeinden, den Vorsitzenden des Oberappellations- und des Verwaltungsgerichtes und dem Ober-Finanzcontrolleur, aus 10 Mitgliedern, die der Statthalter ernennt, und aus 36 Mitgliedern, die durch eine in 36 Wahlbezirken vorgenommene directe und geheime Abstimmung berufen wurden. Wählen können alle Rumelioten, die mindestens 21 Jahre zählen und Grund und Boden, ein Handelsgeschäft oder eine gewerbliche Anlage besitzen, oder denen durch ihren Stand als Lehrer, Advocaten oder Geistliche das Wahlrecht zufällt. Für das Uebergewicht des Bulgarenthums spricht schon der Umstand, dass von den 36 Abgeordneten 29 griechisch-katholische Bulgaren sind; auch unter den 10 vom Oberstatthalter berufenen Mitgliedern befinden sich 7 griechisch-katholische Bulgaren und dann noch i römisch-katholischer Bulgare, i Türke und i Grieche. Nach den Aufnahmen des Jahres 1883 bestand die Gesammt-bevölkerung von 815946 Seelen aus 573560 Bulgaren, 174700 Mohammedanern, 42654 Griechen, 19549 Zigeunern, 4177 Juden und 1306 Armeniern. Die Versammlung ernennt — wieder eine aus Belgien herübergenommene Einrichtung — eine Art von Staatsrath, der aus 10 Mitgliedern besteht. Ihre Abstimmung ist dabei eine geheime, und kein Wahlzettel kann mehr als 6 Namen enthalten. Die Rechte der Minderheit hat man nicht zu wahren vergessen. Der Staatsrath tagt das ganze Jahr hindurch, besorgt die Vorarbeiten und legt seine Meinung über die Gesetzentwürfe dar. Die Volksversammlung hält ihre Sitzungen in einem alten türkischen Bade ab, und dessen angenehme Kühle kann auf die Kaltblütigkeit des Verhandeins nur wohlthätig einwirken. Was das Ausschreiben von Steuern anbetrifft, so kann dasselbe nur kraft eines Gesetzes erfolgen. Doch hinsichtlich dieses Grundgesetzes, welches ich sammt seinen Anhängen bewunderte, weil ich darin die Hauptgrundsätze der belgischen Verfassung wiederfand, hörte ich die verschiedensten Ausstellungen machen. »Zunächst,« sagte man mir, »befasstsich dieses Grundgesetz mit einer Menge von Dingen, die bereits durch gewöhnliche Gesetze oder durch einfache Beschlüsse geregelt sind. Die Verfassung, mit der die europäische Diplomatie uns bedachte, bildet einen Folianten, welcher in 15 Capitel zerfällt und 495 Artikel enthält und ausserdem 13 Zusätze mit 637 Artikeln hat. Jede einzelne Bestimmung, so heisst's im Artikel 495, kann indessen nur mit einstimmiger Genehmigung der Grossmächte eine Aenderung erfahren. Die Völker sind doch aber lebendige Körperschaften und als solche in fortschreiten- der Entwickelung begriffen; ihre staatlichen Einrichtungen müssen sich daher mit einer umschliessenden chinesischen Mauer in lieblichstem Einklänge befinden. Rumelien wurde nun aber in eine solch unverrückbare Starrheit gebannt, und zu diesem Meisterstücke politischer Weisheit legte man 1875, im Januar, den Grund; am 14. April des selbigen Jahres ist es dann beendet worden. Dabei hat man den Grundsatz von der Theilung der Arbeit übrigens treu befolgt, und der englische Bevollmächtigte beschäftigte sich mit den Wahlgesetzen, der österreichische mit der Gerichtsverfassung, der italienische mit den Finanzen und der französische mit der Verwaltung. Konnte es dabei wohl ohne Widersprüche abgehen? Eins von den uns aufgebürdeten, sehr fühlbaren liebeln besteht in der Anschwellung des Beamtenthums. Während der türkischen Herrschaft war Ostrumelien in zwei »Sandschaks« oder Departements getheilt, und diese zerfielen in 14 »Casas« oder Kreise. Wir durften also bloss 2 Präfekten und 14 Amtleute unterhalten. Jetzt, nach der neuen französischen Ordnung, hat das Land 6 Departements und 28 Kreise. An der Spitze eines jeden Departements steht natürlich ein Präfekt, und es sind ferner vorhanden 6 Generalräthe, 6 Präfekturschreiber, 28 Amtleute, 28 Gendarmerie-Commandanten, 28 Polizei-Lieutenants u. s. w. »Ein Dorf, welches seine Angelegenheiten ganz allein und ohne irgend einen Vertreter der Behörde leitete, wurde nun zu einer Kreisstadt und bekam einen ganzen Schwärm von Beamten aller möglichen Grade und Arten. Die türkischen Beamten, welche uns bestahlen, mussten bei Seite geschafft werden, und damit wär's dann aber auch genug gewesen. Unsere örtlichen Verhältnisse hätten wir, gleich den Bewohnern der Vereinigten Staaten, schon selbst zu regeln und zu leiten verstanden. Anderer seits fehlen aber auch wieder Beamte, nämlich — Steuereinnehmer. Der Artikel 212 bestimmt, dass »die Maires die Steuern einzuziehen haben, für deren genauen Eingang sie verantwortlich sind.« Doch hinsichtlich dieser Maires heisst es im Artikel 185, dass sie »in jedem Jahre von den Mitgliedern der Gemeinde zu wählen sind«. Sie erstreben natürlich eine Wiederwahl und schonen ihre Wähler also möglichst. Von den Steuern bleiben unter diesen Umständen in jedem Jahre etwa 20 °|0 rückständig, was am 31. Juli 1883 auf 17 Millionen Piaster sich belief. Der Artikel 248 macht die Maires auch zu Friedensrichtern. Ein entscheidendes Urtheil können dieselben aber nicht fällen, und die Streitsachen gehen an die mit Geschäften überhäuften Kreisrichter ab. Dabei kommen die Leute nicht zu ihrem Rechte, und solche Uebelstände müssen natürlich viel böses Blut machen. Man hätte es eben unserer Volksvertretung überlassen sollen, all diese Dinge in Uebereinstimmung mit unseren örtlichen Verhältnissen zu regeln. Aber die Kunst der europäischen Diplomaten hat uns gleichsam in eine ägyptische Mumie verwandelt und mit allerlei Schnurrpfeifereien umwickelt, die wohl ganz niedlich aussehen, dabei aber jedes freie Bewegen zu einer Unmöglichkeit machen.« Nachdem in Rumelien die neue Ordnung der Dinge eingezogen war, haben während der beiden ersten Jahre die Rassen mit einander um den Sieg gerungen. Doch den Bulgaren wurde es nicht schwer, ihn davonzutragen und über die meisten Stellen zu verfügen. Seitdem zerfallen sie in die gemässigten oder regierungsfreundlichen Freisinnigen und in die schärfer vorgehenden Unionisten. Die Einigung des durch den Berliner Vertrag zerstückelten Bulgariens erstreben beide Parteien in völliger Uebereinstimmung mit der gesammten Bevölkerung, und in diesem Sinne hat sich auch Kaltschow, einer von den Führern der Gemässigten, dem vormaligen englischen Unterrichtsminister Forster gegenüber bei dessen Anwesenheit in Philippopel geäussert. Doch über das Wie der Ausführung geht man auseinander, und die »Freisinnigen« erachten eine grosse Vorsicht als durchaus geboten, während die »Unionisten« eine ganz entgegengesetzte Meinung vertreten. Letztere halten es für angebracht, die Wünsche des Volkes bei jeder Gelegenheit von neuem zum Ausdrucke zu bringen, und zwar sehr laut, so dass man's im eigenen Lande und überall in Europa hören kann, und gleichzeitig die Bevölkerung auch zur That aufzustacheln. Sie setzten im Sommer des Jahres 1884 jenen Bittschriftensturm, der dann das ganze Land mit fortriss, in Scene. Ihre Hoffnung richtet sich dabei sehr viel mehr auf den unvermeidlichen Sturz des türkischen Reiches und auf die allgemeinen europäischen Wirren als auf eine nur in Rumelien unternommene Erhebung gegen die Herrschaft des Sultans. Dass sie die einflussreichste Partei bilden, geht schon aus der Zahl ihrer Zeitungen hervor, deren sie drei haben — die »Maritza«, den »Narodni Glass« (die »Stimme des Volkes«) und die »Soedinenie« (die »Vereinigung«), während die gemässigten Freisinnigen nur über den »Jouzhna Bulgaria« (»Das Bulgarien des Südens«) verfügen. Sämmtliche vier Blätter erscheinen aber in der Hauptstadt. Um die Vereinigung der beiden durch den Berliner Vertrag gewaltsam getrennten Bulgarien hatte in leidenschaftlicher Ausschliesslichkeit sich hier alles gedreht, und darüber darf man durchaus nicht staunen. Im 7. Jahrhundert betraten die Bulgaren die Balkanhalbinsel, und' seitdem bildeten sie stets, zur Zeit ihrer Grösse, also unter dem Zaren Simeon und seinen Nachfolgern, und auch während der türkischen Herrschaft, ein ein- heitliches Volk. Da zerreisst die europäische Diplomatie diese Einheit in drei Fetzen — in das fast unabhängige Fürstenthum Bulgarien, in das zur Hälfte befreite Rumelien und in das beinahe vollständig unter türkischem Joche schmachtende Macedonien. Konnten die Bulgaren wohl eine solche Verhöhnung ihrer Vergangenheit und ihrer gegenwärtigen Interessen ruhig hinnehmen, nachdem überdies noch der Vertrag von San Stefano vorangegangen war? Es lässt sich klug reden über das Innehalten von Verträgen u. s. w-, und die Bulgaren können hierauf antworten: »Diese Verträge sind gegen uns gemacht, und wir haben sie weder unterzeichnet noch angenommen.« Das südliche Bulgarien vervollständigt das nördliche, welches nicht so viele Hilfsquellen und fähige Köpfe hat, und schickt diesem die unter einem wärmeren Himmel gereiften Früchte. In diese Handelsbeziehungen schneidet nun eine von den Diplomaten willkührlich aufgestellte Zollgrenze ein, und es kommt damit eine Lähmung über den durch die Rassengemeinschaft gestützten Verkehr. Man schuf zwei für sich allein nicht lebensfähige Hälften, und auf dem Lande ruht die Last einer doppelten Regierung. Doch die Zukunft gehört auch wohl schwerlich einem blossen Werke der Diplomatie, das nicht in der Geschichte wurzelt und den Interessen und Wünschen der Bevölkerung keine Rechnung trägt. Sehr fühlbare und mannigfache Schwierigkeiten erwachsen dem Lande aus der Sprachenfrage, was ja überhaupt für alle Bereiche mit gemischter Bevölkerung zutrifft. Der Artikel 22 des Grundgesetzes enthält hierüber sehr vernünftige Bestimmungen und schreibt die Sprache der Mehrheit als amtliche Sprache vor. Doch die der Minderheit soll gleichfalls gebraucht werden, so bald diese Minderheit die Hälfte der Mehrheit ausmacht. Alle Gesetze und Verordnungen sind in den drei Hauptsprachen, also im Bulgarischen, Türkischen und Griechischen, zu veröffentlichen, und die Einzelnen können ganz nach ihrem Beheben zu einer oder der anderen dieser Sprachen greifen. Auch die Eröffnungsrede des General-Statthalters wird in bulgarischer, türkischer und griechischer Sprache verlesen. Aber in der Kammer und in den Bezirks- und Gemeindecollegien bedient man sich des Bulgarischen, und es steht den Türken und Griechen ja auch hier frei, ihre Sprache zu reden; falls sie sich indessen verständlich machen wollen, sind sie nothgedrungen auf das zur herrschenden Sprache werdende Bulgarische angewiesen. Sie beklagen sich hierüber; doch wie wäre die Sache sonst wohl zu regeln? Hier, wie in Bulgarien, besitzen alle Bauern den von ihnen bestellten Grund und Boden, allerdings erst seit dem letzten Kriege. Vor dieser Zeit wohnten in den Städten und auch in einigen Dörfern reiche Türken, denen grosse »Tschifliks« oder Pachtgüter gehörten. Die bulgarischen Bauern bewirthschafteten diese Ländereien und hatten für ein »Deunum« (1600 Quadratmeter) je nach der Beschaffenheit des Bodens, und zwar in Naturalien, einen bis vier »Schiniks« Getreide (20 Liter) zu liefern. In diesen Ländern aber, deren Verhältnisse einer Bauern-Demokratie so günstig sind, und wo während der türkischen Herrschaft unter den Rajahs die Gleich-mässigkeit der Lebensbedingungen gewahrt blieb, müsste man das Entstehen grosser Begüterungen verhindern. Das hat Fürst Nikita begriffen, und deshalb unterwarf er seine Montenegriner hinsichtlich des Grundbesitzes einer ganz neuen Ordnung. Künftig darf dort niemand mehr als zwanzig Morgen Land erwerben, und eine so ausserordentliche Verfügung wird durch die Fortzüge der Moslims erklärlich. In den von der Türkei an Montenegro abgetretenen Bezirken Niktisch, Dulcigno, Antivari, Pod-goritza ahmten dieselben das Beispiel ihrer bulgarischen und serbischen Glaubensgenossen nach und wanderten aus. Wo der Islam um seinen ganzen Einfluss und um all seine Vorrechte gekommen war, vermochten sie's nicht mehr auszuhalten, und unter diesen Umständen konnten viele Montenegriner zu ungemein niedrigem Preise einen verhältnissmässig beträchtlichen Landbesitz erwerben. Es war also vorauszusehen, dass der Czernagora in absehbarer Zukunft eine neue Klasse von Grossgrundbesitzern erstehen würde, und diese hätten dann wohl gleich ihren Vorgängern ein müssiges Leben geführt. Dem wollte Fürst Nikita eben vorbeugen, und deshalb beschränkte er die Ausdehnung des Grundbesitzes, an dem die ganze Bevölkerung einen möglichst gleichen Antheil haben sollte. Herr Gueschow, dem ich vorgestellt werde, gehört zu den ausgezeichnetsten Männern des Landes. Er ist in Philippopel geboren und hat in Manshester an der Viktoria-Universität studirt; das Französische und Englische spricht und schreibt er mit gleicher Geläufigkeit. Während des türkisch-russischen Krieges richtete er an die »Times« Briefe über die 1876 in Bulgarien begangenen Greuel und wurde dafür ins Gefängniss geworfen, nach Kleinasien verbannt und dem Tode sehr nahe gebracht. Im Jahre 1879 entsandte man ihn zu den Grossmächten, um denselben die Wünsche Ostrumeliens vorzutragen, wobei er leider kein offenes Ohr gefunden hat. Nach seiner Rückkehr wurde er zum Vorsitzenden der gesetzgebenden Versammlung während der drei ersten Sitzungsperioden ernannt. »Wir konnten noch nicht mit diesem alten Steuerwesen aufräumen,« sagte er, mir Aufschlüsse über die Finanzen des Landes gebend. »Bei unserer unsicheren Lage vermeiden wir eben alles, was zu irgend einer Störung Anlass geben dürfte.« — Das Budget für 1883—1884 beläuft sich auf rund 72196509 Piaster (100 Piaster machen 1 türkisches Pfund aus, und dieses gilt ungefähr 22.70 Franken); welcher Staat kann sich aber eines solchen Gleichgewichtes rühmen? Allerdings lasten auf Rumelien auch noch keine Schulden und kein grosses stehendes Heer — zwei Bleigewichte, die natur-gemäss zusammenhängen und aufs innigste in einander greifen. Den Zehnten hat man aber bereits in eine Grundsteuer umgewandelt. Sie ist in klingender Münze zu entrichten und nach den Berechnungen der Gemeinden ausgeschrieben worden; es liegen ihr — mit einer Ermässigung von zehn Prozent — die Erträge der letzten zehn Jahre zu Grunde. Durch vier einander folgende schlechte Ernten und die niedrigen Getreidepreise haben jene Festsetzungen leider den Character der Härte bekommen, und man meint, dass die veranschlagten 32 Millionen Piaster etwa um den vierten Theil zurückbleiben werden. In Bulgarien hielt man sich bei der gleichen Umwandlung des Zehnten an den durchschnittlichen Ertrag der dem Kriege folgenden drei Jahre, wodurch die Grundsteuer bedeutend herabgemindert wurde. Die sonstigen directen Steuern brachten 1883 folgende Beträge ein: Hammel......10279 Piaster Schweine.....322000 „ Einkommensteuer . 3580284 „ Gebäudesteuer . . 1004443 » Alle Zollämter warfen aber nicht mehr wie die kaum nennenswerthe Summe von 2379610 Piastern (523515 Franken) ab, und mit den indirecten Steuern erreichte man sammt und sonders erstaunlich wenig, nämlich 18244992 Piaster. — i9i — Sehr erfreulich ist das Anwachsen der Einkünfte, welche 1879 auf 53645528 und 1883 auf 72037111 Piaster sich beliefen. Der Pforte hat Rumelien einen ziemlich beträchtlichen Tribut, drei Zehntel seiner Einnahmen, zu zahlen, und die europäische Commission bezifferte denselben auf 240000 türkische Pfunde (ä 22.50 Franken). Doch die Volksvertretung setzte diesen Betrag auf 180000 Pfund herunter, da die Rein-Einnahme nur 600000 Pfund ausmacht. Als der Sultan sich dann weigerte, eine solche Regelung zu genehmigen, wiesen die Rume-lioten auf den Artikel 16 des Grundgesetzes hin, der ihnen Recht giebt. Was die dem Staate zumessenden Steuern anbetrifft, so entfallen auf den Kopf nur 20 Franken, und ein Franzose z. B. hat fünf Mal mehr zu zahlen. Bei den schwankenden Verhältnissen gehen die Steuern mitunter aber schlecht ein, und dann muss man von der ottomanischen Bank einige Millionen leihen, wodurch Unruhen und Aufstände um sich greifen. Rumelien veröffentlicht in jedem Jahre — in bulgarischer und französischer Sprache — seine Statistik, der ich einige interessante Angaben entnehme. Es sind 160555 Steuerpflichtige vorhanden, und der Staat bezieht als Personal-Steuer vom Einzelnen 22 Piaster oder ungefähr 5 Franken. Die Zahl der Gemeinden ist sehr beträchtlich; es kommen ihrer 1343 auf eine Bevölkerung von 815946 Seelen, und eine Gemeinde umfasst mithin etwa 600 Mitglieder. Zu den fünf directen Steuern tragen die Angehörigen der verschiedenen Religionsgenossenschaften in folgendem Verhältnisse bei: Griechisch-katholische Bulgaren 35418456 Piaster Römisch- „ „ 378439 » Türken ....... 8948242 „ Griechen.......2202513 Armenier.......66304 „ Juden.......40140 „ Die Griechen sind im Allgemeinen wohlhabender als die Bulgaren und müssen demnach etwa 16 bis 18 Mal weniger zahlreich vorhanden sein. Die von den Staaten des Ostens aufgenommenen Anleihen ziehen ganz empörende Folgen nach sich. Um zu ihrem »Pfunde Fleisch« zu kommen, stecken die Gläubiger sich hinter die Grossmächte, dieselben gleichsam als Gerichtsvollzieher benutzend, und die Regierungen der Türkei und Aegyptens sind weiter nichts als eine Presse, welche der Bevölkerung ihr Letztes auszuquetschen hat. Früher waren die Staaten des Westens darauf bedacht, durch ihren Einiluss unglücklichen Völkern zur Freiheit zu verhelfen und deren Leiden zu mindern. Doch heute arbeiten sie im Gegentheile daran, die Be-klagenswerthen nur noch fester ins Joch zu zwängen, und dieselben werden von ihnen einer erbarmungslosen Aussaugerei überantwortet. Mögen die Rumelioten sich vor dieser Schuldenpest zu bewahren wissen! In einem Finanzblatte (December 1885) heisst's: »Vor 14 Tagen sprachen wir von der Constantino-peler Conferenz und dem auf die Tribute bezüglichen Artikel des Berliner Vertrages. Der Pforte gelang es ja noch nicht, hinsichtlich jener Zahlungen einen Abschluss herbeizuführen, und die türkischen Gläubiger bekamen vorläufig also nicht einmal den ersten Piaster zu sehen. Heute können wir hinzufügen, dass die ottomanische Bank und die bei der gleichen Sache betheiligten Credit-Gesellschaften sich amtlich, und zwar mit Erfolg, beim Minister des Aeusseren verwendet haben. »Die Angelegenheit ist schon der Mühe werth. Ueber die Zahlungspflichten der kleinen Staaten wurde allerdings nie ein festes Abkommen getroffen, und man stösst da nur auf widersprechende Abschätzungen. Immerhin handelt es sich doch um bedeutende Summen, und der 1883 erschienenen kleinen Schrift Cavaglions entnehmen wir folgende Angaben: ES hätten ZU Zahlen: Türkische Anschläge: Europäische Anschläge: Pfd. Sterling Pfd. Sterling Bulgarien . . 9896000 2453000 Griechenland . 2130000 528000 Serbien . . . 2107000 522000 Montenegro . 98000 24000 14231000 3527000 »Wir freuen uns, aus Constantinopel in Sachen der Staatsschulden ergänzend melden zu können, dass die europäische Commission die Pforte dazu drängt, die Tributfrage auf die Tagesordnung der Conferenz zu setzen. Der Berichterstatter, dem wir diese Mittheilung verdanken, ist ebenso glaubwürdig wie gut unterrichtet. »Herr Guedalla hat an Lord Salisbury folgenden Brief gesandt: »Mylord, »Ew. Lordschaft wollen mir erlauben, die Weisungen, welche Sir William White in Constantinopel braucht, als dringliche zu bezeichnen. Derselbe müsste beharrlich für die Zahlung des seit 8 Jahren rückständigen bulgarischen Tributes sich verwenden, und darauf hinarbeiten, dass Ostrumelien künftig zur Schuldendeckung herangezogen wird. »Der Augenblick ist günstig, um auf die Regierung Griechenlands, Serbiens und Montenegros einen Druck auszuüben und diesen Staaten ihren Antheil an der türkischen Schuld abzuverlangen. Seit 1878 stellen die betreffenden Zahlungen eine in der Schwebe befindliche Angelegenheit dar. »Ein sofortiges Abkommen würde nicht allein den Gläubigern nützen, sondern auch die Türkei finanziell kräftigen und derselben überdies nur zu ihrem Rechte verhelfen.« Laveleye, Ballcanländer. IL '3 In Rumelien habe ich fast in jedem Dorfe ein neues, zweistöckiges Gebäude bemerkt, dessen blendende Weisse sich scharf abhob von den düster aussehenden umliegenden Häuschen. Dasselbe beherbergt die nach dem Freiwerden des Landes entstandene Elementarschule und wurde auf den Antrag der Gemeinden und mit Hilfe eines Staatszuschusses aufgeführt. Der Unterricht steht im Budget des Jahres 1883 mit 4728922 Piastern verzeichnet, was dem Einzelnen etwa 1.30 Franken auflegt und ungefähr den n. Theil der Gesammtausgaben darstellt. Solche Summen sind sehr beträchtlich, und auf Frankreich kämen bei dem gleichen Aufwendungsverhältnisse 300 Millionen Franken. Sehr interessant ist es auch, die Schulstatistik der verschiedenen Religionsgemeinschaften mit einander zu vergleichen. Die 890 bulgarischen Schulen Rumeliens, an denen n 04 Lehrer und 196 Lehrerinnen wirken, werden von 50184 Zöglingen besucht. Nach den Aufnahmen aus dem Jahre 1883 waren 78702 schulpflichtige Kinder vorhanden, und mehr als drei Fünftel derselben geniessen mithin die Wohlthat des Unterrichtes. In Bosnien, Serbien und dem Fürstenthume (Bulgarien) ist das Verhältniss schon nicht so günstig. Die Türken haben 763 Schulen mit 758 Lehrern und 30 Lehrerinnen und — Knaben und Mädchen zusammengerechnet — 27113 Zöglingen; doch die Zahl ihrer schulpflichtigen Kinder kennt man nicht. Bei den Griechen sind 6719 schulpflichtige Kinder, aber nur 48 Schulen mit 347r Zöglingen vorhanden, und es erhält hier also fast die Hälfte der Jugend keinen Unterricht. Die weiteren Angaben weisen folgende Ziffern auf: . Römisch-katholische Bulgaren 10 Schulen, 980 Zöglinge. Armenier .... 5 „ 201 „ Juden.....14 „ 918 „ Was den höheren Unterricht anbelangt, so nehmen wiederum die Bulgaren mit ihren 19 Schulen und 2554 Zöglingen die erste Stelle ein. Auf die Türken kommen zwei höhere Schulen mit 164 und auf die Griechen zwei mit 282 Zöglingen. Die türkische Bevölkerung übertrifft die Zahl der griechischen ums Vierfache, hat trotzdem aber weniger Schüler aufzuweisen, und es ist dies ein neuer Beweis für den geringen Wissensdurst der Moslims. Der Staat hat zwei Gymnasien — eins in Sliwna und eins in Philippopel — gegründet, woselbst 1264 Schüler — auch in den alten Sprachen — unterrichtet werden. Er rief sogar zwei Mädchen-Gymnasien — eins in Philippopel und eins in Stara-Zagora — ins Leben, und 308 Schülerinnen besuchen diese Anstalten. In Philippopel ist die höhere Mädchenschule eine Zierde der Stadt; der grosse, dreistöckige, in klassischem Stile aufgeführte Bau hat 450000 und das Knaben-Gymnasium 200000 Franken gekostet. Für die besagten vier Anstalten, an denen 62 Lehrkräfte wirken, giebt Rumelien jährlich eine Million Piaster her, und überdies werden 180 Stipendiaten im In- und 50 im Auslande unterhalten. In Sofia und in Belgrad liess man Millionen springen, um für den Herrscher einen Palast aufzuführen. Doch hier begnügte das Staatsoberhaupt sich mit alten, baufälligen Räumlichkeiten, und die beiden einzigen neuer,-standenen grossen Gebäude sind dem höheren Unterrichte der männlichen und weiblichen Jugend dienstbar gemacht. Das sieht ja ganz so aus, als ob man in den Vereinigten Staaten wäre. Aleko Pascha, der Statthalter, weilt nicht in Philippopel. Aber Dr. Tschomakow stellt mich dem Premierminister Krestowitsch vor, welcher später unter dem Namen »Gavril Pascha« General - Statthalter wurde. Derselbe ist ein ausgezeichneter Jurist und spricht das Französische vorzüglich; seinen Studien hat er in Paris 13* obgelegen. Von Samos, wo er eine hohe Stellung bekleidete, berief man ihn als Vorsitzenden des Handelsgerichtes nach Constantinopel, und dann kam er als General-Secretär nach Rumelien. Er hat sich auch, wie Doctor Tschomakow, sehr lebhaft an dem Kampfe gegen das griechische Patriarchat betheiligt und durch seinen Takt und seine Rechtskenntnisse dem bulgarischen Exarchate nicht wenig genützt. Die Rumelioten schildert er als sittliche, friedliebende Leute, die wenig zu Vergehen und Verbrechen hinneigen, und aus der amtlichen Statistik vom Jahre 1884 ersehe ich, dass die sechs Kreisgefängnisse zusammen nur 676 Insassen, und darunter bloss sechs Frauen, haben. Auf 1300 Einwohner ein Gefangener — das ist wirklich sehr wenig, während für die Frauen das Verhältniss sogar nur wie 66000 zu 1 sich stellt. Es scheint fast so, als ob in diesem glücklichen Lande das weibliche Geschlecht nie etwas die Einkerkerung Herausforderndes begeht, und man schreibt die ganz ausserordentlichen Ziffern der einfachen Lebensführung und den gleichartig gestalteten Verhältnissen auf die Rechnung. Professor Lombroso, der berühmte Kriminal-Physiologe aus Turin, sucht im »Uomo delinquente« nachzuweisen, dass viele Mörder, gleich den Tigern und Hyänen, "instinctmässig und auf Grund ihrer physischen Beschaffenheit Blut vergiessen. Ob derselbe wohl in dem Gehirne der Bulgaren eine Erklärung für diese geringe Anzahl von Verbrechen finden würde? Doctor Tschomakows Schwiegersohn, ein russischer Officier und naturalisirter Rumeliote, macht mir Mittheilungen, welche das Heer betreffen. Militärpflichtig ist jeder Rumeliote von seinem 21. Jahre ab; doch es stehen für gewöhnlich nur 3600 Mann im Dienste, welche, mit Einschluss eines Schul-Bataillons, auf 13 Bataillone vertheilt sind. Dieses kleine Heer kostet 2650000 Franken, was zwar nicht viel ist, worüber die Steuerzahler aber doch murrenFür die Gendarmerie verausgabt man 1500000 Franken. Dieselbe hat eine vorzügliche Gestaltung erhalten, und das ist sehr wesentlich, denn dieser Truppe verdankt das Land eben seine Sicherheit. In den türkischen Provinzen sieht's damit schon ganz anders aus, und die Banditen wagen sich hier bis an die Thore von Constantinopel und Saloniki. Auch in Spanien ist die Bändigung der Räuber einer trefflich eingerichteten Truppe, der »Guardia civil«, zu danken. Die Rumelioten beseelt ein ungeheuerer Bildungsdrang, und den Beamten, Staatsmännern und Abgeordneten, mit welchen ich zusammenkomme, ist neben den morgenländischen Sprachen das Französische, das Englische und oft auch das Deutsche vorzüglich eigen. Die Tochter meines Wirmes hat eine reine Pariser Aussprache, obgleich sie nie in Frankreich war, und beherrscht mit gleicher Ungezwungenheit das Bulgarische, Russische, Griechische, Türkische und Englische. In beiden Bulgarien haben sehr viele der Männer, welchen die Leitung der Staatsgeschäfte obliegt, ihre Bildung im »Robert-College« erhalten. Amerikaner gründeten diese vortreffliche Anstalt, die in der Nähe von Constantinopel, auf den Höhen von Rumeli-Hissar, liegt und einen vollständigen höheren Unterricht gewährt, bei dem man sich des Englischen bedient. Vorzügliche Lehrer, so die Herren Long, Grosevenar, Millingen, Panaretow, sind an ihr thätig, und die Leitung des Ganzen hat eine sehr hervorragende Persönlichkeit, Georg Washburn, in Händen. Die jungen Leute, welche man daselbst für hohe Aemter im Verwaltungsfache vorbildet, athmen in einer *) Bekanntlich haben die rumeliotischen Milizen sich in dem Kriege gegen Serbien als muthige Streiter erwiesen. sittlich-reinen Umgebung, und es prägen sich ihnen — was eben sonst im Morgenlande der Neuzeit nicht häufig vorzukommen pflegt — die Begriffe der Ehre und Recht-schafTenheit fest in die Seele. Die kräftigende Luft, welche die Nähe des Schwarzen Meeres mit sich bringt, stählt den Körper, und das wundervolle Landschaftsbild wirkt fördernd auf den Schönheitssinn ein. An den Trieben, welche auf der Balkanhalbinsel keimen und sprossen, ist der Einfluss des Robert-Colleges sehr fühlbar zu spüren, und kein anderes Beispiel zeigt meines Erachtens nach besser als diese Anstalt, was der höhere Unterricht für die Fortschritte der Menschheit zu leisten vermag. Es hält schwer, die landwirthschaftlichen Erträge Rumeliens genau festzustellen. Die amtliche Statistik macht hierüber keine vollständigen Angaben, und in denen aus dem Jahre 1883 heisst's: Wein........290367 Hektoliter. Raki (Branntwein) .... 2275593 Liter. Tabak (63 Kilogramm auf 1 »Deu- num« oder 16 Ar) .... 472137 Kilogramm. Die Zucht der Seidenraupe warf damals 1451952 Piaster ab, und im Hinblicke auf die Fruchtbarkeit des Bodens erscheinen alle diese Ziffern als recht unbedeutend. Während der türkischen Herrschaft traf aber jeden, der über die herkömmliche Schablone hinausging, eine Strafe, und das alte Schreckgespenst, der Fiscus, hat gewiss noch nachträglich einen mindernden Einfluss geübt. Der Aussenhandel ist nicht bedeutend. Ein Theil der Grenze trägt allerdings keine Zollhäuser, und es fehlt also an genauen Angaben über den Austausch mit der Türkei und mit anderen Ländern. Immerhin hat der Handel aber doch einen recht erfreulichen Aufschwung genommen, und dafür sprechen die folgenden Zahlen: Einfuhr: 1882 . . 34386178 Piaster. 1883 . . 54749868 „ Ausfuhr: 1882 . . 40547707 1883 . . 64099964 „ Die Einfuhr vermehrte sich demnach um 20363690 und die Ausfuhr um 23552257 Piaster, und der Handel wuchs also innerhalb eines Jahres um ein Drittel der bisherigen Ausdehnung. Dabei kommen aber fast ausschliesslich Bulgarien und die Türkei in Frage, während der Austausch mit andern Ländern winzig ist. Frankreich schickte für 50000, England für 45000, Russland für etwas mehr als 30000 und Oesterreich gleichfalls für etwas mehr als 30000 Franken Waare, und das Ganze kam etwa der Ladung zweier Dampfer gleich. Der Grund hierfür liegt jedoch auf der Hand. Von Burgas aus — dem einzigen wichtigen Hafen Rumeliens — führt ja kein Schienenweg ins Innere des Landes hinein, und die europäische Handelswelt hat mithin das grösste Interesse daran, den Einspruch des Sultans gegen die Erbauung jener Bahn zu beseitigen. Die Schifffahrt ist auf den Küstenhandel beschränkt, und für die verschiedenen Häfen stellt das Verhältniss sich folgendermaassen dar: Burgas . . 223 Schiffe — 106632 Tonnen. Anchialo. .70 „ — 8712 „ Mecemvria .18 „ — 1181 „ Sizopoli . . 63 „ — 7173 „ Da der gesammte Viehstand einer besonderen Steuer unterliegt, so fehlt es nicht an genauen amtlichen Angaben über den Umfang desselben, und in den Berichten aus dem Jahre 1884 heisst es: Rinder Büffel 31201S, 58 754, Pferde..... Esel und Maulesel . Hammel . . . . Ziegen . . . . . Schweine . . . . 53 590, 33 415, 1858839, 425 569, 107 442. Rechnet man alles in Grossvieh um, so lautet die Ge-sammtziffer 687000, und es kommen ungefähr 84 Stück Grossvieh auf je 100 Einwohner. In Serbien und Bosnien liegt das Verhältniss etwas günstiger, weil dort mehr Weideland vorhanden ist, und die Rumelioten hätten in dieser Beziehung noch so manches zu thun. — Maasse und Gewichte dürfen seit dem 1. März 1884 nur nach dem französischen Decimalsystem berechnet werden; doch in Sachen der Münze muss man sich mit diesen abgenutzten, formwidrigen türkischen Geldstücken begnügen, deren Werth einer beständigen Schwankung unterliegt. Die sieben Weisen, welche als Vertreter Europas das Grundgesetz ausarbeiteten, haben nämlich dem Artikel 18 folgende Fassung gegeben: »Die Goldmünze des Reiches gilt auch für die Provinz.« Diese Bestimmung würde es augenscheinlich aber nicht hindern, dass neben dem türkischen Pfunde Silbermünzen in den Verkehr kämen, welche dem bulgarischen »Lew« oder dem französischen Frankstücke entsprächen. — In meiner Absicht lag es, mich nach Macedonien zu begeben. Doch man sagte mir, dass dies nur mit einer starken Bedeckung geschehen könnte, die aber oft nicht minder gefährlich ist als das Räubervolk selbst, und so verzichtete ich auf mein Vorhaben. Es wurden mir indessen viele auf Macedonien bezügliche Angaben gemacht, welche mich in die dortige Wirrniss klarer hineinschauen Hessen. Rassenkämpfen bin ich ja überall begegnet, seitdem ich österreichischen Boden betrat. Allein nirgends werden dieselben so erbittert geführt, und nirgends spitzen sie sich in einer für die Zukunft so gefahrdrohenden Weise zu als gerade in diesem Macedonien, das nicht nur durch die verschiedenartigen Bestandtheile seiner Bevölkerung, sondern mehr noch durch die getreuen Nachbarn zu leiden hat. Den Bulgaren gab Macedonien Religion, Sprache und Literatur. Die grossen Apostel Methodius und Cyrillus übersetzten hier die Evangelien, und am Fusse des Rho-dopus wird das Bulgarische am reinsten gesprochen und der Schatz alter Volkslieder gehütet. Die Bulgaren nehmen das Land also für sich in Anspruch, und der Vertrag von San Stefano hatte dies ja auch als berechtigt anerkannt. Andererseits sind die Griechen wieder zu jedem Opfer, aber unter keinen Umständen zu einem Verzicht auf Macedonien entschlossen. Sie meinen, dass ihre Rasse hier das grösste Bruchstück des Ganzen ausmacht, und den bildenden Bestandtheil des Volkes hat dieselbe auch wirklich vertreten. Ihnen ist Macedonien unentbehrlich, um den »grossen griechischen Gedanken«, d. h. die Wiederherstellung des byzantinischen Griechenlands, zur That werden zu lassen. Die Serben möchten ihrem Lande gerne zunächst den ganzen Norden der Provinz einverleiben, weil ihre Stammesbrüder denselben bewohnen, und weil hier einst das Reich ihres grossen Duschans seinen Mittelpunkt hatte. Ihr Begehren ist jedoch auch auf die Südhälfte gerichtet, indem deren Besitz sie ja bis ans Gestade des Mittelmeeres bringen würde. Oesterreich aber hofft darauf, so heisst's, eines Tages bis nach Soloniki zu kommen, und will also in keinem Falle das künftige Hafengebiet Bosniens einem Schützlinge Russlands in die Hände fallen lassen. Es wäre nun zunächst die Zahl festzustellen, in welcher die verschiedenen um Macedonien sich streitenden Rassen dasselbe bevölkern. In Berlin konnten die Diplo- maten sich hierüber nicht einigen, und es hält allerdings auch äusserst schwer, der Wirklichkeit ganz genau entsprechende Angaben zu erlangen. Die Griechen sind davon überzeugt, dass sie den Hauptbestandtheil der Bevölkerung bilden, und der gelehrte Professor Saripolos aus Athen, ein Mitglied vom »Institut de France«, stellte vor einigen Jahren die folgenden Ziffern als die durchaus richtigen auf: An den Patriarchen und an die Pforte ging aber eine Zuschrift im Namen der 800000 Griechen Macedoniens ab, und nach Houssages Angaben wären 600000 Griechen und 90000 Bulgaren vorhanden. Im Jahre 1881 veröffenthchte die Regierung Rumeliens eine nach Gemeinden geordnete Statistik, welcher türkische Angaben zu Grunde lagen. Hiernach hatte das Land 1863382 Einwohner und unter diesen 1 251385 Slawen, 463839 Mohammedaner — eine gewisse Anzahl von Slawen (Pomaken) eingeschlossen — und nur 57480 Griechen.J) Ein hoher Beamter aus Philippopel gab — unter dem angenommenen Namen »Ofeikow« — eine interessante Arbeit heraus, in der er sich auf die Zusammenstellungen der griechisch-katholischen Kirche stützt, und die daher auf den christlichen Theil der Bevölkerung beschränkt bleibt. Hier heisst's von den grie- *) Eine Bevölkerungsstatistik kennt die Türkei nicht. Doch sie zählt die Moslims, welche dem Militärdienste, »Nufus«, unterliegen, und dann auch die von demselben befreiten Christen, denen man dafür eine besondere Steuer, »Bedeli-Askerie«, abverlangt. Die rumeliotischc Statistik giebt nun bei jedem Dorfe über die Zahl der Häuser und über die Rassenverhältnisse der Bevölkerung Auskunft und ermöglicht so ein leichtes Zurechtfinden. Griechen Slawen Türken Juden . 500 000, 120 000, 100 000, 40 000. chisch - katholischen Slawen — 181 090 Familien oder 905 000 Seelen und von den Griechen und Walachen — 20300 Familien oder 101 500 Seelen. In der kroatischen Zeitung »Sloboda«, welche den Serben, den Stammesbrüdern, durchaus nicht feindselig sich entgegenstellt, fand ich die folgenden, einem Werke Ritter's entnommenen Angaben abgedruckt: Bulgaren........1 124288, Mohammedaner (Türken und bulgarische Pomaken) , . 860626, Serben, Albanesen, Walachen 422357, Griechen........ 59833. Es mögen nun Anmerkungen darüber folgen, wie die Rassen örtlich vertheilt sind. Den Weststreifen Macedoniens, von jenseits des Drins bis Prizrend, bewohnen die Albanesen, und weiter im Osten, jenseits Ochridas bis zur Eisenbahnlinie Saloniki-Mitrowitza, stösst man bereits auf die anfangs noch mit Arnauten und walachi-schen Zinzaren vermischten Bulgaren. Der Norden wird hauptsächlich durch Serben, theilweise aber auch durch Arnauten bevölkert, und der Osten, wie der ganze mittlere Bereich gehört den Bulgaren, die fast bis nach Seres und Soloniki hin sich ausdehnen. Die Griechen sitzen in den Küstenbezirken und spielen durch ihre höhere Bildungsstufe und ihre umfangreicheren Beziehungen zum Auslande in den meisten Städten eine wichtige Rolle. Saloniki ist beinahe eine jüdische Stadt, und die dort ansässigen Griechen stammen grössten-theils von Zinzaren ab. Walachen in zusammenhängenden Gruppen sind im Bereiche des Pindus und im Vilajet Monastir anzutreffen. Reclus, Kiepert, Ubicini, Lejean, Crousse stellen die Bulgaren als den Hauptbestandtheil der Bevölkerung Macedoniens dar. Schon im 7. Jahrhundert, zur Zeit der byzantinischen Eroberung, schreibt Wilhelm von Tyrus: »Die Bulgaren bevölkern den ganzen Raum, welcher zwischen der Donau und dem Adriatischen Meere und Constantinopel liegt. Derselbe führt den Namen Bulgarien und hat eine Breite von 10 und eine Länge von 30 Tagereisen.« In gleichem Sinne äussert sich Lejean, dessen »Ethnographie der europäischen Türkei« immer noch maassgebend ist. »In Macedonien,« schreibt er, »haben sich die Bulgaren fast über das ganze Land verbreitet, und die Griechen wurden nach und nach bis an's Meer zurückgedrängt. Vom Strymon bis zur Maritza bleiben dieselben auf einen schmalen, von Schiffern und Fischern bewohnten Streifen beschränkt, während die hauptsächlich ackerbautreibenden Bulgaren die das Küstengebiet beherrschenden Höhen besetzt halten.« Es kann hier sogar noch eine wuchtigere Persönlichkeit, nämlich Fürst Bismarck, ins Feld geführt werden. Am 19. Februar 1878 äusserte derselbe auf eine Anfrage Bennigsens hin sich folgendermaassen: »Mit den ethnographischen Verhältnissen Bulgariens — ich weiss dies aus glaubwürdiger Quelle und durch die beste und bekannte Karte, die Kiepertsche — steht es so, dass die eigentlichen Grenzen des Landes im Westen fast ununterbrochen bis nach Saloniki und im Osten, hier und dort einmal mit dem Türkenthume sich kreuzend, bis nach dem Schwarzen Meere hinlaufen.« Bekräftigt werden solche Aufstellungen durch die Namen der Dörfer. Von all diesen Bezeichnungen sind ja sieben Achtel bulgarischen Ursprunges, und in Rumelien kommen türkische Namen weit häufiger vor. Die Griechen bilden, genauen Angaben zufolge, noch nicht einmal den zehnten Theil der Bevölkerung; wie kann man also in Athen von einem Ueberwiegen des Griechenthums fabeln? In einen solchen Irrthum wurde man eben durch die von der Geistlichkeit aufgestellten Verzeichnisse hineingegaukelt. Diese zählte nämlich alle der griechisch-katholischen Kirche Angehörenden den Griechen bei, und die griechisch-katholische Kirche hat, wie in Bosnien, mehr Bekenner als die römisch-katholische. Diejenigen, welche griechische Katholiken und zugleich auch Griechen sind, werden in Macedonien »Rumeleti« genannt. Zu Gunsten ihrer Ansprüche haben die Griechen sich auch auf die Schulstatistik berufen, nach deren Angaben die griechischen Schulen besuchter sind als die bulgarischen. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass die Türken auf Betreiben der Griechen bulgarische Schulen schlössen und deren Lehrer in die Verbannung schickten. Ueberdies ist das Griechische ja die Sprache der Kirche und bis in die Neuzeit hinein lag der Unterricht vollständig in den Händen der Geistlichkeit. Das fast ausschliessliche Vorhandensein der griechischen Schulen findet demnach eine ganz natürliche Erklärung, und man steht vor einer Erscheinung, die vor 30 Jahren auch in Bulgarien anzutreffen war. Um ihre Rechte auf die von den Bulgaren bewohnten Länder darzuthun, haben die Griechen sich zwei Beweisgründe ausgedacht. Sie sprechen zunächst von ihrem »ethnographischen Vorrange« und behaupten, dass ihnen, als der edleren Rasse, die Herrschaft über die Bulgaren zusteht.l) Des zweiten Grundes gedachte der ]) Einer von den hervorragendsten Gelehrten Athens äusserte sich folgen-dermaassen in einem an mich gerichteten Briefe: »Sie verkennen die Bulgaren. Dieselben sind und bleiben Barbaren, und ihre tartarische Abstammung macht sie den Einflüssen der Civilisation wenig zugänglich. Das Christenthum genügt nicht, um sie in andere Menschen zu verwandeln. Ihre guten Eigenschaften sind die der Lastthiere, und hierhin gehört auch der Instinct, zu sparen wie eine Ameise. Ich beschäftige gegenwärtig etwa 20 bulgarische Maurer, und zwar an dem Hause, welches ich meiner Tochter Athene als Mitgift bestimmt habe. Die Leute arbeiten gut, sind aber dumm. Von den in Athen thätigen Maurern gehört übrigens mehr als die Hälfte dem bulgarischen Volke an.c griechische Gesandte in London, als er im November des Jahres 1885 die Behauptung aufstellte: Das Land, welches früher den Griechen gehörte und dann von den Bulgaren in Besitz genommen wurde, darf man doch immer nicht den letzteren zusprechen. Die Rechte der Griechen sind unverjährbar. — Demnach müssten z. B. Neu-Holland, Neu-Seeland und Tasmania an Holland fallen, weil Holländer jene Länder entdeckten und benannten. Die Besiedelung erfolgte zwar durch Engländer, aber darum steht denselben doch noch immer kein Besitzrecht zu. Dergleichen Dinge lassen sich schwer erörtern, und es ist schon schlimm genug, ihrer erwähnen zu müssen. Ein griechischer Staatsmann, welcher das Wünschen und Wollen seines Landes sehr gut zu kennen scheint, giebt in der »Contemporary Review« (November 1885) über die Ansprüche der Griechen Aufschlüsse J): Die Grenze Griechenlands müsste da, wo der Apsos (Semeni) mündet, beginnen und dann dem Laufe dieses Flusses bis zum Nordufer des Sees von Ochrida folgen. Sie hätte alsdann, Strumnitza gegenüber, den Wardar und weiterhin, nördlich von Meienikon, den Strymon (Struma) zu kreuzen, und Newrekop am Mestos wäre ihr Endpunkt. Meienikon ist ebenso "sicher eine griechische Stadt wie Stanimaka in Rumelien. Doch ein einziger Blick auf die Kiepertsche Karte oder das Ver-zeichniss der Dorfnamen lehrt, dass ein solcher Entwurf fast vollständig bulgarische Bezirke an Griechenland bringen würde. Warum will man den Leuten das Recht der Selbstregierung vorenthalten? Da, wo die Griechen in überwiegender Zahl vorhanden sind, würden ihre J) Wer den vielbesprochenen Artikel verfasste oder verfassen liess, das ist ein offenes Geheimniss, und man schreibt ihn ganz allgemein der gewandten Feder eines in London wohlbekannten griechischen Diplomaten zu. Sprache und ihre Einflüsse schon die Oberhand behalten. — Etwas erregt Befremden und lässt die Befürchtung aufkommen, dass die Bulgaren mit Hilfe türkischer Waffen unterdrückt werden sollen: nämlich das Unterlassen der Griechen, für den Artikel 23 des Berliner Vertrages die Durchführung zu verlangen. Würde man jene Bestimmungen ehrlich auslegen, so wäre all diesem Streit ein Ende gemacht. Wollen die Griechen solche Wege aber nicht wandeln, so beabsichtigen sie doch wohl, durch Gewalt zum Ziele zu kommen. Gladstone ist den Griechen gewiss freundlich gesinnt, und ihm verdanken dieselben die Ionischen Inseln und den Zuwachs in Thessalien Aber er steht trotzdem nicht an, ihre den Bulgaren gegenüber beobachtete Haltung streng zu verurtheilen. »In Constantinopel,« sagte er, »nahm die oberste griechische Geistlichkeit während des letzten Krieges sammt ihrem ganzen Anhange vollständig offenkundig für die Türken Partei, und dies gereicht ihr durchaus nicht zur Ehre. Es liegt ja die Vermuthung nahe, dass der Patriarch der Noth und nicht dem eigenen Triebe gehorchte. Dass aber die Furcht vor dem Uebergewichte des Slawenthums die eigentliche und die Haupt-Triebfeder seines Handelns gewesen ist, hat er durch seine ganze Haltung nur zu deutlich offenbart, und von diesem Geiste wurden auch die meisten Griechen beseelt.« (XLX. Century, Juni 1879.) — Ueber die unsäglichen Leiden der macedonischen Bulgaren liegt mir eine vollständige Sammlung von ausführlichen und verbürgten Berichten vor, und ich könnte damit einen ganzen Band anfüllen, dessen Inhalt eine ununterbrochene Leidensgeschichte darstellen würde. Um mich aber nicht als voreingenommen bezeichnen zu lassen, will ich nur an das erinnern, was Blanqui vor 40 Jahren niederschrieb, und was auch für die gegenwärtigen Ver- hältnisse Macedoniens zutrifft. Blanqui besuchte die Umgegend von Nisch, wo eben ein Aufstand unterdrückt worden war, und tief erschütternde Bilder zogen an ihm vorüber. Die Pforte hatte sich, um dem Verlangen der christlichen Mächte zu entsprechen, den Anschein gegeben, als ob sie Verbesserungen einführen wolle. In Wirklichkeit dachte man aber nicht daran, die Lage der Rajahs auch nur einigermaassen zu bessern, sondern man machte ihnen im Gegentheil das Leben noch mehr zur Hölle. »Die ganze Veränderung«, sagt Blanqui, »blieb auf die Finanzen beschränkt, und den Christen wurden dabei nur Dornen eingedrückt. Bisher hatten dieselben ihre Steuern dem Pascha abzuliefern, und es ist bekannt, welchen Erpressungen sie unterlagen. Nun centralisirte man diese Zahlungen, und ordnete deren Erhebung durch besondere Bevollmächtigte an. Scheinbar stellte man die früheren Missbräuche damit ab; doch in Wirklichkeit gestaltete die Sache sich weit anders. Die verschiedenen Steuerbeträge waren zu einer einzigen und nicht erhöhten Summe zusammengerechnet. Allein nicht ein Mal, nein zwei oder drei Mal wurde dieselbe den unglücklichen Rajahs abverlangt; die Steuereinnehmer behaupteten, sie nicht erhalten zu haben, und alles gegentheilige Betheuern der Steuerzahler fruchtete nichts. Diese konnten ja der Mehrzahl nach weder lesen, noch schreiben, und man gab ihnen falsche Quittungen, worauf entweder eine geringere Summe oder ein älteres Datum verzeichnet stand. Meistens bekamen die Leute aber überhaupt keinen Empfangsschein, sondern nur kleine, mit einer Einkerbung versehene Holzstückchen, und diese waren stets verloren oder verlegt, falls sie nützen, und immer bei der Hand, falls sie schaden konnten. Es blieb also vollständig bei den alten Erpressungen und Bedrückungen, und denselben war nur in gleissnerischer Maske ein Schimmer von Gesetzlichkeit aufgeheuchelt. Die Türken hatten eben keine Verbesserungen, sondern blos Lug und Trug und Abscheulichkeiten ins Werk gesetzt. »Als solche Gaukeleien zur Ausführung kamen, versäumten die Bulgaren es nicht, dieselben aufzudecken und sich darüber zu beklagen. Sie wiesen nach, dass ihre Lage sich schlimmer denn je gestaltet hatte, dass sie diese ungeheueren, ganz über ihre Kräfte hinausgehenden Steuern unmöglich zahlen konnten, und baten um Aufschub. Den gewährte man ihnen auch; inzwischen wuchsen ihre Einnahmen aber keineswegs, und der Zahlungstermin rückte immer näher und näher. Nun, in der Türkei wird säumigen Steuerpflichtigen bekanntlich Militär ins Haus geschickt. Die Soldaten sitzen denselben Tag und Nacht auf dem Halse; sie essen und trinken bei ihnen, stöbern überall herum, benutzen jedes Ding wie ein persönliches Eigenthum und lassen keinen Menschen zur Ruhe kommen. Bald überschwemmten diese Unholde das Land, besonders im Thale der Nyssa und in den umliegenden Dörfern. Aus einigen Orten wurden sie vertrieben, und in anderen überwältigt und getödtet. Sabri Pascha, der damalige Befehlshaber der Provinz, liess schleunigst Albanesen kommen. Die regelrechten Truppen waren nämlich fast sämmtlich nach Constantinopel berufen, und es fehlte mithin an solchen. Diese Arnauten erblickten aber in dem an sie ergangenen Rufe weiter nichts als eine günstige Gelegenheit zur Ausübung des ihnen allein geläufigen Handwerkes, nämlich der Plünderei. Haufenweise zogen sie also in dem bezeichneten Theile Bulgariens umher, und die unglücklichen Bauern wurden ausgeraubt, wie wenn es sich um eine im Sturme genommene Stadt gehandelt hätte. Wohin es gekommen wäre, falls ein benachbartes Volk den Aufstand der Verzweifelten thatkräftig unterstützt haben würde — wer wüsste das zu sagen? »Der Aufstand wurde unterdrückt. Aber man muss die düstere Verzweiflung der bulgarischen Bauern und den frechen Uebermuth der albanesischen Horden beobachtet haben, um sich von den entsetzlichen Zuständen jener kurzen, aber fürchterlichen Zeit eine Vorstellung machen zu können. Europa thut gut daran, der Sache der Schwarzen eine sehr lebhafte Antheilnahme entgegenzubringen. Doch es weiss nicht recht, was vor seinen Thoren, oder man kann auch wohl sagen, in- Layeleye, Balkanländer. II. 14 nerhalb derselben, sich abspielt. Da werden mehr als sieben Millionen Menschen wie Hunde behandelt, weil sie — Christen sind, und dies besorgt eine Regierung, bei der sich alle christlichen Mächte durch Gesandte vertreten lassen. In der Türkei ist zur Stunde die Ehre jeder Christin dem ersten besten Mos-lim preisgegeben, welchem sie zu ihrem Unglücke gefallen hat. Das Haus eines Christen betreten die Türken ganz nach ihrem Belieben, und dort stecken sie alles ihnen Zusagende ein. Die Klage ist aber noch weit gefährlicher als der Widerstand, und was man in den zurückgebliebendsten Ländern den nie-drigststehenden Menschen gewährt, würde für die Bewohner Bulgariens schon eine ungeheuere Gunstbezeugung in sich schliessen. Es sind das eben alles Verhältnisse, welche Europa nicht klar überschaut. Wird die Wahrung des europäischen Friedens nun einmal bedingt durch die Erhaltung des türkischen Reiches, so mag man dasselbe doch immerhin stützen. Aber seine ganze Regierung muss von der Zehe bis zum Scheitel umgemodelt werden, — das sind wir unserer Ehre als Christen und als civilisirte Menschen schuldig. Mit diesen Zuständen in Bulgarien sieht's so aus, wie mit der Seeräuberei Algeriens, welche vor unserer Eroberung ihr Unwesen trieb, das heisst sie sind eine Schmach für die Würde der Menschheit und eine fortdauernde Beleidigung für die Regierungen Europas. All dieses Ungehörige könnte man mit einem einzigen Worte ab-thun; aber wann wird man's sprechen? Im Interesse der Politik wurde schon so viel gethan, und man sollte doch auch einmal etwas in dem der Menschheit unternehmen.« Welch ein gewaltiger Unterschied zwischen dieser Hölle und dem befreiten Bulgarien! Was Blanqui von den Rajahs berichtet, steht aber noch weit unter dem Schicksale, welchem in Macedonien die Bulgaren heute leider anheimfallen. Die Türken und Griechen wollen nicht eines Tages das grosse Bulgarien des Vertrages von San Stefano in leibhafter Wirklichkeit vor sich sehen und giessen daher ihren Hass in eine Schale, um mit vereinigten Kräften das Slawenthum schädigen und wo- möglich ausrotten zu können. Bei den Uebeln, über welche die unglücklichen Bulgaren seufzen, wären zu unterscheiden1) das Räuberunwesen, die Erpressungen und Gewaltthätigkeiten der Beys und die Verfolgungen von Seiten der fanariotischen Priester. Räuberbanden machen die ganze Provinz bis zu den Thoren der Hauptstadt hin unsicher. So ist's einem Consul, einem englischen Schiffscapitän, wie auch einer Engländerin begegnet, in der allernächsten Umgebung von Saloniki festgenommen zu werden. Räuber schleppten die Betreffenden fort und gaben sie erst nach Erlegung eines ungeheueren Lösegeldes frei. Im Inneren wird fast täglich ein Reisender oder ein reicher Bauer nach den Bergen entführt, und man erpresst damit gewaltige Summen. Alle ihre Bedürfnisse — Lebensmittel, Kleider, Waffen, Schiessvorräthe — fordern die Banden den Dorfbewohnern ab. Lassen dieselben es sich aber etwa einfallen, Widerstand zu leisten oder eine Anzeige bei den Behörden einzureichen, so sind sie verloren, und ihre Häuser werden alsdann geplündert und verbrannt und ihre Frauen vergewaltigt. Im Bereich von Pianetse kamen diese Raubanfälle so häufig vor, dass dort die Hälfte der Dörfer zerstört oder öde daliegt, und 5 Dörfer und mehr als 1500 Häuser sind vollständig vom Erdboden verschwunden. Als die Dörfer Papraditza, Üresch, Negelewo überfallen und angesteckt wurden, gelang es den Leuten zwar, einige von den Räubern festzunehmen. Diese wussten sich die Freiheit aber durch Geschenke und Bestechungsgelder zurückzukaufen, und nun treiben sie ihr sauberes Handwerk lustig weiter. Die Polizei ist ein saft- und kraftloses Schattending. Sie verspürt durchaus keine Lust dazu, sich in einen Kampf :) Anhang, »Die Lage Macedoniens». mit jenen Horden einzulassen, und dann als einzige Ausbeute die Spuren der auf sie abgefeuerten Flintenschüsse heimzutragen. Der Handel, überhaupt der gesammte Verkehr ist mit so vielen Gefahren und Kosten verknüpft, dass man sich auf gar nichts mehr einlassen kann, und das ganze Wirthschaftsleben befindet sich somit im Zustande der Lähmung. Das Räuberhandwerk ist eben die einzige einträgliche Beschäftigung. Ihrer eigenen Meinung nach sind die Beys dazu berechtigt, mit dem ganzen Besitze der Bauern beliebig schalten und walten zu können. Gefällt ihnen ein Pferd oder ein Ochse, so nehmen sie das Thier entweder mit Gewalt, oder sie bringen es für einen Spottpreis an sich. Sie legen den gequälten Menschen erdrückende Fronarbeiten (Angarias) auf, und ihr Thun und Treiben kann der Landwirthschaft doch unmöglich fördernd unter die Arme greifen. Widersetzt ein Bulgare sich ihnen, so tödten sie denselben ohne weiteres, wie wenn er ein Hund wäre. Zufällig können sie dabei wohl einmal der sogenannten Gerechtigkeit in die Arme gerathen. Aber sie behaupten dann, im Stande der Nothwehr sich befunden zu haben, und gehen stets straffrei aus. In der Stadt Kratowo erschien einst der Kaimakam (Stellvertreter des Grossveziers) nebst zwei Begleitern im Hause eines wohlhabenden Bulgaren. Diese sauberen Gäste assen nun und tranken und jagten hierauf die Eltern fort, um die Töchter ungestört entehren zu können. Im Dorfe Zletowo kam der Ochse, welcher dem Bulgaren Jano gehörte, auf den Hof eines Türken herauf, und dieser war darüber so wüthend, dass er den Jano tödtete. Praitschop, aus dem Dorfe Maslonko, wurde sammt seinen beiden Töchtern ermordet, und den Lehrer Spiro Naidow aus Pletwar bearbeiteten seine türkischen Nachbarn so lange mit dem Stocke, bis er todt am Boden lag. Isso-Idres, Feyzo und Zeco packten die drei Bulgaren Stojanow, Georgniew und Istkow (aus dem Dorfe Negilowo), stachen ihnen die Augen aus, rissen ihnen die Haut ab und tödteten sie dann erst. Von einer Verfolgung und Bestrafung dieser Ungeheuer war aber auch nicht im entferntesten die Rede. Doch wundern darf man sich über all diese Dinge keineswegs. Bewaffnete, denen Waffenlosen gegenüber eine unumschränkte Machtvollkommenheit zusteht, werden dieselbe stets missbrauchen; was ist also von ihnen zu erwarten, falls ihr Interesse die Vernichtung jener Bedauernswerthen erheischt? Den durch die Griechen ins Werk gesetzten Verfolgungen wohnt eine noch grausamere Härte inne, weil man's dabei auf die natürlichen Führer des bulgarischen Volksthumes, auf die Schullehrer, die Popen und überhaupt auf alle gebildeteren Bulgaren, abgesehen hat. Lange glaubten die Griechen, dass Macedonien ihnen gehören müsse. In ihren Händen lag ja einzig und allein der Unterricht, und dem Islam gegenüber vertraten nur sie die christliche Civilisation. Der griechisch-katholischen Geistlichkeit wurde eben eine Art von mechanischer Heeresfolge geleistet, und in den armen, ungebildeten Bulgaren, welche, gleich den Finnen in Finnland oder den Letten in Kurland, in anspruchslosester Bescheidenheit den Boden bestellten, lebte das Rassenbe-wusstsein ebenso wenig als in den an die Pflüge gespannten Ochsen. Während der letzten 20 Jahre etwa ist's damit aber anders geworden, und besonders seit dem Vertrage von San Stefano und der Gründung eines unabhängigen Bulgariens sind die Bulgaren Macedoniens in unwiderstehlicher Mächtigkeit sich ihres Volksthumes bewusst. Sie hatten wohl in den griechischen Kirchen und in den wenigen, von Geistlichen geleiteten Schulen griechische Wörter gelernt, waren darum aber keineswegs hellenisirt Es lebten ja immerhin noch ihre Sitten, ihre Sprache, ihre Lieder, wenn auch nur auf den ländlichen Fluren und in dämmerndem Lichte. Die Pforte will nun keine bulgarischen Bischöfe einsetzen; doch die Verfassung des bulgarischen Exarchats macht es der slawischen Bevölkerung möglich, das Joch der griechischkatholischen Geistlichkeit ganz entschieden von sich abzuwerfen und dafür der eigenen Volkskirche beizutreten. Dies erregt aber bei den Griechen und besonders bei ihren Prälaten ein solches Maass von Zorn und Wuth, dass sie, über jedes christliche und menschliche Empfinden sich hinwegsetzend, zu den schlimmsten Gewaltmitteln greifen. Sie verschwärzen die bulgarischen Schulen als Heerde aufrührerischer Umtriebe und die Lehrer als »Comitas«, das heisst als Mitglieder einer Vereinigung von Empörern. Die Schulen werden also geschlossen und die Lehrer gefesselt nach Saloniki gebracht, daselbst in die Festung Kanli-Kula, den »Blutthurm«, geworfen und von hier als Verbannte nach Kleinasien und damit in den Tod geschickt. Wer ein bulgarisches Buch liest, ein bulgarisches Lied singt, dem bulgarischen Exarchate beitritt, begeht in den Augen der Griechen und Türken ein todeswürdiges Verbrechen; denn darin offenbart sich ja die Hoffnung auf das Wiedererstehen des »grossen Bulgariens«. Die bulgarische Bewegung ist mithin all ihrer Stützen und Leiter beraubt. Um diese griechischen Feindseligkeiten nun besser zu beleuchten, will ich einige Thatsachen anführen. Das drei Wegstunden von Kastoria entfernte Dorf Zele-nitsche hat 1500 Einwohner, welche, von 8 griechischen Familien abgesehen, sämmtlich Bulgaren sind. Diese gehören ihrer Landeskirche an, und jene stehen unter der Obhut des griechischen Bischofs. Doch die beiden auf Kosten der Gläubigen erbauten Gotteshäuser werden den 8 Familien zugesprochen, und die übrigen Bewohner schliesst man von einer Benutzung aus. Diese wenden sich nun mit einer Beschwerde an den türkischen Kai-makam; aber der denkt gar nicht daran, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Er zwingt sie im Gegenteile zum Unterzeichnen einer Schrift, in welcher sie sich verpflichten, ihren Kirchen fernzubleiben, und zwar so lange, bis sie ihren Bischof Kyrillos, den griechischen Prälaten, als ihren geistlichen Hirten anerkannt haben. Sie legten hierauf die Sache dem gerade durch die Gegend kommenden Al-Kemali Pascha vor. Derselbe antwortete indessen damit, dass er den letzten Schulmeister aus dem Bereiche von Kastoria nach Monastir schleppen liess1)- In Negowan, Kruschewo, Strumnitza, Doiren, Geugelji, wurden bulgarische Kirchen mit Hilfe der türkischen Behörden von der griechischen Geistlichkeit in Besitz genommen. Sogar in Saloniki belegte der fana-riotische Erzbischof die Gotteshäuser der Bulgaren mit Beschlag, und zwei derselben blieben trotz aller Bitten und Einsprüche geschlossen. In Monastir wurde einer bulgarischen Abordnung Folgendes geantwortet: »Ich 1) Bezeichnend für die zwischen den Griechen und Bulgaren geführte geistliche Fehde ist auch eine Zuschrift, welche in Athen beschäftigte Maurer aus Kastoria an den bulgarischen Exarchen Jossif richteten, und von der ein Auszug in der Philippopeier Zeitung »Echo des Balkans« veröffentlicht wurde. »Die in Athen wohnenden Bürger Kastorias«, heisst es da, »haben beschlossen, dem bulgarischen Exarchen, Hochwürden Jossif, in einer Zuschrift ihren Dank für den Eifer auszudrücken, welchen derselbe in Kastoria der bulgarischen Sache widmet«. Als »Bulgaren von Geburt müssen sie sich zu ihren Volksgenossen bekennen« — und »in dem bulgarischen Exarchate hat man nur die Wiederherstellung des bulgarischen Patriarchates von Ochrida zu erblicken, welches durch die Ränke der Griechen vor ioo Jahren unterdrückt wurde, und wohin auch der Kirchensprengel Kastoria gehörte«. — 2l6 — gestatte Euch, Eure Kirche aufzuthun, aber unter der Bedingung, dass dieselbe dem Patriarchate unterstellt und dass der Gottesdienst in griechischer Sprache abgehalten wird. Ihr Bulgaren, die Ihr so eine Art von russischer Sprache habt, Ihr seid ja die erklärten Feinde des türkischen Reiches«. Auf einer zu Saloniki abgehaltenen griechischen Volksversammlung rief der den Vorsitz führende fana-riotische Erzbischof aus: »Jeder Bulgare ist ein Pansla-wist, ein Aufwiegler, ein Empörer. Bitten wir, dass Galeb Pascha diese von den Feinden der Regierung gepflegten Schulen schliessen lässt.« Die Bulgaren, welche keine Druckereien unterhalten dürfen, müssen sich ihre classischen Bücher aus Rumelien kommen lassen, und dieselben werden sammt und sonders der strengsten Durchsicht unterworfen. Das einzige bulgarische Gymnasium in Saloniki überwacht man in genauester Weise, und der Besitz eines verdächtigen Buches findet die strengste Ahndung. So wurde einst ein Schüler nach Arabien geschickt, weil in seinem Pulte das Bild eines Russen lag, und diese Verbannung erstreckte sich auch auf den Vater. Die fanariotische Geistlichkeit soll ihr Uebergewicht wahren und die Bulgaren Macedoniens in Griechen umwandeln, und zu diesem Zwecke gehen ihr aus Athen und aus Constantinopel auch Geldsendungen zu. Doch all solchen Bestrebungen starrt bereits ein »Zu spät!« entgegen. In diesen Unglücklichen, welche so lange unter einem doppelten Joche schmachten mussten, wogt und wallt das Rassenbewusstsein jetzt schon zu mächtig. Sie sehen, dass ihre Brüder aus Bulgarien und Rumelien befreit sind, und wollen dies nun gleichfalls werden. Für die Griechen, welche seit Jahrhunderten den Höhepunct des geistigen und religiösen Lebens darstellten, ist es ja allerdings hart, unwissenden, verach- teten Massen weichen zu sollen. Doch sie müssen sich eben darüber klar werden, dass dem auflebenden Rassen-bewusstsein die Zukunft gehört. Die Deutschen in Böhmen, die Ungarn in Kroatien, die Schweden in Finnland bezeichnen sich ja auch als die Träger eines höheren geistigen Lebens und mussten trotzdem die Rechte dieser zu lange übersehenen Bevölkerungsschichten anerkennen. Ganz besonders hat man aber über diese walachischen Zinzaren zu staunen. Früher Hessen dieselben sich bereitwilligst hellenisiren; doch jetzt fangen sie an, auf ihre lateinische Abstammung stolz zu sein, und sie knüpfen Verbindungen mit Rumänien an, von wo aus ihnen Bücher und Zeitungen zugehen. Mitten unter den sie vollständig umschliessenden Albanesen, Bulgaren und Griechen haben diese Ueberreste römischer Ansiedlung Bestand behalten. Eines Tages wird man nun auch ihrem Volksthume Rechnung tragen müssen, und in dem Balkangebiete der Zukunft gebührt auch ihnen ein Platz. Wäre Europa über diese entsetzlichen, in Macedonien herrschenden Zustände genau unterrichtet, so würde es dieselben nicht einen einzigen Augenblick dulden. Auf eine Abhilfe deutet Lord Derby's Schreiben vom 13. Februar 1876 hin, welches gehalten ist im Geiste des Tory-Ministeriums und der russischen, auf die türkischen Provinzen bezüglichen Vorschläge. Es wird hier gesprochen von »einer örtlichen Selbstverwaltung, das heisst von einer solchen Ordnung der Dinge, die der Bevölkerung das Recht giebt, ihre örtlichen Angelegenheiten selbst zu regeln, und die sie zugleich vor der Willkür der Behörden schützt«. Dieser Satz bildet gleichzeitig einen Vorläufer für den Artikel 23 des Berliner Vertrages, welcher Artikel den türkischen Provinzen eben eine selbständige Verwaltung verheisst, und zwar nach dem Muster der in Kreta geschaffenen — 2l8 — Ordnung.') Vortheilhafter wäre es allerdings, sich nicht Kreta, wo mannichfache Unruhen und Aufstände zur Tagesordnung gehören, sondern lieber den Libanon zum Muster zu nehmen. Seit dem Eingreifen Frankreichs geht dort alles vortrefflich, und jedes Dorf, jeder Bezirk verwaltet die eigenen Angelegenheiten mittelst eines erwählten Rathes. Bezirke mit mehreren Secten und Rassen haben einen gemischten Rath, und in diesem sind die verschiedenen Bestandtheile der Bevölkerung — die Maroniten, die griechischen und die römischen Katholiken, die Drusen, die Metualis — in einer ihrer Anzahl gemässen Stärke vertreten. An der Spitze der Provinz stehen ein mit Bewilligung der Mächte ernannter christlicher Statthalter und ein Ausschuss, in welchen die verschiedenen Gruppen ihre Vertreter entsenden. Der alte Hass ist geschwunden, und die Moslims und Christen arbeiten nun gemeinsam am Wohle des Ganzen. !) In dem vielbesprochenen Artikel 23 heisst es: »Die Hohe Pforte verbürgt hinsichtlich der Insel Kreta die genaue Durchführung des Gesetzes vom Jahre 1868, mit den als gerechtfertigt anerkannten Aenderungen. »Entsprechende, den örtlichen Bedürfnissen angepasste Gesetze, von den für Kreta verfügten Steuerbefreiungen abgesehen, sollen auch in den anderen Theilen der europäischen Türkei eingeführt werden, für welche in dein gegenwärtigen Vertrage eine besondere Gestaltung nicht vorgesehen ist. »Die Hohe Pforte wird, um für jede Provinz die einzelnen Bestimmungen der neuen Gesetze aufzustellen, besondere Bevollmächtigte abordnen, unter denen das eingeborene Element ausgiebig vertreten ist. »Die aus dieser Thätigkeit resultirenden Anschläge werden der Hohen Pforte zur Prüfung vinterbreitet , welche, ehe sie dieselben als Gesetz verkündet , hierüber erst die Meinung des für Ostrumelien bestellten europäischen Ausschusses einholt. Erskine Holland, Professor an der Universität Oxford und Mitglied des internationalen Rechtsinstitutes, spricht in einem höchst interessanten Werke — »The European Concert in the Eastern Question; a Collection of Trea-ties«, Oxford 1885 — über die Ausführung des besagten 23. Artikels (S; 292). Oesterreich hat eine solche Ordnung in Serajewo geschaffen, deren vorzügliche Ergebnisse ich im i. Bande darzuthun bemüht war. Wollte man den Artikel 23 des Berliner Vertrages in solcher Weise auslegen, so würden die Ansprüche der verschiedenen Rassen befriedigt werden. Macedonien fällt alsdann weder an Bulgarien, noch an Serbien oder Griechenland, sondern es gehört sich selbst und würde — unter der Lehnsherrlichkeit der Pforte — sich auch selbst regieren. Von den fünf Rassen — den Türken, Albanesen, Walachen, Griechen, Bulgaren — wäre somit keine geopfert. Jede Gemeinde könnte ihren eigenen Angelegenheiten vorstehen, und in den Orten mit gemischten Bestandtheilen hätten die verschiedenen Parteien im Gemeinderathe eine ihrer Stärke entsprechende Vertretung. Nicht das Parlament oder die Centrai-Behörde, nein, gerade dieser Gemeinderath ist das Wesentliche, wo es gilt, auf die Wogen der Rassenfeindschaft besänftigend einzuwirken. Besonderen Schwierigkeiten könnte man dabei nicht begegnen, denn auch die einfachsten Leute haben sich der Regelung ihrer örtlichen Angelegenheiten durchaus gewachsen gezeigt. Doch ein europäischer Ausschuss müsste, wie dies für Ostrumelien geschehen ist, eine Art von Wächteramt übernehmen, damit nicht unter den liebevollen Fittichen der türkischen Behörden und der fanariotischen Geistlichkeit jedes Besserwerden zu einem Phantasiegebilde sich umgaukelt. Wunder nimmt's, dass Europa und die Türkei den allseitigen Vortheil nicht einsehen, welchen geordnete macedonische Verhältnisse mit sich bringen. Die das Land umschliessenden Berge stehen nur nach Süden hin offen da und gewähren also Schutz vor kalten Winden. Drei schöne Flüsse — der Wardar, die Struma, der Karasu — bewässern den Boden, and an guten Häfen und prächtigen Meeresbuchten fehlt's auch nicht. Auf den Höhen liegen herrliche Weideplätze, wo die Heerden in jeder Jahreszeit eiue üppige Nahrung finden. Die Ebene umschliesst aber fruchtbare Felder, und das milde Klima des Aegäischen Meeres lässt die Früchte der gemässigten und gleichzeitig die der Mittelmeer-Zone gedeihen. Zur Zeit der alten Griechen und Römer ist das Land mit blühenden, volkreichen Städten bedeckt gewesen, deren Spuren man noch antrifft, und heute wohnen im Inneren die arbeitsamsten Landwirthe und an den Küsten die verständigsten Seeleute unseres ganzen Kontinentes. Unter einer vernünftigen Regierung würde Macedonien für die Pforte bald eine wichtige Einnahmequelle werden und für die europäische Handelswelt ein Absatzmarkt, dessen Bedeutung weit hinausgeht über all' diese fernen Kolonien und Inseln, um welche die grossen Staaten jetzt miteinander streiten. Die Bulgaren verstehen sich aufs Schaffen und Sparen. Aber man muss ihnen die Sicherheit der Person und des Eigenthums gewähren, und sie die Früchte ihrer Arbeit geniessen lassen. Mit Hilfe der Eisenbahnen könnten dann die Engländer ihre Stahl- und Eisenwaaren, die Oesterreicher und die Deutschen ihre billigen Zeuge und die Franzosen ihre Luxusgegenstände herschaffen. Alle, mit Ein-schluss der Griechen und Serben, beziehen sich ja immer auf den Berliner Vertrag zu Gunsten der Türkei. Man möge dieselbe also auch dazu anhalten, die Lichtseiten jenes Vertrages herauszukehren. Durch den Mund eines aufrichtigen, aber scharfblickenden Freundes, durch Lord Salisbury, rief England der Hohen Pforte am 13. Juli 1878 eine feierliche Warnung zu., Damals berichtete der Lord im Unterhause über den Berliner Vertrag und fügte dann hinzu: »Es fragt sich, ob die Türkei die Gelegenheit, welche ihr — wahrscheinlich zum letzten Male — durch die Vermittelung der europäischen Mächte und Englands im Besonderen geboten wird, zu nützen versteht, oder ob sie dieselbe vorübergehen lässt. Eine Antwort auf diese Frage hängt ganz von der Art und Weise ab, in welcher künftig die türkischen Staatsmänner ihre Pflichten als Träger der Regierung erfüllen und wie sie an die geplanten Umänderungen herantreten werden.« Als der Lord bei einer späteren Gelegenheit die Haltung seiner Regierung klarlegte, sagte er: »Unsere Politik besteht darin, der Türkei überall, wo ihr Regiment segensreich wirkt, eine Stütze zu sein. Sollte dasselbe aber an der Hand der Thatsachen sich dem Wohle der Bevölkerung als verhängnissvoll erweisen, dann müssen wir bestrebt sein, unabhängige Staaten ins Leben zu rufen, welche eine glückliche und sichere Bürgschaft für die friedliche Zukunft Europas bilden werden.« Falls die Türken auf heilsame Rathschläge nicht hören wollen, droht ihnen eine doppelte Gefahr: immerwährende Unruhen müssen sie ihrem vollständigen Verderben entgegenführen, und es wird, um unerträglichen Zuständen ein Ende zu machen, das Einschreiten einer fremden Macht erfolgen. In Bosnien ist's schon ganz anders geworden, seitdem dasselbe den Händen der Türken entglitt, und von der Eisenbahn Mitrowitza-Sa-loniki sind die österreichischen Truppen nur um zwei bis drei Tagemärsche entfernt. Wem könnte wohl also die Aufgabe werden, mit jenen verrotteten Verhältnissen aufzuräumen ? Das türkische Reich darf ja, wie Lord Salis-bury dies 1878 und 1881 erklärt hat, nur unter der Bedingung fortdauern, dass die seinem Zepter noch anvertraute Bevölkerung Ordnung und Sicherheit zu kosten bekommt. Aller Auflehnung steht es mit jedem Tage aber macht- loser gegenüber, und Europa wird sich immer weniger und weniger geneigt zeigen, die mit einem Unterdrückungsversuche verknüpften Barbareien zu dulden. In Philippopel stösst man auf eine Gruppe alter Katholiken, die nicht verwechselt werden dürfen mit den unirten Griechen, welche 1868, als die Bulgaren durchaus dem Zepter der fanariotischen Geistlichkeit sich unterwerfen sollten, mit Rom in Verbindung traten. Diese alten Katholiken gelten für Bogomilen, Pauliner oder Manichäer, und ihr Ursprung reicht mithin bis in die ersten Zeiten des Mittelalters zurück. Pauliner sind's gewesen — Villehardouin nennt sie Popelikaner — mit deren Hilfe der bulgarische König Johannis im Jahre 1205 den Kreuzfahrern Philippopel entrissen hat. Gruppen der gleichen Art fand Kanitz in einigen bei Niko-poli — am Südufer der Donau — gelegenen Dörfern; deren Mitglieder bezeichneten sich ihm als Pauliner und sagten: Az zam Paulikan. In seinem trefflichen Buche »Das an die Donau grenzende Bulgarien« (S. 215—219) macht er über diese Gemeinde sehr interessante Mittheilungen. Die an der Donau wohnenden katholischen Pauliner gleichen gewissermaassen den Indianern Paraguays. Sie sind ja auch von jeder Berührung mit ihren Landsleuten abgesperrt und dem Einflüsse des Unterrichts vollständig entzogen. Für eine solche Abschliessung tragen aber italienische Priester Sorge, und diese ehrwürdigen Väter Hessen wohl sehr schöne Kirchen erbauen, duldeten jedoch nicht eine einzige Schule. Während die Bulgaren sonst so sehr danach streben, sich Bildung anzueignen, denken sie hier gar nicht daran, vom Baume der Erkenntniss auch nur naschen zu wollen. Die zur Zeit der Maria Theresia nach dem Banat ausgewanderten paulinischen Bulgaren haben aber im Gegen- theile auf eine ganz ausserordentlich hohe Stufe sich hinaufgeschwungen. »Sie stehen nicht bloss durch ihren Fleiss und ihre Ordnungsliebe in einem sehr guten Rufe,« sagt Kanitz, »sondern auch durch die Vorzüglichkeit, mit der sie sich dem Feld- und Weinbau und der Bienenzucht zu widmen wissen, und hauptsächlich durch ihre dem Unterrichtswesen zugewendete Sorgfalt. Die des Lesens und Schreibens Unkundigen machen in ihren Kreisen nicht drei Procent aus, und falls hier die Vormünder ihre Pflegebefohlenen nicht nach der Schule schicken, werden sie ihrer Obliegenheiten für enthoben erklärt. In den Komitatsgefängnissen pflegt man einen Bulgaren aber nur selten anzutreffen.« Das am Fusse des Rhodope-Gebirges malerisch gelegene — von Philippopel nicht weit entfernte — Stani-maka hat eine ausschliesslich griechische Bevölkerung, welche auf etwa ioooo Seelen sich beziffert. Dem Griechenthume ist diese Stadt ein rechter Kern- und Sammelpunkt, und hellenisches Leben strömt hier wie zu einem Brennpunkte zusammen. Villehardouin berichtet, dass Rienier de Trit {vom Kaiser Balduin das »Schloss Stanemac« geschenkt erhielt und in diesem sich 13 Monate gegen die Bulgaren vertheidigte. Das Queille-sche Buch giebt hierüber Auskunft und erzählt auch von dem Arzte Lucas, der Stanimaka im Jahre 1701 besuchte. Dieser fand die folgende, in einem Felsen eingegrabene Inschrift vor, welche heute aber bereits verwischt ist: »Asen, im Namen Gottes Zar der Bulgaren und Griechen, ernannte im Jahre 6739») den Alexios zum Lehnsträger und erbaute das Schloss.« — Einstmals bestand die Bevölkerung dieses ganzen Gebietes aus Griechen, welche dann vor den Türken vom Lande nach 1) Byzantinische Zeitrechnung; nach christlicher im Jahre 1230. den Städten und besonders ans Ufer des Meeres flüchteten, und Stanimaka stellt doch ganz offenbar einen Rest jener alten griechischen Einwohnerschaft dar. Die hartfühligeren und überdies mehr am Landleben hängenden Bulgaren hielten die türkische Herrschaft indessen aus und haben nun die Stelle der Griechen eingenommen. Dr. Tschomakow, mein Wirth, führt mich in Philippopel und dessen Vorstädten umher. Sehr stolz ist derselbe auf seinen Gemüsegarten, dessen Früchte ich bewundere als Zeugniss für die so merkbar vortretende Fähigkeit der Bulgaren, sich mit dem Gemüsebau abzugeben. Wir schreiten nun über die grosse Gemeindewiese, eine alte Metrüke ^-Besitzung. Hier können die auf der Durchreise Befindlichen ihre Ochsen und Pferde weiden lassen, und früher schlugen sie sich daselbst auch wohl ein Zelt auf. Derartige Einrichtungen waren während des Mittelalters in Europa ziemlich allgemein verbreitet, und in England hiess solch ein öffentlicher Platz »Green« und in den Niederlanden »Greente«. Wir kommen auch an einer »Theorie« von jungen Mädchen und von Soldaten vorbei, welche unter dem Schatten mächtiger Weiden den Koro tanzen. Dieselben schlängeln sich in den verschiedenartigsten Windungen herum und singen dabei im Chore ein Volkslied. Der Palast des Statthalters, der alte türkische Konak, liegt mitten in einem Garten. Dicht daneben haben die Russen einen von den Türken aufgegebenen Kirchhof in einen öffentlichen Garten verwandelt, und hier spielt gerade eine Militärcapelle. Von den umliegenden hübschen Häusern gehört das schönste, welches in einem sehr eleganten italienischen Stile erbaut ist, einem Verlagsbuchhändler, 1) Erster Band, S. 175. und darin, dass die Presse das prächtigste Heimwesen der ganzen Stadt besitzt, steckt doch wohl kein für die geistige Entwicklung des Landes ungünstiges Zeichen. An anderen Stellen fällt der Blick auf grosse, im Zustande des Verfalls befindliche türkische Häuser, welche von ihren Eigenthümern, die auswanderten, aufgegeben wurden. Eine neue Welt stürmt von allen Seiten auf den Islam ein, und er vermag es nicht, dem frisch hereindringenden Geiste gegenüber Stand zu halten. Zur Hauptstadt Bulgariens eignet Philippopel sich weit mehr als Sofia; es hat eine bessere Lage und stellt einen viel angenehmeren Aufenthaltsort vor. Der Director der türkischen Eisenbahnen schickt mir einige Bände der »Revue des Deux Mondes«, und über die Länder, welche ich bereise, finde ich in jenen Blättern Artikel aus der Feder der Fürstin Doria d'Istria und Albert Dumonts. In einem Aufsatze über »Die Bulgaren und ihre Lieder« (15. Juli 1868) hat die Fürstin das Hoffen der Bulgaren sehr treffend dargelegt. »— Den Bulgaren fällt es gar nicht ein, ihr Trachten und Sehnen in den engen Rahmen zu spannen, welcher ihren Vätern genügte. Sie sind stolz auf ihre Zahl und denken nicht weiter daran, sich mit den Griechen zu verschmelzen. Sie wissen vielmehr recht gut, dass diejenigen, welche am Balkan sitzen, auch die Halbinsel und die Schlüssel Constantinopels in Händen haben.« Klar und deutlich zeichnet die Fürstin den Unterschied hin, der zwischen dem gutgearteten, sanftmüthigen Bulgaren der Gegenwart und dem wilden des 8. und 9. Jahrhunderts liegt. Der Zar Krum schlägt den byzantinischen Kaiser Niko-phorus, tödtet ihn und — benutzt dessen mit Gold ein-gefasste Hirnschale als Pokal, aus dem er bei seinen Mahlzeiten trinkt. Im 11. Jahrhundert waren die Manichäer in Bul- Laveleye, Balkanländer. 11. 15 garien sehr zahlreich vertreten. Einer von ihren Aposteln, Basilius, nannte sie zuerst Bogomilen, und es bedeutet dies so viel wie Leute, welche Gott lieben, oder eigentlich, welche Gott lieb sind. Denn »Bogo« heisst »Gott«,, und »mile« bildet die Bezeichnung für »lieb«, »werth«. »Sbogom«, d. h. »Gott mit Euch«, ist ein bei den Slawenvölkern ganz allgemein gebräuchlicher Gruss. In der »Revue litteraire« von Sofia hat der im Januar 1886 zum Unterrichtsminister ernannte Karolew einen Artikel über den Bogomilismus — unter dem Titel »Bogo-milstvo« — veröffentlicht. — Der Reisende Rubruqui berichtet, dass einstmals in Gross-Bulgarien, am Ufer der Bulga oder Wolga, die Wulgaren sassen, und sagt dann: »Von diesem Volke stammen die Bulgaren ab, welche jenseits der Donau, nach Constantinopel hin, zu finden sind.« (G. von Rubuk, »Wegweiser im Morgenlande«. Ausgabe der »Societe de geographie de France«, S. 264 u. 275.) Die Fürstin d'Istria lässt sich auch über den beim bulgarischen Volke anzutreffenden Sinn für den Ackerbau aus und erklärt: »Dieser bei der Entwicklung höherer Sittigung so bedingende Hang giebt den Bulgaren eine Wichtigkeit, welche weder durch Tapferkeit noch durch Klugheit zu erreichen wäre. Die Arbeit führt aber zum Reichtbume, und dieser bildet in jedem demokratischen Zeitalter den Träger höchster Machtfülle. Durch ihre Arbeitstüchtigkeit erhalten die Bulgaren eine gewisse Aehnlichkeit mit den Germanen und besonders mit den zähen Angelsachsen.« Albert Dumont ging im Jahre 1868 von Rodosto am Marmarameere aus nach Adrianopel und Philippopel. !) In Buyuk - Kara - Kerti schreibt er: »In der 1) »Revue des Deux Mondes«, 15. Juli, 15. August und 1. October 1871. Schenke sind viele Türken; sie hocken hier seit dem Morgen, haben ihre Pfeife bei sich und verbringen ganze Stunden in jenem sonderbaren Zustande, welcher weit mehr einem Schlafe als dem Wachen gleicht. Von einer so vollständigen Trägheit haben wir gar keine Vorstellung. Schon der Gang dieser Leute deutet auf eine bodenlose Schlaffheit hin, und die in Babuschen1) steckenden Füsse scheinen kaum von der Stelle rücken zu können. Diese Pfeifen und Babuschen sind die äusseren Wahrzeichen türkischen Bergabgehens.« Auf kahlen, trostlos-nackten Ebenen findet Dumont prächtige Brücken, welche aber in gar keiner Verbindung mit ordentlichen Wegen stehen. Sie sind schöne Ueberreste einstiger türkischer Machtfülle und stammen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, aus einer Zeit also, wo Rumelien noch gepflasterte Wege hatte. Hafsa besass früher einen vortrefflichen Khan, in dem die Reisenden viele Zimmer, geräumige Ställe, warme Bäder und eine Moschee antrafen. Heute ist's aber auch mit dieser Herrlichkeit vorbei, und die ganze Anlage stellt nur noch einen Trümmerhaufen dar, von welchem die Leute sich Bausteine holen. Ueber die türkische Verwaltung stellt Dumont in Adrianopel seine Forschungen an, und er sagt: Die Provinz — das »Vilajet« — steht unter dem »Vali«, das Departement — »Sandschak« — unter dem »Mutesarif«, der Kanton — »Kasas« — unter dem »Kaimakam« und die Gemeinde — »Naje« — unter dem »Mudir«. Die Unordnung ist eine grenzenlose. Alle Aufzeichnungen stehen auf Papierrollen, und diese hegen in Säcken bunt durcheinander. Eine derartige Verwaltung mochte wohl für eine Zeit sich eignen, wo man überhaupt wenig nach Geschriebenem fragte. Doch heute bildet sie eine wahre *) Türkische Pantoffeln. Brutstätte für den Unterschleif. Wer sich Gerechtigkeit verschaffen will, muss zahlen, und dies erscheint allen als durchaus natürlich. »Ohne Bakschische kein Richter,« sagt ein griechisches Sprichwort. Dumont aber erklärt: »In der Türkei haben die Steuern einzig und allein den Zweck, die Bevorrechtigten, welche öffentliche Aemter bekleiden, zu füttern,« und der folgende Bericht beweist so recht die Wahrheit dieses Wortes. »Der einflussreiche, über flüssige Mittel verfügende Dimitri kauft den Zehnten eines Kantons für iooo Börsen (i Börse = 112 Franken). Noch am selben Abende verkauft er ihn aber, und zwar an Nikolas, welcher weniger hoch in der Gunst des Statthalters steht. Nikolas unterhandelt nun ganz willkürlich mit den reichen Steuerzahlern, die er nach Lust und Laune schuhriegeln könnte; doch sie einigen sich eben mit ihm und dürfen also an die Ernte gehen, wann es ihnen passt. Ja, aber die armen Leute bleiben der Gnade und Barmherzigkeit des Steuerpächters preisgegeben. Gewöhnlich überweist er sie seinen Bevollmächtigten, die bisweilen seine Diener sind, und denen er einen Antheil an dem Einzuziehenden abtritt. In der Umgegend von Adrianopel muss man diesen Mann des Zehnten, der oft ein Jude oder ein Armenier ist, bei seinem Verkehr mit den bulgarischen Bauern beobachten. Er erscheint wie der freche Ueber-muth in eigener Person, und sie, die sich als seine Sclaven betrachten, sind ein Bild der Angst und Unterwürfigkeit. Der Anblick solcher Scenen gehört eben mit zu dem Traurigsten, was im Morgenlande auf den Reisenden eindringt. Völlig wehrlos steht der Bauer da, denn es fehlt ihm an jeder Widerstandsfähigkeit, und er hat kein Mittel in Händen, um seinem Geschick eine andere Wendung zu geben. Oft besitzt er als einzige Quittung über ganz oder theilweise geleistete Zahlungen nur einen hol- zernen Ring, in den Einschnitte gemacht sind. Die Steuern laufen durch so viele Hände, dass es auf ihre ursprüngliche Höhe oder Niedrigkeit kaum ankommt; erdrückend werden sie in jedem Falle sein.« Cicero berichtet über die Erpressungen, deren Verres sich in Sici-lien schuldig machte; doch was sind dieselben im Vergleiche zu den in der Türkei herrschenden Verhältnissen? »Adrianopel liegt wohl auf bulgarischem Boden, hat aber eine hauptsächlich aus türkischen und griechischen Bestandtheilen zusammengesetzte Einwohnerschaft,« sagt Dumont. Das kann durchaus kein Befremden erregen; denn die Griechen flohen ja nach den Städten, um hier Schutz vor der türkischen Schandwirthschaft zu finden. »Im bulgarischen Lande sind die griechischen Bischöfe Pächter geistlicher Aemter,« erklärt Dumont an einer anderen Stelle. »Sie denken nur daran, das ihnen zukommende Geld einzuziehen, und die Forderungen, auf welche sie ein Anrecht haben, sind sehr zahlreich. Eine Schule oder ein Priesterseminar zu gründen, — das fiel ihnen in Jahren und Jahren nicht ein. Als Amtssprache zwingen sie der unter ihnen stehenden Geistlichkeit das Griechische auf, welches derselben aber unverständlich ist, und die Verantwortung für die traurigen Zustände, unter denen das Land leidet, fällt zum grossen Theile auf ihre Schultern zurück.« Schon im Jahre 1868 machten die griechischen Bischöfe zur Unterdrückung und Ausbeutung der bulgarischen Bauern gemeinsame Sache mit den türkischen Beamten. »Die Bisthümer werden von den Bischöfen, wie die Provinzen von den Valis ausgeraubt,« berichtet Dumont. »Um ihre Pfarrkinder zum Gehorsam zu zwingen und denselben die erforderlichen Summen abzupressen, bedürfen* die Bischöfe einer Unterstützung von Seiten der türkischen Behörde.« Sechstes Kapitel. Constantinopel. — Die türkische Herrschaft. Zwischen Philippopel und Constantinopel hat das Dampfross einen Weg von 200 Kilometern zurückzulegen, wozu es aber zwei Mal 24 Stunden braucht. Täglich geht nur ein Zug ab, und während der Nacht ruht derselbe in Adrianopel von seinen Anstrengungen aus. Diese Art des Reisens erinnert an jene früheren Zeiten, als man Italien noch mit dem Lohnkutscher durchfuhr. Sie ermöglicht eine gute Umschau und ist für Leute berechnet, die's nicht besonders eilig haben. Bei einem Morgenländer spielt die Zeit aber bekanntlich gar keine Rolle. Ein Mann, welcher während der ganzen Fahrt die Gesellschaft der Mitreisenden meidet und nur für sich allein bleibt, ist mit zwei kleinen Kästchen eingestiegen. Er verliert dieselben nicht eine Minute aus dem Gesicht und hütet sie wie seinen Augapfel, so dass man ihn vielleicht im Besitze des hier so seltenen Goldes wähnen könnte. Jene geheimnissvollen Behälter, welche aus Kazanlik kommen, umschliessen nun zwar keine klingende Münze; aber sie erhalten durch ihren Inhalt, das köstliche Rosenöl, einen Werth, der auf 12000 türkische Pfunde — ungefähr 265000 Franken — sich beläuft. Die Rosenzucht ist ungeheuer mühsam. Nur auf den Abhängen, wo ein frischer Luftzug hintrifft, gedeihen die Rosen, welche der sorgfältigsten Pflege und Abwartung bedürfen und erst nach fünf oder sechs Jahren ertragfähig sind. Die Ernte beginnt im Juni und dauert 25 bis 40 Tage. Zu einem Muskaie Oel -- gegen fünf Gramm — gehören mindestens 8 und mitunter, wenn der Frühling sehr trocken gewesen ist, 15 Kilogramm Rosen. Ein Muskaie wird für 5 bis 8 und ein Kilogramm für 1040 bis 1614 Franken verkauft. Die Rosenzucht, welche früher den Balkanthälern vorbehalten blieb, wird nun auch am Rhodope-Gebirge betrieben. Jetzt ist es hier ja vorbei mit der Türkenherrschaft, und der bulgarische Bauer, welchem die Früchte seiner Arbeit bleiben, bemüht sich um eine bessere Verwerthung des Bodens. Auf den niedrigen, an der Maritza hinlaufenden Ebenen bemerke ich quadratförmige Felder, die mit Gras bedeckt und von kleinen Deichen eingefasst sind. Früher wurde hier Reis gezogen, was aber dem Sumpffieber Vorschub leistete. Man that dem Anbau dieser Pflanze also Einhalt und wandelte die Ländereien in Wiesen um, und es waren dies wohl sehr vernünftige Maassnahmen. Das Dorf Kataunitza, woselbst der Zug anhält, besteht aus ärmlichen Hütten, die von Stampferde erbaut und mit Stroh gedeckt sind. Ueber dieselben ragt ein grosses neues, blendend weisses Haus empor, das die Gemeinde aus ihren Mitteln aufführen liess. Hier ist die Elementarschule untergebracht, und ausserdem besitzt das Dorf auch eine — auf Kosten der Regierung eingerichtete — Ackerbauschule. Schon im ersten Jahre ihres Bestehens hatte diese 70 Schüler, worin die Lernbegierde der Bevölkerung sich doch wohl sehr deutlich offenbart; eine andere Ackerbauschule ist in Bulgarien, auf der Musterfarm Saduwo, begründet worden. Der Zug fährt an der Maritza herunter, und deren sehr gut angebautes Thal weist einen prächtigen Roggen und vortreffliche Bohnen auf, welche an den vielen Fasttagen als Speise herhalten müssen. Klee und Kartoffeln sind nur in geringem Umfange vorhanden. Letztere würden hier aber schon ein Erkleckliches abwerfen; denn sie gedeihen gut, und ein Kilogramm derselben wird mit 10 Centimes bezahlt. Die niedrigen Weinberge tragen herrliche Trauben. Nun zeigt sich Papasly mit seiner hübschen Moschee und seinen Hütten aus Schilfrohr, die an Wohnlichkeit noch hinter den Behausungen Inner-Afrikas zurückstehen. Dann kommt man nach Jeni-Mahala, einem schönen, von Bäumen ganz verdeckten Dorfe, welches eine neue Schule und eine neue Gendarmeriekaserne hat. Gearbeitet wird hier überall mit Ochsen, und diese sind kleiner, aber fleischiger als im nördlichen Bulgarien. Pferde trifft man selten an, und die aus Ungarn hergeholten kommen auf 700 bis 800 Franken zu stehen, was ein für hiesige Verhältnisse ganz ungeheuerer Preis ist. Als ich nun eben verwundert fragen will, warum man wohl im Lande selbst sich nicht mit der Pferdezucht abgegeben hat, fällt mir noch rechtzeitig der — Fiscus ein. Am 20. Juni kann man die Leute hier bereits ihren Roggen abhauen sehen, und es geschieht dies vermittelst einer kleinen Handsichel, wie Boas sie in solcher Gestalt wohl noch gehandhabt haben mag. Auf der Gemeindewiese tummelt die Heerde des Dorfes sich herum. Haskuei-Kajadyk besitzt gleichfalls ein schönes Schulgebäude, und dieses dient auch dem Gemeinderathe als Versammlungsort. Eine Kirche will sich meinem Blicke aber nicht zeigen. Früher wurden die christlichen Gotteshäuser möglichst versteckt angelegt, und seitdem die Verhältnisse sich geändert haben, denkt man hauptsächlich an die Einrichtung von Schulen. Dies bestärkt mich in der Meinung, dass hier der Gegensatz zwischen den Rassen weit mehr eine Rolle spielt als der zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften. Die Griechen oder Bulgaren offenbaren kein leidenschaftliches Feuer und die Türken keine Unduldsamkeit, und die religiöse Frage dient den Rassenkämpfen gleichsam nur als Aushängeschild. Bebaut ist der ganze Boden, und mein Blick fällt auf kein ödes Brachland. Jenes Maisfeld aber, welches man mit einem Pfluge bearbeitet, gehört augenscheinlich einem grossen Besitzer. Es sind hier bereits Begüterungen anzutreffen, die, türkisches Eigenthum darstellend, iooo bis 4000 Deunums umfassen und entweder im Wege der Selbstbewirthschaftung oder auf dem der Halbpacht ausgenutzt werden. Je näher man an Constantinopel heranrückt, desto häufiger stösst man auf solch umfangreiche Ländereien, welche in einer Hand liegen. Zu einem guten bulgarischen Hauswesen gehören verschiedene Baulichkeiten, und diese umschliessen einen schattigen Hof, den man »Atma« nennt. Auf dem öffentlichen Platze wird der Koro getanzt. Männer und Frauen, welche sich die Hände gegeben haben, bilden eine lange Reihe und beschreiben, singend und leicht emporhüpfend, schlangengleiche Windungen und Krümmungen. Dieser Koro erinnert mich an den Volkstanz Lüttichs, den »Cramignon«. Nach Tirnowa1) hin rücken die Höhen zu beiden Seiten ganz nahe an die Maritza heran, deren Lauf aber doch ein träger bleibt. Um nämlich den an ihr liegenden Mühlen mehr Wasser zuzuführen, hat man schräg hingehende Wehre aus Strauchwerk in die Strömung geschoben. In Tirnowa zweigt von der Bahnlinie ein Schienenstrang sich ab, der 104 Kilometer lang ist und bei Jamboli, am Fusse des Balkans, endet. Aus dem kleinen Dörfchen Hermanly ragen ein schönes, neues, 1) Nicht zu verwechseln mit dem in Bulgarien an der Jantra gelegenen Tirnowa. ■zweistöckiges Schulgebäude empor und eine Moschee mit spitzem Minaret, dessen Bekleidung aus Weissblech im Scheine der Sonne glänzt und blitzt. Bei Mustafa-Pascha führt eine grosse eiserne Brücke über die Maritza, und an deren jenseitigem Ufer betritt man die Provinz Adrianopel und damit also türkischen Boden. Der Blick schweift nun über die weite Ebene, auf welcher 1205 das Heer der Kreuzfahrer unterlag und Balduin zum Gefangenen gemacht wurde. Kalojan Johannis, der dritte Zar aus dem Geschlechte der Asenni-den — Villehardouin bezeichnet ihn als den »roi de Blanquie et de Bogrie« — führte den Kosaken ähnliche kumanische Reiter mit sich. Von diesen wurden die schwerbewaffneten Ritter umschwärmt, schachmatt gemacht und dann durch Pfeile zu Boden gestreckt. Ueber den Heldenmuth, welchen die Bedrängten dabei offenbarten, erstattet die Geschichte Bericht. So weigerte der zwei Mal verwundete Graf Louis sich, das Schlachtfeld zu verlassen, und erklärte: »Gott möge es verhüten, dass mir je der Vorwurf gemacht werden könnte, ich wäre vom Kampfplatze und vom Kaiser hinweggeflohen.« Auch Balduin wrollte nicht weichen. Er wurde als Gefangener nach Tirnowa geführt, und hier zwang der Sieger ihn, sich von den Mauern der Festung in die Tiefe zu stürzen. Villehardouin spricht in seinen Berichten immer von den »Blachen und Kumanen« und selten nur von den »Bogaren«. Verwechselte er Namen, oder war das nördliche Bulgarien damals von Walachen bewohnt, als deren Ueberreste die rumänische Bevölkerung der Balkanhalbinsel zurückgeblieben ist? Unter den Aufzeichnungen Villehardouins — von Wailly gab dieselben heraus — befindet sich eine Karte, nach welcher die Grosse Walachei oder Blachien in Thessalien liegt und Larissa zum Mittelpunkte hat. In den Bergen dieser Gegend stösst man noch auf Kutzo-Walachen; allein auch hier haben sie schon viel durch die Fortschritte des Griechenthums verloren. — Der Zar Kalojan Johannis ist ein schrecklicher Mensch. Er zerstört die Städte und führt deren gesammte Bevölkerung in die Sclaverei. So vernichtet er auch die »edle Stadt« Philippopel, eine von den drei Perlen des byzantinischen Reiches, ferner Rodostos am Marmarameere, Napoli und überhaupt ganz Rumänien: bei der Belagerung von Saloniki findet er dann durch Meuchelmörder seinen Tod. Der Thronräuber Borilius (1207—1218) schlägt in Messinopel den Marquis Boni-facius von Montferrat, den zweiten Führer des Kreuzzuges. Im Jahre 1218 stürzt aber Johannis Asen II. (1218—1241) diesen Borilius, welchem er die Augen ausstechen lässt, und durch seine vielen Siege überschüttet er nun das bulgarische Königreich mit einer Fülle von Glanz und Macht. Adrianopel, die zweite Stadt des türkischen Reiches, liegt in einer Ebene von erstaunlicher Fruchtbarkeit, und die Arda, die Maritza und die Tondscha, welche von dem Rhodopus und dem Balkan herabkommen, vereinigen hier ihre Fluthen. Im Alterthume erhob sich an dieser Stelle die Stadt Orestia. Sie war die Hauptstadt der Könige von Thracien, und ihre riesenhaft grossen Umfassungsmauern sind noch anzutreffen. Später gründeten hier die Römer »Adrian«, das heutige Adrianopel, woselbst die türkischen Sultane bis zur Einnahme Constan-tinopels gewohnt haben. Der ehemalige Palast derselben, das alte Serail, ist heute ein halber Trümmerhaufen. Doch er legt sehr viel klarer und anschaulicher als die neuen Prachtbauten am Bosporus Zeugniss davon ab, wie so ein Wohnsitz des Grossherrn eigentlich beschaffen war. Unter den wundervollen Moscheen nimmt die erste Stelle diejenige ein, welche den Namen »Selim« führt. Sie überragt die Sofien-Moschee Constantinopels an Höhe, und ihr Vorhof ist mit weissem Marmor gepflastert. Die sie umgebende Säulenhalle ruht aber auf Pfeilern von diesem seltenen, grün geäderten Cipolin-Marmor, den man aus römischen Tempeln herholte, und ihre wunderbar kühn geschwungene Kuppelwölbung stützt sich auf vier riesige Porphyrsäulen. »Eski-Dschami« oder die »Alte Moschee«, unter Mohammed I., und die »Mu-radje«, unter Murad I. erbaut, sind älteren Ursprunges als viele Moscheen Constantinopels. Sie wurden von griechischen Baukünstlern aufgeführt, welche sich die dortige St. Sofia zum Vorbilde nahmen. Damals entstanden auch prächtige Khans, und ein nach Art römischer Heerstrassen mit Steinplatten gepflasterter Weg durchzog die Halbinsel vom Marmarameere bis nach Belgrad. »Im 16. Jahrhundert,« sagt Dumont, »wurden Arbeiten zum Allgemeinwohle in keinem Staate umfangreicher und verständnissvoller ausgeführt, als gerade in der Türkei.« Jene Zeit schuf die grossen Moscheen, welche so recht das Sinn- und Wahrzeichen des Morgenlandes sind, weil hier der Glaube allein die treibende Kraft bildet. Nun ist dieser aber dahingeschwunden, und die heutigen, durch die Berührung mit dem Abendlande verdorbenen Türken verstehen es nicht mehr, auch nur die geringste dem Wohle der Allgemeinheit dienende Unternehmung vernünftig durchzuführen. Ja, sie vermögen es nicht einmal, die Denkmäler ihrer einstigen Grösse vor dem Verfalle zu schützen. Adrianopel mit seinen Strassen voll malerisch gekleideter Leute und den offenen Läden,, in welchen die Gewerbe vor den Augen der Menge betrieben werden, trägt weit mehr noch als Constantinopel den Stempel des Morgenlandes. Vor dem Konak, dem Pa- laste des Statthalters, stolziren einige Officiere in goldstrotzenden Uniformen herum. Die nahen Schildwachen, welche übrigens richtige Soldatengestalten — schöne, kräftige und schlanke Leute mit gebräunten Gesichtern — sind, stecken aber in zerrissenen Kleidern, und auch auf dem Hofe der Selimswoschen lassen sich in Lumpen gehüllte Soldaten sehen. Der öffentliche Spaziergang mit der erfrischenden Kühle des Wassers und dem Schatten wmnder-voller Bäume ist ein zauberhaft schöner, aber menschenleerer Ort: die Männer rauchen in den Kaffeehäusern ihre Pfeife, und die Frauen müssen in den Harems hausen. Die Stadt soll etwa 60000 bis 100000 Einwohner haben; genau kann eben niemand so etwas wissen, denn man kennt hier weder ein Civilstandsregister noch irgend welche statistischen Aufnahmen. In der Hauptstrasse werden mir Häuser gezeigt, welche in sehr grausiger Weise an an den letzten Krieg erinnern. Während desselben hingen hier nämlich an jedem Morgen die Leichen von drei oder vier Bulgaren, womit etwaige unruhige Geister geschreckt werden sollten. — Von dem Zeitalter des Dampfes und dem geschäftlichen Treiben der Gegenwart ist in Adrianopel nichts zu spüren. Am Wege zwischen der Stadt und dem Bahnhofe liegen drei oder vier neue Gebäude — Kaffeehäuser und ein ziemlich guter Gasthof — und das sind die einzigen Schöpfungen, welche im Laufe der letzten Jahre hinzukamen. In jenem Gasthofe nehme ich das Abendessen ein, und die Lorbeerbäume, welche mich dabei beschatten, stehen leider in Kübeln, weil sie nicht im Freien überwintern können. Der Bahnzug hat seit 4 Uhr Nachmittags Zeit gehabt, neue Kräfte zu sammeln, und um 6 Uhr Morgens dampft er nun weiter. Man geht sparsam um mit der Kohle, welche aus Cardiff kommt, und von der hier eine Tonne 25 Franken kostet. In Kuleli-Burgas fällt mein Blick auf eine schöne, von der Sonne goldig um-wobene Ruine, und dieses alte befestigte Schloss, ein Bauhaus Quadersteinen, macht auch noch als Trümmerhaufen einen stolzen Eindruck. Die Denkmäler der Vergangenheit sind aber nur sehr vereinzelt anzutreffen, und es fehlt überhaupt an allem, was für den Schaffensdrang und die Schaffenstüchtigkeit der Bevölkerung Zeugniss ablegt. Die Fluren sind öde und leer. Doch ach, wie sengend, brennend, plündernd, zerstörend zog auch der Hauch der Vernichtung über sie hin! Von Kuleli-Burgas läuft ein 112 Kilometer langer Schienenstrang nach Dedeagatsch, welches der Haupthafen ganz Rumeliens und besonders der Constantinopels ist. Es wird von hier aus viel Getreide verschickt; auch Wein geht nach Frankreich ab, und auf mehreren Bahnhöfen sah ich leere Tonnen, welche mit der Marke von Bordeaux gezeichnet waren. Klagen darf das Publikum darüber nicht, denn der Wein Rumeliens ist gut. Ein Kaufmann aus Constantinopel erzählt mir, dass der Zehnte noch in Naturalien erhoben wird. Bevollmächtigte schätzen die Felder ab, und nachdem das Getreide gedroschen ist, muss der Bauer den für den Staat bestimmten Zehnten nach den Magazinen schaffen, von wo aus der Verkauf an die Händler bewerkstelligt wird. Dabei hat man's nun ja recht bequem, um die Steuerzahler placken, Unterschleife verüben und die Hände nach Bakschischen ausstrecken zu können. Diejenigen, welchen die Abschätzung des Zehnten obliegt, zögern so lange mit dem Kommen, bis man ihnen etwas zusteckt, und geschieht dies nicht, so lassen sie die Frucht auf dem Halme verderben. Vor der Abschätzung dürfen die Bauern ja nicht an die Ernte gehen, und dieses Stück Barbarei hat bei dem Aufstande in der Herzogewina den zündenden Funken gebildet. Beim Einziehen der Gebäudesteuer kommt eine gerichtliche Beschlagnahme, im Gegensatz zum Abendlande, nicht in Frage. Wer aber seine Abgabe noch nicht erlegt hat, darf auch keine Ausbesserungen vornehmen. Schwoll ein solcher Rückstand nun bedeutend an, und geräth der Besitzer in grosse Geldverlegenheiten, dann muss folglich das Grundstück ver- und schliesslich zerfallen. So sieht man z. B. in Constantinopel Häuser, bei denen der Bodenraum oder das erste Stockwerk den Angriffen von Wind und Wetter preisgegeben ist. Am Dache fehlt die Hälfte, und die Fenster sind zerbrochen und die Wände durchlöchert. Die Familie haust nun im Erdgeschosse. Aber lange dauert's eben nicht, bis auch hier alles bröckelt, da das Ganze ein schlecht aufgeführter Holzbau ist. Es hält übrigens sehr schwer, von einem widerspenstigen Miether die Miethe einzutreiben. Der gutmüthige mohammedanische Richter empfindet Mitleid mit den Unglücklichen und sagt: »Reicher Haus-wirth, warum soll der arme Mann ausgetrieben und zu Grunde gerichtet werden? Er hat ja keine andere Zufluchtsstätte.« Dieser Eigenthümer schafft nun Dachsteine und Thüren fort und macht das Haus damit unbewohnbar, und aus Rache legt der Miether dann bisweilen Feuer an. Der Zuschnitt des türkischen Gesetzwesens ist auf ein patriarchalisches Regiment berechnet, nicht aber auf die harte Neuzeit mit ihrem Angebot und ihrer Nachfrage. Es gerathen eben zwei verschieden geartete Geister an einander, und der ganze Bau wankt und kracht in allen Fugen. Paulo-Keui ist ein kleines, in höchstem Grade ärmliches Zeltdorf, wo's an Viehställen und überhaupt an allem Nothwendigsten fehlt. Die Störche sind hier die einzigen fröhlichen Wesen. Auf jeder Behausung be- findet sich ein Storchnest, und den munteren Jungen tragen die Alten geschäftig Nahrung zu. Bei Baba-Eski beginnt die grosse öde Ebene, welche bis nach Constantinopel sich hinerstreckt. Für die Fruchtbarkeit des Bodens sprechen hier und da und dort wildwachsende Gräser, Schmetterlingsblumen und besonders gewisse prächtige Springkrautarten; aber der Mensch benutzt diese Gaben der Natur ja nicht. Hin und wieder sieht man wohl mit Weizen besäte Felder, doch keine Gebäude, und verwundert fragt man sich, wo die Bebauenden eigentlich stecken mögen. Nun, die Behausungen liegen in irgend einer Senkung des Bodens und weit, weit weg von der bestellten Erde. Bei dem hier gebräuchlichen landwirthschaftlichen Betriebe ist es eben möglich, den Boden von einer grossen Entfernung aus zu bearbeiten. Derselbe wird nur alle 7, 8 oder 10 Jahre umgewendet — so bald nämlich, als die ihn bedeckenden wildwachsenden Pflanzen gar zu üppig emporgeschossen sind — und dann mit Weizen besät. Maisfelder kommen in dieser Gegend nur selten vor. Nach der Ernte bleibt der Boden als Brachland liegen, und die Schafe können sich daselbst eine magere Nahrung suchen. Unter diesen Umständen ist's ja ganz natürlich, dass man auf weiten, weiten Strecken weder einen Baum noch ein Haus noch ein menschliches Wesen zu erspähen vermag. Man weilt in einer vollständigen Oede, und dieselbe wird um so trostloser, je mehr man sich der türkischen Hauptstadt nähert. Die Waldungen, welche der Weg in der Gegend von Tscherkess-Keui durchläuft, haben keinen einzigen alten Baum aufzuweisen. Hinter denselben geht's über sumpfige Niederungen dahin, und hier tummeln Büffel sich herum. In Kabaje, einem alten Tscherkessendorfe, bearbeiten Türken mit ihren Frauen den Boden. Die Männer erhalten durch das weite Beinkleid, den Fez und den rothen Gürtel ein gewisses Ansehen, während die Frauen nur in abgetragene, verschossene Baumwollenstoffe gekleidet sind. Mohammedaner, welche das Land eigenhändig bewirthschaften, kann man ziemlich oft antreffen, und dieselben unterscheiden sich kaum von den bulgarischen Bauern. Bei Hadem-Keni wird der Boden kreide- und mergelhaltig und trocken und der Pflanzenwuchs spärlicher. Vor einer neuen Kaserne aber spazieren Soldaten herum, deren zerlumpte Uniformen mit Staub und Fett bedeckt sind, dass die ursprünglich blaue Farbe in eine graue oder schwarze sich umgewandelt hat. Unten am Saume sind die Beinkleider ausgefetzt, und nach oben hin lassen ihre Löcher das Hemde in die Welt blicken. Viele Soldaten haben gar keine Fussbekleidung, während manche Opankas tragen, und Schuhe sieht man nur bei den Officieren, die sonst aber einen fast ebenso jämmerlichen Eindruck wie die Gemeinen machen. In diesem Zeitalter des Säbelregiments wird das Heer ja sonst nirgends vernachlässigt, selbst da nicht, wo die Bauern vor Hunger umkommen. Auf welch ein fürchterliches Elend lässt dieses Bild äusserster Blosse also schliessen! Ja die Soldaten, in deren Begleitung der Sultan an jedem Freitage nach der Moschee sich begiebt, sie werden durch gut gekleidete, stattlich aussehende Leute gebildet, und von der mitleiderregenden Verfassung seines Heeres hat der Beherrscher der Gläubigen wahrscheinlich gar keine Ahnung. Bei Sparta-Kule schimmert mir von weitem das Marmarameer entgegen. Mein Auge, welches so lange über die trostlose Oedenei dieser Ebene schweifte, taucht nun entzückt in das tiefe Blau der Wellen, auf denen -weisse Segel umherschaukeln, und auch in mir jauchzt Laveleye, Balkanländer. II. l6 es auf: »Die See! die See!« Dieses flüssige Element ist ja nicht zu fesseln, und den Zauber seiner Schönheit vermögen Menschenhände ihm nun und nimmer zu rauben. An jener Bucht dort, welche durch das bei salzigem Wasser so selten vorkommende Schilfrohr umrandet wird, liegt ein schmuckes Dorf. Rothe Ziegeldächer, eine Moschee in ihrem neuen Anstriche und einige Bäume stellen ein freundliches Bild voll lebhafter Farbentöne dar. Kütschük-Thekmedsche trägt ein morgenländisches Gepräge, und man sieht hier das türkische Haus mit seinen Vorbauten und Holzgittern, welches von riesigen Platanen beschattet wird. Seit Bosnien hinter mir liegt, erblicke ich nun zum ersten Male schöne Bäume, und Störche wiegen sich auf ihnen im Abendsonnenschein. Ganz andere Eindrücke hinterlässt San Stefano. Ich wohne hier in einem reizenden Landhause, das dem persischen Gesandten gehört, und Director Haiin, dessen Leitung das südliche Eisenbahnnetz unterstellt ist, kommt mir in gastlichster Weise entgegen. Constantinopel lässt sich auf dem Eisenbahnwege in 40 Minuten erreichen, und doch erinnert in diesem San Stefano nichts an die Türkei. Dasselbe gleicht vielmehr einem Dorfe, welches am Golfe von Neapel liegt, und die längs des Meeres sich hinziehenden weissen Häuser werden von griechischen Fischern und von Fremden bewohnt. Vor meinen Fenstern stehen mit Früchten reich beladene Kirschbäume und blühende Granaten. Der mit einem Balcon abschliessende Speisesaal lässt aber hinausschauen auf das blaue Meer und auf all die Schiffe, welche nach dem Goldenen Horn steuern oder von dort zurückkommen, während aus der Ferne die Berge Asiens herüberschimmern, und der Anblick dieses zauberisch schönen Bildes giebt mir ein Verständniss für den Kef des Morgenländers. Man geht auch nach San Stefano, um in der lauwarmen Meeresfluth zu baden. Dieselbe ist wunderbar klar, und als ich mich von ihr bespülen lasse, kann ich die entzückende Färbung der zwei Meter unter mir liegenden Muscheln und Algen deutlich erkennen. Der italienische Palast, in dem der bekannte Vertrag von San Stefano unterzeichnet wurde, erhebt sich auch am Ufer des Meeres, und ein grosser Garten umschliesst ihn. Er stand aber unbenutzt da und war zum Verkaufe ausgeboten. Doch auch für 30 000 Franken wollte ihn niemand nehmen. Man müsste den durch die Fluth unterspülten Damm ausbessern, und überdies sind die Stockungen im wirthschaftlichen Leben ganz allgemein und die Eigenthumsverhältnisse durchaus keine gesicherten. In Frankreich und Italien wäre ein solch schöner Besitz mehr als 100000 Franken werth. Aber Russland sollte denselben an sich bringen, denn er ist ja die Stätte, wo seine klug aufbauende Voraussicht zum Ausdruck kam. Dicht bei San Stefano liegt eine grosse Begüterung, die einem reichen Armenier, Johannes Bey, gehört. Dessen Tochter ist an den Sohn Nubar Paschas ver-heirathet, und sein Bruder besitzt am Bosporus, das heisst auf der asiatischen Seite, einen Palast, um welchen eine unabsehbare Waldung sich hinzieht. Die Baulichkeiten auf dieser Begüterung bei San Stefano machen den Eindruck einer Festung, und die Bewirthschaftung ist eine ziemlich vorzeitliche. Man sät fast ausschliesslich Weizen, und der Boden wird nie gedüngt und bleibt mehrere Jahre als Brachland liegen. Man baut wohl auch etwas Flachs, benutzt aber nur den Samen und um die am Boden zurückgelassenen Stengel, welche in Belgien für jeden Hektar einen Werth von 1200 bis 1500 Franken darstellen würden, kümmert sich hier nie- 16* mand. Wollte man düngen und dichter säen, so würde der Ertrag des Flachses in einem Jahre den Werth des Bodens um's Fünffache übersteigen. Zum Dreschen spannt man Pferde oder Ochsen ein, und diese setzen Hürden in Bewegung, an deren unterem Ende schwere Steine angebracht sind; das Stroh aber wird vollständig zerhackt. Und so sieht's vor den Thoren der Hauptstadt, auf der Besitzung eines gebildeten, einsichtigen und sehr reichen Landmanns, mit der Bewirthschaftung aus! Während meiner Rückkehr von der Farm nach San Stefano treffe ich mit dem Generaldirector der Land-wirthschaft, einem aufgeklärten Türken, welcher in Frankreich jistudirt hat, zusammen. Dieser erzählt mir, dass er eine 400 Hektar umfassende Besitzung gekauft und den Hektar mit 35 Franken bezahlt hat. Dieselbe hegt in der Nähe der Bahn und ist auf ihr von Constantinopel aus in einer Stunde zu erreichen. Der neue Eigenthümer will nun die künstliche Wiesenbewässerung einführen, die Brachwirthschaft abthun, einen Viehstand unterhalten und den Boden düngen. Der |Klee gedeiht vortrefflich und die Luzerne noch viel besser, und man kann von dieser zwei sehr reiche Ernten einfahren. »Ist's nicht unerhört,« sagte der Türke, »dass man sich die Butter aus Bulgarien schicken lässt, während ganz in der Nähe vorzügliches Land zu billigem Preise erstanden werden kann?« So etwas nimmt sich zwar seltsam aus, ist jedoch sehr erklärlich bei diesem Mangel an Sicherheit, durch den die Land wirthschaft um jedes Besserwerden kommen muss. Ein Eigenthumsverzeich-niss giebt es allerdings. In streitigen Fällen gelangen aber häufig zwei Besitztitel zum Vorschein, und von denen kann doch nur einer der richtige sein. Allein der Richter stützt sich bei seinem Urtheile nicht anf den wahren Thatbestand, sondern auf die Grösse oder Klein- heit der Bakschische, und für so ein Ding wie Gerechtigkeit fehlen ihm eben die Begriffe. Die türkische Eisenbahngesellschaft liess einst auf einem ihrer Bahnhöfe einen Anbau aufführen. Der benachbarte Besitzer erklärte nun aber, dass das Ganze zur Hälfte auf seinem Grund und Boden stehe. Man hatte die Umgrenzung schlecht abgesteckt, und die fraglichen paar Quadratmeter waren höchstens zehn bis zwölf Franken werth. Als der Türke jedoch ioooo Franken verlangte, liess die Gesellschaft den Bau einfach abbrechen. Damit war der Streit indessen keineswegs erledigt, und der Richter verurtheilte jetzt die Angeklagten dazu, dem Besitzer als Entschädigung 3000 Franken auszuzahlen. Diese Summe theilen dann nachher Richter und Eigenthümer mit einander, und zwar fällt auf jenen die grössere Hälfte. Die englische Gesellschaft, welche die zwischen Galata und Pera hinführende Bahn erbaute, kaufte ein grosses, an den Centraibahnhof grenzendes Stück Land. Es lag in ihrer Absicht, hier schöne Häuser aufzuführen und im Erdgeschosse derselben ausgedehnte und elegante Ladenräumlichkeiten einzurichten, was für Pera jedenfalls sehr vortheilhaft wäre. Doch der Gemeinderath verfiel auf ein sinnreiches Mittel, um der Gesellschaft etwas abzuzwacken. Er bot nämlich einen zwei Meter breiten Streifen Land, welcher unmittelbar vor ihrer Baustelle lag, zum Verkaufe aus. Ein Armenier wollte 40000 Franken geben, erhielt aber noch keinen Zuschlag. Man rechnete ja darauf, von der Eisenbahngesellschaft mehr zu erzielen, weil dieselbe durch die Bebauung jenes Streifens unendlich viel verlieren würde. Der Hafenkapitän verlangte mehrere Freikarten, um die türkischen Eisenbahnen unentgeltlich befahren zu können. Er erhielt aber nur eine und verbot nun den Schiffen, auf dem Bahnhofe des Goldenen Horns anzulegen, so dass man gezwungen war, sich mit ihm zu einigen. Als man dann auf diesem Bahnhofe Krahne einrichtete, mit deren Hilfe die Schiffe gelöscht werden sollten, rotteten die Hamals, d. h. die Lastträger, sich zusammen. Sie umstellten in Gemeinschaft mit ihren Weibern die Krahne und schrieen, dass man sie zu Grunde richten wolle. Der Sultan aber, unter dessen besonderem Schutze sie stehen, trat zu ihren Gunsten ein. Man gab nun jene Krahne auf, bediente sich des Dampfes und beschwichtigte durch diese geheimnissvolle Macht, nicht aber durch die Gewalt des Sultans, die tosenden Wellen. Eines Tages sah ich einen Prälaten, welcher allen Glanz seiner Würde zur Schau trug, sammt seinen Gehilfen und seinem Gefolge in einem Bahnwagen Platz nehmen. Er wollte nach Adrianopel abdampfen, weigerte sich aber, den Fahrpreis zu erlegen, und zwar unter dem Vorgeben, auf einer Dienstreise begriffen zu sein. Man wagte es nicht, Gewalt anzuwenden, und schickte nachher eine Rechnung ein, ohne allerdings auch nur einen einzigen Pfifferling erhalten zu können. Gesetz und Gerechtigkeit sind hier ja nur wesenlose Schattenbilder. Von San Stefano aus begebe ich mich täglich nach Constantinopel. Dabei begleitet mich der im Dienste der morgenländischen Eisenbahngesellschaft stehende Doctor Putscher, und dieser ist der beste Führer, den ich mir nur wünschen kann. Die verschiedenen Sprachen des Landes sind ihm geläufig, und durch seine ärztliche Thätigkeit lernte er die Lebensweise der Türken kennen. Auf unseren Streifereien frühstücken wir bald nach abendländischer, bald nach türkischer oder griechischer Weise. Bei den Türken setzt man uns einen gut gekochten und mit Fleischstückchen vermengten Reisbrei, den Pilaf, und dann einen sehr eigenartig gerösteten Hammelbraten vor. Der senkrecht hängende Spiess ist mit schraubenförmigen Flügeln versehen und wird durch die dem Kohlenfeuer entströmende Hitze so umgedreht, wie die Herstellung eines guten Bratens dies erfordert. Bei den Griechen werden die amphitheatralisch aufgereihten Speisen vor den Augen des Publikums zubereitet und auf schwachem Feuer warm erhalten. Man kann eine ganz beliebige Auswahl treffen, und die Weine aus Cypern und Samos sind nicht theuer. Ueber die Wunder Constantinopels und seiner Umgebung hat man viel zu berichten gewusst. Ob meine Empfänglichkeit von dem Walten eines bösen Sternes beeinflusst wird? Der Bosporus erinnert mich an den Corner See und das Marmarameer an den Golf von Neapel. Doch die Hügel und Höhen erscheinen mir sehr viel gleichförmiger, und der Pflanzenwuchs trägt weit weniger den Character des Südens. Was nur in einem warmen Klima gedeiht, wird eben durch jenen aus Russland kommenden Wind ertödtet, welcher im Winter vom Schwarzen Meere her anzieht. Oelbäume sind bloss auf den Prinzeninseln anzutreffen, deren Pflanzenwuchs sich überhaupt vollständig von dem des Festlandes unterscheidet. Pistacien stehen hier auf denHöhen und Oelbäume am Ufer; nach Orangen und Palmen schaut man aber vergebens aus. Auf diesen lieblichen Eilanden, mitten in der schönen blauen Meeresfluth und in einer wunderbar reinen Luft, habe ich herrliche Stunden verlebt. Prinkipo erinnert an Capri, und der höchste Punkt der Insel, welcher eine alte Kirche trägt, gewährt einen entzückenden, einen unvergleichlichen Ausblick über die türkische Hauptstadt, den Bosporus und die in bläulichen Linien sich abzeichnenden Berge Asiens. Reiche Griechen und Armenier haben in eleganten, von reizenden Gärten umgebenen Landsitzen ihre Sommerwohnung aufgeschlagen, und der vortrefflich eingerichtete Gasthof, in dem wir unser Mittagsmahl einnehmen, sieht auf einen steilen Abhang hinunter, dessen grünes Kleid bis ans Meer und an die Badehäuschen heranreicht. Damen in elegantem Anzüge — Armenierinnen — sprechen mit gleicher Geläufigkeit das Französische, Deutsche, Englische und Griechische, und es ist hier überhaupt Jedermann ein Sprachenkundiger. In Constantinopel aber haben Eindrücke tieftrauriger Art sich mir aufgedrängt. Als ich in den Provinzen all die Folgen dieses fluchwürdigen türkischen Regimentes zu spüren bekam, war ich empört, während nun hier ein tiefes Mitleid mich beschleicht. Das Buch der Geschichte spricht von einem Untergehen grosser Reiche, und der tiefere Sinn dieser bedeutungsvollen Worte erschliesst sich mir erst jetzt, wo ich ein edel und kraftvoll veranlagtes Volk dahinsiechen sehe. In Europa merkt man, dass es überall mit grossen Schritten bergauf geht, und dies nimmt sich wie eine ganz natur-gemässe Erscheinung aus. In Cöln, längs des Rheines, in Würzburg und besonders in Wien sah ich ganze Viertel von neuen, bequem und elegant eingerichteten Häusern und glänzende Bauten und Anlagen der verschiedensten Art. All jene Kirchen, Museen, Universitäten, Schulen, Theater, Paläste und Parlamente, sie waren hervorgegangen aus dem Ineinanderströmen der Millionen und der vollendetsten technischen Künste. Hier aber, in diesem Constantinopel, welches man als den künftigen Mittelpunkt der civilisirten Welt bezeichnet hat, grinsen von allen Seiten die Spuren des Verfalles und der Zersetzung mich an. Alte Denkmäler zerbröckeln, Häuser stürzen ein, Menschen müssen vor Hunger sterben, und der Hauch des Todes durchweht die Hauptstadt und die Provinzen in gleicher Weise. Was wohl die Reiche emporkommen oder in den Abgrund fallen lässt — ja, eine Antwort auf diese Frage sollte eben jeder Geschichtsschreiber zu finden bestrebt sein. Der Hauptbahnhof Constantinopels liegt am Ufer des Goldenen Hornes, und der hier einmündende Zug führt den Ankommenden auf einer Strecke von etwa 8 Kilometern durch die Stadt. Um Raum für ihn zu schaffen, mussten Hunderte von Wohnungen weichen, und die Eisenbahngesellschaft zahlte dem Staate die entsprechenden Summen aus. Dieser nahm zwar die Enteignung vor, entschädigte aber, wie man behauptete, die Besitzer keineswegs. Mit dem, was seinen Unterthanen gehört, kann ja der Sultan nach Belieben schalten und walten! Einer von den Enteigneten, dem hochstehende Personen gewogen waren, machte 10 Jahre hindurch bei den einander folgenden Ministern seine Ansprüche geltend, konnte aber ebenso wenig wie die endlose Schaar der anderen Gläubiger etwas erlangen. Der Zug rollt an ganz oder halb eingestürzten Häusern und an den alten Stadtmauern, welche dicht am Meere stehen, vorüber. Tausende von türkischen Familien haben nun längs dieser ganzen Mauer und besonders in ihren Wölbungen ein Obdach sich hergerichtet. Hinter Brettern, Decken und Reisern kauern Frauen, die es versuchen, mit Hilfe einer Lumpenhülle sich den Blicken der Vorübergehenden zu entziehen, und neben ihnen kriechen völlig nackte Kinder herum. Die Zufluchtsstätten dieser auf der letzten Stufe des Elends stehenden Unglücklichen könnte man mit Schwalbennestern vergleichen. Jene doppelreihigen Mauern mit den gewaltigen Be-festigungsthürmen machen aber einen geradezu staunenerregenden Eindruck und zeigen, in welch reicher Machtfülle Byzanz dereinst dagestanden hat. Sie lassen es begreiflich erscheinen, dass die Stadt sich noch so lange halten konnte, als die Sturmfluth des türkischen Heeres bereits von allen Seiten anprallte. Die Kreuzfahrer haben — durch den blinden Muth des blinden Dandolo — Byzanz von der Meeresseite aus, vom Goldenen Home her, eingenommen. Aber gerade durch ihre Schaaren ist dasselbe schlimmer noch als durch die Türken geplündert und verwüstet worden, und sie waren's, welche die Macht des Reiches knickten und so den Siegen des Halbmondes die Wege bahnten. Stephan Vlastos berichtet in seinen ergreifend geschriebenen Aufzeichnungen — »Die letzten Tage Constantinopels« (1453) — über die heldenmüthige Vertheidigung der Belagerten und über den Kaiser Konstantin, welcher, nachdem er Wunder der Tapferkeit vollführt hatte, mit dem Schwerte in der Hand seinen Tod fand. Kopflos und feige gab die Christenheit ihr letztes Bollwerk am Bosporus auf. Sie öffnete dadurch den Türken die Balkanhalbinsel und den Weg nach Ungarn und Wien und liess nun den Osten für die Dauer von vier Jahrhunderten in den Händen der Barbarei. Es hatte wohl eine Versöhnung zwischen der griechischen und der römischen Kirche stattgefunden, und der Kaiser Johann Paläologus war selbst auf dem Concile zu Florenz (1438—1439) gewesen. Doch der Papst schickte trotzdem nicht mehr als 50 Bewaffnete zum Kampfe gegen die Ungläubigen aus. Das byzantinische Reich ist aber genau so gefallen, wie heute der Sturz des Halbmondes sich vollzieht. Es hatte nach und nach alle seine Provinzen verloren und war in ein maassloses Elend gerathen. Die Einnahmen, welche, nach heutiger Rechnung, unter den macedonischen Kaisern 520 Millionen Franken betrugen, waren auf 5 bis 6 Millionen herabgesunken, und Constantinopel hatte nun nicht mehr eine halbe Million, sondern nur noch 80000 Einwohner. Ein entlaubter Stamm, welcher innen im Marke keine schaffende Gewalt mehr hat, muss aber verdorren. Constantinopels »Grosser Bazar« ist eine Welt für sich und ein wahres Labyrinth. Im Mittelpunkte des Ganzen werden schöne alterthümliche Gegenstände zu massigem Preise feilgeboten; doch ausserdem sind nur europäische Waaren schlechtester Art anzutreffen, und das Kunstgewerbe ruht hier im Grabe. Ich suche nun den unter dem Namen »Serail« bekannten Stadttheil Constantinopels auf, dessen Wunder Amicis geschildert hat. Einst waren daselbst in einem herrlichen Parke unter dem Schatten hundertjähriger Cypressen vergoldete Kioske, Marmorbäder, die Heimlichkeiten des Harems, Gartenhäuser in maurischem Stile und allerlei prachtvolle, verschiedenartigen Zwecken dienende Gebäude zu finden. Doch unaufgehalten zogen Feuersbrünste und der Zahn der Zeit über all dieses zerstörend dahin, und von der ganzen Pracht der Vergangenheit ist hier so gut wie nichts hinüber in die Vergangenheit gerettet. Da sieht man nur noch eine schöne Platanenallee und kahle Mauern, die einen mit Kohl und Artischocken bepflanzten Garten einfassen; ferner den reizenden, 1466 erbauten Tschinili-Kiosk, in welchem, unter der Obsorge Reinachs, das Alterthumsmuseum untergebracht ist, und das Gebäude, »Bab-Hümaiun«, worin das Staatsministerium, die sogenannte »Hohe Pforte«, und der kaiserliche Schatz sich befinden. Ein Theil des Gemüselandes wurde zum Gebrauch für die medicinische Schule in einen botanischen Garten verwandelt, und es fehlt hier keineswegs an vielen Aufschriften; doch die mehr als drei Mal bestellten und bezahlten Pflanzen glänzen zum grössten Theile durch ihre Abwesenheit. Die Beamten haben ihr Gehalt eben nur für zwei Mo- nate, und zwar in Anweisungen auf die für armenische Schafheerden zu entrichtende Steuer bekommen, und sie wissen nicht, wie sie ihr Leben fristen sollen. Der neben der »Hohen Pforte« belegene herrliche Springbrunnen Sultan Achmeds hat kein Wasser mehr, und die völlig durchlöcherte Bedachung lässt Regen und Schnee herein, so dass diese Perle morgenländischer Baukunst dem baldigen Untergange entgegensieht. »Oeffne den Schlüssel dieser Quelle; trinke, indem Du den Namen Gottes anrufst, von diesem reinen und unversiegbaren Wasser, und bete für den Sultan Achmed«, lautet die in Gold und Lapislazuli ausgeführte Inschrift, die nun keinen Sinn mehr hat. Der französische Reisende Grelot, welcher Constantinopel im Jahre 1681 besuchte, berichtet, dass in der türkischen Hauptstadt und ihren Vororten 5935 Springbrunnen neben Moscheen und an anderen Stellen sich befinden. Was ist davon aber bis auf den heutigen Tag gekommen? Nach den grossen Moscheen gehend, stosse ich zuerst auf die »Achmedje«, welche Achmed I. 1610 erbaute. Sie hat sechs Minarets und liegt mitten in einem Kranze von Bäumen. Die »Bayezidje« erstand im Jahre 1505, und ihr Gründer ist Bajazet. Ihr Hof, welcher durch einen auf Porphyrsäulen gestützten Gang abgeschlossen und von Cypressen beschattet wird, stellt ein reizendes Fleckchen Erde dar, und die in unzähligen Schaaren hier herumflatternden Tauben füttert man aus einem vom Sultan eigens zu diesem Zwecke gestifteten Vermächtnisse. Die »Suleimanje« wurde in den Jahren 1550 bis 1566 unter Soliman dem Prächtigen aufgeführt, und dieser liess dabei vier riesenhafte Säulen aus ägyptischem Granit zur Verwendung kommen, welche einen Umfang von vier Metern haben und dem Augusteon des Justinian entstammen. Mohammeds IV. Mutter, Sultanin Walide, gründete die »Yeni-Djami«, die »neue Moschee«, welche also späteren Ursprunges ist, und die älteste von allen Moscheen — das heisst nach der »Sanct Sofia« die älteste — die »Mohammedje«, wurde 1469 unter Mohammed dem Eroberer von dem griechischen Baumeister Christodulos errichtet. Die über vier Jahrhunderte hindurch als Moschee benutzte St. Sofienkirche ist aber das schönste Gotteshaus, welches ich je gesehen habe. Die St. Peterskirche in Rom und alle derselben nachgebildeten Kirchen — die St. Paulskirche in London, die St. Isaakskirche in Petersburg, die Kirche zur heiligen Genoveva in Paris — sind hervorgegangen aus dem Bestreben Michel Angelos, auf dem Schiff eines christlichen Gotteshauses einen in den Aether hineinragenden Tempel zu errichten. So erscheint das Schiff kleiner, als es in Wirklichkeit ist, und um die Kuppel betrachten zu können, muss man schon seinem Halse etwas zumuthen. Die Gesammtheit lässt sich hier von keinem Punkte aus umfassen, während man im Gegentheile in der St. Sofienkirche gleich beim Eintritte in die ganze grossartig erhabene Wölbung hineinschaut. Warum wurde nicht lieber einem solchen Vorbilde nachgestrebt ? Doch auch dieses Meisterwerk alter Baukunst droht mit dem Einstürze. Die stützenden ;Mauern sind morsch, es bilden sich Risse, und an die ;Reisenden verkauft man Trümmer der zersprungenen Mosaiken. Wie traurig! Die Denkmäler Aegyptens und Griechenlands können fortbestehen, auch wenn die Menschen sich jnicht um sie kümmern, weil man beim Bauen ein vernünftiges Gleichgewicht herstellte. Allein die Schöpfungen des sinkenden Römerthums und die mittelalterlichen Dome scheinen dieses Gleichgewicht geradezu herauszufordern und bedürfen zu ihrer Erhaltung eines ununterbrochenen Schutzes gegen die Gesetze der Schwerkraft. Geht es mit den Einkünften der Moschee und dem Glaubenseifer beständig bergab, so brechen diese mohammedanischen Gotteshäuser schliesslich zusammen, und die grosse Menge, welche mit ihrem eigenen Elende zu thun hat, kümmert sich nicht weiter darum. Wem sollte es im Morgenlande auch wohl einfallen, für die Erhaltung alter Denkmäler Sorge tragen zu wollen? An den Seitenwänden der St. Sofia und der anderen Moscheen stehen Behälter aus weissem Marmor, über denen eine lange Reihe von bronzenen Krähnen sich hinzieht. Diese Einrichtungen wurden zum Zwecke der vom Koran vorgeschriebenen Waschungen getroffen. Doch es strömt nun kein Wasser, mehr heraus, denn die Leitungen sammt allen Röhren sind schadhaft und völlig unbrauchbar. Niemand denkt daran, etwas auszubessern, und nur die den Namen »Constantin« führende Leitung giebt heute noch Wasser. Auf dem bedeutendsten öffentlichen Platze — »Atmeidan« —, der einstigen Rennbahn, stehen der Obelisk des Theodosius und die aus dem Tempel zu Delphi hergebrachte Serpentinsäule. 0 Rings um diesen Platz nun und um die l) Diese Säule ist das ehrwürdigste Denkmal des griechischen Alterthums. »Man hat es hier,« sagt Alfred Rambaud, »mit jenem berühmten Drachen zu thun, welchen der Lacedämonier Pausanias, der Oberfeldherr der Griechen, zur Erinnerung an den grossen Sieg bei Platää in dem Apollo-Tempel zu Delphi niederlegte. Eine alte Inschrift auf den Windungen der dreifachen Schlange zählt die Namen der 36 griechischen Völker auf, welche an der Schlacht theilgenommen haben, von der kleinen Stadt Mykene an, die nur 80 Fusssoldaten stellen konnte, bis zum mächtigen Sparta mit seinen 40000 Kriegern. Byzanz hat Delphi beerbt. Das Siegeszeichen wurde aus dem Schatten des Heiligthumes, wo die Pythia ihre Orakelsprüche verkündete, nach der Rennbahn gebracht, und der dreiköpfige Drache stützte nun hier den Dreifuss, welcher die Bildsäule Apollos trug Heute sieht man aber weder die Bildsäule, noch den Dreifuss, noch die Köpfe.« (Revue des Deux Mondes, 15. August 1871.) St. Sofia, also im Mittelpunkte Stambuls, liegen an vielen Stellen die Trümmer eingestürzter Häuser, und ein vortrefflicher und sehr gesuchter Baugrund liesse sich hier gewinnen. Doch es kommt keinem in den Sinn, ans Wegräumen und Aufbauen zu gehen. Nicht weit davon stehen die »Tausend Säulen«, »Bin-Bir-Derek«, ein riesiges, durch Hunderte von Säulen gestütztes Wasserwerk, welches genügen würde, um die ganze grosse Bevölkerung Constantinopels mit Wasser zu versorgen. Es ist weit, weit bedeutender als Misenums »Piscina mirabilis«. Um aber an dasselbe heranzugelangen, muss man über die Trümmer eines eingestürzten Gewölbes klettern, und dann stösst man auf einige arme Frauen, welche Seide spinnen. »Yere-batan-Serai«, das heisst den unterirdischen Palast, nennen die Türken den Basileiabrunnen. Die griechischen Kaiser schufen in den verschiedenen Stadtvierteln mehr wie 20 solcher Paläste; doch alL diese Wasserwerke stehen trocken da und sind wohl auch mit Erde gefüllt. Jetzt mangelt's an Wasser zum Trinken und an Wasser, um die religiösen Waschungen vornehmen und die Feuersbrünste löschen zu können. Die Moscheen werden von niedlichen Kappelbauten umgeben, in welchen die mohammedanischen Gelehrtenschulen sich befinden, und wo auch deren Zöglinge, die angehenden Gottesgelehrten der Moslims, wohnen. Die Fensterbretter sind aber verfault, die Glasscheiben fehlen, und das auf den kleinen Kuppeln befindliche Abflussrohr hat Risse oder ist gestohlen worden. Wind und Wasser dringen von allen Seiten ein, und viele dieser Behausungen wurden vollständig unbewohnbar. Einen wundervollen Eindruck machen die aus der Neuzeit stammenden Paläste Dolmabaghtsche und Beyler-Bey, welche in der krystallklaren Fluth des Bosporus sich spielen. Doch es fehlt ihnen das, was man Stil — 2^6 — nennt, und der zur Verwendung gekommene Baustoff ist von einer geradezu nichtswürdigen Beschaffenheit. Nicht über Marmor und Quadersteine gleitet der Blick, sondern über Stuck und Gyps; überall sickert die Feuchtigkeit durch, und es fehlt vollständig an einer sorgfältigen Erhaltung, welche hier ganz besonders am Platze wäre. Statt dieselbe aber in die Hände ordentlicher Baumeister zu legen, wurde — das Haupt der Eunuchen damit betraut. Der Wintergarten von Dol-mabaghtsche hat zerbrochene Glasscheiben, und auch hier löst und lockert sich alles. Die innere Ausstattung dieser so gepriesenen Paläste verschlang eine Unsumme von Millionen; sie erinnert an die maurischen Kaffeehäuser von Paris oder Wien, legt aber von einem weit gröberen Geschmackssinne Zeugniss ab. Diese Räume stehen übrigens verödet da. Abdul Hamid wohnt ja droben im Yildiz-Kiosk, zwischen zwei gewaltig grossen, safrangelb angestrichenen Kasernen, welche beiden Un-gethüme die so schön gelegene Umgebung zu verhöhnen scheinen. Wähnt der Sultan zwei seiner Minister in zu grosser Uebereinstimmung, so fürchtet er gleich, man wolle ihn entthronen, und nur auf jener Höhe glaubt er vor Verschwörungen gesichert zu sein. Von seinen beiden Vorgängern wurde dem einen bekanntlich die Scheere verhängnissvoll, während man den andern als Geisteskranken eingesperrt hält. Um Derartigem also möglichst vorzub eugen, lässt Abdul Hamid auch die Moschee, nach der er zu gehen gedenkt, nie im voraus bezeichnen. Am häufigsten pflegt er aber die Medidje aufzusuchen, weil dieselbe unmittelbar unter dem Yildiz-Kiosk gelegen ist. Ich wohne nun einem Selamlik — dem an jedem Freitage stattfindenden Moscheenbesuche des Beherrschers der Gläubigen — bei. Raghib Bey, der erste Secretär des Sultans, war so liebenswürdig, mir einen sehr guten Platz zu besorgen, und mich in dem Wachthause unterzubringen, das der Thüre, an welcher der Sultan absteigen wird, gegenüber liegt. Die türkischen Generäle und Admiräle, unter denen ich nun stehe, tragen mit reichen Goldstickereien und mit Ordenszeichen bedeckte Uniformen. Neben diesen kleinen, dicken und plumpen Gestalten erblickt man aber die drei preussischen Officiere, welche herberufen wurden, um ihre Meinung über das türkische Militär abzugeben. Dieselben sind gross und schlank, haben blonde oder röthliche Barte und sehen sehr stramm und straff aus. Man könnte sie mit den am Hofe Attilas weilenden Nibelungen vergleichen. Aus jeder einzigen von ihren Mienen und Bewegungen spricht der Stolz, das Gefühl der Ueberlegung und die Verachtung für all diese ganze jämmerliche Umgebung. Nicht weit von ihnen steht Graf Szechenyi. Derselbe richtete den Feuerwehr dienst vortrefflich ein, und das ist ganz besonders in diesem Constantinopel am Platze, wo so viele und so furchtbar verheerende Brände ge-wüthet haben. Wir sprechen von seinem Bruder Bela, mit dem ich 1867 in Pest zusammengetroffen war, und ich sehe ihn noch vor mir, wie er, der Herrlichste unter den ungarischen Edeln, am Tage der Krönung hinter dem Kaiser herschritt. Der Verlust seiner engelhaft schönen Frau machte ihn aber zum unstäten Wanderer, und er ist bis in das Herz Asiens und nach fast unbekannten Gegenden vorgedrungen. Meine Aufmerksamkeit wurde sodann auch auf Mavroyeni Pascha, den ausgezeichneten, im Dienste des Sultans befindlichen griechischen Arzt, gelenkt. Es erscheinen nun zwei von den Söhnen Abdul Hamids. Dieselben stehen an der Schwelle des Jünglingsalters und sind schon mit der Uniform bekleidet. Laveleye, Balkanländer. II. I7 Am Eingänge zur Moschee hält auch ein von Eunuchen umringter Staatswagen, in dem des Sultans gegenwärtige Lieblingsfrau sitzt. Sie trägt nur einen klaren Schleier, und dieser lässt schöne Züge und glänzende Augen durchschimmern. Die Liniensoldaten, welche Spalier bilden, tragen dunkelblaue, ganz neu aussehende Uniformen, und der Sultan glaubt gewiss, dass das ganze Heer so gekleidet ist. Eine Abtheilung leichter Reiterei rückt an, und dieser folgen goldstrotzende Officiere. Dann rollt ein leichter, offener und sehr einfacher Wagen herbei, und hierin sitzt, nur von einem Adjutanten begleitet, der Beherrscher der Gläubigen. Von der Blässe des schöngeformten, länglichrunden Antlitzes hebt ein zierlich-eleganter schwarzer Bart sich ab, und die dunkeln Augen schauen mit einem sehr trüben Ausdrucke in die Welt hinein. Da sehe ich nun den unumschränkten Herrn dieser vielen schönen Länder, welche ein fluchwürdiges Regiment zu Grunde gerichtet und entvölkert hat, und mir fuhr's wohl so durch den Sinn, dass es nur von ihm abhängen würde, jenen Gebieten einen Theil ihres alten Wohlseins wiederzugeben. Doch diese Schlaffheit im Gange und in der ganzen Haltung und dieser traurige, willenlose Blick, sie belehren mich sehr bald darüber, dass ihr Träger an keine Augias-arbeit gehen wird. In den Räumen der französischen Gesandtschaft, zu Therapia, hat Herr von Noailles uns zu einem Frühstücke versammelt. Das geräumige türkische Haus steht dicht am Bosporus, und durch die grossen geöffneten Fenster schaut man auf dessen zauberische Bilder hinaus. Von der Rückseite des Gebäudes läuft aber ein Garten voll prächtiger Bäume bis nach der Spitze des Hügels hinauf. Doch mitten in dieser herrlichen Natur empfindet Frau von Noailles ein Bangen und Sehnen nach ihrem römischen Heim — dem Palast Farnese, der schönsten Wohnung der Welt. In meiner Erinnerung steht noch sehr lebendig eine Abendgesellschaft, die dort zu Ehren der Frau von Lesseps in der Carraccio-Galerie gegeben wurde, und all jene Wunder künstlerischen Schaffens bilden den vollendetsten Gegensatz zu den papiernen, kaffeehausähnlichen Herrlichkeiten, welche man in den Palästen des Sultans antrifft. Durch Herrn von Noailles höre ich, dass Lord Dufferin, den ich in London kennen lernte, aus England noch nicht zurückgekehrt ist, und ich bedauere es, mit dieser als Volkswirthschaftslehrer wie als Staatsmann und Schriftsteller gleich bedeutenden Persönlichkeit nicht zusammentreffen zu können. Deutschland hat vom Sultan einen grossen, in The-rapia liegenden Park geschenkt erhalten, welcher vom Ufer des Bosporus bis weit hinauf nach der Höhe sich erstreckt, und hier, neben diesen hundertjährigen Bäumen , wird man der deutschen Gesandtschaft einen Sommersitz erbauen. Ihr Palast in Pera, an dessen vier Ecken riesige Adler emporragen, sieht über die russische und die französische Gesandtschaft hinweg, und es ist dies gleichsam ein Sinnbild für das, was Deutschland bei der Pforte gilt. Doch Thaten vermag selbst Fürst Bismarck dem Sultan nicht zu entlocken, und er kann ebenso wenig wie die von der ganzen türkischen Jämmerlichkeit angeekelten preussischen Officiere verbessernde Umgestaltungen zum Vollzuge bringen. Der eiserne Kanzler unterliegt seiner Majestät dem Bakschisch, und eine Stahlkugel erlahmt an Baumwollenballen. Ist der Sultan mit dem einen oder dem anderen seiner Günstlinge besonders zufrieden, so schenkt er ihm ein grosses Gut oder ein schönes Haus. Er selbst beschafft sich diese Dinge aber auf eine sehr einfache Art. Er, als unumschränkter Herr, nimmt nämlich Besitzungen, 17* die er fortgegeben hat, zurück, oder es wird das Eigenthum irgend eines Beliebigen ganz willkürlich mit Beschlag belegt. Der Grund, auf dem die Leute dort bauten, wankt eben sammt ihnen selbst in allerbedenk-lichster Weise. In dem europäischen Viertel, in Galata, bieten feile Dirnen ganz offen und schamlos sich aus, und die gewölbten Erdgeschosse, in denen dies geschieht, und welche vollständige Strassen bilden, gleichen den Bordellen Roms. Jede Spelunke hat einen Vorhang, der ihr Inneres den Augen des Publikums entzieht, und vor demselben sitzen zwei oder drei grellfarbigst aufgeputzte Frauenzimmer. Etwas Derartiges hat Stambul, das türkische Viertel, allerdings nicht aufzuweisen. Aber hier spielt dafür das Gift im Familienleben eine sehr grosse Rolle, und man beseitigt Kinder entweder vor ihrer Geburt durch abtreibende Droguen oder nach derselben durch Gifte. Zu dem englischen Volkswirthschaftslehrer Senior sagte Doctor Y.: »Ich meide die türkischen Häuser, um nicht all deren schreckliche Geheimnisse zu kennen. Bald wird dort eine Frau von ihrer Nebenbuhlerin vergiftet, bald ein Mädchen, das man nicht aufziehen will, oder ein Knabe, der zum Vortheile seines Bruders verschwinden soll, in gleicher Weise unschädlich gemacht.« Der Kindermord kommt sehr häufig vor, und die Polizei kümmert sich um all solche Dinge nicht im mindesten. Man sagt: »Das Kind weinte; jetzt aber ruht es.« Während eines Frühstückes beim belgischen Gesandten von Bartholeins treffe ich mit einem Herrn von der türkischen Bank — Smythe ist sein Name — zusammen. Der unendlich geistvoll plaudernde Mann scheint die Ansichten eines hervorragenden Fachgenossen, Vincent Caillards, zu theilen, welcher in der »Fortnightly Review« (December 1885) für die christliche Bevölkerung eine sehr weitgehende Selbstständigkeit verlangte. — Ein gebildeter türkischer Officier, welcher einige Zeit in Paris zugebracht hatte, erzählt mir, dass ihm im Laufe von acht Monaten nur für zwei derselben seine Besoldung ausgezahlt wurde. Zum Glücke liefert man ihm Reis, Fleisch, Kaffee, Brod und auch Tuch; wäre dies aber nicht der Fall, so müsste er betteln gehen. Diebstähle und Veruntreuungen entkeimen diesenNatural-Lieferungen in Schaaren, und das allgemeine Elend ist ein grenzen-und bodenloses. Beamte und Soldaten warten vergebens auf ihr Gehalt, weil das aus den Provinzen eintreffende Geld den fremden Gläubigern anheimfällt, und die Händler haben den Verkauf eingestellt. Die Ministerien aber werden von Männern und besonders von Frauen belagert, welche weinend und jammernd nach dem Ihrigen verlangen, und diese herzzerreissenden Scenen nehmen sich wie Klagen aus, welche man einem Sterbenden ins Ohr schreit. Zur Beleuchtung der allgemeinen Noth dient auch das folgende, mir zu Ohren gekommene Geschichtchen: Am Beiramfeste veranstaltet jeder gute Moslim einige schöne Festmahlzeiten, und alle in seiner Umgebung befindlichen Personen erhalten von ihm Geschenke. Als man nun einen für reich geltenden Effendi zu der Wonne beglückwünscht, die das Beiramfest ihm gewähren wird, sagt er: »Ach, ich besitze einen grossen Schrank, und der war nur unlängst noch gefüllt mit werthvollen Sachen, welche ich verschenken wollte, und mit guten Bissen, die bei den Mahlzeiten verspeist werden sollten. Gestern öffne ich ihn. Da starrt mir aber eine völlige Leere entgegen, und ich sehe weiter nichts als eine Maus, die an einer alten Brodkruste knabbert. Um nun wenigstens meiner Katze einen guten Bissen zu ver- schaffen, rufe ich dieselbe herbei. Doch sie will die Maus nicht packen und miaut nur. Das Thier war ihr eben — zu mager.« — Bei seinem letzten Aufenthalte in Constantinopel hat Herr von Biowitz der seltenen Ehre sich erfreut, vom Sultan. empfangen zu werden. Er schildert Abdul Hamid als einen klugen Mann, welcher bereit ist, die Wahrheit zu hören und Gutes zu vollführen. Doch trotz all seiner Vorliebe für die Türkei gesteht der hervorragende Berichterstatter der »Times« die schlimmen, unter dem Zepter des Halbmondes herrschenden Verhältnisse ein, und als Grund für dieselben führt er sieben verschiedene Ursachen an — den Bakschisch, den Hawale (Check), den Harem, die Wakufs, den Mangel an Wegen, die schwebende Staatsschuld und das Misstrauen Europas. Aus seinem prickelnd und lebendig geschriebenen Buche will ich nun das über den Bakschisch Gesagte herausgreifen. »Ja, der Sultan Bakschisch streift bisweilen die äussersten Grenzen des Wunderlichen; allein dasselbe ist eben von jener grinsenden, düster-dräuenden Art, welche auflachen und zugleich auch ausathmen lässt. Man lande einmal im Hafen von Mudania und schlage den Weg nach Brussa ein. Da sieht man rechts und links ganze Stapel von rostenden Eisenschienen und kommt an Locomotiven, Tendern und Waggons vorbei, die entweder in offenen Schuppen oder im Freien und mit schmutzigen, zerlumpten und verfaulten Planen bedeckt anzutreffen sind. Man bleibt stehen und schaut nach einem Geleise aus, nach den Zeichen der Absteckung, nach Pfählen wenigstens. Aber man sucht und sucht und sucht vergebens. »Man hält sich für einen Narren oder für das Opfer einer plötzlichen Sinnestäuschung. Doch aus diesem Staunen und Wundern und Grübeln wird man dann durch die Stimme des kundigen Gefährten gerissen, der dem Neuling zuruft: »Das ist ja der Sultan!« — »Welcher Sultan?« — »Der Sultan Bakschisch. Als der Bau einer von Mudania nach Brussa zu führenden Eisenbahn beschlossen wurde, haben alle in irgend einer Weise Betheiligten sich beeilt, Schienen, Waggons, Locomotiven und Tender zu bestellen, weil dabei ja eben Bakschische einzuheimsen waren. Sobald aber das Abstecken und Bauen in Frage kam, hatte die ganze Herrlichkeit ein Ende. Es gaben doch weder die Ingenieure noch die Arbeiter noch die Grenznachbarn Bakschische, und man hat sich also darauf beschränkt, den Baustoff anzukaufen und nach der Baustelle zu schaffen. Die damals eingenommenen Bakschische sind nun inzwischen aufgebraucht, und jene auf dem Felde lagernden Schienen u. s. w. gehen ihrer Auflösung entgegen. An den Ausbau der Linie denkt man nicht weiter. Doch die angekauften Materialien möchte man sich gerne vom Halse schaffen, und beim Verkaufe derselben tritt dann der Bakschisch in umgekehrtem Verhältnisse auf den Schauplatz. Der Staatskasse führt die ganze Geschichte nicht einen Pfifferling zu, und Unsummen wurden also verausgabt, um die Kosten für eine Eisenbahn, welche nie bestanden hat, zu bestreiten.« »Auf jener russischen, im Betriebe befindlichen Eisenbahn waren vom Geleise 113 Kilometer gestohlen worden; doch hier wird überhaupt alles, was zur Herstellung der Linie gehört, auf Nimmerwiedersehen verschwinden. »Die Krone des Ganzen bildet aber der Bericht, den Seine Excellenz der Arbeitsminister Hassan Femi am 24. Mai 1880 herausgegeben hat. Seite 25 ist dort nämlich Folgendes geleistet: »Bahn von Mudania nach Kara-Keui über Brussa. Länge — 160 Kilometer. Gesammt- Kosten — 6960000 türkische Pfunde (ungefähr 160 Millionen Franken). Zwischen Mudania und Brussa steht diese Bahn fast fertig da. Sie ist schmalspurig u. s. w.« »Mit dieser Schmalspurigkeit hat es allerdings seine vollste Richtigkeit. Die Enge ist eben derartig, dass ein Kameel eher durch ein Nadelöhr gehen könnte, als auf diesem Wege, den der Arbeitsminister vor 3V2 Jahren als beinahe beendet bezeichnete. Auf dem Papiere war die Bahn ja beschlossene Sache. Sultan Bakschisch bestellte sodann die Baustoffe, und er wird auch den Rückkauf besorgen, womit an Möglichem doch wahrlich genug geleistet ist. »Solche Geschichten über den Sultan Bakschisch zählen aber nach Tausenden. Warum stehen am Goldenen Hörne und anderswo prächtige Panzerschiffe nutzlos da? Nun, Matrosen und Officiere werfen doch keine Bakschische ab, und so sorgte der Sultan dieses Namens nur für den Erwerb des Rumpfes, nicht aber für eine Bemannung und Ausrüstung. Warum liegen dort am Thurme von Top-Kana oder Top-Hane sechs rasend theuere Kruppsche Kanonen auf der Erde herum? Ach was, die Lafetten beugen sich dem Sultan Bakschisch ja nicht, und Seine Majestät Hessen deshalb die Kanonen bloss ankaufen und hinwerfen. Warum — doch halt! es wäre ja des Fragens sonst kein Ende. Nur die niedliche Geschichte will ich noch hervorkramen, welche Mehemet Ali, fröhlichen Angedenkens, mir auf dem Berliner Con-gresse erzählt hat. In Serajewo, woselbst derselbe befehligte, erschien einst ein in der Umgegend wohnender Bauer mit einer Ladung Hafer, welche er auf vier Pferden herbeigeschafft hatte. Dieselbe war für die Besatzungskavallerie bestimmt, und der Bauer erhielt über die abgegebene Lieferung eine Empfangsbescheinigung. Während einer ganzen Woche eilte er nun von Herodes zu Pilatus und von einem Bakschisch zum anderen, um die Zahlung zu beschleunigen. Doch schliesslich hatte er weder Hafer noch Pferde noch Geld, denn Sultan Bakschisch besitzt bekanntlich einen weiten Magen. Dabei war dieser arme Bauer so unglücklich gewesen, den letzten Beamten zu beleidigen, und er wurde auch noch ins Gefängniss gesteckt. Mehemet Ali hat ihn dann befreit und auf Kosten der Staatskasse besänftigt.« Zahlreiche Thatsachen gleicher Art gelangten zu meiner Kenntniss, als ich zur Eröffnung des Suez-Kanales nach Aegypten gereist war. So hatte man dem Khe-dive angerathen, auf seinen ausgedehnten Besitzungen mit Dampfpflügen arbeiten zu lassen, und eine gewisse Anzahl derselben wurde bestellt, wobei für die betreffenden Persönlichkeiten natürlich reiche Bakschische abfielen. In Aegypten beginnt man aber gleich nach dem Zurücktreten des Nilwassers mit der Bearbeitung des Bodens, und die Dampfpflüge sanken nun ein in die noch feuchte Erde. Längs des Nils habe ich dieselben an vielen Stellen aufgegeben und vom Roste angefressen daliegen gesehen. Es wurde dem Khedive auch auseinandergesetzt, dass der Eukalyptus in Aegypten vorzüglich gedeihen würde, worauf er schnell eine Menge solcher Bäume kommen liess. Als dieselben aber eingetroffen waren, wusste man nichts mit ihnen anzufangen, und sie mussten elendiglich verdorren. Doch der Hauptzweck, nämlich das Einheimsen von Bak-schischen, war erfüllt. In Kairo zeigte man mir eine sehr hübsche Dame, welche trotz ihres reizenden Wuchses die Fettklumpen-Dame hiess. Als Bakschisch war ihrem Manne nämlich vom Khedive eine beträchtliche Lieferung Wagenschmiere überwiesen worden, von der man keinen Gebrauch hatte machen können. Den (imDecember 1885 erschienenen) Zeitungen ent- nehme ich Folgendes: »Smyrna, — Den Hermus könnte man ableiten und den Hafen von Smyrna erhalten, ohne den Staat und die Privatleute — was die traurige Folge des jetzt vorliegenden Planes wäre — zu schädigen. Es ist sehr leicht, die beiden Endpunkte des alten Kanals zu vereinigen und die Strömung des Flusses nach dem Meeresbusen, Kara-Burnu gegenüber, hinzuführen. Dieser Plan erfordert nur 2000, jener andere aber 15000 türkische Pfunde. Letzterer würde die Menemen-Ebene zu Grunde richten und im Laufe von drei Jahren die Salzbergwerke von Phokäa zerstören, welche jährlich 506 000 bis 600 000 türkische Pfunde einbringen. Dieselben werden alsdann an der Mündung des neuen Flussbettes liegen. Dort stösst man nun auf ausgedehnte Sumpf-ländereien, und diese brachte ein Privatmann an sich — sobald der Plan des neuen Hermusbettes in Frage kam. Er ist Eigenthümer kraft einer Urkunde, welche er mit vier Piastern — dem gewöhnlichen Preise für derartige amtliche Schriftstücke — bezahlt hat. Doch er soll ja nur der Strohmann grosser Spekulanten sein. Man rechnete nämlich aus, dass jene Sümpfe in drei Jahren mit einer 50 Centimeter dicken Schlammschicht sich bedecken würden, und damit wären sie der Bebauung erschlossen. Ein Deunum hätte alsdann einen Werth von 4 bis 5 und die Gesellschaft einen Gewinn von 156000 bis 200000 türkischen Pfunden.« Am Bosporus, in der Nähe von Dolmabaghtsche, liegen auf unabgestecktem Boden weisse Marmorblöcke mit wundervollen, im Stile der Alhambra gehaltenen Arabesken Diese schneeig zarten Steine gehören jedoch keiner Ruine an. Sie waren vielmehr zu einem Bade für den Sultan bestimmt, verfielen aber nach ihrer Ausladung einem hiesigen Verhältnissen ganz entsprechenden Schicksale — es kümmerte sich niemand weiter um sie, weil's an Geldmitteln und ferneren Bakschischen fehlte. Die aufgereihten Uebel sind andauernder und darum schlimmer noch als die Plagen Aegyptens; aber mit ihnen ist das Verzeichniss lange nicht erschöpft. Da hinken zunächst der Aufschub und die in ein empfindungsloses Hindämmern übergehende Gleichgiltigkeit heran. »Hätte ich für die Türkei einen Wappenspruch auszusuchen,« sagt Baker, »so würde ich folgenden Satz aufstellen: Es giebt nur einen Gott, und Bakschisch und Jarin (Auf morgen!) sind seine Propheten.« Diese Langsamkeit im Entschliessen und Handeln vertritt bei der Hohen Pforte jedoch eine Macht, und die hat wohl schon mancher Diplomat zu spüren gehabt. Bisweilen kann dieses Thatenlos-Schlaffe aber auch einen tödt-lichen Ausgang nehmen, und auf den Sultan passt jenes russische Wort »Nitschewo« (Hat nichts zu sagen!), welches Fürst Bismarck einem eisernen Ringe, den er stets bei sich trägt, eingraben liess. Zu einer vom russischen Hofe — 1862 — veranstalteten Jagd hatte auch Fürst Bismarck, welcher damals in Petersburg Gesandter war, eine Einladung erhalten. Er irrt sich hinsichtlich des Sammelplatzes und ist nun genöthigt, ein Bauernfuhrwerk zu besteigen. »Die Pferde sind sehr kraftlos,« wirft er ein. »Nitschewo,« entgegnet der Kutscher und fährt los. »Wir rücken ja gar nicht von der Stelle!« — »Nitschewo.« — »Wir müssen aber schneller weiterkommen.« Das Gefährt setzt hierauf zum Galopp an, liegt indessen nach wenigen Augenblicken umgestürzt und zerbrochen am Boden, und dieses »Nitschewo« schlüpft auch jetzt wieder über die Lippen des Bauern. Da nimmt Fürst Bismarck von dem Eisen der zerbrochenen Achse ein Stück an sich, und hieraus hat er dann später einen Ring schmieden lassen, dem das Wort »Nitschewo« eingegraben werden musste. Diesen Vorfall erzählend, fügt er hinzu: »Von meinen guten Deutschen wird mir der Vorwurf gemacht, dass ich den Russen gegenüber zu viel Geduld besitze. Doch ich bin in diesen misslichen Augenblicken ja der einzige Deutsche, welcher das Wort »Nitschewo« ausspricht, während dasselbe in Russland unaufhörlich über ioo Millionen Lippen gleitet.« Fürst Bismarck findet, dass jenes Wort alle Merkmale russischen Wesens gleichsam zu einem Ganzen verkörpert, und das gilt von der Türkei in noch weit grösserem Maasse. Sind z. B. die türkischen Minister zu einer Berathung zusammengetreten, so soll es dabei etwa in folgender Weise hergehen: Der Sultan muss zwar anwesend sein; doch seine Würde verbannt ihn nach einem anstossenden Zimmer, und einer von seinen Secretären hat ihm fortwährend Bericht zu erstatten. Sämmtliche Minister fürchten nun entweder die Ungnade des Sultans oder den Verrath ihrer Collegen und sind deshalb einzig und allein darauf bedacht, sich nicht blosszustellen. »Die Sache ist von grosser Wichtigkeit, und man möchte sich wohl zustimmend dazu verhalten,« erklärt der Vorsitzende; »doch es wären vielleicht auch Einwände zu machen.« Jeder nimmt nun der Reihe nach das Wort und lässt über das Für und das Wider mit der gleichen Beredsamkeit sich aus. Die Berathung dauert und dauert, ohne dass es zu einem Beschlüsse kommt, und man einigt sich zuletzt dahin, der Weisheit Seiner Majestät die Entscheidung anheimzustellen. Majestät fühlten sich durch die endlosen Redereien aber gelangweilt und angeekelt und flüchteten mit Hilfe des Nikotins in die Wonnen des Kefs hinüber. »Jarin, auf morgen,« erklärt jetzt der Beherrscher der Gläubigen und sucht alsdann seinen Harem auf. War die mir übermittelte Skizze wohl von vollständigster Genauigkeit? Nun, ein unumschränkter Herrscher, vor dem jedermann zittert, dem niemand die Wahrheit zn sagen wagt, und dem folglich die Kennt-niss des Thatsächlichen fehlt, er ist doch nicht der Lotse, welcher auf unbekanntem Meere die von allen Seiten umbrandete und umtoste Barke zu steuern vermag. Seine Regungslosigkeit stiftet da immerhin noch das geringere Unheil an, und er kann auch sagen: »Quieta non movere.« Zu den grossen Schattenseiten des parlamentarischen Lebens, so wie dasselbe in gewissen Ländern dahin-fliesst, gehört ein überhäufig wiederkehrender Ministerwechsel. In der Türkei sieht dieses Uebel sich nun bis auf die Spitze getrieben, und während der Jahre 1876 bis 1881 sind nicht weniger als 18 Cabinette über die Bühne gegangen; 1881 z. B. stürzt Vefvik den Said und wird an dessen Stelle Grossvezier, und am folgenden Tage stürzt wiederum der triumphirend zurückgekehrte Said den Vefvik. Die Launen und Grillen der Gewaltherrschaft sind eben noch weit verhängnissvoller als die Ränke und Umtriebe der verschiedenen politischen Parteien. — Ein ferneres Ungemach wurzelt im Mangel an Münzen und dem bodenlos verworrenen Zustande des ganzen Münzwesens überhaupt. Banknoten (Caimes) und Kupfermünzen, die Träger des grossen und des kleinen Geldverkehres, merzte man gleichzeitig aus, und die türkischen Goldpfunde sind auch verschwunden. Neben einigen »Medschidjes«, die 29 Piaster gelten, kommen im Verkehre grosse, schmutzige Geldstücke aus Weissmetall vor, die »Altiliks«, »Beschliks« und Piaster, deren Werth, mit dem Pfunde verglichen, beständig schwankt. Deshalb stehen auch in jeder Strasse unzählige Geldwechsler herum, und auf diese ist das gesammte Publikum, besonders aber in seinen unteren Schichten, bei kleinen Einkäufen angewiesen. So etwas muss natürlich den Geschäftsverkehr schädigen und unrechtmässigem Gewinne Vorschub leisten, und der in Sachen des Münzwesens ganz besonders maassgebende Volkswirthschaftslehrer Ottomar Haupt meint, zur Abhilfe des unerträglichen Uebels solle man, gleich den Belgiern und Schweizern, Nickel- und Bronzemünzen in Umlauf setzen. Aber man befolgt solche Rathschläge eben nicht, denn Nitschewo und Jarin sind gar zu mächtige Riesem Nun zeigt sich ein noch dräuenderes Gespenst, nämlich die Schuldenlast. Die Türkei stirbt ja an Entkräftung, weil man ihr zur Befriedigung der vielen Gläubiger den letzten Blutstropfen abzapft. Ihre Gesammt-einnahme war 1883 auf 15 Millionen türkische Pfunde veranschlagt, wovon ein Theil übrigens gar nicht eingegangen ist, und die Schuldenlast hat dabei 5 Millionen verschlungen. Der von den fremden Gläubigern ernannte Verwalter legt Beschlag auf die Einnahmen, welche sich ergeben aus dem Tabak, dem Salze, den Spirituosen, der Stempelpflicht, dem Fischfange und der Seidenzucht und auch auf den Tribut, welchen Rumelien und Cypern zu leisten haben. Anderen Gläubigern fällt wiederum das aus Aegypten Einlaufende anheim, und in jedem Jahre opfert die Pforte eine von ihren Einnahmequellen, um nur etwas baares Geld in die Hände zu bekommen. So wurde dem Hause Wilson & Co. die Eisenbahn Smyrna-Kassaba1) verpfändet, weil man 800000 tür- l) Im »Eastern Express« wird über die vortheilhafte und fruchtbringende Anwendung der aus dieser Veräusserung sich ergebenden Summe berichtet: »Bekanntlich wurde der Saldobetrag der 800000 türkischen Pfunde, welche die Eisenbahngesellschaft Kassaba dem kaiserlichen Schatzamte vorschoss, auf der kaiserlich-türkischen Bank niedergelegt. Das Finanz-Ministerium hat nun davon — so steht's im »Journal de la Chambre de Commerce« geschrieben — mehr als drei Viertel abgehoben. Ein Theil dieses Geldes ging darauf, um die erste Lieferung der beim Hause Krupp bestellten Ka- kische Pfunde brauchte. Es kann hier eigentlich gar nicht mehr von der Regierung eines Staates, sondern nur noch von einem ständigen Bankerotte die Rede sein. Früher, als die Bedürfnisse geringer waren, Waltete beim Eintreiben der Abgaben eine ziemliche Nachsicht ob, während nun ein erstickender Alp auf dem Steuerpflichtigen lastet. Die Pforte befindet sich in einer unhaltbaren Lage. Sie nimmt ja weniger ein als das kleine neutrale Belgien, welches für keine Colonien und keine Kriegsmarine zu sorgen hat. Dabei belastet ihr Rang als Grossmacht sie aber mit einem zahlreichen Heere, mit einer Panzerflotte, mit einem Schwärm von hohen Beamten und mit einem Herrscher, der jährlich mindestens 25 Millionen Franken kostet. Sie hat ein weit ausgedehntes Reich zu verwalten, von Zeit zu Zeit mit einem mächtigen Feinde Krieg zu führen, in ihren Provinzen fortwährend Aufstände zu unterdrücken und begehrlichen Nachbarn gegenüber sich zu behaupten. Eine gewaltige, von heftigen Zuckungen beständig hin und her geschleuderte Masse soll eben im Gleichgewicht bleiben auf einem Boden, der unter ihren Füssen immer mehr und mehr zusammenschrumpft — nun dies ist doch wohl ein Räthsel, welches als unlösbar erscheint. Durch den Mangel an Sicherheit, der auf den Leuten nonen zu bezahlen, ein anderer, um sonstige, militärischen Zwecken dienende Ausgaben zu bestreiten, und 65000 türkische Pfunde flössen der Waffenfabrik Peabody in New-York als Abschlagszahlung zu.« Die Rüstungen verschlangen demnach alles, und das wird sich so lange wiederholen, bis die Pforte den von ihr unterdrückten und ausgebeuteten Völkerschaften Genugthuung gegeben hat. Dies erkennt Vincent Caillard, der in Constantinopel wohnende hervorragende Finanzmann, unumwunden an, und er giebt der Pforte den Rath, sich mit den Bulgaren zu verständigen. (Fortnightly Review, December 1885.) Dem aber müssten alle Gläubiger der Türkei beistimmen, falls sie auf ihren wahren Vortheil bedacht wären. und ihrem Besitze lastet, wird-jeder Fortschritt untergraben, und aus meinem Notizbuche will ich nun einige bezeichnende Berichte herausholen. Der Beamte, dem die Oberaufsicht über den Wald von Bellowa oblag, wurde von Räubern entführt und erst nach Zahlung eines Lösegeldes von 150000 Franken in Freiheit gesetzt. Einmal wähnte eine Bande den Generaldirector der morgenländischen Eisenbahnen unterwegs und fiel deshalb den Zug bei Dedeagatsch an. Doch der Gesuchte hatte seine Reise um einen Tag aufgeschoben und entschlüpfte so der ihm gestellten Falle. Während meines Aufenthaltes in Constantinopel wurde ich von einem hohen Würdenträger des türkischen Hofes empfangen, welcher unlängst eine schöne, nicht weit von der Eisenbahn gelegene Besitzung vom Sultan zum Geschenk erhalten hatte. Als ich mich nun nach der Art der Bebauung erkundigte, erhielt ich die Antwort: »Ich war noch nicht auf meinem Eigenthume, weil es dort keineswegs sicher ist.« Man möchte auch gerne Musterfarmen anlegen, wagt es aber nicht, Zöglinge auf dem Lande wohnen zu lassen. Ein reicher, in Thessalien begüterter Besitzer steht infolge der neuen griechischen Grenze mit dem einen Theile seines Eigenthums in der Türkei und mit dem anderen in Griechenland, und das Gebiet, welches griechisch wurde, stieg seitdem, wie er mir sagte, im Werthe ums Doppelte. Eine prächtige, dicht bei Constantinopel gelegene Begüterung wurde von ihrem Herrn, einem reichen Bankier, in eine Art von Festung umgewandelt. Doch in das dicke Mauerwerk schlugen die Räuber Breschen hinein, und es verschwand nun Vieh auf Nimmerwiedersehen. Jener Bankier ist auch durch die Bauern aus dem neben seiner Besitzung liegenden Dorfe geschädigt worden. Dieselben machten sich nämlich daran, einen Theil von seinem Grund und Boden zu bebauen, und er verklagt sie nun beim Kadi. Der aber setzt ihm auseinander, dass es den armen Leuten an Ländereien fehlt, und zwingt ihm einen Verzicht auf den vierten Theil seines Eigenthums zu Gunsten dieser Dorfbewohner ab. Das ihm Verbliebene verpachtet der Bankier nun an Hirten, welche im zweiten Jahre den ausbedungenen Zins nicht entrichten, und die Sache kommt vor den Kadi. Die Stelle ist inzwischen anderweitig besetzt worden; doch die Entscheidung des Nachfolgers fällt ganz im Sinne des Vorgängers aus: »Diese armen Leute haben ja nichts als ihre Schafe; sollen sie zu Grunde gerichtet werden?« Das ist wohl alles ganz schön und gut und entspricht dem für Irland verlangten Agrar-Socialismus; man muss dabei aber auch die Lust am Besitze verlieren. Die Natur hat dem Türken eine grosse Menschenfreundlichkeit mit auf den Weg gegeben. Die Leiden der Armen gehen ihm zu Herzen, und er wird weder einen Hund noch ein Pferd misshandeln. Zustände, wie sie in jenen Kadis sich malen, können aber der Land-wirthschaft eben nicht zum Aufschwünge verhelfen. Es wäre nun zu sprechen von den bestechlichen Richtern, der ungleichmässigen und willkürlichen Steuereintreibung — ja, aber auch dann hätte man das ganze grosse Knäuel noch lange nicht abgewickelt. Herr von Biowitz hat ein Mittel entdeckt, welches seiner Meinung nach die allgemeine Fäulniss und Zersetzung zu beseitigen vermag, und Männer des Fortschrittes und der Reformen klatschen ihm Beifall zu. Man kann die schwebende Staatsschuld beseitigen, Wege anlegen, die Beamten auskömmlich besolden und dadurch zu redlichen Menschen machen, kurz man kann ein aufblühendes Land schaffen, in dem überall Milch und Honig fliesst, wenn man die Wakufs veräussert. Welch einer seltsamen Laveleye, Balkanländer. II. l% Täuschung geben die Leute sich da doch hin! Auch Spanien und Italien verkauften ja die geistlichen Güter, und das Losschlagen derselben hat eine Reihe von Jahren in Anspruch genommen. Doch jenes Land blieb deshalb keineswegs vor einem stehenden Deficite bewahrt, und dieses hat sein Gleichgewicht im Staatshaushalte durchaus nicht den Verkäufen zu danken. Wer sollte dieWakufs übrigens an sich bringen wollen, und wer wäre wohl bereit, in abgelegenen Gegenden, mitten unter Räubern, seinen Wohnsitz aufzuschlagen? Vor den Thoren der Hauptstadt liegt das Land ja schon brach, und die Oede bedroht den schönsten Theil des Reiches und nähert sich immer mehr und mehr den Ufern des Marmara- und des Aegäischen Meeres. Herr von Biowitz verfolgte den nach dem Walde von Belügrad führenden Weg. »Kaum war das letzte aus Konstantinopel herübertönende Geräusch verhallt,« sagt er, »so wehte auch schon der Hauch der Wüste mich an. Stundenlang ging's nun über eine bäum- und schattenlose Oede, und dem Auge zeigte sich kein Haus und keine Hütte und nicht das Mindeste von Blumen und Früchten. Ungeheuere Flächen lagen ungenützt da und waren nicht bloss von den Menschen aufgegeben, sondern schienen beinahe auch gottverlassen zu sein.« Albert Dumont weilte in Rodosto am Marmarameere, und über die Umgegend dieses schönen Hafens schreibt er (»Revue des Deux Mondes,« 15. Juli 1871): »Wir kommen durch öde Ebenen von unendlicher Ausdehnung. Der Boden ist fett und fruchtbar, aber man bebaut ihn nun nicht mehr. Die überall anzutreffenden Dörfer, die Zeugen entschwundenen Wohlseins, wurden von ihren Bewohnern verlassen, und Dornen und Disteln haben hier die Oberhand gewonnen. Viele von diesen Dörfern waren vor einem halben Jahrhundert noch bevölkert, während andere schon länger verödet dastehen, und unversehrt ist nur der Kirchhof geblieben.« Ohne die Arbeitstüchtigkeit der bulgarischen Bauern wäre aber auch der übrige Theil der europäischen Türkei zur Wüste geworden gleich diesen Bezirken, in denen hauptsächlich Griechen wohnen. Unheimlich schnell rückt die Wüste immer weiter und weiter vor, und hier sollte man ein Heim sich gründen? Versuche, die Wakufs zu verkaufen, sind übrigens schon gemacht geworden, und Günstlinge und Minister erwarben solche Besitzungen für den fünften oder sechsten Theil des wirklichen Werthes, das heisst für ein Butterbrot. Dem Schatze der Sankt Sofia entnahm man 12 Millionen Piaster zur Anlage einer Eisenbahn nach Trapezunt. Geschafft hat man mit dem Gelde aber nichts, und die Sankt Sofia ist dem Zerfalle preisgegeben. Werke, die dem allgemeinen Besten dienen, entspriessen hier einzig und allein den Wakufs. Streicht man diese Stiftungen, so wird der Einsturz des ganzen Gebäudes eben nur gefördert. Durch die Versteigerungen, hiess es, gelangt man zu gleichmässig sprudelnden Einnahmequellen. Doch die beim Verkaufe erzielten Summen würden gar nicht bis in den Staatsschatz kommen, sondern unterwegs in allerlei bodenlos tiefe Taschen fallen, und so oder so sich verkrümeln und verlieren. Den Kern dieser Wakuf-Frage bildet aber ihre religiöse Seite. Verkauft der Sultan, das Haupt der Gläubigen, die Wakufs, so erhält dadurch das bereits stark erschütterte religiöse Gefühl die letzten Todesstösse, und er wäre mit einem Papste zu vergleichen, welcher alle Güter der Kirche und der christlichen Brüderschaften versteigern lassen wollte. Für den ganzen mohammedanischen Gesellschaftskörper ist eben der Glaube das stützende Bollwerk. Seinen Bekennern haucht der Islam 18* Rechtschaffenheit, Tapferkeit, Nächstenliebe und eine schrankenlose Ergebung in den Willen Gottes ein, und um diese Eigenschaften bringt sie die Berührung mit dem Westen. Im öffentlichen und im privaten Geschäftsverkehre hat die Neuzeit die Tugend durch geschriebene Gesetze und eine so vollkommen ausgebildete Ueber-wachung ersetzt, dass die »Ehrlichkeit die beste Polizei« ist. Von solchen Einrichtungen, die allein den Bakschisch beseitigen könnten, wissen die Türken nichts, und da der alte Glaube zu fehlen beginnt, so muss folglich Alles wanken. Auch die Bewohner der Südsee-Inseln siechen ja an unserer Civilisation dahin. Der Westen hat die Türkei mit diesen wirthschaft-lichen Plagen beschenkt, mit dem unersättlichen Budget, dem stehenden Deficite, der alles aufsaugenden Schuldenlast und den unaufhörlich wachsenden Steuern. Sie dagegen vermochte die grundliegende Thatsache nicht zu begreifen, dass nämlich ein Huhn ohne Nahrung und Ruhe keine Eier legen kann, und hier eben müsste der Hebel eingesetzt werden zur wahren Heilung der Uebel, an welchen das Reich und die von ihm abhängigen Länder kranken. Man stelle die Bevölkerung so frei und unabhängig hin, dass die Rajahs unter dem Schirm des Friedens die Früchte ihrer Arbeit zu gemessen vermögen. Dann werden sie den Boden trefflich bebauen und dem Lande, wie dem Staatsschatze Reichthümer zuführen, und die Pforte, welche nun keine Unterjochten im Zaume zu halten hat, darf nicht ferner ihre letzten Einnahmequellen den Bankiers von Pera verpfänden. Es läge auch im eigensten Interesse der Türkei, die Wünsche der Armenier zu erfüllen, und den 61. Artikel des Berliner Vertrages mehr wie ein todtes Wort sein zu lassen. Dieser Artikel lautet folgendermaassen: »Die Hohe Pforte unternimmt es, ohne weiteren Verzug die örtlichen Verbesserungen und Vervollkommnungen auszuführen, nach welchen die von den Armeniern bevölkerten Provinzen verlangen, und schützt die Armenier vor den Tscherkessen und Kurden. Sie berichtet zu bestimmten Zeitpunkten über das Geschehene den Mächten, und diese überzeugen sich von der geeigneten Art der Durchführung.« Jene Armenier sind klug, fleissig, sparsam und vortreffliche Geschäftsleute, gleich den Juden und Zinzaren. Sie werden bei der Verwaltung des türkischen Reiches beschäftigt und stellen in Constantinopel die Förderer des wirthschaftlichen Lebens dar. Sie gehören zu den ältesten civilisirten Völkern Asiens und haben der Welt Philosophen, Geschichtsschreiber, Theologen und Dichter gegeben.1) Ihre Jahrbücher reichen bis in die frühesten Zeiten der Geschichte hinauf, und ihre werthvolle Literatur läuft ununterbrochen durchs Mittelalter fort. Ihr Gebiet verteilt sich auf Russland, die Türkei und Persien, und sie sollen, verschiedenen Angaben zufolge, — in Armenien und in Europa — 2500000 Seelen umfassen, während Brussali von 6000000 J) Einen vollständigen Ueberblick über die Schätze der armenischen Literatur giebt Felix Nere in seinem ausgezeichneten Werke »Das christliche Armenien und seine Literatur«. Er unterscheidet drei Abschnitte, deren erster vom 4. Jahrhundert bis zum Zeitalter der Krusaden reicht. Der zweite läuft bis ins 18. Jahrhundert hinein, und der dritte beginnt 1736. In diesem Jahre begründete Mek-hetar de Sebaste auf der Insel St. Lazare — in der Nähe von Venedig — die berühmte gelehrte Genossenschaft, deren Einfluss überall, wo im Osten Armenier anzutreffen sind, ja immer noch so mächtig wirkt. Hier wurden Regeln zur Bildung der Sprache aufgestellt, die alten Classiker durchforscht, Bücher aller Art, TJebersetzungen u. s. w. gedruckt und einem möglichst weiten Leserkreise zugänglich gemacht. Dieser Mittelpunkt der Gelehrsamkeit liess es sich auch angelegen sein, Schulen für die im Morgenlande ansässigen Armenier zu gründen, und er hat manchen Schatz der Wissenschaft aus dem Staube der Vergessenheit hervor ans Licht des Tages gefördert. Paris, Berlin, Wien, München, Moskau und Petersburg verdanken ihre armenischen Professuren der von jener Gemeinschaft gegebenen Anregung. spricht.1) Sie wohnen auf dem Tafellande von Kleinasien, zwischen dem Schwarzen, dem Kaspischen und dem Mittelmeere, und bilden so eine Vertheidigungslinie, die den Bosporus vor dem russischen Transkaukasien schützt. Gerathen sie den Russen in die Hände, so ist dies gleichbedeutend mit einem Angriffe Constantinopels von der Südseite her, und auf diesem Wege sind ja auch einstmals die Türken nach Byzanz gelangt. Gegenwärtig werden die unglücklichen Armenier von den Kurden, Tscherkessen und besonders von den türkischen Beamten ganz nichtswürdig behandelt, und ihre Lage gleicht denen der Bulgaren in Macedonien. Die einzige Frucht, welche der 61. Artikel des Berliner Vertrages zeitigte, besteht eben darin, dass die Moslims wüthend gemacht wurden. Dieselben möchten die Armenier gerne vollständig ausrotten und misshandeln und verfolgen sie deshalb ärger als je. Natürlich hat man sich auch beeilt, die armenischen Schulen zu schliessen, und die Lehrer in die Verbannung zu schicken. Mit einer solch blindwüthenden Politik wetzt die Türkei aber das Messer zum eigenen Todesstreiche. Wollte man dem Lande eine selbstständige Verwaltung gewähren, so würde es als eine Quelle des Wohlstandes sich erweisen und eine bedeutend anwachsende Bevölkerung ernähren können; jetzt kommen ja trotz des fruchtbaren Bodens nicht mehr wie 6 Menschen auf den Quadratkilometer. Die selbstständig gemachten Armenier werden auch keineswegs mit den Russen liebäugeln, sondern dem türkischen Reiche als Vertheidiger sich an-schliessen und durch ihre Steuern dessen Beutel schnell anschwellen lassen. Das Ausführen jenes 61. Artikels l) In der »Revue Francaise« (Mai, Juni 1886) hat ein mit den Verhältnissen seines Landes wohlvertrauter Armenier dessen Lage, Leiden und rechtmässige Ansprüche übersichtlich dargestellt. hätte unendlich wichtige Folgerungen, und man muss sich darüber wundern, dass Abdul Hamid trotz der ihm nachgerühmten Erleuchtung und Hingabe an die Interessen seines Landes all solche Vorteile nicht einzusehen vermag. Der Sturz des türkischen Reiches hat sehr tiefe Wurzeln. Er beginnt mit dem Jahre 1683, mit jener Niederlage, welche die Türken vor Wien erlitten, und ist seitdem in ununterbrochenem Fortschreiten begriffen gewesen. Ungarn, Siebenbürgen, Kroatien, Bessarabien, Serbien, Griechenland, die Moldau, die Walachei, Bosnien, Bulgarien, Rumelien, Thessalien, Algerien, Tunis, Cypern und Massaua sind im Laufe der Zeit den Händen der Türken entschlüpft. Diese gegenwärtig aber übliche »zeitweilige Besetzung unter der Lehnsherrlichkeit des Sultans« erleichtert ein Loslösen eben derartig, dass der Stamm kaum etwas davon zu fühlen scheint, und der Pforte stehen nur zwei Möglichkeiten offen: entweder muss sie ihren Provinzen erträgliche Zustände sichern, oder sie hat mit Kind und Kegel nach Asien hinüber-zutrollen. So urtheilte Guizot, und fast mit den selbigen Worten äussern sich heute Gladstone und Salisbury, die beiden Führer des einzigen Landes, welches in jener Sache ein offenes Wort zu sprechen wagt. In diesem von der Natur so begünstigten und von den Menschen mit dem Stempel des Verfalles geprägten Constantinopel raunt aber ein Geist mir beständig die Frage ins Ohr: Kann wohl die Türkei überhaupt etwas bessern? Ein hervorragender Diplomat, der Türkenfreund Layard, hielt es für seine Pflicht, in einem an die »Times« gerichteten Briefe die Genauigkeit dessen zu bestreiten, was ich in der »Pall Mall« über die unglückliche Lage der Bulgaren Macedoniens gesagt hatte. Doch als er noch englischer Gesandter in Constantinopel war, ist das türkische Regiment von ihm selbst in weit schlimmeren Farben geschildert worden. Am 27. April 1880 berichtete er seiner Regierung über Missbräuche, Veruntreuungen und die allgemeine Fäulniss und fügte dann hinzu: »Alle Künste der Diplomatie habe ich spielen lassen, um an der Hand der Thatsachen dem Sultan und seinen Rathen die gefahrdrohende Lage des Reiches begreiflich zu machen. Vorstellungen, Warnungen und fast schon auch Drohungen wurden von mir in jeder nur erdenkbaren Form auf den Schauplatz gebracht, damit es endlich zur unumwundenen und vollständigen Ausführung der versprochenen Reformen kommen sollte. Unaufhörlich habe ich mich an den Sultan selbst gewendet. Ohne Rückhalt legte ich ihm sogar schriftliche Beweise für die im Lande herrschenden schlimmen Zustände und die daraus entspringende Unzufriedenheit der Bevölkerung vor, und die Unfähigkeit und Verdorbenheit seiner Minister und hohen Beamten stellte ich in die hellste Beleuchtung. Ich sprach auch von den unvermeidlichen Folgen seiner Weigerung, auf Warnungen zu hören, nämlich von dem Verluste der Freundschaft Englands und von der weiteren Zerstückelung seines Reiches. Ich wies auf das Einschreiten der Mächte hin, welche ja gezwungen wären, der bestehenden Gesetzlosigkeit ein Ende zu machen und den unter der Regierung des Sultans leidenden Völkern eine bessere Lage zu sichern. Doch bis jetzt war Alles vergebens. Seine Majestät ist stets zu Versprechungen bereit, wird aber von der Erfüllung derselben durch gewisse verhängnissvolle Einflüsse zurückgehalten; man bemüht sich eben, jeden Eindruck, den meine Worte oder die eines anderen Gesandten gemacht haben könnten, zu verwischen. Blosse Drohungen nützen nichts. Wollen wir dem Lande wirklich helfen und der Bevölkerung eine gerechte und unparteiische Regierung verschaffen, so müssen wir auch bereit sein, über Drohungen hinauszugehen.« Die Weisungen, welche Lord Granville dem Herrn Goschen am 18. Mai 1880 zugehen liess, sind in der gleichen Tonart gehalten. »Lord Salisburys und Herrn Layards Worte verklangen wirkungslos,« heisst es da. »Die englischen Officiere aber, welche die so nothwen-dige Neugestaltung der Gendarmerie vornehmen sollten, haben fortwährend gegen Osman Pascha und die Rückschrittspartei des Palastes anzukämpfen gehabt; man rief sie wohl herbei, gewährte ihnen aber weder ein Gehalt noch eine Stellung, und sie sahen sich genöthigt, nach England zurückzukehren. Die Commission für Ostrume-lien, welche in Constantinopel von neuem zusammentreten wird, hat die für die europäischen Provinzen in Aussicht genommenen Grundgesetze zu prüfen, in so weit diese Vorschläge von den örtlichen Commissionen bearbeitet wurden . . . Inzwischen sind jedoch, um die Ordnung aufrecht zu erhalten, und um das Leben und den Besitz der Moslims und Christen möglichst zu sichern, gewisse Maassregeln unerlässlich, und diese müsste man sofort ausführen. Dahin gehören die Umgestaltung der Gendarmerie, das Abschaffen unrechtmässig erhobener Steuern und ganz besonders eine Aenderung des Verfahrens, welches in Constantinopel bei der Besetzung von Stellen obwaltet. Das auf der Bevölkerung lastende Ungemach hat seine eigentliche Wurzel hauptsächlich in der Hauptstadt; denn hier betrachtet man die in den Provinzen zu besetzenden hohen Aemter eben nur als eine Handhabe, um sich mit Hilfe der Gewalt und Bestechung bereichern zu können. Ew. Excellenz muss den Sultan darüber aufklären . . . dass die einzige Hoffnung auf das Fortbestehen des türkischen Reiches in einer durch und durch anders zu gestaltenden Verwaltung beruht, welche gleichzeitig für die Hauptstadt und die Provinzen zum Vollzuge zu bringen ist.« Seit Jahren hat sich nichts gebessert, wohl aber alles verschlimmert. Ueber die Warnungen und Drohungen Englands und der anderen Mächte lacht die Pforte, und trotzdem wird ihr fluchwürdiges Regiment, das auf jede Rasse und auf jede Religionsgemeinschaft gleich vernichtend einwirkt, von allen Seiten gestützt. Zu einem Kreuzzuge sind die Mächte stets bereit; doch sie ziehen nun nicht mehr gegen die Moslims, sondern für dieselben und gegen die Christen zu Felde. Der Lebensfaden der Türkei ist aber blos dadurch zu verlängern, dass man ihr menschenwürdig behandelte Unterthanen aufzwingt. Darf sie dieselben auch fernerhin als einen Spielball ihrer Laune und Willkür betrachten, so muss sie sich vollständig zu Grunde richten, und die verblendeten Diplomaten und Geldleute vermögen das nur nicht einzusehen. — Was die Frage nach der russischen Orient-Politik anbetrifft, so erlaube ich mir zunächst, auf zwei von meinen Aufsätzen, die in der »Revue des Deux Mondes« erschienen sind — »Russlands neue Politik«, 15. November 1871, und »England und Russland im Morgenlande«, 15. Juli 1881 — zu verweisen, und führe alsdann Aeusse-rungen des Prinz-Gemahls von England an. »Ihre Meinung, dass die Russen Constantinopel nicht nehmen wollen, theile ich,« sagte einst Prinz Albert zum dritten Napoleon. »Der nordische Riese möchte die Türkei einfach zerstückeln und durch eine gewisse Anzahl von kleinen Staaten ersetzen, und diese sollen eine Art von Bund ausmachen, den er beliebig und ohne Mühe und Verantwortung lenken kann.« Prinz Albert hat auch das österreichisch-deutsche Bündniss vorausgesehen. »Man müsste es den Oesterreichern begreiflich machen, dass sie sich gegen ihre beiden Gegner nur durch ein unter der Führung Preussens geeinigtes Deutschland zu schützen vermögen,« schrieb er im September des Jahres 1859 seinem Bruder, dem Herzoge von Sachsen-Coburg. (»Das Leben Seiner Königlichen Hoheit des Prinz-Gemahls,« von Theodor Martin.) Erst nach dem Tage von Sadowa nahm Oesterreich dieses später in Wien besiegelte Programm an, welches Prinz Albert vor 25 Jahren aufgestellt hatte; doch den Gegnern des Donaureiches kann Frankreich nun nicht mehr beigezählt werden. — Wer mit der Orient-Frage sich beschäftigt, sollte jene Aufsätze, die Saint-Marc-Girardin in der »Revue des Deux Mondes« — 1860 bis 1862 — veröffentlicht hat, lesen oder wieder lesen, und ich bringe nun einiges denselben Entnommene: »Die europäischen Türken sind keine schaffende, sondern nur eine schmarotzende Bevölkerung, welche ausschliesslich von dem Fette der Christen zehrt. Falls man ihnen nun dieses Aussaugen zur Unmöglichkeit macht oder doch wenigstens erschwert, werden sie von dannen trollen und anderswo verderben. In Serbien und in der Moldau und der Walachei ist die türkische Macht bereits von selbst und ohne Schwertstreich gefallen, und so wird's auch in Bulgarien und Rumelien gehen.« — »In Amerika verdrängt der Fleiss des Menschen die Wüste immer mehr und mehr, während sie dagegen im Morgenlande durch die Raubwirthschaft und den Schlendrian der Türken weiter und weiter vorrückt1).« — »Sollen im Morgenlande die Türken oder die Russen herrschen? Weder die einen noch die anderen, sondern die Völker selbst. Wer wird die neue Türkei aber ver- l) Anhang, »Die türkische Herrschaft«. theidigen? Nun, wer vertheidigt die sterbende? Wie könnte Europa das Hüteramt an einer Wiege wohl schwerer finden, als das an einem Sarge?« — »Unter Bezugnahme auf die türkischen Finanzen wird man vorzügliche Bestimmungen treffen; doch ach! es fehlt eben ein Boden, das heisst die Ehrlichkeit. Das Fass der Danaiden war ja sonst gewiss auch sehr schön gezimmert und hatte zum Unglücke nur keinen Boden.« »Als in China d'Escayrac de Lauture auf einem mit spitzen Nägeln bedeckten Karren lag, hatte er, sobald das Gefährt im Galopp und über holperige Wege dahinging, entsetzlich und beim Anhalten dann etwas weniger zu leiden. In diesem Maasse mildert sich auch das Loos der türkischen Rajahs, und zwar für die Dauer jener Augenblicke, welche die Pausen des Quälens und Marterns bilden.« »Der Tag ist ein glücklicher, an welchem die Macht der Pforte noch vollständiger zusammenbricht und nun Raum wird für so viele geknechtete, aber kraftvolle und thätige Völkerschaften, die bis dahin zur Schande der Civilisation und der Menschheit niedergedrückt wurden durch das Gewicht des türkischen Leichnams. Glücklich der Tag, an welchem, zwischen dem Ehrgeize Russlands und dem Argwohne Englands, Frankreichs hilfreiche Hand jenen Völkern sich entgegenstreckt!« Eine solch edle Sprache, wie Saint-Marc-Girardin sie führt, hört man jetzt kaum noch. Er wollte auch in eine Besetzung der Türkei durch England sich finden und sagte: »Als Franzose könnte ich darüber trauern; doch den Menschen und Christen würde es freuen, diese heillose Tyrannenwirthschaft durch ein geordnetes und duldsames Regiment ersetzt zu sehen. Hinge es von mir ab, Macedonien oder Bulgarien, Kleinasien oder Syrien zu englischen Grafschaften zu machen, und da- durch so viel Schlimmes in so viel Gutes zu verwandeln, so würde ich nicht einen Augenblick zögern. Sollte vielleicht der Gedanke, den Ruhm der Sieger von Tra-falgar und Waterloo zu mehren, mich zurückhalten können? Nun, ich wäre nicht werth, ein Christ zu sein, falls die nationale Eitelkeit mich fortzuscheuchen vermöchte von einem Werke des Segens.« (»Revue des Deux Mondes«, 15. October 1862.) Guizot und Thiers waren auch Parteigänger der Politik, welche die unter türkischem Joche schmachtenden Christen befreien und zu unabhängigen Völkern machen will. Ueber die Orient-Frage lässt Guizot in seinen »Memoiren« folgendermaassen sich aus: »Die französische Politik beschäftigt sich sehr lebhaft mit den verschiedenen Angelegenheiten des Morgenlandes und mit den Gestaltungen einer fernen Zukunft. Wir bleiben aber dem allgemeinen Bestreben treu, das türkische Reich zu halten und gleichzeitig die aus seinen Trümmern hervorkeimenden neuen Staaten zu schützen.« Thiers erklärte in einer diplomatischen Note vom 3. October 1840: »Da das grosse Ganze sich nicht wieder aufbauen lässt, müssen die losgelösten Theile Staaten bleiben, welche von den Nachbarreichen unabhängig sind.« Von einer Rückkehr der Türken nach Asien ist schon vor sehr langer Zeit gesprochen worden. Tott erzählt in seinen Denkwürdigkeiten von dem Feldzuge, welchen die Türken 1788 gegen die Russen führten, und der schlimm für jene ausfiel. Nach der Beendigung desselben richtete der Keir-Effendi an Tott die. Frage, wohin all dies führen solle. Die Unterredung fand in einem von jenen Räumen des Palastes statt, welche auf den Bosporus hinaussehen, und nach dem jenseitigen Ufer, nach Skutari, deutend, sagte Tott einfach: »Dorthin.« — »Sei es,« entgegnete der Türke. »In jenen reizenden Thälern werden wir Kioske bauen, und die Pfeifen lassen drüben ebenso gut wie hier sich rauchen.« An eine solche Auswanderung mit Sack und Pack, als deren Schützer Gladstone gilt, hat man also keineswegs gestern oder vorgestern erst gedacht. Eine andere Lösung wäre freilich sehr viel leichter zu erreichen. Sie schneidet weder der Gerechtigkeit noch dem Nutzen des Einzelnen ins Fleisch und würde sogar allen die grössten Vortheile bringen, den Christen wie den Moslims, und den letzten ganz besonders. Saint-Marc-Girardin ist für sie in beredtester Weise eingetreten, und Dionis Rattos, ein aufgeklärter Grieche, hat sie in einem heute vergessenen, einst aber sehr beliebten Buche vorgezeichnet. Sie besteht eben darin, Constantinopel wie Hamburg zu gestalten, das heisst, es zu einer freien Stadt und zu einem Freihafen zu machen. Die Verwaltung würde einem Senate obliegen, in welchem die verschiedenen Rassen vertreten wären, und der eine ausführende Behörde zu wählen hätte, und die Stadt sammt ihrem Weichbilde stände den Waaren ohne irgend welche Formalitäten offen. Man müsste ferner für eine gute Polizei, eine gehörige Gerechtigkeitspflege, möglichst gering bemessene Steuern und einfache, vernünftige und der Gesammteinwohnerschaft auferlegte Gesetze Sorge tragen, und das zu blühendem Wohlstande gelangende Constantinopel wird dann als eine Stätte der Freiheit und Gleichheit sich erweisen, an der jedem Einzelnen sein Leben, sein Besitz und all seine persönlichen Rechte vollständig gesichert sind. Der aller einzwängenden Fesseln entledigte Handel würde eine Verdoppelung, eine Verdreifachung erfahren, und der Werth des Bodens und der Häuser in gleichem Maasse steigen. Heute sind die türkischen Besitzer dem Elende preisgegeben. Dann aber dürfte auch ihr Beutel schnell anschwellen, und sie könnten doch ungestört ihrem irdischen Ideale, dem Kef, sich widmen. Constantinopel würde jetzt auch dem Wünschen und Hoffen zweier Rassen entsprechen und gleichzeitig die Hauptstadt der Bulgaren und der Griechen sein. Dieselbe geht weder diesen noch jenen verloren, und man hat es dabei nicht einmal nöthig, ein Vertreiben der Türken ins Werk zu setzen. Sollten diese Zukunftsgestalten aber vielleicht nur schöne Traumbilder sein? Ich vermag's nicht zu glauben und berufe mich auf die Ansicht eines wohlerfahrenen englischen Staatsmannes. Dieser, Grant-Duff, welcher ehemals im Parlamente sass und später als Statthalter der Provinz Bombay nach Indien gegangen ist, bewirthete mich einst einige Tage auf dem reizenden Schlosse Knebworth. Dasselbe gehörte seinem Freunde, dem Lord Lytton, dem derzeitigen Vicekönige von Indien, und er bewohnte es während dessen Abwesenheit. Ueber die morgenländischen Angelegenheiten hat er sich damals ausführlich geäussert. Die vollständige Befreiung aller auf der Balkaninsel wohnenden Slawen fand an ihm einen warmen Fürsprecher, und er gehört im Verein mit Gladstone zu denen, welche in diesem Sinne nachhaltig auf die öffentliche Meinung einzuwirken wussten. Er berief sich mir gegenüber auch auf seine am 29. Mai 1863 im Unterhause gehaltene Rede. »Ich hoffe,« hatte er an jenem Tage gesagt, »dass Constantinopel weder den russischen noch den serbischen Slawen gehören wird. Die Serben wollen es ja auch gar nicht haben und begnügen sich damit, es in einen Freihafen verwandelt zu sehen, der dem Schutze und der Bürgschaft von ganz Europa und der gesammten civilisirten Welt unterstellt ist. Hoffentlich geschieht das dereinst, und Byzanz wäre damit die Königin des Morgenlandes. Heute bildet es ja für Kleinasien und für den Osten überhaupt bloss eine Quelle der Verarmung und des Niederganges. Aber als Freihafen würde es einen Brunnen der Civilisation darstellen, und diese Gegenden gehören dann wieder, wie unter den Persern, Griechen und auch unter den Römern, zu den schönsten und reichsten Bezirken des Weltalls.« Das Verschwinden des Halbmondes ist ja gleichsam eine geschichtliche Nothwendigkeit; doch was wird an seine Stelle treten? Auf diese Fragen giebt's der Antworten drei — die Balkanhalbinsel, mit Ausnahme Griechenlands, fällt zur Hälfte an Oesterreich und zur Hälfte an Russland, oder eins dieser beiden Reiche nimmt das ganze Gebiet, oder die Bevölkerung tritt zu einem Staatenbunde zusammen. Jene erste Möglichkeit steht mit der unglückseligen Theilung Polens in einem Range. Sie bringt Constantinopel in die Hände Russlands, und dessen zwei Hälften zwängen dann Rumänien in einen Schraubstock hinein, welcher es früher oder später vollständig zermalmen würde. Mehr hat schon die zweite Lösung für sich, vorausgesetzt, dass sie durch Oesterreich sich vollzieht. Dasselbe steht ja bereits in Nowibazar, also an einem wichtigen, im Mittelpunkte der Halbinsel gelegenen strategischen Punkte, und in seinem Besitze würde überdies Deutschland und England die türkische Hauptstadt lieber sehen als in dem Russlands. Doch eine solche Umwandlung wäre mit einem österreichisch-russischen Kriege verknüpft, bei dem es sich um ein Sein oder Nichtsein handeln müsste, und die befreiten Slawenstämme der Balkanhalbinsel kämen dadurch unter eine ihnen ver-hasste Herrschaft. So etwas könnte aber ein Freund der Freiheit und des Friedens nun und nimmer wün- sehen. Treten dagegen die Balkanstaaten zu einem Bunde zusammen, so ist der Bevölkerung die Machtvollkommenheit, sich selbst zu regieren, gegeben und zugleich auch der Möglichkeit vorgebeugt, dass dem einen oder dem anderen der beiden grossen Nachbarreiche ein den Frieden gefährdendes Uebergewicht zufällt. Was kann's Einfacheres und Gerechteres geben, als dass man den Serben, Bulgaren, Albanesen, Griechen uud Türken die freie Verfügung über ihr Schicksal und die ihnen genehme Art der Regierung zugesteht? Dafür sollte ganz Europa eintreten, und jene Völker, welche so lange durch Krieg und Misswirthschaft zu leiden hatten, würden dann wieder zu ihrem einstigen Wohlsein gelangen. Man fürchtet den Tag, an welchem die Grossmächte um die Erbschaft des »kranken Mannes« mit den Waffen in der Hand zu ringen beginnen, und der einen entsetzlichen Krieg einleiten müsste. Solchen Schrecknissen wird durch einen Balkanstaaten-Bund aber vorgebeugt. Diese dritte Lösung ist während vieler Jahre von den englischen Freisinnigen und besonders durch Gladstone vertheidigt worden. Auch in Athen hat man sie lange begünstigt, und für sie wirken dort noch ein griechischer Verein und eine besondere, unter sehr talentvoller Redaction stehende Zeitung, »Der morgenländische Bund«, In Albanien aber ist eine literarische und politische Gesellschaft, welche den Namen »Drita« (Licht) führt, bemüht, ein Einvernehmen anzubahnen zwischen den Albanesen der drei verschiedenen Bekenntnisse — den griechischen und römischen Katholiken und den Moslims —, und dieselben so für ihren Platz in der erhofften Staatengruppe vorzubereiten. Der mit albanesischen Verhältnissen wohlvertraute Canini führt in einer sehr lehrreichen Schrift — »Lettere Sulla Laveleye, Balkanländer. II. 19 Questione Balcania« — den Nachweis, dass die Albanesen des Nordens — »Gheghi« — und die Albanesen des Südens — »Toschi« — um keinen Preis die griechische Oberhoheit anerkennen würden, dass sie aber zum Eintritte in einen Staatenbund, welcher ihnen ihre Selbstständigkeit sichert, bereit sind. Unter den Bewohnern Bulgariens traf ich keinen Widersacher der geplanten Staatengruppe an, und in Serbien schien dieselbe vor den ehrgeizigen Eroberungsgelüsten neueren Datums gleichfalls den Wünschen der Gesammtheit zu entsprechen. Ein solcher Staatenbund gehörte ja zu dem, was die Zeitung Ustarwost (Der Verfassungsmässige) anstrebte. Sehr bemerkenswerthe Worte über den selbigen Gegenstand hat auch Ristisch gesprochen, und zwar bei dem am 6. December 1884 abgehaltenen Festmahle des freisinnigen Vereins. »Soll das Errungene uns bleiben,« erklärte der serbische Staatsmann bei jener Gelegenheit, »so müssen wir mit anderen Ländern zusammenhalten und hauptsächlich auf der Halbinsel nach Freunden uns umsehen. Dieser Balkanstaaten-Bund ist keineswegs ein blosses Hirngespinst. Uns Morgenländern gilt er vielmehr als eine Gestaltung, an welcher wir einen Hort finden können, und ohne die unsere Zukunft eine sehr unsichere bleiben wird. Die Balkanhalbinsel bildet nicht bloss vom geographischen, sondern auch vom geschichtlichen Standpunkte aus ein Ganzes. Jahrhunderte hindurch haben alle auf ihr wohnenden Völker das gleiche Schicksal mit einander ge-theilt, und es kann sich heute nur darum handeln, abermals ein Ganzes zusammenzustellen. Das fällt dann entweder einer fremden Macht anheim, oder die eigene Bevölkerung behält es selbst in Händen. Einst stellte das byzantinische Reich dieses Ganze dar, und auf seinen Trümmern wollte Duschan die Völker des Ostens von neuem einen. Hierzu wäre es unzweifelhaft gekommen, falls nicht ein frühzeitiger Tod unseren grossen Kaiser unseren grossen Staatsmann, unseren grossen Feldherrn dahingerafft hätte. Nach seinem Heimgange vermochte ja niemand das Begonnene zu vollenden, und die Balkanhalbinsel fiel den türkischen Eroberern in die Hände. Doch eine Einigung, wie die Vergangenheit sie kannte, gehört heute zu den Unmöglichkeiten, gleichviel ob es sich um ein byzantinisches, serbisches oder türkisches Reich handeln würde. Das Rassenbewusstsein ist nun wieder lebendig geworden, und die Einheit des Balkangebietes lässt sich jetzt nur durch einen Bund der Balkanvölker erreichen, in dem selbst die Türkei, natürlich nur die verfassungsmässige Türkei, einen Platz finden könnte.« Im ungarischen Parlamente sprach aber Tisza — am 18. October 1886 — davon, dass die unabhängigen und selbstständigen Staaten der Balkanhalbinsel zu einem Bunde zusammentreten sollten. Dieser Bund wäre nach dem Vorbilde der Schweiz zu gestalten, das heisst auch die wenig zahlreich vorhandenen Rassen müssten ihren eigenen Platz erhalten, nicht aber in eine grosse Vereinigung hineingezwängt werden. So hat man in der Schweiz die an und für sich schon nicht sehr grossen Cantone Appenzell, Unterwaiden und Basel noch in Halb-Kantone getheilt und jedem derselben eine unabhängige Stellung und eine Vertretung im Bundesrathe gegeben. Auf der Balkanhalbinsel würden nun z. B. in dem erstrebten grossen Albanien die verschiedenen Religionsgemeinschaften beständig mit einander hadern. Warum will man also nicht lieber drei Cantone bilden, den der römisch-katholischen, den der griechisch-katholischen und den der mohammedanischen Albanesen? Es dürfte Macedonien auch weder dem bulgarischen, noch dem griechischen, 19* noch dem serbischen Staatswesen einverleibt werden. Jede Stadt, jeder Bezirk müsste vielmehr sich selbst regieren können, so dass keine Freiheiten oder persönlichen Rechte gefährdet wären, und das Land würde in den beiden Bundeshöfen nach Art der bereits befreiten Staaten vertreten sein. Die gedachte Staatengruppe vermag sich aber nur zu bilden, falls diese unsinnige und nichtswürdige Theorie von dem Gleichgewicht der Kräfte im Keime erstickt wird. Um über einen Vorwand zu gänzlich ungerechtfertigten Angriffen zu verfügen, brachte Serbien ja neuerdings diese abscheuliche Theorie ins Spiel, für welche weder die Geschichte, noch thatsächlich bestehende Verhältnisse irgend einen Beleg aufweisen. Können in Europa die kleinen Staaten, wie Holland, Dänemark, Belgien, die Schweiz, neben den Grossmächten sich etwa nicht behaupten? Umschliessen die Vereinigten Staaten nicht auch Riesen— Californien, Texas, Ohio, New-York — und Zwerge — Maine, Rhode-Island —? Leben die 160000 Italiener Tessins wohl nicht frei und glücklich neben 2600000 Franzosen und Deutschen? Serbien hat durchaus kein Recht, der Einigung Bulgariens sich zu widersetzen, denn es verdankt ja das eigene Dasein nur der den Völkern zustehenden Befugniss der Selbstregierung. Die Theorie ist aber nicht bloss unsinnig, sondern auch nichtswürdig. Ihre nächste Folgerung würde eben darin bestehen, zwischen den jungen Balkanstaaten ein gar nicht erlöschendes Feuer zu unterhalten, und dieser dauernde Kriegszustand müsste dieselben durch seine unerschwinglichen Lasten zu Grunde richten. Auf einem solchen Wege käme es schliesslich aber auch dahin, dass jedes Land durch einen gelungenen Wurf seine guten Freunde und getreuen Nachbarn auf den Hals sich hetzt. Fiele z. B. Creta oder das griechische Thessalien an Griechenland, so könnten Serbien und Bulgarien dies doch unmöglich ruhig hinnehmen, weil das Gleichgewicht ja zu ihrem Schaden gestört wäre! »Nur um den Bund möglich zu machen, widersetzen wir uns der Vereinigung Bulgariens und Rumeliens,« schrieb mir ein hochgestellter Serbe. »Zwischen Bundesstaaten muss doch eine gewisse Gleichheit obwalten, und der eine von ihnen darf nicht bedeutend stärker sein als die übrigen.« Das Aneinandergerathen künftiger Bundesgenossen ist eine etwas seltsame Vorbereitung für den Abschluss eines Bundes, und all solche Folgerungen sprechen ja der Vernunft und der Gerechtigkeit vollständig Hohn. Auf der Balkanhalbinsel sind die Bulgaren zahlreicher vertreten als die Serben, und deshalb sollen also jene sich nie zusammenthun dürfen, ohne sofort von diesen angegriffen zu werden? Das wäre genau so, als ob in der Schweiz die Halb-Kantone Appenzell-Innerrhoden mit 12 841, Niederwaiden mit n 992, Oberwaiden mit 15356 und der Kanton Zug mit 22994 Einwohnern gemeinsam dem Kanton Bern zurufen wollten: »Du mit Deinen 532164 Einwohnern bist sehr viel stärker als wir, und so etwas widerspricht dem Wesen eines Bundesstaates. Wir und die anderen kleinen Cantone müssen deshalb über Dich herfallen. Du sollst zerstückelt werden und darfst nie wieder zu einem Ganzen zusammenwachsen.« — Durch jene alten und verkehrten Begriffe vom Gleichgewichte der Macht, vom Wettkampfe der Völker und vom Eroberungsdrange hat der Westen die Anschauungsweise der Serben vergiftet. Diese sollten sich im Gegentheile freuen über alles, was das Emporkommen der Bulgaren fördert, die ja zunächst ihre Mitmenschen, sodann auch ihre Mitchristen sind, und welche überdies der gleichen Rasse angehören. Es läge in ihrem eigensten Interesse, ein reiches, glückliches, civilisirtes und dicht bevölkertes Bulgarien zum Nachbarn zu haben. Serbien würde durch den Austausch von Waaren und durch den geistiger Güter unendlich gewinnen, und es stände um so gesicherter da, je mächtiger sein Bundesgenosse wäre. Ganz unerfindlich ist's, weshalb die Serben gegen die Bulgaren einen Krieg geführt haben, den die in Belgrad weilenden Vertreter der Grossmächte mit Recht einen brudermörderischen nannten. Der südliche Theil Serbiens ist wenig dicht bevölkert und umschliesst fruchtbare Ebenen, welche nur auf fleissige Hände und auf Kapitalien warten, um Früchte in Hülle und Fülle hervorzubringen. Statt hier nun die vorhandenen Mittel anzulegen, werden Geld und Menschen zu Eroberungszwecken verschleudert. Man kämpft um eines Landes willen, das vom türkischen Joche befreit und von einer anderen slawischen Rasse bewohnt ist, und richtet sich selbst nur zu Grunde, bloss um seinen Mitmenschen zu schaden. Die Parteinahme der Serben für die Türken und ihren Kampf gegen die bulgarischen Brüder muss man ein widernatürliches, sinnloses und verbrecherisches Unding nennen. Hätte Serbien sich lieber mit Bulgarien und Griechenland zur Befreiung Macedoniens verbunden, so könnte es jetzt bereits in Alt-Serbien sitzen. Auch Griechenland wäre damit zur erstrebten Vergrösserung gelangt, und der übrige Theil Macedoniens würde an Bulgarien gefallen sein. Es dürfte wohl schwer halten, die Erinnerung an diesen unglückseligen Krieg vollständig zu tilgen. Derselbe wird leider Groll und Rachegelüste angefacht und damit einem künftigen Einvernehmen einen recht grossen Stein des Anstosses in den Weg gerollt haben. Bei beiden Völkern müssten alle Vaterlandsfreunde und Bie- dermänner nun aber doch bestrebt sein, diese Keime der Zwietracht und des Hasses sammt ihrer Wurzel auszurotten, und dies Hesse sich vielleicht am besten durch die Gründung eines serbisch-bulgarischen Vereins anbahnen. Derselbe hätte jährlich, das eine Mal in diesem Lande und das andere in jenem, zu tagen und in drei Abteilungen, in eine literarische, in eine für Alterthumskunde und Geschichte und in eine wirthschaftliche, zu zerfallen. Erstere würde sich mit den literarischen Erscheinungen beider Länder zu beschäftigen haben, wie auch mit den Mitteln, belebend auf die heimische Literatur einzuwirken. Alles aber, was auf die Geschichte der Slawenstämme sich bezieht — Chroniken, Ausgrabungen, Münzkunde, alte Documente — müsste die zweite Abtheilung in ihren Bereich ziehen, und der dritten läge es ob, eine Verständigung auf wirthschaftlichem Gebiete zu erstreben. Derartige Beziehungen würden das Gefühl der Brüderlichkeit emporkeimen lassen, und in erster Linie sollte man an eine Zollvereinigung zwischen Serbien und Bulgarien denken. Der Zollverein hat ja auch der Einigung Deutschlands vorgearbeitet. Die flämische und die holländische literarische Welt treten alljährlich, bald in Belgien, bald in Holland, zusammen. Diese Vereinigungen trugen aber in grossem Masse dazu bei, jede Erinnerung an den Kampf des Jahres 1830 zu verdrängen, und im Gegentheile das Be-wusstsein der Rassengemeinschaft von neuem zu beleben. Sind die Völker der Balkanhalbinsel sich erst darüber klar, dass dieses gegenseitige Beneiden, Befehden und Berauben ihnen keine Vortheile zuführt, so wird der morgenländische Staatenbund bald greifbare Gestalt annehmen. Schlägt dann der Verwirklichung dieses Ideals die günstige Stunde, so wird alles, vorausgesetzt, dass man innerlich darauf vorbereitet war, ohne die mindesten Schwierigkeiten sich vollziehen. Bleiben die Serben, Bulgaren, Griechen, Moslims und Albanesen aber in alten Irrthümern befangen, so vermögen sie auch ihren eigensten Vortheil nicht einzusehen. Dann werden sie bei den geringsten Anlässen mit einander streiten und kämpfen und sich damit bald das Schicksal Polens zuziehen, das heisst mächtige Nachbarn würden die Länder in einzelne Beutestücke zer-reissen oder ein Stärkster verschlänge sammt und sonders alles. Quod Dei avertant! Siebentes Kapitel. In Rumänien. Ein Bedauern beschleicht mich, als ich Constantinopel verlasse und meinen Freund Haiin, der mir den Aufenthalt in San Stefano so angenehm gemacht hatte, und welchen ich leider nicht mehr wiedersehen sollte. Um 1 Uhr nachmittags besteige ich ein österreichisches Schiff, und um 21/2 Uhr nachts bin ich in Warna. Wo der Bosporus ins Schwarze Meer hineinläuft, liegen die Küsten Europas und Asiens gleich trostlos-düster da, und nur kleine Festungen und einige Fischerhütten zeigen sich dem Blicke. Kanonen, Jammergestalten und menschenleere oder verwüstete, einst aber blühende Niederlassungen — sie eben bilden ja das Wahrzeichen der Türkei. Der von Warna abgehende Zug durchschneidet ein sumpfiges, zwischen Kalkbergen hinlaufendes Thal. Die Bebauung ist eine sehr waldursprüngliche, und ein unförmlicher, durch acht Ochsen gezogener Pflug wendet das Brachland um. Lilafarbene Baumwollenlappen hüllen die Frau ein, welche das Gespann lenkt, und der den Pflugsterz haltende Mann ist nach türkischer Weise gekleidet. In dieser ganzen Gegend, bis nach der Do-brudscha hin, machen die Türken ja den Hauptbestand-theil der Bevölkerung aus. Die Getreidefelder nehmen nur einen kleinen Theil des Bodens ein, und man sieht überall grosse Weiden, auf denen Pferde, Büffel und langhörnige Hausochsen herumschweifen. Lehmhütten mit Dächern aus Schilfrohr dienen den Bauern als Behausung, und die Höfe — der Aufenthaltsort für die Kälber und das Geflügel — werden durch ein Flechtwerk aus trockenen Reisern eingezäunt. Ost-Europa scheint lebende Hecken nicht zu kennen. Dieselben sind allerdings erst mehrere Jahre nach ihrer Anpflanzung stark genug, um als Einfriedigung dienen zu können, und es fehlt hier eben an einem Schaffen, welches Saaten in die Zukunft streut. Die mangelnde Sicherheit ertödtet ja das Bestreben, es besser werden zu lassen. Prawady ist eine kleine Stadt mit drei Moscheen, in welcher man, wie in Warna, viele Moslims antrifft. Hinter derselben nehmen die das Thal einschliessenden Kalkberge seltsame Formen an. Allmählich steigende, mit Sträuchern bestandene Abhänge werden nämlich durch senkrecht-steile Erhebungen gekrönt, welche das Aussehen von Festungsmauern haben, und es ruft dieser Anblick die Erinnerung an den sächsischen Königstein wach. Die Wiesen sind noch nicht gemäht, und das hohe Gras spricht für einen trefflichen Boden. Der Rand des Weges wird aber durch die in üppigster Fülle spriessenden rothen, blauen und gelben Schmetterlingsblumen geschmückt. Wäre man auf eine verbesserte Viehzucht bedacht, und würden die Esparsette und die Luzerne als Futter Verwendung finden, so könnte das Land sich Reichthümer sammeln. Der Weg führt auch an türkischen Kirchhöfen vorüber, deren weisse Steine am Boden liegen; doch was ist das ganze Morgenland wohl anders als ein ungeheuerer Kirchhof? Hat man Ischiklar im Rücken, so geht's durch eine ausgedehnte Holzung, die aber fast nur Buschwerk enthält, und von einigen grossblätterigen Linden, welche überhaupt selten vorkommen, abgesehen, sind alle alten Bäume weggehauen worden. Das nun heranschimmernde Rasgrad ist eine ziemlich wichtige Stadt. Dieselbe hat eine vorherrschend mohammedanische Bevölkerung, und die in ihrer Umgebung sich zeigenden Roggenfelder gehören im Morgenlande zu den seltenen Erscheinungen. Bewundernd ruht jetzt mein Blick auf der majestätisch dahinfliessenden Donau, welche bieiter als der Bosporus ist und von Seeschiffen mit vollen Segeln stromaufwärts befahren wird. Auf röthlichen, am Ufer sich erhebenden Hügeln liegt Rustschuk, und von hier aus bringt ein kleiner Dampfer mich nach Giurgewo, woselbst ich den Eilzug besteige. Dieses Giurgewo besteht aus niedrigen, einstöckigen Häusern, wie man sie wohl in einem ungarischen Dorfe antrifft. Dieselben sind aber sauber ge-weisst und gut erhalten, und nirgends sehe ich Ruinen. Die Thatsache, dass man nicht mehr auf türkischem Boden weilt, macht auch sofort sich fühlbar. Ja, wie so ganz anders war's doch in Stambul! Die rumänischen Begü-terungen, an denen ich auf dem Wege nach Bukarest vorbeikomme, sind besser bewirthschaftet als die zwischen Warna und der Donau liegenden. Es ist nicht so viel Land unangebaut geblieben, und das bestellte hat man bedeutend besser bearbeitet. Die auf den Feldern beschäftigten Männer tragen einen Anzug aus weissem Wollenstoffe und eine Mütze aus Hammelfell, den Kai- pack, und die Frauen haben über ihr langes hemdartiges Kleidungsstück eine hellfarbige Schürze gebunden. Hier und dort zeigen sich nun auch schöne Baumgruppen. In der Türkei schaut man nach Derartigem vergebens aus, weil die Leute dort eben nur daran denken, alles in klingende Münze umzusetzen. Bei meiner Ankunft in dem nicht übervölkerten Bukarest empfangen mich sehr angenehme Eindrücke. Abgesehen von den Hauptstrassen — eine derselben, die »Calea Mogochoi«, heisst seit der Einnahme Plewnas die »Siegesstrasse« — haben die Häuser nur ein Stockwerk und stossen nicht dicht an einander. Eine grosse Thüre führt in den Garten hinein, und hier liegen die Nebenräume und die — häufig durch einen überdeckten Gang mit der Wohnung verbundene — Küche. Wer von einem Thurme aus die Stadt betrachtet, sieht auf ein Meer von Bäumen hinab, welches Dächer umwogt, und es erinnert dieser Anblick an das vom Kreml aus überschaute Moskau. Im Mittelpunkte jedoch, woselbst der Baugrund theuer ist, werden bereits ebenso hohe Häuser wie in Paris aufgebaut. Das vortreffliche, eigen und selbst elegant eingerichtete »Grand-Hotel« stellt gewaltige Preise, und den fabelhaft billigen Lebensmitteln gegenüber erscheint dies um so wunderbarer. Ein Puter kostet zwei Franken, ein Haushuhn halb so viel, eine Hammelkeule zwei Franken, und die vielen Fische, welche die Donau liefert, sind sehr billig zu erstehen. Von den vortrefflichen Landweinen bekommt man aber für 20 bis 30 Centimes einen Liter. In Italien und Spanien wurden von Schweizern Gasthaus-Pensionate eingerichtet, woselbst man zu massigen Preisen behaglich leben kann, und ich wundere mich darüber, dass dies nicht auch hier geschehen ist. Mein erster Besuch gilt dem englischen Gesandten, William White, für den Lord Edmund Fitz-Maurice mir ein Empfehlungsschreiben des Auswärtigen Amtes mitgegeben hatte. Der Vertreter des Inselreiches, welcher mich in überaus herzlicher Weise empfängt, ist ein Mann voll sprudelnden Witzes, ein Freund der freisinnigen Sache und eine mit den Verhältnissen Rumäniens gründlichst vertraute Persönlichkeit. Er wollte mich sofort zum Ministerpräsidenten Bratiano führen. Durch einen Sturz hatte dieser sich jedoch schwer verletzt, und von den Aerzten war ihm, wie sein Sohn uns sagte, Ruhe anempfohlen worden. Wir nehmen nun den Thee bei dem Minister des Auswärtigen, Demeter Sturdza, ein, welcher zu den hervorragendsten Männern seines Landes gehört. Bei seiner Gemahlin ist ein »Salon«, ein wirklicher Salon zu finden, und derselbe erinnert mich an den der Frau Minghetti in Rom. Frau Sturdza, welcher die Eigenschaften des Herzens und die des Geistes in gleichem Maasse eigen sind, hat eine metallhelle und an-muthend berührende Stimme und besitzt die Gabe, zu unterhalten, und die noch seltenere, zum Sprechen anzuregen. Die von ihr beseelte Unterhaltung dreht sich um interessante Gegenstände und steht weit über den gewöhnlichen Gemeinplätzen, ohne doch je von der Blaustrümpfelei oder der Schulmeisterei angekränkelt zu werden. Königin Elisabeth — Carmen Sylva — hat sich zu den Ihrigen nach Neuwied begeben, und ich kann sie also leider nicht sehen. Frau Sturdza aber spricht viel und begeistert von ihr. Sie schildert die Königin als eine Frau, welche über das Durchschnittsmaass der Menschheit weit emporragt und nicht an irdischen Gütern hängt, sondern in einer idealen Welt lebt. Sie nennt Carmen Sylva eine Freundin der Natur, der Dichtkunst, der Musik, der Malerei und aller anderen Künste, eine hingebende Freundin Rumäniens und der Rumänen und eine Hauptstütze der Armen und Elenden. Die Königin tritt auch für den Hausfleiss in die Schranken und legt im Sommer, während ihres Aufenthaltes auf dem — bei Sinaja — am Fusse der Karpaten romantisch sich erhebenden Schlosse Pelesch, sammt ihren Hofdamen die Landestracht an. Das Gewand einer rumänischen Frau erinnert aber durch seinen schönen Faltenwurf ans Alterthum, und reizende Stickereien schmücken es. Dem heimischen Gewerbe möchte man nun gerne möglichst weite Kreise öffnen, und deshalb ist unter dem Schutze der Königin ein besonderer Verein zusammengetreten, welcher in einem Laden der Siegesstrasse wundervolle Sachen ausstellt. Während meines Aufenthaltes in Bukarest weile ich fast an jedem Abende im Salon der Frau Sturdza, und die hier verlebten Stunden gehören zu den schönsten Erinnerungen, welche ich von meiner Reise heimbringe. Ueber die finanzielle Lage Rumäniens spricht Herr Sturdza mit lebhafter Befriedigung. Die Rumänen haben sich, gleich den Italienern, in ein »Pareggio«, ein Gleichgewicht, hineingearbeitet, und sie ersparten sogar 60 Millionen Franken. Um das Beamtenwesen steht's trefflich, und der Staat kommt seinen Zahlungspflichten pünktlich nach. In einem Jahrzehnt hat eine beträchtliche Wandlung zum Bessern sich vollzogen. Frau Sturdza giebt mir die »Gedanken einer Königin«, welche so inhaltreiche, so kühne und so treffend niedergeschriebene Sätze enthalten, und die »Pelesch-Märchen aus Carmen Sylvas Königreich«. Sie überweist mir auch noch ein drittes Werk der königlichen Schriftstellerin, ein seltsam-ergreifendes deutsches Gedicht über den ewigen Juden, welches dem Räthsel des Menschendaseins bis nach den tiefsten Tiefen hin nachspürt. Carmen Sylva wandelt gerne in den wilden Thälern der Karpaten, hier, »Wo Urwald hohe Felsen krönt, Der Bergstrom wild zu Thale dröhnt, Und tausend Blumen blühen, Viel süsse Düfte sprühen, Da liegt, den schönsten Gärten gleich, Mein Königreich.« Im »Grand-Hotel« traf ich mit dem General Brial-mont, meinem Genossen von der Brüsseler Akademie, zusammen, welcher seit dem Hinscheiden Todtiebens sicherlich der grösste Befestigungskünstler Europas ist. Der König hatte ihn herberufen, um mit ihm über die Befestigung von Bukarest zu berathen, und es fanden aus diesem Anlasse tägliche Zusammenkünfte statt. General Brialmont spricht ganz begeistert von seinen Plänen und will Bukarest durch eine Reihe einzelner Forts mit beweglichen Panzerbatterien, wie die der Thurmschiffe, besser noch als Antwerpen befestigen. Der Schwerpunkt liegt darin, Geschütze und Mannschaften vollständiger zu sichern, denn die jetzigen Kugeln wirken eben so fürchterlich, dass sie nichtgedeckte Kanonen schnell unbrauchbar machen. Bukarest soll zu einem uneinnehmbaren verschanzten Lager werden, woselbst das rumänische Heer einer zehnfachen Uebermacht trotzen kann. Rumänien — mit Belgien verhält sich's ebenso — ist eine den kriegführenden Mächten geöffnete Durchgangsstelle. Es vermag seine Neutralität dem Stärkeren gegenüber nicht zu behaupten und muss demselben vielmehr die Thüre aufthun und sich mit ihm verbünden. Von einer Unabhängigkeit des Landes kann demnach keine Rede sein, und hier handelt es sich um die Deckung der Donau und in Belgien um die des Maasthaies-. Man hat behauptet, dass die Nachbarstaaten an solchen Plänen Anstoss nehmen müssen. Das glaube ich aber nicht, schloss General Brialmont seine Ausführungen. Der Verteidigungszustand der kleinen Länder ist ein ganz entschiedenes Friedenspfand, weil dieselben alsdann den Angriffen mächtiger Staaten weniger ausgesetzt sind. — Ich musste dem General beistimmen. Das schwache Rumänien bleibt eine Beute, nach der Russland wie Oesterreich die Hand ausstrecken werden; doch das vertheidigungsfähige stellt dem ehrgeizigen Begehren der Nachbarn und zugleich auch ihrem gegenseitigen Aneinanderprallen eine Schranke entgegen. In England wurde 1859 die Vereinigung der Walachei und Rumäniens durch Palmerston und Disraeli bekämpft und, wie heute, durch Gladstone und auch durch Lord Robert Cecil, den nunmehrigen Lord Salisbury, vertheidigt. Seine erste Rede über die Orientfrage haltend, erklärte Salisbury: »Unterstützt Europa die Ansprüche der Türkei, so bleiben die Fürstenthümer der Willkür der türkischen Regierung preisgegeben, welche die raubgierigste und gewaltthätigste aller Regierungen ist. Unter diesem Re-gimente müssen sie dann so lange schmachten, als der Halbmond sich zu halten vermag. Tritt aber der unvermeidliche Fall desselben ein, so würden andere Mächte diese Fürstenthümer als Beutestück betrachten und unter sich theilen. Meine Hoffnung geht jedoch dahin, dass das Unterhaus hier wie ein Freund der Freiheit handeln wird. Wir könnten in jenen Ländern das begründen helfen, was wir hochschätzen, was unser Glück, unsere Freiheit und unser Wohlsein ausmacht, und die günstige Gelegenheit, welche uns dies ermöglicht, kehrt vielleicht nie wieder.« Disraeli hat dem Redner den Vorwurf der Wolken-kuckucksheimerei gemacht. Wie sehr er aber im Unrechte und Salisbury im Rechte war, ist heute aus dem, was inzwischen sich vollzog, ersichtlich. Letzterer hatte für Rumänien gesprochen, und seine damaligen Worte passen nun genau auf die Vereinigung Bulgariens und Rumeliens. Würde ihm dies in Berlin erinnerlich gewesen sein, so hätte er nicht mitgeholfen, den Vertrag von San Stefano umzustossen. Jenseits der Donau gäbe es dann heute ein lebens- und vertheidigungsfähiges Staatswesen, ein zweites Rumänien, und gegenwärtige und künftige Wirrnisse wären damit vermieden worden. Zum Glücke scheint Lord Salisbury sich nun aber wieder dessen zu entsinnen, was Lord Robert Cecil 1854 gesprochen hat. König Leopold hatte die Güte gehabt, mir, um mich beim Könige Karl einzuführen, ein Empfehlungsschreiben mitzugeben, und der rumänische Herrscher empfängt mich in huldreichster Weise auf seinem nicht weit von Bukarest gelegenen Landsitze Cotroceni. Dieser hat sich aus einem Kloster entpuppt, dessen Kirche man noch antrifft, und Schloss Pelesch ist früher gleichfalls ein Kloster gewesen. König Karl trägt die Uniform und hat die straffe Haltung eines preussischen Officiers. Der schlanke, jung aussehende Mann mit den entschlossenen Bewegungen ist in jeder Hinsicht das, was man einen schönen Cavalier zu nennen pflegt. Begeistert spricht er von »seinem guten Bruder«, dem Könige Leopold, welcher sich seines berühmten Vaters würdig erweist, und als ich über den schönen, schattigen Park von Cotroceni bewundernd mich auslasse, entgegnet er: »Ja, Bäume liebe ich wirklich ganz unendlich. An ihnen fehlt's unseren fruchtbaren Ebenen, und ich sorge für ihre Anpflanzung, so viel es mir nur irgend möglich ist. Nicht einmal um Ausblicke zu bekommen, wollte ich in Pelesch welche niederschlagen lassen. Sie eben machen die Schönheit der Karpaten aus, und ich bin gerade heimgekehrt von einem Ausfluge nach fast unbekannten Theilen des Gebirges, woselbst ich in wirklichen Urwäldern herumstreifte. Wären Sie einige Tage früher gekommen, so hätten Sie mich begleiten müssen. Es waren herrliche Stunden, welche ich mitten in der von Menschenhänden unberührten Natur verlebte.« Die Judenfrage steht in Rumänien beständig auf der Tagesordnung, und der König sagte hierüber: »Der Westen sammt seinen Herren Schriftstellern lässt uns in dieser Hinsicht keine Gerechtigkeit widerfahren. Muss ich erst noch besonders versichern, dass mir kein Vor-urtheil gegen die Juden anklebt? Ich bin unlängst in Jassy gewesen, dessen Bevölkerung zu drei Vierteln aus Juden besteht, und nirgends hat man mich herzlicher bewillkommnet. Das Handelstalent der Juden erkenne ich unumwunden an, und für dasselbe habe ich auch einen Beweis ganz neuen Datums in Händen. Bei unseren letzten grossen Uebungen waren christliche Kaufleute mit den Lieferungen betraut worden, und als am ersten Tage die Lebensmittel eintrafen, hiess es: »Ja, ja, man kann ganz gut auch ohne diese Israeliten sich behelfen.« Doch schon am zweiten Tage kam alles verspätet an, und am dritten Tage war das ge-sammte Heer dem Verhungern nahe. In aller Eile musste ich mich nun an jüdische Lieferanten wenden, ohne welche auch die Russen während ihres letzten Feldzuges sehr viel mehr zu leiden gehabt hätten. Diese Juden waren stets mit allem versehen und konnten dem Officier eine Flasche Champagner und dem Gemeinen seinen gewöhnlichen billigen Tabak liefern. Sie sind klug, sparsam und sehr thätig; aber gerade durch diese trefflichen Eigenschaften werden sie uns auf wirthschaft-lichem Gebiete gefährlich. Man fürchtet hier — und es mag dahingestellt bleiben, ob mit Recht oder Unrecht — dass sie nach und nach den gesammten Bodenbesitz in ihre Hände bringen könnten.« Laveleye, Balkanländer. II. 20 Seine Aufgabe als Fürst eines verfassungsmässig zu regierenden Landes hat König Karl vollständig begriffen und durchgeführt, und er und seine Unterthanen kommen sehr gut dabei weg. Der Parlamentarismus liess hier, wie überall, gefährliche Wirren nnd schwierige Zustände emporkeimen. Steht aber der Herrscher, wie sich's gebührt, weit über diesen Ränken und Erbärmlichkeiten, ist er nach jeder Richtung hin um die wahren Interessen des Landes bemüht, dann bleibt seine Beliebtheit gewahrt, und das Volk muss getäuschte Hoffnungen sich selbst auf die Rechnung setzen. Weil Louis Philipp dies nicht einzusehen vermochte, hat er eben seine Krone verloren. Auch der König von Dänemark ver-schliesst sich der gleichen Einsicht und lebt deshalb mit seinem Volke, dem besten der Welt, in offenem Kriege. Nikolaus Xenopol, einer von den Redacteuren der freisinnig-fortschrittlichen Zeitung »Le Romanul«, bot sich mir in liebenswürdigster Weise als Führer für die Dauer meines hiesigen Aufenthaltes an. Er brachte mich auch zu dem inzwischen verstorbenen Kammerpräsidenten Rosetti, welcher einen ebenso bedeutenden wie berechtigten Einfluss besass, und über dessen — 1848 unternommene — Flucht Michelet in seinen »Legendes du Nord« trefflich berichtet. Als ich in Bukarest weilte, war Rosetti ein silberhaariger, aber noch sehr kräftiger Mann, und das dunkele Auge, welches durchdringend und fast hart in die Welt hineinschaute, offenbarte ein entschiedenes Wollen und einen lauteren Sinn. »Rumänien,« sagte er, »hat in seine Freiheiten ausgezeichnet sich hineingelebt. Es regiert sich selbst, und keine Fessel verkümmert ihm den Genuss der ausgedehntesten politischen Rechte. Unser staatliches Leben fliesst, Sie sehen's ja, friedlich — wie in Belgien — dahin, und es erheben sich keine anderen Stürme als solche, welche von den Parteien in der Kammer erregt werden; das Land ziehen dieselben aber nicht in Mitleidenschaft.« Ueber die zu häufige Neubesetzung der Ministersessel und den damit verbundenen Stellenwechsel habe ich auch hier klagen gehört. Neuerdings nahm das rumänische Parlament sich jedoch das ungarische zum Muster, und wie die Ungarn Tisza fesselten, so geschah's in Rumänien zum allseitigen Segen des Landes mit Bra-tiano. Die rumänische Verfassung gewährt den Bürgern unbedingteste Freiheit und stimmt fast wörtlich mit der belgischen überein. Da heisst's: »Vollständige Gleichheit vor dem Gesetze, Art. 10. — Keine Classenunterschiede, noch Vorrechte, Art. n. — Gewähr der persönlichen Freiheit, Art. 14. — Unverletzlichkeit des Hausrechtes, Art. 15. — Keine Con-fiscation und keine Todesstrafe, von dem Militär-Strafgesetzbuche abgesehen, Art. 16, 17. — Gewissens- und Religionsfreiheit, Art. 21. — Bürgerliche Acte gehören ausschliesslich in den Bereich der bürgerlichen Obrigkeit, Art. 22. — Unentgeltlicher und obligatorischer Elementarunterricht, Art. 23. — Vollständige Rede- und Pressfreiheit. Weder vorgängige Censur noch Genehmigung. Keine Präventivmaassregel. Die Pressvergehen unterliegen den Schwurgerichten, Art. 24. — Sicherung des Briefgeheimnisses, Art. 25. — Das Recht, sich friedlich und unbewaffnet zu versammeln, Art. 26. — Vereinsrecht, Art. 26. — Petitionsrecht, Art. 27. — Alle Macht geht vom Volke aus, Art. 31. — Die gesetzgebende Gewalt wird von den beiden erwählten Kammern und vom Könige ausgeübt, Art. 32. — Alle Steuern und die Civilliste bedürfen einer vorgängigen Abstimmung, Art. 108 b. 115. — Rechnungshof, Art. 116. — 20* Am 15. November ordnungsmässiger Zusammentritt der Kammern. Nur ein Mal während der Session können dieselben vertagt werden, Art. 95. — Eine Durchsicht der Verfassung muss von beiden Kammern genehmigt und von einem Kongresse der zwei wiedergewählten Körperschaften ausgeführt werden, und jeder Verände-rungsvorschlag geht nur durch, falls er zwei Drittel der Stimmen für sich hat, Art. 128. — Die Abgeordneten und Senatoren werden durch drei Wahlcollegien einberufen, in welche die Wähler je nach ihrem Vermögen getheilt sind. Wählen können alle Rumänen, die eine, wenn auch noch so geringe Steuer zahlen, und alle, welche ein gegebenes Bildungsmaass besitzen.« — Ich kenne keine freisinnigere Verfassung. Die Eintheilung in Wahlcollegien hat zwar einen willkürlichen Anstrich, erklärt sich aber vielleicht durch die noch beschränkte Zahl der Gebildeten und Politisch-Befähigten. Zu bedauern bleibt's, dass die Unabsetzbarkeit der Richter nirgends vorgesehen ist; ohne dieselbe vermag man eine vernünftige, allen ungebührlichen Einflüssen entzogene Gerechtigkeitspflege eben gar nicht durchzuführen. Vom Unterrichtsminister Aurelian bin ich zu einem Frühstücke eingeladen worden. Derselbe leitet die vor den Thoren der Hauptstadt liegende Ackerbauschule und ist der Verfasser des vortrefflichen Berichtes über Rumänien, welchen man 1867 zur Weltausstellung nach Paris schickte. Er hat auch mehrere andere Schriften herausgegeben, und die landwirthschaftlichen Verhältnisse seiner Heimath kennt er sehr genau. Die Acker-bauschule hat Klassenzimmer, Laboratorien und Stallungen, welche nichts zu wünschen übrig lassen. Man macht in ihr vergleichende Studien über die verschiedenen Arten der Koppelwirthschaft, und das System Norfolk und eine siebenjährige Wechsel wirthschaft sind am beliebtesten. Runkelrüben, Steckrüben, der Klee, die Luzerne und die Esparsette gedeihen vortrefflich, und man sollte nicht immer bloss Getreide anbauen, dessen Preis durch die Zufuhr aus Amerika und Indien niedergedrückt wird. Man thäte besser daran, alle Arten von Futterkräutern zu vervielfältigen, die Zahl der Thiere zu vermehren und die Rasse zu verbessern, und wäre damit, glaube ich, auf dem richtigen Wege, Rumänien wohlhabend zu machen. Die Ackerbauschule beschäftigt sich nicht genügend mit der Rinderzucht, und auf dieselbe sollte sie ihr Augenmerk doch gerade hauptsächlich richten. In den Baumschulen haben der Ailan-thus, die Linden, die Akazien und auch die Nadelhölzer ungeheuere Triebe. Bäume müsste man aber überall anpflanzen, und sie würden nicht nur zur Verschönerung des Landschaftsbildes beitragen, sondern auch im Sommer den Regen anlocken und im Winter den kalten Winden wehren. Traurig ist's, dass die Bauern aus Mangel an Holz genöthigt sind, Stroh oder den Mist der Thiere zu brennen, und es schmeckt das eben gar zu sehr nach morgenländischen Zuständen. Die 1864 erfolgte Freilassung der Bauern hat die Lage derselben, was ja auch für Russland zutrifft, verschlimmert. Früher setzte der Bauernstand sich zusammen aus den kleinen Besitzern, die in der Walachei »Mocheneni« und in der Moldau »Resechi« heissen, und welche Familiengemeinden bilden, und aus den zinspflichtigen Bauern, die das dem Staate, den Klöstern und Privatbesitzern gehörende Land bestellten. Diese zinspflichtigen Bauern hatten der herrschaftlichen Begüterung eine gewisse Anzahl von Arbeitstagen — Clavachi — zu widmen und mussten von den Roh-Erzeugnissen den zehnten Theil abliefern. Der Herr aber war verpflichtet, ihnen ein dem Umfange ihres Viehstandes an- gemessenes Stück Land zu überweisen, und sie besassen auch Anrechte an die Weide und den Wald, diesem einstigen Gemeindeeigenthume, das die Lehnsherren aber nach und nach an sich gebracht hatten. Das Freilassungsgesetz bewilligte den Bauern nun den dritten Theil des Bodens, und zwar in Parzellen, die 3 bis 6 Hektar gross waren und für steuerfrei erklärt wurden. Die neuen Besitzer sollten nur — im Laufe von 15 Jahren — eine Entschädigung zahlen, welche für jeden Hektar etwa 120 Franken betrug, und es war dies eben die vom Staate den früheren Eigenthümern zuertheilte Summe. Mehr als 400000 Familien sind auf diese Weise zu Be-güterungen gelangt.]) Doch deren Umfang wuchs früher im Verhältnisse zu den steigenden Hülfsmitteln, während er heute ein streng begrenzter ist. Mit Hülfe ihrer eigenen Begüterung vermögen die Bauern sich jetzt nicht durchzuschlagen, und der Mangel zwingt sie, bei den grossen Besitzern zu arbeiten. Jacob Samuelson berichtet in seinem »Rumänien« (1882), dass ein Drittel der Bauern alles abgetragen hat, und auf zwei Dritteln lastet also noch die 1864 entstandene Schuld. Hart ist's, dass die Bauern — gleich den früheren russischen Leibeigenen — Holz kaufen und Weidegeld zahlen müssen. Der Staat hat sich ausgedehnte Besitzungen vorbehalten, und es wurde schon oft der Vorschlag gemacht, diese Ländereien an die Bauern zu vertheilen. Man müsste dann aber auch für ein Heimstättegesetz sorgen, wie Bosnien, Serbien und mehrere amerikanische Staaten es besitzen, und welches jeder Bauernfamilie ein Haus und ein unpfändbares Stück Land sichert. Ueber derartige Ver- 1) Bei der ersten Vertheilung kamen in der Walachei durchschnittlich 3 Hektar auf jede von den 279684 Familien und in der Moldau 5 Hektar auf jede von den 127214 Familien, und diese 406898 Familien haben, meint man, den 8. Theil des Bodens erhalten. hältnisse geben Rudolph Meyer's »Heimstätten« eine sehr genaue Auskunft, und ein Heimstättegesetz würde auch dem in Rumänien so sehr gefürchteten »wucherischen Ankaufe der Semiten« eine Schranke ziehen. Die Besitzungen der Bauern sind wohl für unpfändbar erklärt worden, jedoch nur auf eine Dauer von 30 Jahren. Herr Aurelian meint, dass die Bauern es nicht nöthig hätten, sich gegen eine ungenügende Bezahlung als Arbeiter zu vermiethen, falls sie ihren eigenen Boden gründlicher ausnutzen würden. Er glaubt auch, dass sie auf dem Wege der ihnen so geläufigen gemeinschaftlichen Wirksamkeit das zu einem besseren landwirtschaftlichen Betriebe Nothwendige besorgen und sogar das von verschuldeten Besitzern zum Verkaufe ausgebotene Land erwerben könnten. Die Bewohner gewisser Gemeinden thun sich bereits zur Bewirtschaftung grosser Farmen zusammen. Sie vertheilen den Boden unter einander, und die Einzelnen steuern zum Pachtzinse in dem Maasse bei, als sie Land bebauen und Vieh zur Weide schicken; es kommt Derartiges den schottischen »Townships« ziemlich gleich. Die gemeinsame Weidenutzung ist wie in der Schweiz und im Jura anzutreffen. Die Heerden-besitzer schicken die Thiere zusammen nach den Wiesen, und die von ihnen gewählten Hirten haben sich mit dem Milchen und Buttern zu beschäftigen. Eine Thei-lung zwischen den Vereinigten erfolgt dann auf Grund des Umfanges und durchschnittlichen Ertrages ihrer Heerden. In Tocilesco's trefflicher, vergleichender Studie über das Erbzinsgut ist von den Ackerbaugemeinden der Re-sechis die Rede, und der Verfasser leitet deren Ursprung bis auf die Veteranen zurück, welche von den Fürsten — nach dem Vorbilde römischer Kaiser — für militärische Dienste belohnt wurden. Bis in die Gegenwart hinein haben die Resechis den gemeinsamen Grundbesitz sich bewahrt. Sie stehen rechtlich wie eine Person da und werden auch vom Gesetz als solche anerkannt. Der Artikel 8 der Processordnung lautet folgendermaassen: »Die Gesammtheit der Mosnenis (cetele de mosneni oder obstea resecilor) wird durch eine einzige Vorladung nach der Gerichtsstelle berufen.« Mit der gleichen Sache beschäftigen sich auch die dem Jahre 1849 entstammenden Rundschreiben des Justizministeriums der Walachei, No. 2579 und No. 2581, und man findet das Betreffende in der Brailoin'schen Gesetzsammlung: Legiurea Cara-gea, u. s. w., 2. Ausgabe, Bukarest, 1865 (S. 442). »Als Sachwalter rumänischer Staatsländereien habe ich 1875 Gelegenheit gehabt,« sagt Tocilesco, »sehr alte und höchst merkwürdige Documente durchzusehen, welche den mit dem Staate processirenden Resechis von Iwanesti (Bezirk Rakowa) gehörten. Die Schwierigkeit, bei den Resechis Erbschaftsangelegenheiten zu regeln, ist sprichwörtlich geworden. Man muss sich dabei mit dem Stammbaume jeder zur Resechie gehörenden Familie bekannt machen, und der läuft erst durch Jahrhunderte hin, ehe er auf den Vorfahren — Batranul, Mosiul — weist, welchem der Boden ursprünglich zuertheilt wurde. Sehr zahlreich sind die Resechis im Bereiche von Va-Sloni. Stephan der Grosse schenkte denselben — nach dem über die Türken erfochtenen denkwürdigen Siege im Thale von Rakowa — sehr viel Land, und hier stammen auch Helden des Jahres 1877, Sieger von Gri-witza, bei der Belagerung von Plewna, her.« Kein Theil Europas bietet der Landwirthschaft ein so günstiges Arbeitsfeld wie gerade Rumänien, das sich, gleich der Lombardei, in einen grossen Garten verwandeln liesse. Die im Norden wie eine hohe Mauer sich erhebenden Karpathen vertreten die Stelle der Alpen, und die Donau, welche die vielen von dort herankommenden Flüsse aufnimmt, könnte man als den rumänischen Po bezeichnen. Am Fusse der Karpathen zieht in der Richtung von Osten nach Westen eine Reihe von Hügeln sich hin, die ganz allmählich in die grosse Donauebene übergehen. Diese hat einen gelblichen, sehr fruchtbaren Lehmboden und nach dem Flusse zu eine Schicht von jener berühmten Schwarzerde, welche den Reichthum Süd-Russlands ausmacht. In dem Winkel, den die Donau vor ihrem Eintritte ins Schwarze Meer bildet, kommt das Land nach seinem Bodenwerthe den Niederungen Venetiens gleich, kann aber nichts von dem aufweisen, was zwischen Padua und den Lagunen des Menschen Fleiss geschaffen hat; es ist vielmehr eine grosse, menschenleere Steppe, der Baragan. Das einzige Uebel, womit die Natur dieses prächtige Stück Erde bedacht hat, liegt in der offenen Ostgrenze. Ueber dieselbe dringt der aus den Steppen Russlands kommende Wind herein, welcher von den 365 Tagen des Jahres 155 andauert. Er bringt Kälte und Trockenheit ins Land, und kein noch so dichter Waldbestand vermag gegen seine schlimmen Wirkungen ausreichend zu schützen. Die Niederung scheint durch die Beschaffenheit ihrer Erdoberfläche darauf hinzudeuten, dass sie durch Anschwemmungen und Ablagerungen aus dem Meeresboden emporgewachsen ist. An den Abhängen der Karpathen herrschen die tertiären Schichten vor, und die Gipfel des Gebirges sind Sekundärfelsen und besonders Kalksteinerde, woraus man einen schönen Marmor und vorzügliche Bausteine gewinnen könnte. In der Ebene findet sich weder ein faustgrosser Stein noch der zur Herstellung von Wegen nöthige Kies. Auch der Holzbestand ist nur ein äusserst geringer, und es mangelt also ganz und gar an natürlichen Baustoffen. Zur Bereitung von Ziegelsteinen fehlt's wieder an den nöthigen Brennstoffen, und so hausen nun die Leute in Wohnstätten, welche sie aus Strauchwerk errichten und mit Lehm verkleiden. Sollte aber Rumänien — gleich der Lombardei — zu einem Garten Europa's werden, so müsste hier zunächst das geschehen, woran man in den Pothälern schon zur Römerzeit ging, was Virgil besang und Tacitus den Deutschen als Vernachlässigung vorwarf. Arthur Young erzählt in den Aufzeichnungen über seine Reise in Italien, dass er an einem Abende im Theater La Scala beim Anblicke der vielen schönen Damen und ihrer eleganten Anzüge und glänzenden Schmucksachen der Morgens besuchten Farmen gedacht und sich dabei gesagt hat: Der Ertrag der Kühe macht's möglich, solch einen Reichthum und Luxus zu entfalten. In der Lombardei sind alle Flüsse eingedämmt; sie bewässern in einem Netze von Kanälen das ganze Land und rufen dadurch Wunder der Fruchtbarkeit und einen ungeheueren Reichthum ins Leben. Allein die rumänischen Flüsse schaffen nur Schlimmes und nichts Gutes. Sie stellen der Benutzung der Landwege Hindernisse entgegen, unterwaschen ihre Ufer, reissen, über dieselben hinaustretend, fruchtbare Erde hinweg und bilden nach der Donau zu Sümpfe, die sich als Fieberherde erweisen. Zunächst wäre nun daran zu denken, wie unter Benutzung aller Hilfsmittel, welche die Neuzeit nur irgend zu gewähren vermag, der Lauf dieser Ströme sich regeln und nutzbar machen Hesse. Doch in engstem Zusammenhange mit den entsprechenden Aus- und Durchführungen stände natürlich die bereitwillige Fügsamkeit der Bauern, sich der neuen Sachlage gemäss einzurichten. Wie wohlthätig aber würden Wasser und Bäume in einem Bereiche wirken, wo 4 Monate hindurch, von einigen seltenen Stürmen abgesehen, kein Regen fällt und die Sonne mitleidslos auf alles niederbrennt! Rumänien umfasst — die Dobrudscha nicht- mitgerechnet — 12000000 Hektar, wovon 5708945 auf Felder und Wiesen und 2000000 auf Wiesen fallen, während der übrige Theil des Bodens wohl unbebaut, nicht aber unbebaubar ist. Nach Aurelians vortrefflichem Werke »Terra nostra« (Bukarest, 1880) und späteren ergänzenden Angaben Paul Dehns (»Deutschland im Orient«, 2. Theil) stellen die landwirthschaftlichen Erträge folgen-dermaassen sich dar: Hektar: Ernte in Durchschnittlicher Werth: Ausfuhr in Tonnen: Tonnen: Weizen . 559560, 895287, 221900Franken, 400000. Werth: Roggen . 110775, 110162, 8000000 „ 78in. Hafer und Gerste . 356894, 694823, 47000000 „ 413665. Mais . .1034775, 1855025, 150000000 „ 636831. Der Mais bildet die Hauptnahrung des Volkes, und die rumänische »Mamaliga« entspricht der italienischen »Polenta«. Der verhältnissmässig zahlreiche Viehstand umfasst 2557381 Stück Hornvieh — darunter 111943 Büffel — 1053403 Schweine und 4758366 Schafe und Ziegen. Ausgeführt werden nur Schweine und Schafe, und zwar 275062 Stück. Diese Ausfuhr stellt einen Werth von ungefähr 10 Millionen Franken dar, und dazu kommen durchschnittlich noch 6 Millionen für Wolle. Am Fusse der Karpathen, da, wo die Hügel hinlaufen, nimmt die trefflich gedeihende Rebe einen Raum von etwa 100000 Hektar ein und liefert 500000 bis 1000000 Hektoliter. Die Weine von Delu Mare und Dragaschani, in der Walachei, und die von Odobesci und Cotnar, in der Moldau, sind gut und billig, und im »Grand-Hotel« zu Bukarest habe ich einen ausgezeichneten Dragaschanier getrunken. Doch der Weinhau und besonders die Weinbereitung sind grosser Verbesserungen bedürftig. Obstbäume jeder Art, Aprikosen, Pfirsiche, und hauptsächlich Kirschen gedeihen vortrefflich, und die Bauern sollten ihre Hütten mit einer Obstpflanzung umgeben. Sie würden sich hierdurch ein erhöhtes Einkommen und ausserdem eine angenehme und gesunde Nachkost verschaffen. Um es dahin zu bringen, müssten sie allerdings einer Arbeit sich unterziehen, deren Früchte erst im Laufe einiger Jahre geerntet werden könnten, und man pflegt hier eben nicht Saaten in die Zukunft zu streuen. Es geschieht bloss, was Vater und Grossvater gethan haben, und nichts weiter. Im Bereiche der Hügel und in der ganzen Moldau sind jedoch viele Pflaumenbäume anzutreffen, und aus deren blauen Früchten wird ein leider nur zu viel und zu häufig getrunkener Branntwein — »Tzonica« — bereitet. Besserungen auf landwirthschaftlichem Gebiete hindert auch Fürst Schlendrian. Bei der Art, wie man's hier treibt, müsste allerdings jedes andere Land und selbst der weite amerikanische Westen gleichfalls gründlichst geschädigt werden. In der Walachei bewirth-schaften die Besitzer, von einigen grossen Bojaren oder von Griechen abgesehen, ihre Güter nicht selbst, sondern übergeben sie Pächtern oder Zwischenhändlern. Diese verpachten nun ihrerseits kleinere Stücke an die Bauern und haben gar kein Betriebskapital, sondern nur in vereinzelten Fällen einige Karren oder Dampfdreschmaschinen, die sie ihren Afterpächtern für einen vereinbarten Preis überlassen. Letztere bebauen ihre Pachtung, deren Erzeugnisse sie zur Hälfte für sich zurückbehalten, und ausserdem das ihnen bei ihrer bürgerlichen Gleichstellung zuertheilte Stück Land. Ueber ein Betriebskapital verfügen sie natürlich auch nicht, und nach Ab- zug des ihnen zukommenden Antheiles schaffen sie die Ernte nach einem Stapelplatze oder Bahnhofe. Der Besitzer des Bodens hat seine Anrechte gegen Zahlung einer bestimmten, dem durchschnittlichen Ertrage entsprechenden Summe den Zwischenhändlern abgetreten. Doch er schwebt fast immer in Geldverlegenheiten, weil ihn Ausgaben in Bukarest quälen, oder weil er reisen oder spielen will. Um nur die ihm so nothwendigen Vorschüsse zu bekommen, geht er nun in seinen Forderungen an die Zwischenhändler herunter, wobei Gutsbesitzer und Bauer natürlich in gleicher Weise ausgebeutet werden. Keinem fällt es aber ein, an den armen Boden zu denken. Derselbe wird mitleidslos ausgesogen und muss das über sich ergehen lassen, was Liebig die »Raub-cultur« nennt, indem man immer nur von ihm nimmt, ohne ihm je etwas zu geben. Von dem schwerfälligen hölzernen Pfluge, welcher sich seit den Zeiten Trajans nicht verändert hat, wird die Erde nur oberflächlich aufgerissen, nicht aber regelmässig durcharbeitet, und die auf Klumpen fallende Aussaat wächst zwischen allem möglichen Unkraute auf. Das Getreide steht immer niedrig und ist so schlecht, dass es billiger als das aus Amerika kommende verkauft wird und mitunter überhaupt keine Abnehmer findet. Gedüngt wird der Boden nie. Das Stroh verbrennt man entweder auf dem Felde selbst oder in der Feuerungsstelle der Dampfdreschmaschinen, und auch der grosse Misthaufen, welcher dicht bei Bukarest sich aufthürmt und von den in der Hauptstadt unterhaltenen Pferden herrührt, wird, so bald er trocken ist, ins Feuer geworfen. Ein solches Verfahren muss man aber als ein Verbrechen gegen die Natur und die Menschheit bezeichnen. Wollten die Leute auch schon die unrichtige Schlussfolgerung ziehen, dass näm- _ 3x8 - lieh das Getreide keinen Dung braucht, so könnten sie doch mit jenen verschleuderten Stoffen Nutzpflanzen, wie Tabak, Hanf, Cichorie, Hopfen u. s. w., erziehen, deren Werth den Preis des Bodens ums Zwei- oder Dreifache übersteigen würde. Nach der Ernte bleibt das Feld der Weidenutzung überlassen, bis die Decke, welche die Natur ihm gegeben hat, genügend ist, um die Düngung zu ersetzen. Dabei muss schliesslich aber auch der reichste Boden seine Kräfte verlieren, besonders wenn man ihn, um den gesteigerten Bedürfnissen einer anwachsenden Bevölkerung zu genügen, in kürzeren Zwischenräumen bebaut. Stalldünger hat der Bauer nicht, da sein Vieh in gar keine Ställe kommt, sondern während des Sommers und Winters im Freien bleibt; nur in seltenen Ausnahmefällen führt man einen ganz leichten Schuppen für dasselbe auf. Dabei ist das Klima rauh und unterliegt, wie im südlichen Russland, grossen Schwankungen: im Sommer hat man wohl 30 bis 40 Grad über und im Winter 25 bis 30 Grad unter Null. Ein unendlich kläglicher Anblick ist's, im Januar und Februar diese Kühe und Pferde dicht an einander gedrängt und vom Schneegestöber gepeitscht und halb vergraben zu sehen. Bisweilen werden ihre Reihen ja auch durch Kälte und Hunger gelichtet. Futterkräuter giebt's nur wenige, und diese schönen, kunstvoll aufgerichteten Heuschober, welche in anderen Ländern dem Vieh saftige Mahlzeiten versprechen, wird man hier vergebens suchen. Die armen Thiere müssen sich im Winter mit dem Stroh begnügen, das sie aus dem Schnee hervorscharren oder aus dem nächsten Misthaufen ziehen. Unter diesen Verhältnissen liefern sie natürlich so gut wie gar keine Erträge; von der Butter kann kaum die Rede sein, da die Kühe immer mager und am Ende des Winters weiter nichts als Scelette sind. Der Ochse ist sehr gesucht, allein als Zugthier mehr wie als Schlachtvieh. Man holt ihn aus Russland und schleppt dabei oft die Rinderpest ein. Das heimische Borstenvieh wird durch eine Art von Wildschwein vertreten, und diese Thiere haben wohl vortreffliches Fleisch, sind aber klein und leicht. Hammel von vorzüglicher Güte finden sich in den Karpathen und im Baragan, und die ziyayische Rasse liefert ein so ausgezeichnetes Fleisch, dass die Sultane ehemals kein anderes essen wollten. Was für einen Gewinn können diese Thiere jedoch abwerfen, da in Bukarest eine ganze Hammelkeule i V2 bis 2 Franken kostet? Die kleinen behenden Pferde ermüden nicht leicht, trotzen den Unbilden des Wetters und machen hinsichtlich des Futters keine grossen Ansprüche; sie sehen indessen wenig stattlich aus und haben deshalb keinen hohen Werth. In geringer Zahl werden sie nach Siebenbürgen ausgeführt. Aber aus Russland führt man wiederum eine bessere Rasse ein, und derselben gehören auch die schönen Pferde an, welche in Bukarest den Miethsfuhrwerken vorgespannt sind. Früher lautete, wie der Geschichtsschreiber Demetrius Cantemir berichtet, ein türkisches Sprichwort folgendermaassen: »Nichts geht über ein moldauisches Pferd.« — In Rumänien, wie in gewissen Theilen Süd-Italiens, hält man es noch mit der periodischen Heerdenwanderung, der spanischen »Mesta«. Für die Dauer des Sommers werden die Thiere in den Karpathen untergebracht, um sich hier an den saftigen Bergkräutern laben zu können, und während des Winters müssen sie in der Ebene verweilen. Macedonische Zinzaren kommen bis nach Rumänien, um daselbst mageres Hornvieh zu kaufen. Sie mästen es auf den der Bewässerung unterworfenen fetten Wiesen, welche am Ufer der Donau liegen, und schlachten es alsdann. Das getrocknete Fleisch aber, die »Pastrama«, und die getrockneten Donaufische bilden die am meisten beliebte Zukost zum Maisbrei, zur »Mamaliga«. Da in Rumänien der Maulbeerbaum dem Winter Stand hält, haben seine Bewohner auch seit undenklichen Zeiten mit der Zucht der Seidenraupe und der Herstellung von Seidenzeugen sich beschäftigt. Vorübergehend wurden sogar einmal die Eier des kostbaren Thieres nach dem Abendlande ausgeführt; doch durch Fälschungen und durch die Marktplätze Japans ist jenem Handel ein Ende gemacht worden. 100 Kilogramm Weizen bezahlt man hier mit 18 bis 20 Franken, und welch eine Einnahme lässt demnach von einer so schlecht bebauten Erde sich erzielen? Der gewaltige Unterschied zwischen den Preisen an Ort und Stelle und denen des Ankunftspunktes ist indessen nicht allein der hohen Schiffsfracht auf die Rechnung zu setzen, welche von Braila nach London oder Havre 20 bis 30 und von New-York nach den selbigen Häfen nur 10 oder sogar bloss 5 Franken für die Tonne ausmacht. Dabei haben eben auch noch die Zwischenhändler, Lieferanten, Kaufleute und Spekulanten die Hand im Spiele. Falls aber Rumänien nicht besseres Getreide zu liefern vermag, wird der amerikanische Handel ihm die Häfen des Westens verschliessen. Einige grosse Begüterungen, deren Bewirthschaftung die eigenen Besitzer leiten, zeigen jedoch, was dieses vom Himmel gesegnete Stück Land hervorzubringen im Stande ist — prächtiges Getreide, Schafe englischer Rasse, welche ebenso fett und schön wie die in ihrer Heimath sind, hübsche ungarische Pferde und Früchte aller Art. Ja, die Grundbesitzer könnten Rumänien zu einem Paradiese machen. Doch das Land leidet an einem schlimmen Uebel, das furchtbarer noch als die Türkenherrschaft wirkt, an der Reisewuth, für welche verhängnissvolle Erscheinung sich aber — was man bedauernd zugeben muss — nur zu leicht eine Erklärung findet. Dieses Nieder-Rumänien macht einen unbeschreiblich trostlosen Eindruck. Man sieht nichts Grünes, keine Bäume, keine Wiesen, und im Winter breitet eine weite, öde Eisfläche sich hin und im Sommer eine von staubigen Wegen durchzogene Steppe, welcher die aufwirbelnden Staubwolken eine gelbe Färbung geben. Der Anblick der Dörfer thut dem Volks wirthschafts-lehrer, dem Menschenfreunde und dem Künstler wehe. Ersterer vermisst alles, was auf einen geregelten wirth-schaftlichen Betrieb hindeutet, und schaut nach den Spuren aufgespeicherter Kapitalien vergebens sich um. Es fehlt an Wirthschaftsgebäuden, selbst an Brennholz, und nur Arbeits Werkzeuge schlechtester Sorte und einige wenige Vorräthe sind anzutreffen. Der Menschenfreund aber erschrickt über diese elenden Behausungen, welche — eine Folge langer Unterdrückung und weitgehendster Ausbeutung der Kleinen von Seiten der Grossen — als ein Bild äussersten Mangels sich darthun. Sie sind aus Lehm und Strauchwerk errichtet und bisweilen zur Hälfte in den Boden hineingegraben, in welchem Falle sie wenigstens im Winter einen warmen und im Sommer einen kühlen Aufenthaltsort bilden. Nachdem der Raum, auf welchem die Hütte sich erheben soll, wie eine Art von Keller ausgegraben ist, zündet man daselbst ein grosses Strohfeuer an. Der Lehm verhärtet sich beinahe backsteinartig und giebt eine trockene und feste Verkleidung ab. Ueber das Loch aber setzt man ein mit Stroh und Schilfrohr bedecktes leichtes Gebälk. Von einer Ausstattung kann fast gar nicht die Rede sein, und es finden sich nur einige Schemel und stets ein grosser, die Festkleider bergender Koffer vor. Einen Schornstein haben die meisten Hütten nicht, so dass der Rauch zu ■den Dachritzen hinausspazieren muss. Uebrigens hält Laveleye, Balkanländer. U. 21 man denselben für gesund und schreibt ihm fäulnissver-hütende Wirkungen zu, und seine Eigenschaft,- die In-secten zu vertreiben, ist jedenfalls sehr schätzenswerth. Wohlsein und Behagen zeigen sich hier nirgends, und diese Behausungen stehen noch hinter den Negerhütten Mittel-Afrikas zurück. So also leben sie, die der Sprache des römischen Volkes mächtigen Nachkommen derjenigen, welche Trajan ansiedelte, und dabei ist dieses fruchtbarste Land der Welt seit 17 Jahrhunderten beständig in den selbigen Händen gewesen! Durch das ewige Einerlei der Landschaft fühlt sodann das Auge des Künstlers sich verletzt. Der Boden, von den Maisfeldern abgesehen, ist gelb, und die Hütten mit ihren Lehmwänden sind es gleichfalls. Auch die Baumzweige, welche man vor den Behausungen angebracht hat, um sich gegen die Sonnengluth zu schützen, zeigen ein fahles Gelb, und nach einer glanzvollen, lebensfrohen Färbung wird man hier vergebens suchen. Gleich unerfreulichen Bildern bin ich nur noch auf den Ebenen Castiliens begegnet. Schatten, Wasser, ein anmuthender Umblick und der gesellige Verkehr sind für diese rumänischen Begüterungen unbekannte Dinge, und die schaffensfreudige Thätigkeit hat an der schablonenmässigen Ausnutzung des Bodens durch die Bauern eine Schranke. Und hier sollen gebildete Leute sich niederlassen? Da finden sie nur eine Wüste — allerdings eine mit fruchtbarem Boden —, eine glühend-heisse Sonne und ein Meer von Staub, und wie die Edelleute Süd-Italiens und Siciliens flüchten sie nach den Städten, Bädern und Spielhöllen. Die Rumänen kommen eben ihren Vorfahren, den Römern, und den meisten griechisch-lateinischen Völkern darin gleich, dass sie das Stadtleben bevorzugen. Auf den Gefilden Rumäniens ist aber noch alles zu erschaffen. Man müsste zunächst das ganze Landschaftsbild" umgestalten und zu diesem Zwecke für die Bewässerung, für Anpflanzungen, für einfache, aber menschenwürdige Häuser u. s. w. sorgen. Dies wäre jedoch überall gleichzeitig in Angriff zu nehmen, damit auch ein geselliger, nachbarlicher Verkehr — wie in England — sich ermöglichen liesse. Derselbe ist ja den Rumänen unentbehrlich, und besonders sind die umgänglichen rumänischen Frauen, nach Art der Pariserinnen, deren Tracht sie so gerne nachahmen, jeder Vereinsamung abhold. Als ich auf dem 500 Kilometer langen Wege von Galatz nach Vericorowa über diese gewaltigen kahlen und ausgedörrten Ebenen da-hinrollte, musste ich die Augen schliessen, um mich zu erfrischen. Da stiegen diese wundervollen Landschaftsbilder der Schweiz und Englands vor mir auf, welche nur der Hand des Menschen ihr Dasein verdanken, Tunbridge-Wells, Shere, Liesthal bei Basel, das Emmenthal, das Simmenthai. Erst in Gegenden, die freundlicher aussehen und wohnlicher geworden sind, wird der Eigenthümer sich niederlassen, und zur Erreichung solcher Ziele müsste man Capitalien flüssig machen. Auch eine Thätigkeit, welche den Gutsherrn und die Gutsherrin vollständig in Anspruch nimmt, ist durchaus erforderlich und von der Natur gleichsam vorgezeichnet. Man kann ja nichts Besseres und des Menschen Würdigeres sich angelegen sein lassen als das Bestreben, den eigenen Grund und Boden zu verwerthen und zu verschönern. Das thaten Römer aus dem Zeitalter der Republik, wie Cato, und Cicero erklärt, dass es »nichts Besseres, Einträglicheres, Angenehmeres, des freien Menschen Würdigeres als die Land wirthschaft« giebt — Nihil est agricultura melius, nihil uberius, nihil dulcius, nihil homine libero dignius, De Off., I, 42. Die schönen Worte, dass die Genüsse 21* dessen, der den Boden bestellt, fast denjenigen des Wersen gleich sind — Voluptates agricolarum mihi ad sapientis vitam proxime videntur accedere —, sollten die rumänischen Bojaren zum Wahlspruche sich nehmen. Auch Horaz verkündet das Lob des Landlebens und sagt: »Glücklich ist derjenige, welcher das väterliche Besitzthum mit eigenen Ochsen bewirthschaftet und durch keine Schulden gedrückt wird.« — Solutus omni faenore« (Epode II). Man befriedigt sich ja selbst und schafft zum Wohle des Vaterlandes, indem man einen ganzen Bezirk durch klug-sorgendes Walten umwandelt, und eine derartige Thätigkeit sollten der Staat und die öffentliche Meinung zu ehren und zu belohnen wissen. Doch es gehört Geld und wiederum Geld dazu, um gute Arbeitsgeräthe ankaufen, um mit einer besseren Viehzucht und überhaupt mit einer ganz anders geregelten Wirthschafts-führung sich befassen zu können. Ja, das Geld aber fehlt nun eben dem rumänischen Besitzer, auf welchen das Wort »Solutus omni faenore« keineswegs sich anwenden lässt. Er hat im Gegentheile mit seinen Schulden nur zu viel zu thun, und sein Einkommen pflegt er für gewöhnlich in Vorschüssen zu beziehen. Männer von Einfluss hätten's wohl in der Hand, zunächst auf die begüterten Classen einzuwirken, und entsprechende Beispiele sind auch bereits im ganzen Lande, und besonders in der Moldau, anzutreffen. Hunderte von Dreschmaschinen sollen schon hereingebracht worden sein, und die Zahl der englischen und amerikanischen Pflüge veranschlagt man auf mehr als 50000. Theilweise könnten die Fortschritte auf dem Gebiete der Landwirthschaft aber auch von den Bauern ausgehen. Diese hätten ihre Behausungen besser zu gestalten und mit Obstgärten zu umgeben und über- haupt für die Anpflanzung von Bäumen zu sorgen. Sie müssten ferner Ställe errichten, Futterkräuter anpflanzen und mit der Bereitung der stets gesuchten und theuer bezahlten Butter sich abgeben. Zunächst wäre es ihnen aber zum Bewusstsein zu bringen, dass ein menschenwürdiges Leben doch wohl nicht darin besteht, genug Mamaliga zu essen und in einer Höhle auf blosser Erde zu liegen. Hier könnten Lehrer und Popen segensreich wirken, und man müsste dieselben auf solch ein wirth-schaftliches Apostelthum vorbereiten. Die Freilassung der Bauern reicht ja nicht weiter als bis zum Jahre 1864 hinauf, und ein selbstständiges Vorgehen kann man von denselben also noch nicht verlangen. Ehemals waren sie, ohne eigentliche Sclaven oder adscripti gleba zu sein, zum Frondienste und zu Abgaben in Naturalien verpflichtet. Als ihnen dann bei ihrer Freilassung Land zuertheilt wurde, erhielten die, welche kein Vieh be-sassen, die kleinsten Parzellen, nämlich drei Hektar; wer aber zwei Ochsen hatte, bekam vier und wer über vier Ochsen verfügte, fünf bis sechs Hektar zugewiesen. In Flandern könnte auf einer Besitzung von diesem Umfange eine Familie sehr behaglich leben und dabei auch noch etwas zurücklegen. Butter, Fleisch, Flachs, Cichorie, Raps und frühreife Kartoffeln brächten dort ja eine Summe von 4000 bis 5000 Franken ein; doch bei der hier üblichen Wirtschaftsführung vermag eine Begüterung der bezeichneten Grösse eben kein genügendes Auskommen zu gewähren. Man hat die Zuckerrübe anzubauen versucht, und eine grosse Fabrik ist auf dem bei Bukarest gelegenen Schitilla aus den Mitteln des Besitzers, des Fürsten Bibesco, und denen des Hauses Cail, welches die Ausrüstung lieferte, gegründet worden. Eine zweite Fabrik wurde dann in Sascut er- richtet. Den erhofften Gewinn hat die Herstellung des Zuckers jedoch nicht gebracht, worüber man sich indessen keineswegs wundern darf. Die Preise sind ja um die Hälfte heruntergegangen, und überall haben die Gewerbe durch ungeheuere Billigkeit zu leiden. Hier sind die Zuckerfabriken wohl von gewissen Abgaben befreit, welche Vergünstigung aber wieder durch zwei Uebelstände aufgehoben wird. Zunächst schädigt die andauernde Trockenheit des Sommers das Wachsthum der Rüben mitunter recht empfindlich, und dann sind auch die Brennstoffe sehr theuer. Es mangelt an Holz, und die englische Kohle, deren Herbeischaffen jede Tonne mit 20 bis 30 Franken belastet, kostet drei Mal mehr als in Frankreich. Den grössten Theil des Zuckers bezieht man vom Auslande, und im Jahre 1882 wurden 7 646 000 Kilogramme eingeführt, von denen 5 236 000 aus Oesterreich-Ungarn kamen. Rumänien besitzt innerhalb des ganzen Bereiches der Karpathen die schönsten Wälder Europas und doch fehlt's ihm an Holz. Dem Bären nachjagend oder die Gipfel der Berge erklimmend, durchstreifte ich das Gebirge , und dabei stiess ich auf Fichten und Buchen, welche hoch und schlank wie die Pfeiler eines Domes emporragten, und auf dicke am Boden liegende Stämme. Als ich dann aber die Liste, auf der die eingeführten Artikel verzeichnet standen, in Händen hatte, starrte mir die Angabe, 15 Millionen für »Holz und Holzwaaren« entgegen. Derartiges hat seinen Grund darin, dass man in der Niederung die Bäume unbarmherzig ausmerzte, und dass die herrlichen Karpathenwälder eben unzugänglich sind. Dem Beispiele der Ungarn folgend, müsste man nun zunächst daran denken, Akazien anzupflanzen, welche in einem trockenen und fruchtbaren Boden vorzüglich gedeihen. In finanzieller Beziehung hat Rumänien aber wunderbare Fortschritte zu verzeichnen, und der Krieg, kann man im Hinblicke auf das letzte Jahrzehnt behaupten, welcher die anderen Völker schädigte, machte die Rumänen reich. Der für jedes Anlehen regelmässig gezahlte Zinsfuss stand nicht unter 10 bis 12 Procent. Aber 1873 wurde die erste rumänische Bodencredit-gesellschaft gegründet, und am Ende des Jahres 1883 hatte dieselbe für 91 Millionen Schuldscheine, theils zu sieben und theils zu fünf Procent, ausgegeben. Noch wesentlichere Dienste leistete die rumänische Landesbank, indem sie den heimischen Handel dem Machtbereiche fremder Geldleute entzog. Sie trat 1882 ins Leben und zwar mit einem Capitale von 80 Millionen Franken. Der Staat zahlte davon 12 Millionen ein und wurde somit Theilnehmer des Unternehmens. Diese Bank brachte den Wechselcurs auf sechs und selbst auf fünf Procent und setzte für 80 Millionen Schuldscheine in Umlauf. Zweiganstalten hat sie in den bedeutendsten Städten, in Braila, Jassy, Galatz, Krajowa. Die Einnahme des Staates erfuhr eine Verdoppelung, ohne dass dem Lande drückendere Lasten auferlegt wurden. Im Jahre 1871 gingen nur 66 und im Jahre 1882 schon 122 Millionen Franken ein. Der Tabak warf früher eine halbe Million ab, während er nun als Monopol 16 Millionen einbringt. Die Erträge aus dem Alkohol stiegen von 1V2 auf 7, die aus den Zöllen von 8 auf 16, die aus der Grundsteuer von 4 auf 8 Millionen Franken, und mit den weiteren Angaben ist's ebenso bestellt. Wunderbar nimmt es sich aus, dass Rumänien in diesem Zeitalter des allgemeinen Deficits einen Ueber-schuss in Händen hält. Ein sehr langes Leben dürfte diesem Mehr allerdings nicht beschieden sein, und man hat dafür bereits eine recht nutzbringende Verwerthung gefunden — man will ja nämlich Bukarest befestigen. Durch ein in jeder Hinsicht vortreffliches Eingreifen ist der Staat nach dem Falle Strousbergs in den Besitz der Eisenbahnen gelangt. Diese wurden ja zu einem von den Mitteln, durch welche die grossen Staaten die kleinen bändigen, und die Rumänen haben mithin eines schlimmen Vorwandes, der fremden Einflüssen Thür und Thor öffnet, sich entledigt. Dem Lande kann auch das Petroleum zu einer Quelle des Wohlstandes werden. Der am Südabhange der Karpathen liegende ölreiche Bezirk nimmt eine beträchtliche Raummasse ein, und man kennt seinen ganzen Umfang wohl nicht, hält ihn aber für eine Fortsetzung der Fundorte Galiziens und Ungarns. Die reichhaltigsten Quellen befinden sich in den Kreisen Prahowa, Dimbo-witza und Buzen. Noch hat man aber erst die oberen Schichten ausgebeutet, und die tiefste Bohrung ging nicht weiter als 240 Meter hinab; unten würden die Erträge, meint man, sehr viel voller und regelmässiger fliessen. Es werden, wie Paul Dehn berichtet, dessen Ausführungen ich meine Angaben entnommen habe, 2 Oel-arten gewonnen. Die eine, die »Pakura,« ist ziemlich dickflüssig, und die andere, die leichtere, heisst »Titei« und enthält 78 °|0 Lampenöl. Grosse Massen gehen nach Ungarn, und die Ausfuhr dorthin belief sich 1882 auf mehr als 14000 Tonnen. Die Gesammtheit dessen, was aus den Petroleumquellen an's Tageslicht befördert wird, schätzt man auf 30 000 Tonnen, und dem Hausgebrauche ist damit genügt. Im Jahre 1882 wurden nur 730 Tonnen eingeführt, wobei allerdings die hohen Eingangszölle nicht zu vergessen sind. Dieselben betragen für je 100 Kilogramm bei unbearbeitetem Petroleum 5 und bei gereinigtem 30 Franken. Dies genügt jedoch nicht, um sich die Gewinne zu sichern. Drei fremde Gesell- Schäften, eine österreichische bei Kolibaschi, eine deutsche bei Plojesti und dann auch noch eine englische, beuten die Petroleumquellen aus und sollen in 2 Jahren mehr als 4 Millionen Franken eingebuttert haben. Die österreichische Gesellschaft hat ihren Berechtigungsschein zu theuer bezahlen müssen, die deutsche wird zu kostspielig verwaltet, und die englische liegt zu weit von der Eisenbahn ab. An Petroleum fehlt's nicht; doch die Zufuhr aus Pennsylvanien und Baku drückt die Preise herunter, und Rumänien sollte sein Erdöl lieber für einen Zeitpunkt aufsparen, wo dasselbe anderswo zu versiegen beginnt. Die Salzbergwerke zu Slanic und Telega stehen nicht unter denen von Maros-Ujvai in Siebenbürgen und Wie-litzka in Galizien. Sie erscheinen wie unerschöpflich und sind leicht auszunutzen, und der Staat, in dessen Händen sie sich befinden, beschäftigt daselbst die zur Zwangsarbeit Verurtheilten. 21 916 Tonnen, im Werthe von mehr als einer Million Franken, wurden 1882 ausgeführt, und hiervon kamen nach Bulgarien 11 153 und nach Serbien 9098 Tonnen. Im Jahre 1883 ging der Zoll für eine Tonne auf 40 Franken herunter, und so ist der Salzausfuhr noch ein recht erweiterter Umfang gewiss. Um die Hauptquelle ihres Reichthums, die Land-wirthschaft, aufzubessern, fehlt's den Rumänen an Geld, und doch sind sie mit der Pflege einer Treibhauspflanze, des Fabrikwesens, beschäftigt. Im ganzen Ost- und Süd-Europa scheint man zu meinen, dass ein civilisirtes und glückliches Land durchaus im Besitze von Fabriken sich befinden muss. Sieht man denn nicht, dass die in den Werkstätten volkreicher Städte zusammengepferchten Arbeiter nothwendig schlecht wohnen müssen und überdies den Gefahren des Strikens und der Arbeitslosigkeit ausgesetzt sind? O fortunati nimium si sua bona norent agricolae! Man müsste sich darüber klar werden, dass das Capital nicht gleichzeitig an zwei Stellen zu arbeiten vermag. Wird es, künstlich und willkürlich, diesem oder jenem Zweige des Gewerbes zugeführt, so kann es eben nicht der Befruchtung des Bodens dienen. Zwei Tuchfabriken, eine in Neamtzu und die andere in Peatra, und eine grosse Papierfabrik in Bacan sind eröffnet worden. Jenen hat man jedoch die Lieferungen für die Truppen vorbehalten, und dieser sichert ein besonderes Gesetz die Berechtigung zu, alles von der Verwaltung verbrauchte Papier zu beschaffen. Papierliebend sind die Behörden hier nun aber fast ebenso wie im Westen. Ein Gewerbe gedeiht indessen nicht nur ohne staatliche Hilfe, sondern auch trotz drückender Abgaben, nämlich das des Brauers. Gambrinus herrscht ja im Norden und Süden, im Osten und Westen und überhaupt in der ganzen Welt. 27 Brauereien waren 1883 vorhanden, und doch führte man noch für fast 400000 Franken fremde Biere ein. Der Staat belegt jeden Hektoliter mit einer Abgabe von 20 Franken, und in Bukarest kommen noch 15 Franken als Thorsteuer hinzu, während man in Paris nur 22, in Wien 10, in München 3 und in Berlin i1^ Franken zahlt. Eine sehr bedeutende und bloss nicht hervortretende Rolle spielt der Hausfleiss. Auf dem Lande fertigen ja die Bauern fast alle ihre Möbel und Geräthe selbst an, und die Frauen sorgen für die Bekleidung der ganzen Familie. Was man aber den Geschäftsverkehr nennt, haben Fremde in Händen; die jungen Rumänen zogen es bis jetzt vor, für eine Stellung im Heere oder als Beamte sich zu entscheiden. Eine Zeit lang besassen Franzosen und Belgier das Bankmonopol, und durch sie wurden — 1879 — die rumänische Bank und — 1881 — der rumänische »Credit mobilier« und die rumänische Baugesellschaft gegründet. Französisches Geld rief ferner eine Gasgesellschaft, eine Gesellschaft für künstliche Basalte und andere minder wichtige Unternehmungen ins Leben. In den Donauhäfen, in Galatz und Braila, liegt der Einfuhrhandel, besonders aber die Getreideausfuhr, in den Händen von Engländern und Griechen, und eine englische Firma — »The Sulina Elevator Company« — hat am Flusse zum Einladen des Getreides eine Hebemaschine nach amerikanischem Muster aufgestellt. Engländer erbauten auch den die Dobrudscha durchschneidenden Schienenstrang Tschernawoda-Küstendsche und die Linie Rustschuk-Warna. Die Griechen spielen hier im Handelsleben eine sehr wichtige Rolle; ehemals stand Rumänien ganz unter dem Einflüsse des Fanars, und mehrere vornehme fanariotische Familien besitzen in diesem Lande noch ausgedehnte Be-güterungen. Als treffliche Kleinhändler erweisen sich hier, wie überall, die schlichten, haushälterischen Schweizer, welche den örtlichen Bedürfnissen durchaus gerecht zu werden wissen und auf geradestem Wege gute Geschäfte machen. Sehr zahlreich sind die Ungarn vertreten, und es stellen dieselben den grössten Theil der besten Dienerschaft. Köchinnen und Kutscher kommen aus Siebenbürgen, und unter den Maurern giebt's viele Italiener. Auf Deutsche aber stösst man in jedem Berufe. Unerhört ist's, dass die hauptsächlich ackerbautreibenden Rumänen nicht daran gedacht haben, ihre Hauptstadt mit Gemüse zu versorgen. Man hätte in Bukarest keinen Salat und keine Karotte, falls die Bulgaren nicht in jedem Jahre mit den Schwalben angezogen kämen, um sich dem Gemüsebau zu widmen; im Herbste kehren diese betriebsamen Leute dann mit gefüllten Taschen heim. Viel Wasser wird aber noch dem Meere zufliessen, ehe Rumänien anders wirtschaften gelernt hat. Die Frage, ob die Juden den Fremden beizuzählen sind, beantwortet die Gesetzgebung in bejahendem Sinne. Rechtlich stehen dieselben als solche da, wofern sie nicht die mit vielen Schwierigkeiten verknüpfte Naturalisation erlangt haben. Sie bilden indessen im ganzen Königreiche ein Zehntel, in der Moldau im Besondern ein Viertel und in Jassy sechs Zehntel der Bevölkerung, und ihre Anwesenheit macht dem Lande weit mehr zu schaffen, als man sich's im Westen vorstellt. Die Judenfrage nimmt hier eben alle Kreise in Anspruch, und ich höre Jeden darüber sich auslassen; der Wirth des Gasthauses, in dem ich abgestiegen bin, thut's ebenso wie die gesammte Stufenreihe bis hinauf zum Minister und zum Könige. Ich glaube demnach, darauf zurückkommen zu müssen. — Des Rechtes leitende Grundsätze, also Duldsamkeit und die Gleichberechtigung der Rassen, will Niemand in Frage stellen. »Aber können wir wohl,« sagte man zu mir, »ohne Furcht eine Ordnung der Dinge einreissen lassen, welche allen Besitz, die Güter, Häuser, Fabriken, Eisenbahnen, den Juden zuschiebt und uns Rumänen vollständig zu deren Schuldnern, Knechten, Arbeitern, Untergebenen macht?« Nun, im wirthschaftlichen Wettkampfe wird der Jude den Rumänen so sicher aufsaugen, wie die Spinne die Fliege in ihr Gewebe hineinzieht. Der Rumäne ist geistreich und eine glänzende Erscheinung, versteht sich aber wenig aufs Arbeiten und erst recht nicht aufs Sparen. Er schaut nie in die Zukunft, und um dem Begehren des Augenblickes zu fröhnen, macht er ohne weiteres Schulden. Der Bauer verkauft in der Schenke seine Ernte, weil er Branntwein haben möchte, und der Bojare verpfändet sein Gut, um nach Paris oder Meha-dia gehen zu können. Die Juden dagegen sind sparsam und vorsichtig und verfügen über diese Macht, welche in einem von verschuldeten Leuten bevölkerten Lande als unwiderstehlich sich erweist — über das baare Geld. Sie schauen stets nach einem guten Handel aus und bilden die Seele des geschäftlichen Lebens. Sie sind in jeder Hinsicht begabter als die anderen Rassen, in deren Mitte sie leben. In der ganzen Welt hat ja das jüdische Volk im Verhält-niss zu seiner Zahl ein Mehr von Denkern, Dichtern, Künstlern, Schriftstellern und besonders von Journalisten, — eine ungeheuere Ueberlegenheit in einer Zeit, wo die Presse nicht der vierte, sondern der erste Stand ist. Falls man den Kampf um's Dasein in keine Fesseln zu schnüren sich bemüht, muss der mit dieser Fassungskraft höherer Art ausgestattete Jude schliesslich doch siegen. Man thue Oel und Wasser in eine Flasche und schüttele und rühre, so viel man nur immer will. Es kommt doch keine Mischung heraus, und steht die Flasche wieder ruhig da, alsdann hat das Oel die Oberhand. So aber ist's um den Juden des Morgenlandes bestellt. Eine Betrachtung vom wirthschaftlichen Standpunkte aus kann ja kein Bedauern darüber aufkommen lassen, dass die schaffenstüchtigste Rasse auf den Platz einer solchen rückt, die aus leichterem Metalle geprägt ist. Aber andererseits erscheint es doch auch als vollständig natürlich, dass derjenige Theil, welcher ausgemerzt oder doch wenigstens herabgedrückt werden soll, nicht kampflos hierin sich fügt, sondern vielmehr an eine Vertheidigung denkt, und dies trifft für die Rumänen in ganz besonderer Weise zu. Den Bitten und Klagen der Juden gaben die Grossmächte Gehör, und auf dem Berliner Congresse wurde deshalb der rumänischen Regierung die Verpflichtung auferlegt, alle Unterthanen, ohne Unterschied des Glau- y bens, vor dem Gesetze als gleichberechtigt anzuerkennen. Im 21. Artikel der 1879 umgeänderten rumänischen Verfassung wird nun auch erklärt, dass »die Gewissensfreiheit bedingungslos ist,« und dem 7. Artikel zufolge »giebt in Rumänien der Unterschied des religiösen Glaubens und der Bekenntnisse kein Hinderniss ab für die Erwerbung und Ausübung bürgerlicher und politischer Rechte.« Mehr kann man wohl nicht verlangen, und die freiesten Verfassungen geben keine bessere Gewähr. Der hinkende Bote kommt aber schnell nach, und im 5. Abschnitte des selbigen 7. Artikels heisst's: »Nur Rumänen oder naturalisirte Rumänen können in Rumänien Landbesitz erwerben.« Die Naturalisation ist nun jedoch bloss nach »iojährigem Aufenthalte und einer dem Lande nützenden Thätigkeit« auf dem Wege des Gesetzes zu erlangen. Demnach können die Juden nicht plötzlich und unvermittelt, sondern nur nach und nach die rumänische Staatsangehörigkeit erwerben, und die Rumänen haben also Zeit, für diesen Kampf auf dem Gebiete des wirthschaftlichen Lebens sich vorzubereiten. Um hierbei aber nicht zu unterliegen, werden sie fleissiger schaffen müssen. Am 26. Januar 1884 hielt der Minister Bratiano eine Rede, bei welcher er folgendermaassen sich äusserte: »Wir sollten 2 Mal mehr arbeiten, als wir an Leistungen aufzuweisen haben, und wenigstens so viel hervorbringen wie die Fremden, mit denen wir im Wettkampfe stehen. Gladstone, der älter als 75 Jahre ist, arbeitet täglich 14 Stunden, und von seinen Beamten fordert er gleich viel. Wissen Sie, warum bei uns Jeder vom Staate angestellt werden möchte? Wir kümmern uns nicht um unsere Begüterungen und ziehen es vor, sie Zwischenhändlern zu übergeben, um in den Städten oder im Auslande ein vergnügliches Leben führen zu können. Un- sere Kaffeehäuser, unsere Casinos und unsere öffentlichen Gärten sind stets mit unbeschäftigten Gutsbesitzern und besonders mit Beamten angefüllt.« Als Rumänien auf dem Berliner Congresse durch Russland gezwungen wurde, einen Theil Bessarabiens abzutreten und dafür die Dobrudscha hinzunehmen, hat man in Bukarest nachdrücklichst sich gesträubt. Die werthvollen Dienste, welche die rumänischen Truppen den russischen bei Plewna geleistet hatten, wurden in recht befremdender Weise belohnt, und was dabei an Groll und Bitterkeit im Herzen der Rumänen sich einnistete, wird so bald nicht erlöschen. Doch es ist nicht zu leugnen, dass Rumänien durch den Tausch immerhin gewonnen hat. Während des Krimkrieges fanden viele Franzosen, die durch Fieber und andere Krankheiten dahingerafft wurden, in der Dobrudscha ihr Grab, und seitdem steht dieselbe in einem sehr schlechten Rufe. In Wirklichkeit ist sie aber besser als dieser. Auf ihren massig hohen Hügeln findet das Vieh eine geeignete Nahrung, und ihre fruchtbaren Thäler sind durchaus bebaubar. Dies lehren ja die deutschen Ansiedelungen in Kataloj, Atmadscha, Koscholak und Tanhri-Werdi. Dort giebt's schöne Dörfer, und deren trefflich bestellte Felder und gut erbaute und gut eingerichtete Häuser stechen scharf ab von den umliegenden Hütten der Bulgaren und Tartaren. In zwei Dritteln des Bezirks scheint man so ziemlich alles anbauen zu können, und auf den unteren Hängen der Hügel gedeiht besonders ein sehr guter Wein. Die Dobrudscha könnte mit Leichtigkeit eine halbe Million Menschen ernähren, und doch entvölkert sie sich ungeheuer schnell. Um dem Heeresdienste zu entgehen, wandern die Moslims fort, und die aus Ungarn herbeikommenden, rumänisch sprechenden Hirten, die Mokanen, genügen nicht, um den Wegzug zu decken; die Bevöl- kerung fiel von 250000 auf 170000 Seelen. Küstendsche am Schwarzen Meere ist aber doch bereits ein sehr besuchter Badeort und könnte leicht zu einem wichtigen Hafen umgeschaffen werden. Hiermit würde es dann zum Hauptstapelplatze Rumäniens heranwachsen, da es nie, was bei der Donau den Städten Galatz und Bra'ila gegenüber häufig vorkommt, durch Eismassen versperrt wird. In vielen Punkten, durch seine Liebe zur Freiheit, seine Gesetze, seine Staatsmänner und seinen Herrscher, gemahnt Rumänien mich an Belgien. Es umfasst aber nicht wie dieses 29451, sondern 129947 Quadratkilometer und hat nur 40 Einwohner auf je 100 Hektar. Seine Bevölkerung und Machtfülle kann demnach ums Drei-bis Vierfache sich steigern, wenn es auch fernerhin gut regiert wird. Um seiner Zukunft willen müsste es aber davon abstehen, seine Nachbarn zu beneiden und in fremde Staatshändel, von Zwecken der Selbstverteidigung abgesehen, sich zu mischen, und seine Sorge hätte hauptsächlich auf die Entwickelung der natürlichen Hilfsquellen bedacht zu sein. — Herr Aurelian führt mich nach einer Elementarschule, welche neben einer hübschen, neuen Kirche liegt und von einem gut angepflanzten Garten umgeben wird. Klassenzimmer und Lehrmittel sind so beschaffen, wie man sie in guten Schulen des Westens antrifft, und die Genauigkeit, mit welcher die Kinder ihre militärischen Uebungen ausführen, erinnert mich an die Schüler Berns. Diese jungen Rumänen sind wie Soldaten gekleidet, d. h. sie haben einen Anzug aus grauer Leinwand, einen rothen Gürtel und eine Astrachanmütze, und in der Hand tragen sie eine kleine hölzerne Flinte. Dem Heeresdienste arbeitet man durch solche Maassnahmen trefflich in die Hände. Herrn Aurelian verdanke ich auch eine genaue Ueber- sieht über den Stand des Elementarschulwesens aus der Zeit 1881 bis 1882, und ich führe Folgendes an: 2459 Landschulen — 74532 Schüler, 8544 Schülerinnen. 271 Stadtschulen — 23832 „ 12989 „ 119897 Schulkinder bei einer Bevölkerung von 5376000 Seelen bringen ungefähr auf je 44 Erwachsene immer einen Zögling, und das ist ungemein wenig. Als ganz besonders gering aber erweist sich die Zahl der auf dem Lande vorhandenen Schülerinnen, und in den skandinavischen Reichen ist's damit schon anders bestellt. Verhältnissmässig weit besuchter sind die höheren Anstalten, und hier stösst man auf folgende Angaben: 7 Lyceen — 160 Lehrer, 2108 Schüler; 19 Gymnasien — 180 Lehrer, 2098 Schüler; 9 Priesterseminare— 99 Lehrer, 1512 Schüler; 8 Volksschullehrerseminare — 85 Lehrer, 741 Schüler; 5 Handelsschulen — 56 Lehrer, 772 Schüler; 11 Gewerbeschulen und 1 Lehrerinnenseminar — 119 Lehrer, 1459 Schüler, bez. Schülerinnen, und 28 Fachschulen besonderer Art — 199 Lehrer, 2085 Schüler. An den beiden Universitäten — die eine ist in Bukarest und die andere in Jassy — wirken 87 Professoren, und 693 Studenten besuchen die Vorlesungen. Hierbei sind 4 junge Mädchen mit einbegriffen, von denen eine bei der Facultät für Literatur, Philosophie und Geschichte und eine bei der für Mathematik und Naturwissenschaften eingeschrieben ist, während 2 Medicin studiren. Die Unterrichtsverhältnisse gleichen denen Griechenlands; auch in Rumänien ist für die Bildung der höheren Klassen genügend, für die der unteren aber keineswegs ausreichend gesorgt, und besonders auf dem Lande bleibt in dieser Beziehung viel zu wünschen übrig. Früher war die finanzielle Lage Rumäniens eine sehr traurige, und der Staatsschatz hatte ungefähr die gleiche Fülle wie der in Constantinopel aufzuweisen. Jetzt kom- Laveleye, Balkanländer. II. 22 men oft Ueberschüsse vor, und das Budget des Jahres 1884 befindet sich im Gleichgewichte; die Eingänge betragen 125 Millionen und die Ausgaben ebenso viel. Die 619 Millionen Schulden können aber als keine zu drückende Last bezeichnet werden. 345 Millionen stecken übrigens in den dem Staate gehörenden Eisenbahnen, und es bleibt mithin nur eine eigentliche Schuldsumme von 274 Millionen. Das Münzsystem entspricht dem Frankreichs, und der Frank heisst in Rumänien »Leu«. Bei der Einrichtung des Heeres verfuhr man aber nach altem preus-sischen Grundsatze. Unter den Waffen stehen nur 18532 Mann, auf welche 2945 Pferde kommen; doch die zahlreichen und gut eingeübten Ersatzmannschaften ermöglichen es, 100000 Mann ins Feld zu bringen. König Karl kümmert sich sehr angelegentlich um militärische Dinge, und es gelang ihm, seinen Truppen diesen echt soldatischen Sinn und Geist einzuhauchen, welcher bei Plewna seine Bethätigung gefunden hat. — Der Stand des Aussenhandels in den Jahren 1870 und 1882 kennzeichnet sich durch folgende Ziffern: 1870, Einfuhr82 927 228, Ausfuhr 117682783 Franken; 1882, Einfuhr 268851921, Ausfuhr 244730199 Franken, und hierbei ist Oesterreich-Ungarn an der Einfuhr mit 134515000 und an der Ausfuhr mit 74706000 Franken betheiligt. Lavertujon, der französische Beauftragte in der europäischen Donau-Commission, hat mir über dieselbe sehr interessante Aufschlüsse gegeben. Mir nöthigt diese Einrichtung hohe Bewunderung ab, und ich sehe darin das erste Beispiel dessen, was künftig civilisirte Völker durch gemeinsames Wirken schaffen könnten, indem sie an ein der Gesammtheit nützendes Unternehmen gehen. So manches Treffliche wäre durchzuführen, falls man sich zusammenthäte, und es geschieht dies nur deshalb nicht, weil niemand dem anderen einen Vortheil gönnen A möchte. Die europäische Donau-Commission ist 1856 aus den Beschlüssen des Pariser Vertrages hervorgegangen. Dieser machte sie in feierlichster Weise zur Herrin des Flusses und ordnete überdies an, dass die Wasserstrasse in einen fahrbaren Zustand zu bringen sei. Die drei Hauptmündungen, für welche man seit dem Jahre 1828 nichts gethan hatte, waren fast gleichmässig versandet. Von den am Pariser Vertrage betheiligten Grossmächten wurden nun Bevollmächtigte abgeordnet, welche zu einer Commission zusammentraten, und denen man später noch einen rumänischen Abgesandten beigesellte. Die Commission erhielt die Berechtigung, Zölle zu erheben, und hatte also Mittel in Händen, um die Sulina vertiefen und dem nichtswürdigen, die Sicherheit gefährdenden Treiben der Strandräuber das Handwerk legen zu können. Die Commisson hat auch alle Merkmale eines Staates erhalten — ein Gebiet, d. h. das Donaudelta bis Braila, eine F^ahne, ein Budget. Sie giebt polizeiliche und Schifffahrtsgesetze und lässt Arbeiten ausführen, über deren Werth die regelmässig erscheinenden statistischen Berichte Auskunft ertheilen. In denselben ist die Rede von den ein- und ausgehenden Schiffen und ihrer Ladung, von der Tiefe des Sulina-Armes während der verschiedenen Jahreszeiten, vom Stande des Wassers an den Punkten, welche früher als ganz besonders gefährlich galten, von der Zahl der Schiffbrüche u. s. w. Ehe die von der Commission angeordneten Arbeiten ausgeführt wurden, waren die Donauarme aber bekanntlich unwegsam, und die von Künstlern entworfenen Bilder zeigten überall gesunkene Schiffe. Am Ausgange der Donau giebt's also ein internationales Staatswesen, welches zum Besten des Handels und der ganzen Menschheit gegründet worden ist, und diese Einrichtung verdient es wahrlich, bewundert zu weiden. Eine im März des Jahres 1883 in London zusammentretende Conferenz, welche sich für eine Fortsetzung des Berliner Kongresses erklärte, verlängerte die Machtbefugnisse der Donau-Commission für einen Zeitraum von 25 Jahren. Auf dieser Conferenz bemühte man sich auch, für den Bereich zwischen Braila und dem Eisernen Thore etwas der Donau-Commission Aehnliches ins Leben zu rufen. Oesterreich gehörte wohl nicht zu den Uferstaaten, sollte in der neuen Commission aber dennoch einen vorherrschenden Einfluss besitzen, und zwar kraft seiner vielen, mit dem fraglichen Bereiche verknüpften Interessen. Solche Pläne scheiterten aber an dem Widerstande Rumäniens. König Karl hat erklärt: »Wir fügen uns in die härtesten Bestimmungen, und deren Ausführung kann ja in genauester Weise überwacht werden. Doch an den rumänischen Ufern darf eine solche Aufsicht ja niemand anders als der rumänische Staat in Händen haben.« Die Verhandlungen brachten die Gemüther in die heftigste Wallung. Minister Sturdza wies in einer ausgezeichneten Denkschrift unumwunden auf die Rechte seines Landes hin, und die berühmten Rechtsgelehrten Castellani und von Holtzendorf stellten sich vollständig auf die Seite Rumäniens. Zwischen den österreichischen und den rumänischen Zeitungen entbrannte aber eine so heftige Fehde, dass man schon für die Folgen fürchten konnte. Später legten sich dann die hochgehenden Wogen, die Frage verschwand vom Schauplatze, und jene nützlich wirkende und schaffende Commission giebt's nun nicht. Sollte es wohl unmöglich sein, derselben die der Delta-Commission eingeräumten Befugnisse zuzugestehen, mit dem Unterschiede nur, dass man die Ausführung der Maassnahmen jedem Uferstaate für den Bereich des eigenen Gebietes überlässt? Eine solche Lösung wäre weniger gewaltthätig und doch durchaus wirksam, denn die Commission könnte ja einen etwa säumigen Staat sofort blossstellen. — Spass macht's mir, die russischen Droschkenkutscher zu beobachten. Dieselben lenken mit ungeheuerem Geschick hübsche, offene Wagen, und die unter ihrer Führung befindlichen schmucken Pferde haben einen langen Schweif und eine sehr volle Mähne. Sie fahren in vollstem Trabe und halten dann am Bestimmungsorte mit plötzlichem Rucke an. Ihre Erscheinung ist eine äusserst seltsame. Die bartlosen, in einen langen Kaftan gehüllten Gestalten sehen wie Frauen aus und erinnern an die Eunuchen, welche man in Kairo oder Constantinopel neben den Wagen der Haremsschönen erblickt. Sie sind auch wirklich solch verstümmelte Wesen, machten sich aber, wie Origines, freiwillig hierzu, weil sie darin ein Gott wohlgefälliges Thun erblicken. Sehr zahlreich ist diese Sekte in Moskau vertreten, und ihre Mitglieder nehmen dort, neben der Getreidebörse, eine ganze Strasse ein. Viele derselben sind Kaufleute und Bankiers, und die durch keine Familienbande gefesselten und überdies sehr haushälterischen Leute leben ganz ihren Geschäften und sammeln Reichthümer an. Warum mag die Regierung sie wohl eigentlich verfolgen? Sie lösen doch nur in der denkbar vollständigsten Weise das Maltus'sche Räthsel, und Schopenhauer und Hartmann würden ihnen Glück dazu wünschen, denn falls alle Leute es den Selbstverstümmlern gleichthäten, verschwindet ja das unglückselige Menschengeschlecht. Seitdem ich österreichischen Boden betrat, hat die Sprachenfrage unaufhörlich mich umschwirrt, und auch jetzt, das heisst am Ende meiner Reise, bleibt sie mir zur Seite. Zwar nicht im Inneren Rumäniens, wohl aber in den Nachbarländern bohrt und wühlt sie. Mehr als 4 Millionen Rumänen wohnen ja in Siebenbürgen, Ungarn, Russland u. s. w., und ganz besonders klagt man über die Bedrückungen und Verfolgungen, mit deren Hülfe die Ungarn die Walachen zu magyarisiren suchen. Ein hierauf bezügliches, sehr bemerkenswerthes Docu-ment ist zu meiner Kenntniss gelangt, nämlich die Schrift, welche die geschichtlichen Beweise für die Rechte des rumänischen Volkes und die über dasselbe verhängten Leiden ausführlich darlegt. Der Ausschuss fasste sie ab, welchen die 153 Vertreter der rumänischen Bevölkerung-Siebenbürgens und Ungarns am 14. Mai 1881 erwählten, und es sind darin folgende Forderungen aufgestellt: 1) Selbstregierung Siebenbürgens. 2) Für die Bezirke mit rumänischer Bevölkerung Gebrauch der rumänischen Sprache bei der Verwaltung und den Gerichten. 3) Rumänische Beamte, wo das Rumänische gesprochen wird. 4) Durchsicht des Rassengesetzes oder ehrliche Ausführung des bestehenden Gesetzes. 5) Selbstständigkeit der Kirchen und der confessionellen Schulen. Abschaffung der Gesetze, welche dem Entwickelungsgange des Volksthumes entgegenlaufen. 6) Allgemeines Stimmrecht oder das Recht der Abstimmung für jeden Steuerpflichtigen. Drei Millionen Rumänen lassen also im Osten Ungarns die gleichen Klagen hören, welche im Westen die drei Millionen Kroaten und Slowenen anstimmen. Auf diese Beschwerden nun und die nicht minder lauten der siebenbürgischen Sachsen antwortete Ambros Nemenyi, ein Mitglied des ungarischen Parlamentes, in sehr gemässigter Weise und unter Darlegung von Thatsachen durch die Schrift »Hungaricae Res« (1868). Zunächst zeigt er, dass kraft des Gesetzes über die Gleichberechtigung der Nationalitäten (1868) die Gemeinden oder die Orts-Schul-behörden über den Gebrauch der für die Verwaltung oder den Unterricht in Frage kommenden Sprache zu entscheiden haben. Von den 15824 Schulen, welche Ungarn — Kroatien nicht mitgerechnet — im Jahre 1880 besass, hatten nur 7342 das Magyarische als Unterrichtssprache, während in 8482 Anstalten in anderen Sprachen gelehrt wurde. In seiner vollständig unparteiischen Schrift »Die Sprachenrechte in den Staaten gemischter Nationalität« erklärt Adolph Fischoff das ungarische Gesetz über die »Gleichberechtigung« für dasjenige Gesetz, welches den Rechten der verschiedenen Völkerschaften am besten entspricht. In dem 1863 für Siebenbürgen erlassenen Rassengesetze heisst's aber: Art. 1: Die drei Landessprachen sind das Ungarische, das Deutsche und das Rumänische. — Art. 2 bis 9: In Sachen der Gerechtigkeitspflege oder der Verwaltung steht es jedem Theile frei, sich einer von diesen 3 Sprachen zu bedienen. — Art. 11: Die Gemeinderäthe entscheiden darüber, welche Sprache die amtliche sein soll. — Art. 18: In den Schulen aller Grade haben diejenigen, denen die Unterhaltung und die Leitung der Anstalten obliegt, über die anzuwendende Sprache zu bestimmen. — Art. 19: Das Gleiche gilt für die Kirchen. — Was kann man nun wohl mehr verlangen? Doch die leidige, beunruhigende Thatsache, dass die Nicht-Magyaren über die Magyaren sich beklagen, ist immerhin nicht fortzuleugnen und findet eine sehr einfache Erklärung in den verschiedenen Idealen, welchen man hüben und drüben nachstrebt. Die Ungarn ersehnen ein einheitliches Reich mit einem Parlamente nach englischer Art und wollen deshalb in den Gesetzen, der Sprache, den Sitten, dem ganzen Geistesleben alles, was demEinzelstaatenthumNahrunggiebt,möglichst schwächen. Derartiges lässt sich auch verstehen, da eben diese go-thischen Einrichtungen dem blitzzugartig pulsirenden Leben der Neuzeit unerträgliche Fesseln anlegen. Die Nicht-Magyaren halten aber im Gegentheile an allem fest, was die Macht der Central-Gewalt und des Magyarenthums zu mindern vermag. Ueber den selbigen Gegenstand sprach ich unter Bezugnahme auf Kroatien mich aus, und hierauf will ich nun zurückgreifen. Den Föderalismus sollten die Ungarn in Trans- und die Deutschen in Cisleithanien ohne Rückhalt annehmen, und zwar werden jene durch ihre gefährlichere Lage um so mehr dazu gedrängt. Es kann ihnen nicht gelingen, die Kroaten zu Magyaren zu machen, und ein gar schlimmes Ding ist's doch wohl, Bewohner des eigenen Landes als Feinde gegen sich zu haben. In Siebenbürgen bin ich 1867 auf die Ruinen der von den walachischen Bauern angesteckten ungarischen Schlösser gestossen. Die Selbstständigkeit Siebenbürgens reichte weiter als bis zum Jahre 1000 hinauf und hatte eine ruhmreiche Vergangenheit, wurde aber doch durch das Pester Parlament hinweggefegt. Das englische Parlament ging in gleicher Weise mit Irland um, und die Selbstständigkeit dieses Landes will man nun wohl von neuem herstellen, womit aber die verhängnissschweren Folgen geschehener Dinge immer nicht zu tilgen-sind. Ganz anders gearteten Verhältnissen begegnet man in dem vollständig italienischen Tessin. Italien steht frei, geeinigt, mit Ruhm bedeckt da und erfreut sich in gewisser Hinsicht auch gedeihlicher Zustände. Aber die Bewohner Tessins erstreben keineswegs den Anschluss an dasselbe, sondern ziehen's vor, eine Genossenschaft der Schweiz zu bleiben. In solcher Weise müsste man auch die Kroaten, Serben und Walachen mit der Stefanskrone verknüpfen, und dies lässt eben nur durch die Bildung eines Staatenbundes sich erreichen. Zwei Regungen durchströmen die Welt — die eine will ihre Kräfte an einem Mittelpunkte zusammenthun und die andere sie von diesem hinweg ins Weite schicken. Jene wird durch die Leichtigkeit der Verkehrsmittel und das Uebereinstimmende in den Sitten und Gesetzen gefördert und diese durch das Bestreben der Provinzen und Gemeinden, sich selbst zu regieren. Auf den Baustellen sind Frauen und oft reizende junge Mädchen, Zigeunerinnen, als Aushilfe beschäftigt. Sie bringen Ziegeln und Mörtel herbei, und um diese vom Kalk angefressenen kleinen Hände und schönen schwarzen Haare empfindet man so etwas wie Mitleiden. In seinem Buche »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« zeigt Carey an der Hand zahlreicher That-sachen, dass die gesellschaftlichen Zustände um so weiter zurück sind, je mehr man die groben Arbeiten den Frauen auflegt. Der Reisende, welchen der Dampfer in Korsika absetzt, übergiebt seinen Koffer dem »Fac-chino«. Die Frau des Trägers geht nebenher; aber bald sitzt der Koffer auf ihrem Rücken, und der Mann macht, mit der Cigarre im Munde, den Führer auf dem Wege zum Gasthause. Bei den Germanen im Zeitalter des Tacitus und bei den Indiern heutiger Tage bearbeitet die Frau den Boden. Der Mann aber jagt, trinkt, liegt auf der Bärenhaut, hat sich zu streiten und zu schlagen. Ein Bürger der Vereinigten Staaten wird in Europa durch nichts mehr in Erstaunen versetzt als durch den Anblick von Frauen, welche in Steinkohlengruben oder auf Feldern arbeiten oder schwere Lasten weiterschleppen. Bedenkend, dass die polirteste Gesellschaft durch ihre unteren Schichten noch in uranfänglichen Zuständen steckt, muss man aber den Ausführungen Careys umso mehr beipflichten. Ich bin mitten im Sommer in Bukarest und sehe doch nichts von verschiedenen Obst- und Gemüsearten; der ganze Reichthum gipfelt in schönen Melonen und kleinen Kirschen. Die Bewohner der rumänischen Hauptstadt geben viel auf einen guten Tisch und denken doch nicht daran, Gemüsegärten anzulegen, wie man sie neben allen grossen Städten des Westens findet. Woher kommt's, dass der Mist nicht benutzt wird, sondern als schädlich gilt? Warum macht man sich von dem noch recht uranfänglich betriebenen Gemüsebau der Bulgaren abhängig? Ta, das leidige Warum! Einem reichen Manne müsste es Befriedigung gewähren, mit gutem Beispiele voranzugehen und durch" das Anlegen von grossen Gemüsegärten eine Quelle ehrlich erworbener Einkünfte zu erschliessen. Es fällt mir schwer, vom Morgenlande zu scheiden. Um 8 Uhr früh verlasse ich Bukarest, und Herr Aurelian geht in seiner Zuvorkommenheit so weit, sich bei meiner Abreise auf dem Bahnhofe einzufinden. Schitilla ist die erste Haltestelle. Neben der allem Anscheine nach sehr gut eingerichteten Zuckerfabrik liegt ein grosses Gehölz, dessen junge, auf abgeschnittenen Stämmen em-porspriessende Eichen aber nie zu schönen Bäumen heranwachsen werden. Im Bahnhofsgarten steht ein wundervoller , blühender ^Katalpabaum, und es gedeiht hier überhaupt alles vortrefflich. Die Dörfer, welche auf den leicht gewellten Ebenen da und dort zum Vorschein kommen, bestehen aber aus ärmlichen Lehmhütten; weder einen Vorbau noch einen Obstgarten haben die Leute an ihren Behausungen, und um sich nur etwas Schatten zu verschaffen, band man dürre Zweige an Stangen an. Warum wrerden keine Obstbäume gepflegt, und weshalb umziehen die Leute ihr Heim nicht mit Schlingpflanzen und wohl auch mit Wein? Ob — was früher die Türken thaten — nun vielleicht die Bojaren zu viel verlangen? Dem überbürdeten Menschen bleibt der Sinn für das Schöne ja verschlossener als dem Wilden. Rechts schimmern in der Ferne die Gipfel der Gher-ganiser Höhen. Als nun der Zug nach Gaesti kommt, fallen die Blicke auf eine Baumschule, und man freut sich darüber, dass die Leute doch an's Anpflanzen denken. Die auf den Karpathen heimische »Pinus nigra austriaca«-gedeiht selbst in der Ebene vortrefflich. In der Nähe eines Dorfes zeigen sich grosse Nussbäume, und solche Bäume müssten überall angepflanzt werden. Aus ihren Früchten bereitet man ein Oel, welches ausgeführt wird, und das stets theuer bezahlte Holz findet bei der Anfertigung von Flintenläufen Verwendung. Vor Leordeni stösst man auf eine anmuthige Hügelreihe, woselbst der Wein vorzüglich gedeihen würde, und in Pitesti fällt mir die Bedachung der Häuser auf. Man hat hierzu nicht Zink, sondern — wie in Russland — farbiges Blech verwendet, und es ist dies recht sonderbar. Blech erhält man zwar zu billigem Preise; doch die Kosten für die oft erneuerten Anstriche verschlingen weit mehr als die bei dieser Art der Bedeckung sonst gemachten Ersparnisse. Bald geht's durch weite, weite, fast gar nicht bebaute Ebenen, auf denen nur ganz vereinzelt sehr kleine und sehr dürftige Getreidefelder sich zeigen, und von Zeit zu Zeit erblickt man auch eine Eichengruppe, welche verschont wurde, um den Thieren einen Schutz gegen die sommerliche Sonne und den winterlichen Schnee zu belassen. Die Bahn überschreitet den Oltu, den Fluss dieser lehmigen und holzlosen Gegend. Das nicht sehr tiefe Wasser läuft in einem ausgewaschenen Bette dahin und theilt sich in mehrere Streifen. Die steilen Ufer hat die starke Strömung wacker bearbeitet, und an denselben, wie in dem der Ueberschwemmung ausgesetzten Bereiche, wachsen Weiden. Hinter Piatra fällt mir bei einem Dorfe ein Anstrich von Wohlhabenheit auf. Zwei schlanke, mit Weissblech überkleidete Glockenthürme glitzern im Scheine der Sonne und erinnern an die Minarets Bosniens. — Pelesci hat in gutem Zustande befindliche Bahnhöfe mit nur erst kürzlich angestrichenen Wartesälen, und man weilt nun nicht mehr im Morgenlande. Die Wege bekommen Schüttungen aus Kies. Derselbe ist hier aber nur in sehr geringem Umfange anzutreffen, und in dem fruchtbaren Boden findet sich auch nicht ein Steinchen. Man könnte, gleich den Holländern, zu Klinkern greifen, müsste die Wege dann aber auch einer be- und verständigen Aufsicht unterwerfen. Der Boden ist in dieser Gegend noch sehr schlecht bebaut, und nicht nur zwischen dem Weizen, sondern auch auf den stets am besten behandelten Maisfeldern wächst viel Unkraut. Mitten auf dem bestellten Lande sind aber Gebüsche stehen gebliebenr weil man eben die Mühe scheute, sich mit dem Ausroden zu befassen. In der Gegend von Carcea gedeihen Reben und Nussbäume auf der Ebene. Welch vorzüglicher Boden! An einer Stelle erblickte ich ein Dorf mit unterirdischen Häusern, von denen nur die Dächer emporragen, und welche einen warmen und nicht zu feuchten Wohnraum abgeben. Doch es fehlt an frischer Luft, und von einem behaglichen und sauberen Heime kann hier keine Rede sein.. Seit langer Zeit freie Völker, wie die Schweizer und die Holländer, schaffen sich bequeme und elegante Wohnungen, während Jahrhunderte hindurch geknechtete gleich den vorgeschichtlichen Menschen in höhlenartigen Gelassen hausen. Wie aber müssen die armen Thiere, welche ja keine Ställe haben, im Winter bei 20 bis 25 Grad Kälte leiden! Im Enga-din, woselbst das Klima ein nordpolartiges ist, und im ganzen Oberlande haben die grossen Milchwirthschaften ihre Kühe im Erdgeschosse in warmen Räumen untergebracht. Dort können die Thiere also Milch geben und fleischig bleiben, während sie hier im Kampfe gegen den Frost vom eigenen Fette zehren müssen, wodurch ihre Besitzer doch natürlich geschädigt werden. Hinter Krajowa ändert sich das Landschaftsbild, und die Hügel mit ihren schönen Reben gewähren einen freundlich - lachenden Anblick. Auf dem Bahnhofe fällt mein Auge auf die Inschrift »Pentra Barlati, Pentra Dame«. In Schweden sagt man »Karlar« und »Quinnor«, und Karlar, die Mehrheit von Karl, Kerl, Karolus, bedeutet Mann, Mensch, und Quinnor, die Mehrheit von Quinna — im Englischen heisst's »Queen« — die »Frau« im wahrsten Sinne des Wortes. Der Zug kommt nun nach Kotzofeni. Schmucke Dörfer bringen Leben in die gewellten Ebenen, und weisse Lläuser und mit Weissblech überkleidete, glitzernde Thürme zeigen sich dem Auge. Weiterhin gelangt man nach Racari, und eine wahre Wonne ist's, auf grünendem Högel ein Landhaus zu erblicken, welches von der einen Seite durch einen Park und von der anderen durch einen Eichenwald umschlossen wird. Da stehen richtige, grosse Eichen, wie sie mir, seitdem ich Bosnien verliess, nicht wieder begegnet sind. Warum kommen diese anmuthenden Landhäuser, welche den Schmuck englischer Dörfer ausmachen, hier leider so selten vor? Sollte es den rumänischen Besitzer nicht weit mehr beglücken können, sich ein behagliches Heimwesen zu schaffen, als in Paris oder in den Bädern zu verschulden? Auf freiem Felde ragen grosse hölzerne Kreuze empor, über welche ein kleines Dach sich wölbt. Denkmälern begegnet man hier aber nicht, und kein Stein erzählt von dem, was war. Die endlosen Rassenkämpfe haben eben dem Aufschwünge des Menschengeistes sich entgegengestellt. In Italien sieht's damit schon weit, weit anders aus, und dort stösst man in den unbedeutendsten Flecken und selbst in Dörfern auf die Spuren der Vergangenheit. Gräber, Tempel, Kirchen, Wasserleitungen, Paläste, Bildsäulen, Gemälde zeigen sich da in reicher Fülle. — Aus dem Eichenwalde bei Peliasi holen die Leute sich Holz zu Fassdauben, und bei Strehaja stehen längs des Weges farbenprächtige, manneshohe Schmetterlingsblumen. Dem Boden muss eine ungeheuere Fruchtbarkeit innewohnen, und die Futterkräuter, als Grundlage der Wechselwirthschaft, würden die Erträge des Ackerbaues ums Dreifache steigern. Hinter Palota rückt der in einer Zickzacklinie sich fortschlängelnde Weg an die Donau heran. Der gewaltige Strom ist aus den steilen Bergen, welche ihn bis zum »Eisernen Thore« einzwängten, herausgetreten, und gewährt einen grossartigen Anblick. Die Bahn durchschneidet jetzt ein zwischen waldigen Hügeln liegendes Thal, und diese Höhen sind ein Zweig der Karpathen, welche hier in der Richtung Norden - Süden die Donau überragen. Turn - Sewerin hat einen sehr hübschen Bahnhof mit einem Parke, der blühendes Blumenrohr und einen Springbrunnen umschliesst. Milizen, die »Dorobantzi«, kommen von einer militärischen Uebung zurück; ihr Anzug aus grauer Leinwand ist recht kleidsam, und man wird hier an Schwedens »Indella« erinnert. Jenes Land versteht es auch, sich tüchtige Soldaten zu schaffen, ohne dabei erdrückende Geldopfer bringen zu müssen. In Werciorowa betritt man österreichischen Boden, und hier hat der Reisende nichts mit den ärgerlichen Scherereien zu thun, denen er in Belgrad unterliegt. Der Weg führt nun längs der »Eisernen Thore« hin, und diese sind weiter nichts als Felsen, welche das Flussbett versperren. Während der Hochfluth können die Schiffe ohne Schwierigkeit hindurch. Es wäre aber leicht, eine vollständig fahrbare Strasse herzustellen, und man dürfte eben nur zwei oder drei jener Klippen sprengen. Das Unterlassen einer so nöthigen und dabei keineswegs schwierigen Arbeit muss in hohem Grade Befremden erregen. Hat man Orsowa hinter sich, so geht's durch das liebliche Mehadia-Thal. Anmuthig liegt der Bahnhof der Herkules-Bäder da, und ich gedenke der schönen Stunden, welche ich einst in den Waldungen der nahen Berge verlebte. Auf dem Wege durch Ungarn muss ich über die Fortschritte staunen, welche seit meiner Reise im Jahre 1867 sich hier an allen Orten vollzogen haben. Ich nehme mir vor, darüber genauere Forschungen anzustellen, und das Buch, welches Max Wirth unter dem Titel »Ungarn und seine Bodenschätze« herausgab, wird mir ein trefflicher Führer sein. - In Pest empfangen mich die Herren Korösi — der gelehrte Vorsteher des städtischen statistischen Amtes — und Nemenyi — vom Pester Lloyd — in freundschaftlichster Weise. Wie auch die ungarische Hauptstadt sich geändert hat! Ueberau ragen palastartige Häuser empor, und die Radiaalstrasse ist unzweifelhaft der schönste Boulevard Europas. Seit dem Ausgleiche, also seit 1867, wurde Ungarn um ein Bedeutendes reicher; ob's aber wohl auch nöthig war, die Schuldenlast in gleichem Maasse anwachsen zu lassen? Bemerkungen über die von den Grossmächten im Morgenlande befolgte Politik mögen zum Schlüsse nun noch Platz finden. Russland und England, diese beiden seit langem einander eifersüchtig gegenüberstehenden Staaten, haben häufig dem, was sie erstrebten, gerade entgegengehandelt. Jenes brachte grosse Opfer an Menschen und Geld, um die Slawen zu befreien; dann wollte es sich aber in deren innere Angelegenheiten mischen und kam auf solche Weise um die ganze Frucht seiner Bemühungen. Dieses vermochte jedoch gleichfalls nicht einzusehen, was in seinem Interesse liegt — nämlich das Emporwachsen von Balkanstaaten, die stark genug sind, um für ihre Unabhängigkeit selbst einstehen zu können. Oesterreich-Ungarn dagegen ist klug-beharrlich vorwärts gegangen. Es erlangte eine Art von wirthschaftlicher Führung, und diese findet in den Eisenbahnen und Handelsverträgen sich verkörpert. Was den Handelsverkehr in den neuen Balkanstaaten anbetrifft, so entfallen hierbei ja drei Viertel auf Oesterreich-Ungarn, und dieses hätte somit das grösste Interesse daran, in den der Pforte noch unterworfenen Provinzen und besonders in Macedonien geordnete und gedeihliche Zustände, die doch den Handel fördern würden, zu begründen. Hierüber scheint es sich aber eben nicht sehr klar zu sein. Graf Andrassy hat im ungarischen Parlamente mit beredten Worten davon gesprochen, dass Oesterreich-Ungarn auf die Seite der jungen Balkanstaaten treten und in diesem Augenblicke, das heisst im Januar 1886, die Vereinigung Bulgariens und Rumeliens anerkennen müsse. Gleichbleibender hinsichtlich seiner Orientpolitik hat Frankreich sich gezeigt, und abgesehen vom Krimkriege, welcher den dynastischen Interessen der Napoleoniden auf die Rechnung zu setzen ist, erhob es seine Stimme stets zu Gunsten der Rajahs. Den Italienern wird der Weg durch ihre Vergangenheit und ihre Handelsinteressen vollständig vorgeschrieben, und er verweist sie darauf, selbstständige Völker, welche einst zu einem Bunde von Staaten zusammentreten werden, zu stützen. Hierdurch kennzeichnet Italien sich als edelmüthig und handelt zugleich auch in seinem eigensten und wahren Interesse. Doch dieser Richtschnur entfremden es bisweilen gewisse selbstsüchtige und übelangebrachte Pläne. Deutschlands Augenmerk ist aber nur darauf gerichtet, Oesterreich wachsen zu lassen, damit eben der Bund zwischen den beiden Mächten um so nothwendiger und nutzbringender werden möge. Herr von Biowitz glaubt, dass bei einem grossen europäischen Kriege der Besitz Constantinopels den Angelpunkt bilden wird, und giebt hiermit nur einer allgemein verbreiteten Ansicht Ausdruck. Nun, die Staaten schlagen sich ja oft ohne irgend einen vernünftigen Grund, dass ein solch furchtbarer Zusammen-stoss immerhin im Bereiche des Möglichen liegt. Doch für ganz unausbleiblich halte ich ihn keineswegs, und um ihn zu vermeiden, dürfte man nur den Artikel 23 des Berliner Vertrages — aber im Sinne dessen, was am Libanon geschah — in den Provinzen der europäischen Türkei zur Durchführung bringen. Albanien, Macedonien, die Provinz Adrianopel, sie müssten eine wirkliche Selbstregierung erhalten und würden sich alsdann entwickeln können, ohne Wirren zu zeitigen, und ohne das Dazwischentreten einer fremden Macht zu veranlassen. In Constantinopel gäbe es unter solchen Umständen eine gemischte Behörde, und die Rechte der Pforte blieben gewahrt. Ja, deren Einkünfte würden steigen, weil eben die Bevölkerung zu grösserer Wohlhabenheit gelangt. Ist's den Türken eben möglich, sich einem freiheitlichen Regimente und der Gleichberechtigung anzupassen, so würde ihre Lage sich festigen. Im entgegengesetzten Falle müssten aber nach und nach in die Stelle des Halbmondes solche Elemente ein- Laveleye, Balkanländer. II. 23 rücken, die sich mit dem Geiste der Neuzeit besser abzufinden wissen. Es vollzöge sich dann eine langsame und sehr allmähliche Umbildung, und die neue Ordnung der Dinge könnte dabei sich aufbauen, ohne einen Weltbrand zu entzünden. Während ich nun mein Buch schliesse, geht mir aber die Nachricht zu, dass man in den Regierungskreisen von Constantinopel und selbst in denen von Wien und Pest mit dem Gedanken an die Bildung eines morgenländischen Staatenbundes sich zu befreunden beginnt. Anhang. I. Alte bulgarische Bücher. Bereits im Anfange des 3. Jahrhunderts ist zwischen der Donau und dem Balkan eine slawische Bevölkerung anzutreffen. Diese Stämme werden jedoch bis in die Mitte des 7. Jahrhunderts hinein durch fortwährende Zuzüge aus dem Osten weiter nach Süden gedrängt, und Schafarik, Drinow und die auf diesem Felde massgebendsten Geschichtsschreiber meinen, dass die Slawen 681 unter die Herrschaft eines bulgarischen Stammes ugrisch-finnischer Rasse geriethen. Die Angaben über den Ursprung der Bulgaren gehören aber zu den streitigsten Punkten der Völkerlehre. Man hat dieses Volk wohl für Abkömmlinge der Tartaren gehalten; doch der serbische Gelehrte Raich giebt die Bulgaren für Slawen aus, und dieser Ansicht ist neuerdings Professor Hovaiski, ein russischer Geschichtsschreiber, beigetreten. Auch der bulgarische Schriftsteller Kerstowitsch glaubt an den slawischen Ursprung der Rasse, welcher er angehört. Die Hunnen sieht er indessen gleichfalls für Slawen an, und daraus entsteht nun eine grosse Verwirrung. Das Wort »Bulgare, Bolgare« hat noch keine rechte Erklärung gefunden. Seine ursprüngliche Form, »Burgari, Borgiani, Wurgari« u. s. w. hat eine gewisse Aehnlichkeit mit den Namen verschiedener Stämme, der Onuguris, Uturguris, Kutriguris, und »Bul« und »Gari«') bilden also die Hauptbestandteile. Die Geschichte 1) Schafarik, Slawische Alterthümer. 2. Band, S. 169. erzählt, dass der bulgarische Fürst Kubrat das Joch der Avaren abschüttelte und dass nach seinem Tode seine 5 Söhne sein Reich unter einander theilten. Der älteste derselben blieb an der Wolga, woselbst noch die Ruinen seiner Hauptstadt zu finden sind. Asparukh aber, Kubrats dritter Sohn, überschritt den Dnjestr und Dnjepr und liess sich schliesslich in Onklos, einem zwischen den siebenbürgischen Alpen und der Donau gelegenen Orte, nieder1). Damals rücken nun die Bulgaren, wie bereits gesagt, nach Süden vor und siedeln sich in dem Lande an, das sie seitdem dauernd bewohnt haben. Jetzt verschmelzen sie sich auch mit der alten slawischen Bevölkerung, und Drinow vergleicht diese Vereinigung mit derjenigen, welche die germanischen Franken und die Gallier zu Franzosen umgeschaffen hat. Ein gewisser Bruchtheil der Slawen legte sich aber den Namen »Russen« bei, welche Beziehung die finnischen Eroberer dieser Rasse gegeben hatten. Als älteste bulgarische Bücher kennt man 1. die Assemannische Handschrift. Dieselbe wurde nach dem Mönche benannt, der sie aus einem auf dem Libanon gelegenen Kloster mitbrachte, und befindet sich gegenwärtig im Vatican; 2. die Handschrift, welche »Glagolita Clozianus« heisst, weil sie einstmals dem Grafen Cloz von Trient gehörte. Sie enthält Homilien des heiligen Johannes Chrysostomus, des heiligen Athanasius und des heiligen Epiphanius; 3. das Palimpsest von Bojana, welches Grigorowitsch in der Stadt gleichen Namens — dieselbe liegt bei Sofia — entdeckte. Es hat das Quadratformat, ist auf Pergamentpapier geschrieben und umfasst 109 Seiten. — Slawische Apostel haben wahrscheinlich die Evangelien vollständig übersetzt, und jedenfalls steht's fest, dass am Ende des 15. Jahrhunderts bereits eine ganze altslawische Bibel vorhanden war. Deren Veröffentlichung erfolgte, den Angaben Dobrowskys zufolge, erst nach dem Jahre 1488, als nämlich die böhmische Bibel von Prag gedruckt wurde. — Es wäre hier auch des Psalters 1) Drinow, Die Slawen auf der Balkanhalbinsel. von Bologna zu erwähnen, der etwa in die Zeit des 12. Jahrhunderts fällt; 4. das Evangelienbuch von Reims, welches unter dem Namen »Text der Salbung« bekannt ist und eine merkwürdige Geschichte hat. Vor der Revolution schwuren in Reims die Könige von Frankreich bei ihrer Krönung auf dieses Buch, und dasselbe hatte damals einen prachtvollen Einband, der aus goldenen Täfelchen und kostbaren Steinen bestand. Als Peter der Grosse 1717 in Reims weilte, zeigte man ihm die werthvolle Urkunde, und er sah, dass dieselbe eine Schrift in slawischer Sprache war. Zur Zeit der Revolution wurde der »Text der Salbung«, doch wohl seines Deckels wegen, gestohlen, und während einer langen Zeit blieb er nun verschwunden. Der Sprachforscher Strojew hat dann diese ver-muthlich dem 14. Jahrhundert entstammende Urkunde, doch ohne Einband, wiedergefunden. Während der Regierung des Czaren Simeon (893—927), welche als das goldene Zeitalter der bulgarischen Literatur betrachtet wird, erschienen in Bulgarien die Schüler des heiligen Cyrillus und des heiligen Methodius. Sie verbreiteten das Christenthum und schrieben Bücher in altslawischer Sprache. Der in Constantinopel aufgewachsene Czar Simeon stand aber auf einer so hohen Bildungsstufe, dass man ihn den Halb-Griechen nannte. Er übersetzte 135 Predigten des heiligen Johannes Chrysostomus unter dem Titel »Zlatostrui«, und die älteste Handschrift, welche von diesem Buche sich erhalten hat, gehört dem 12. Jahrhundert an. Zur Zeit des Czaren Simeon nahm Bulgarien, so berichtet der Geschichtsschreiber Gibbon, eine wichtige Stelle im Kreise der civili-sirten Staaten ein. Unter den alten bulgarischen Schriftstellern wären nun aber noch verschiedene Männer namhaft zu machen. Der am Eingange seiner Werke als »slawischer Apostel« bezeichnete Clement starb 916 und hinterliess eine Menge von Predigten und von Lobliedern auf Heilige. Johannes, der Exarch von Bulgarien, war sehr gelehrt. Er schrieb das »Buch der 6 Tage« — »Schestodnew« —, in welchem die ersten Kapitel vom ersten Buch Moses erklärt werden, und übersetzte auch eine griechische Grammatik ins Bulgarische. Vom Bischof Konstantin rührt ein Gebet in Versen her, und dieses hält man für die älteste niedergeschriebene Dichtung der Slawen. Der Mönch Khrabr aber, welcher während des 10. Jahrhunderts lebte, giebt merkwürdige Aufschlüsse über das slawische Alphabet, wie es vom heiligen Cyrillus aufgestellt worden ist. Russische und serbische Gesetze sind der Gegenwart wohl erhalten geblieben, doch nicht bulgarische, ausgenommen einige ins Griechische übersetzte und durch Suidas erhaltene Bruchstücke, und hierüber giebt Professor Bogisitsch in seinem Buche »Die Gesetze der Südslawen« (Agram 1872) Auskunft. Eine der ersten Sammlungen dieser in slawischen Ländern so reichhaltigen, mündlich überlieferten Literaturschätze hat Bogoew 1842 in Pest erscheinen lassen. Auch Dozen gab ein Buch »Die bisher noch ungedruckten bulgarischen Volkslieder« heraus. Im Jahre 1861 übermittelten dann, gemeinsam wirkend, die beiden Brüder Demetrius und Konstantin Mila-dinovci, geborne Bulgaren, der Oeffentlichkeit eine neue Sammlung von Volksliedern, und der um die Entwicklung der slawischen Literatur so verdiente Bischof Strossmayer hat auch in diesem Falle als schützender Geist sich erwiesen. In der Vorrede erzählt Konstantin Miladinovci, dass zu Struga in Macedonien ein einziges junges Mädchen ihm 150 Balladen mittheilte, und es ist dies doch wohl der beste Beweis für die Fülle der bulgarischen Dichtungen. (V. The Dawn of European literature. Slawonische Literatur, von W. R. Morfill, M. A. London, 1883.) II. Bulgariens Ausgaben und Einnahmen im Jahre 1884. Ausgaben. I. Civilliste, Volksversammlung und Finanzministerium...... 6359812 Franken. II. Ministerium des Innern .... 5800385 „ III. Unterrichtsministerium..... 22I5994 „ IV. Justizministerium....... 1 95 5 47° » V. Ministerium des Aeusseren, der geistlichen Angelegenheiten und der Posten und Telegraphen .... 3 985 673 „ yi. Ministerium der öffentlichen Arbeiten, des Handels und des Ackerbaues 3 405 089 „ VII. Kriegsministerium...... 11 000 000 „ 34 722 423 Franken. Einnahmen. L Direkte Steuern....... 17750000 Franken. II. Indirekte Steuern ...... 8890000 „ III. Staatsländereien....... 588000 „ IV. Nebeneinnahmen...... 323 700 „ V. Unterrichtsministerium..... 348280 „ VI. Justizministerium...... 676800 „ VII. Ministerium des Aeusseren, der geistlichen Angelegenheiten, der Posten und Telegraphen...... 2038000 „ VIII. Ministerium der öffentlichen Arbeiten, des Handels und des Ackerbaues 1656520 „ IX. Ministerium des Innern .... 920000 „ 33 191300 X. Durch rückständige Steuern zu deckendes Deficit...... 1 531 I23 » 34 722 423 Franken. III. Der serbisch-bulgarische Krieg. Am Vorabende des serbisch-bulgarischen Krieges veröffentlichte ich in der »Pall Mall Gazette« den nachstehenden Artikel: Serbien und Bulgarien. »Täglich einlaufende Telegramme sprechen davon, dass das serbische Heer Bulgarien mit Krieg überziehen wird. Hieran vermag ich aber, und zwar aus verschiedenen Gründen, nicht zu glauben. Den biederen, tapfern, ritterlich gesinnten Serben muss es ja widerstehen, der selbigen Rasse und dem selbigen Religionsbekenntnisse angehörende Brüder von hinten anzufallen, während doch die Vereinigung aller Kräfte gegen den gemeinsamen Feind in Frage kommt. Rücken die Serben in das von den Türken bedrohte Bulgarien ein, so verbinden sie sich thatsächlich mit dem Halbmonde. »Sie können aber unmöglich alles vergessen haben, was ihnen seit jenem verhängnissvollen Tage auf dem Amselfelde durch ihre Unterdrücker aufgebürdet wurde. In unmittelbarer Nähe von Nisch, woselbst König Milan gegenwärtig sich aufhält, steht ja der berüchtigte »Schädelthurm«, und derselbe ist bekanntlich aus den Hirnschalen serbischer Krieger, die in einem ungleichen Kampfe fielen, zusammengekittet worden. Vor 20 Jahren beschossen die Türken, welche damals noch in der Festung sassen, Belgrad, und die Häupter der serbischen Helden hatte man auf Pfähle gespiesst und öffentlich ausgestellt. Ein halbes Jahrhundert haben die Serben gekämpft, um sich ihre Unabhängigkeit zurückzuerobern, und es ist ihnen dies um den Preis opferfreudigen, heldenhaften Ringens gelungen. Ihre Waffen sind ja noch gefärbt von dem vor kaum 7 Jahren vergossenen türkischen Blute. Jetzt aber greifen ihre bulgarischen Brüder nach der Krone der Freiheit, und es ist doch undenkbar, dass sie sich gegen dieselben wenden und deren Befreiung zu hindern versuchen. »Die ganze slawische Welt — von Moskau bis nach Prag und von Kattaro bis nach Warschau— würde diesen ruchlosen, brudermörderischen Krieg einstimmig verdammen, und zwar um so mehr, weil er eine furchtbare, gegen das Slawenthum gerichtete Waffe wäre. »Seht, die Slawen sind ja noch Barbaren, könnten ihre Feinde alsdann ausrufen. Kaum haben diese Menschen sich befreit, so wissen sie nichts Eiligeres zu thun, als sich gegenseitig zu befehden und zu vernichten. Nur ein Mittel giebt's, um sie vor einander, vor dem Hasse und der Wuth der eigenen Stammesbrüder zu schützen, und dieses besteht eben darin, dass man sie einer fremden Macht — den Oesterreichern, Ungarn oder Türken — unterwirft. Hierauf aber Hesse sich eben nichts entgegnen. »Die Serben kennen doch ihre Geschichte und sollten derselben auch eingedenk bleiben. Duschan, der durch seine Frau an Bulgarien gekuüpft war, verdankt seine Erfolge ja zum grossen Theile dem Umstände, dass er von diesem Nachbarlande nichts zu fürchten hatte. Den Türken ist die Eroberung aber gelungen, weil Griechen und Slawen unaufhörlich gegen einander kämpften und sich, um ihre christlichen Brüder zu bewältigen, wechselsweise mit den Türken verbanden. Solch widerwärtige Vorgänge würden nun durch den Angriff Serbiens eine Wiederholung erfahren. Wer könnte die Bulgaren wohl daran hindern, plötzlich andere Maassregeln zu ergreifen, und sich mit den Türken gegen die Serben zu verbinden? »Herr Mijatowitsch, Serbiens hochbedeutender Vertreter, hat als Lösung für die verwickelten Fragen, um welche man auf der Balkanhalbinsel sich streitet, die Bildung eines von christlichem Brudersinne beseelten Bundes vorgeschlagen. Wird die Verwirklichung dieses herrlichen Ideals aber nicht auf lange Zeit hinausgeschoben, indem man, den einfachsten Vorschriften der Menschlichkeit und des Christenthums zum Hohne, mit einem Kriege beginnt? »Ein Bund wäre jedoch nur möglich, so heisst's, falls die betreffenden Staaten mit gleichen Kräften einander gegenüber ständen, und wüchse die eine Seite, so müsste die andere eine Entschädigung erhalten. In Wirklichkeit herrscht aber zwischen den Mitgliedern eines jeden Staatenbundes die grösste Ungleichheit, und um dies zu beweisen, darf man gar nicht bis auf das Griechenland des Alterthums zurückgreifen; andere Beispiele liegen weit näher. Der ruhmvolle niederländische Bund hat den Ocean mit seinen Schiffen bedeckt und einmal auch sogar den beiden vereinigten grossen Seemächten, den Franzosen und den Engländern, Widerstand zu leisten gewusst. Hier war aber Holland allein reicher und mächtiger als alle anderen Provinzen zusammen; ihm fiel eine vollständige Führerrolle zu, und der hatten die Niederlande es zu danken, dass sie die Heere Ludwigs XIV. zurückstossen konnten. »In der Schweiz zeigt sich ein ebensolcher Unterschied zwischen grossen Kantonen, wie Bern und Zürich, und kleinen wie Uri, Appenzell, Unterwaiden und Schwyz. Die Italiener Tessins und sehr viel mehr noch die Romanen im Engadin stehen der deutschen Bevölkerung in verschwindender Minderheit gegenüber, und die Deutschen machen 70, die Franzosen 23, die Italiener 5 und die Romanen 2°0 der Einwohnerschaft aus. Fällt's den kleineren Bruchtheilen hier aber etwa ein, Entschädigungen zu verlangen und sich auf die Theorie vom Gleichgewichte zu berufen? »Auch in den Vereinigten Staaten unterscheiden kleine Staaten, wie Rhode-Island, Vermont, New-Hampshire, und grosse, wie New-York, Pennsylvanien, Ohio, durch ihren Flächenraum und ihre Bevölkerung sich sehr bedeutend von einander. Die einzige Stadt New-York hat mit Einschluss ihrer Vororte eine Bevölkerung, welche die des Staates Rhode-Island ums Sechsfache übersteigt, und Texas allein ist ebenso gross wie 5 Staaten Neu-Englands zusammengenommen. »Die Amerikaner würden eben sehr erstaunt sein, Hesse man sich's einfallen, ihnen die Theorie von dem Gleichgewichte und dem für einen Staatenbund unbedingt nothwen-digen Austausche darzulegen. »Wir wollen nun aber einmal unter Bezugnahme auf die Balkanhalbinsel dieses neue Dogma der politischen Wissenschaft prüfen und dabei annehmen, dass der Augenblick, den Bund ins Leben treten zu lassen, gekommen ist. Griechenland und Bulgarien können bis an ihre eigentlichen Grenzen also nur vorrücken, wofern Albanien, Montenegro und Bosnien eine entsprechende Vergrösserung erfahren haben. Fällt Kreta an Griechenland, so wächst dieses beträchtlich, und Serbien und Bulgarien hätten demnach das Recht, sich mit den Waffen in der Hand eine Entschädigung zu erzwingen. Sollte aber etwa Oesterreich Bosnien an Serbien abtreten, so würde Bulgarien gleichfalls einen Ersatz verlangen können. »Die Geschichte der grossen Staaten, welche fortwährend auf dem Kriegsfusse mit einander stehen, scheint man sich im Bereiche der Balkanhalbinsel weit mehr zum Muster genommen zu haben als die jener Staatengruppen, deren kleine Glieder über das Wachsthum der grossen als über etwas dem gemeinsamen Vaterlande Nützendes Freude empfinden. Aus dem Munde eines serbischen Offiziers vernahm ich folgende Worte: »Wir können's nicht dulden, dass ein grosses Bulgarien aufersteht, weil dieses uns ja erdrücken und vollständig vom Meere abschneiden würde.« Welch sonderbare Vorstellung! Ist Chicago vielleicht vom Meere oder Luzern von Italien getrennt, weil man, um dahin zu gelangen, durch Bundesstaaten seinen Weg zu nehmen hat? »Uebrigens wäre es gar nicht nöthig, Macedonien zu Bulgarien zu schlagen. Man dürfte jenem Lande nur das Recht der Selbstregierung zugestehen, und die verschiedenen Bruch-theile seiner Bevölkerung, die Bulgaren, Serben, Griechen, könnten alsdann ihre Angelegenheiten nach eigenem Gutdünken ordnen und würden im Bundesrathe ihrer Anzahl entsprechend vertreten sein. Eine getrennte Verwaltung mit einem gemeinsamen Rathe zur Ordnung gemeinsamer Angelegenheiten Hesse, ja auch für Rumelien und Bulgarien sich einrichten. »Den Serben fällt auf der Balkanhalbinsel eine schöne Aufgabe zu. Sie entkamen ja früher als ihre Nachbarn dem türkischen Joche und sind demgemäss weiter als diese. Statt dieselben nun zu beeifersüchteln, sollte Serbien ihnen freundschaftlich die Hand entgegenstrecken und sie zu sich heranzuziehen suchen. Es müsste mit denselben erweiterte Handelsund sonstige Beziehungen anknüpfen und so dem Bunde, von welchem Herr Mijatowitsch spricht, die Wege bahnen. Leute, welche man aber angreift, macht man sich doch eben zu Feinden und nicht zu Bundesgenossen. Die Schweiz wird von grossen Staaten umringt, welche es ja danach gelüstet hat, dieselbe zu erobern, und ihre Bewohner haben trotzdem die Freiheit sich zu wahren gewusst. Dies konnte ihnen auch nur gelingen, weil sie immer vereint und eine »Eidgenossenschaft« im eigentlichsten Sinne des Wortes geblieben sind. Hieran mögen die Slawenstämme ein Beispiel sich nehmen, und in Belgrad wie in Sofia müsste schon der blosse Gedanke an einen Bruderkrieg als Verbrechen geächtet werden.« In einer zu Edinburgh am 17. November 1885 gehaltenen Rede äusserte Gladstone über den eben begonnenen serbischbulgarischen Krieg sich folgendermaassen: »Es ist ein Jammer, diese Länder zum Schwerte greifen zu sehen. Dessen gefährlicher Entscheidung vertraut man sich an, und Blut wird vergossen zwischen Schwestervölkern, um welche die Erinnerung an eine lange, lange gemeinsam getragene Knechtung sich schlingt. Für mich gehört dieser vom Zaune gebrochene Krieg zu den betrübendsten Schauspielen, auf die mein Auge gefallen ist.« IV. Die Lage Macedoniens. Jemand, der ganz Macedonien bereist und lange daselbst gewohnt hat, schreibt mir Folgendes: »Es mögen zunächst Angaben aus einer Broschüre hier Platz finden. »Makedonia« lautet deren Titel, und die Zuverlässigkeit ihres Verfassers — Ofeikow —, der seit 3 Jahren mit der macedonischen Frage sich beschäftigt und vor einigen Monaten häufige Reisen nach jenem unglücklichen Lande gemacht hat, unterliegt keinem Zweifel. »Macedonien wird in 5 Sandschaks (Präfekturen) getheilt, in Saloniki, Seres, Skopia, Bitola und Prizrend mit Einschluss eines albanischen Gebietstheiles, und ein Sandschak zerfällt wiederum in »Kaazis« (Unterpräfekturen). »Im Sandschak Saloniki liegen die Kaazis Saloniki, Enid-sche-Wardar, Kukusch, Woden, Doiren, Tikwisch, Strumnitza und Weles, und diese umschliessen 392 bulgarische Städte und Dörfer, 141 bulgarisch-türkische, 159 türkische, 8 griechische, 3 bulgarisch-griechische, 2 mit einer Einwohnerschaft unbestimmter Nationalität und r bulgarisch-rumänische (durch Kutzo-Walachen bevölkerte) Ortschaft. »Die Kazis im Sandschak Seres heissen Newrocop, Demir-Hissar, Melnik, Zachnen und Petritsch und umfassen 242 bulgarische Städte und Dörfer, 96 bulgarisch-türkische, 24 griechische, 23 griechisch-türkische, 125 türkische, 2 walachische, 3 mit einer Bevölkerung unbestimmter Nationalität und 1 bulgarisch-griechische Ortschaft. »Skopia, Kumanowo, Kratowo, Tetowo, Palanka, Rado-witsch, Kotschany und Schtip sind die Kaazis aus dem Sandschak Skopia, und hier giebt's 502 bulgarische Städte und Dörfer, 90 bulgarisch-türkische und 124 türkische. »Im Sandschak Bitola finden sich die Kaazis Bitola, Priiep, Kitschewo, Riessen, Precpa, Ochrida, Lerin, Doschumaja und Kostur, und sie haben 576 bulgarische Städte und Dörfer, 13 1 bulgarisch-türkische, 62 türkische, 3 bulgarisch-walachische, 13 griechische und 8 mit einer Bevölkerung unbestimmter Nationalität. »Die Einwohnerschaft des Sandschaks Prizrend spricht das reinste Serbisch, und man weilt hier ja auch in Alt-Serbien. Ehemals wanderten jedoch viele Serben nach Oesterreich aus, und sie sind dann durch Arnauten ersetzt worden. »Ich habe 2 Jahre in Macedonien gewohnt und bin durch meine Stellung mit den Vertretern der Städte und Dörfer — selbst der entlegensten — fortwährend in Berührung gekommen. Von Alt-Serbien abgesehen, stiess ich aber nirgends auf Leute, denen die serbische Sprache oder auch nur der serbische Accent eigen war. Bulgarien und Rumelien durchstreifte ich nach allen Richtungen hin, und die verschiedenen Dialekte des Landes sind meinem Ohre sehr wohl vertraut. Doch in einer so reinen Form wie in Macedonien habe ich das Altbulgarische sonst nirgends sprechen gehört, und selbst in den Mittelpunkten des Griechenthums, in Seres und Woden, liegen die reichsten Quellen für sprachwissenschaftliche Forschungen über das Altslawische. Um sich hiervon zu überzeugen, darf man nur auf die Reden des einfachsten Bauern achten. Was die Gemeinden anbetrifft, welche als griechische sich ausgeben, so ist denselben nicht ein einziges griechisches Wort geläufig. Aber sie fürchten einerseits die Verfolgungen des griechischen Erzbischofs und andererseits die der türkischen Regierung, für welche die Bezeichnungen »Bulgare« und »Umsturzmann« gleichbedeutende Begriffe sind, und deshalb eben nennen sie sich Griechen. »Wie die durch griechische Aufwiegler und besonders durch griechische Geistliche beeinflussten türkischen Behörden auf die Bulgaren herabsehen, lehrt die folgende Thatsache. In Saloniki besichtigte ich den berüchtigten Blutthurm, den Kanli-Kula, woselbst gegenwärtig Tausende von Bulgaren schmachten, die ohne Recht und Urtheil eingekerkert sind. Als ich in Begleitung eines hohen türkischen Beamten den Hof betrat, drang ein herzzerreissender Klageruf an mein Ohr: »Im Namen Gottes, ist niemand da, der mir zur Hilfe kommt? Seit einem Jahre sitze ich hier, und ich weiss nicht einmal, warum man mich herschleppte.« Mein Führer fragte nun den Gefangenen: »Giaur, weshalb schreist Du?« Nachdem dann der Unglückliche über seine Verhaftung berichtet hatte, versetzte der Türke mit boshaftem Lächeln: »Dein Name?« — »Iwan.« — »Iwan? Du bist von Sinnen. Kann man wohl noch etwas Schlimmeres thun, als Iwan heissen?« — — — B. R. Das Räuberthum in Macedonien. (Auszüge aus Briefen.) »Die Räuber zerfallen in 2 Klassen, und es giebt Banditen, welche durch die türkische Regierung oder die griechische Geistlichkeit ermuthigt werden, und solche, die ihr Handwerk berufsmässig betreiben, und deren Lebensdauer in der Gleich-giltigkeit oder Ohnmacht der Behörden wurzelt. »Seit dem letzten Kriege betrachten die Beamten der türkischen Regierung ihre Stellungen als ein Mittel, um ihre mehr oder minder bedrohte Zukunft sich zu sichern. Sie gestehen es übrigens ganz offen ein, dass ihre Zeit vorbei ist, und dass sie aus ihren Aemtern einen Nothgroschen für kommende schlimme Tage herausschlagen müssen. In Constantinopel und in anderen Städten bilden die Regierungsämter heute ja einen vollständigen Handelsartikel. Die Stelle fällt dem Meistbietenden zu, und dieser macht sich für seine Auslagen bezahlt, indem er die unter seiner Fuchtel Stehenden aussaugt. Bewerber um öffentliche Aemter schrecken nicht vor Preisen zurück, welche zu den Einkünften jener Aemter, das heisst zu den von der Regierung ausgeschriebenen Beträgen, in gar keinem Verhältnisse stehen, sondern dieselben wohl ums Doppelte oder Dreifache übersteigen. Der Pascha sagt dann zu dem, welchem er das Amt zuschlug: »Sei nicht blind. Das gewöhnliche Einkommen macht nur die Hälfte, den dritten Theil der Kaufsumme aus; aber sei nicht blind.« »Der Beamte wird unregelmässig und bisweilen überhaupt gar nicht besoldet, und Missbräuche und Erpressungen zwingt man ihm also förmlich geradezu auf. Die Formen des Raubsystems richten sich nach den betreffenden Aemtern, und den Zollbeamten z. B. bestechen die Kaufleute, damit er ihre Waaren ohne Abgaben herein- und herausgehen lässt. Am vorzüglichsten sind dergleichen Machenschaften jedoch beim Richterstande ausgebildet. Der zwischen den Griechen und Bulgaren wütende, tiefwurzelnde Hass stösst dieselben oft gegeneinander, und hieraus wissen die Richter ihren Vortheil zu ziehen, indem sie ihre hinkende Gerechtigkeit sich theuer bezahlen lassen. Jeder von den beiden Parteien versprechen sie eine befriedigende Lösung; doch da eben stets das Geld den Ausschlag giebt, wird auch immer der Meistzahlende im Rechte sich befinden. Je mehr die Griechen und Bulgaren mit einander streiten und processiren, um so voller kann der Türke anschwellen. Eine Verfügung des Präfekten wird derjenigen streitenden Partei, welche am meisten gezahlt hat, mitgetheilt. Läuft sie den Interessen derselben aber zuwider, so bleibt sie entweder ein einfaches Stück Papier, oder der Richter legt sie zu seinem und seines Schützlings grösstem Nutzen aus. Auf diese Weise müssen eben alle Beamten der türkischen Regierung durchs Leben sich schlagen, und den Opfern wird stets Schweigen anbefohlen. »Man darf aber nicht glauben, dass eine derartige Verkommenheit nur unter Beamten niederen Grades zu finden ist. So etwas geht über alle Sprossen hin, und der ganze Unterschied beruht nur darin, dass die hohen Beamten einer Mittelsperson sich bedienen. Ihrem Stande entsprechend, werden die von ihnen begehrten guten Dienste natürlich auch theuerer bezahlt, und für jede Angelegenheit beläuft der Preis sich hier auf mindestens 15 bis 20 türkische Pfunde (ä 22,50 Franken). »Selbst in der allernächsten Nähe des Sultans gedeihen solche Giftpflanzen, und hier entstand auch sogar das allgemein bekannte Sprichwort: »Auf geradem Wege setzt man nichts durch.« »Eine andere, häufig vorkommende Form der Erpressung besteht darin, dass die Griechen bei den türkischen Behörden Bulgaren als Aufwiegler verschwärzen. Diese Unglücklichen werden nun in Gefängnisse gesteckt, neben denen die Kerker des Königs Bomba, welche einst den Zorn Gladstones erregten, noch wahre Paradiesgärten sind. Eine nicht geringere Marter ist aber der Schneckengang dieser sogenannten Gerechtigkeitspflege, die in Wahrheit nur die Ungerechtigkeit pflegt. Verlangen die Eingekerkerten dann schliesslich, zu ihrer Familie zurückgeführt zu werden, so sind die Behörden hiermit einverstanden, wobei sie jedoch natürlich der Unschuld eine Freiheitssteuer auferlegen. Derartiges ist angesehenen Bürgern aus Gefgeli, Weles u. s. w. begegnet. Nach der Empfangnahme des Beutegeldes überweisen bisweilen die Behörden die Unglücklichen dem Kriegsgerichte — seit dem letzten Kriege befindet die Türkei sich im Belagerungszustande —, und von hier aus werden dieselben, je nach den Umständen, entweder freigesprochen oder in die Verbannung geschickt. »Die Richter ziehen die Sache aber stets so lange hin, bis die Parteien durch den Kostenaufwand zu Grunde gerichtet sind, und ist den Leuten kein Para mehr zu entlocken, so wird in vollster Unabhängigkeit vom wirklichen Rechte eine ganz willkürliche Entscheidung getroffen. »Einen Urtheilsspruch kann der Verlierende durch Bakschische indessen immer noch zu seinen Gunsten drehen und wenden. »Ueberau in Macedonien spazieren die Räuberbanden unbehelligt herum, und so ist es ihnen möglich, bis an die Thore grosser Städte, wie Saloniki und Bitolia, zu dringen, und hier an den Menschen und ihrem Eigenthume sich zu vergreifen. Im vergangenen Jahre sind die Bezirke Dibre, Kitschewo, Ochrida und Bitolia wiederholt verheert worden, wobei mehrere Dörfer, z. B. Papadischta, Oresche, Wogilowo, niederbrannten und mehrere Personen ums Leben kamen. »Vor 2 Jahren wollte die Regierung diesen Unordnungen ein Ende machen. Man nahm desshalb die Führer der Räuberbanden fest und brachte sie in Bitolia und Skip hinter Schloss und Riegel. Doch der Bevollmächtigte des Sultans, Derwisch Pascha, setzte dieselben in Freiheit, und zwar unter dem Vor-wande, dass man jetzt die auf dem Berliner Kongresse für Macedonien in Aussicht genommenen Umgestaltungen durchführen müsse: Islaghat oladjak. »Diesen Derwisch Pascha nannte die gesammte Bevölkerung, ohne Unterschied der Rasse und des Glaubens, den »Tyrannen«. Er durchzog ganz Macedonien und forderte von den Bulgaren, Griechen und Türken Summen, welche auf Tausende von Pfunden sich beliefen und innerhalb weniger Tage gezahlt werden sollten. Die Räuberbanden wissen sehr gut, dass ihnen die thatsächliche, wenn auch nicht öffentlich erklärte Hilfe der Regierung sicher ist, und dass sie sich mit Hilfe des Geldes immer wieder leicht befreien können. Sie ziehen sich nach den Bergen wie nach einem verschanzten Lager zurück und brechen dann von dort aus hervor, um das Laveleye, Balkanländer. II. 24 Land zu verwüsten und die Leute fortzuschleppen. Selbst 10 bis 12jährige Kinder werden geraubt und in unsauberster Weise behandelt. Das Lösegeld muss aber innerhalb einer kurzen Frist zur Stelle sein, und unterbleibt die Zahlung desselben, so werden die Gefangenen ohne Gnade und Barmherzigkeit getödtet und bisweilen lebendig verbrannt. Die Köpfe der Opfer stecken die Räuber sich auf ihre Spiesse, und so durchziehen sie die Dörfer, um deren Bewohner mit lähmender Furcht zu erfüllen. Natürlich schleppen sie auch die ihnen zusagenden Frauen und Mädchen weg, oder sie thun ihnen im Vorübergehen Gewalt an. »Vor der türkischen Polizei zittern die Bauern aber ebenso wie vor den Räubern. Jene Schaaren, welche von der Behörde unter dem Vorgeben, die Räuber verfolgen zu lassen, nach den Dörfern geschickt werden, berauben und misshandeln die Leute. Weigern diese sich nun etwa, die verlangten Gelder und Lebensmittel zu liefern, so werden sie als Aufwiegler und Empörer verhaftet. Die in den Dörfern einquartirten Soldaten leben dort auf Kosten der Einwohnerschaft höchst üppig, und ziehen sie nach mehrwöchentlichem Aufenthalte endlich ab, ja dann muss das Gemeindeoberhaupt ihnen, die noch nichts zahlten, auch noch eine Quittung ausstellen. Fragt man aber die Befehlshaber, warum sie, den Zweck ihres Hierseins verleugnend, die Räuber nicht verfolgen, so heisst's: »Wesshalb sollen wir unsere Soldaten einem Gefechte aussetzen? Uns ist hier ganz wohl zu Muthe.« V. Die türkische Herrschaft. Der Halbmond zieht die Wüste gross, indem er die Quellen des Besitzes erschöpft und so der Bevölkerung die Möglichkeit, das Dasein fristen zu können, abschneidet. Unter türkischer Herrschaft gestalten die Zustände sich weit schlimmer als unter den Negern Inner-Afrikas, denen es doch wenigstens vergönnt ist, zu leben und sich zu vermehren. Die nachstehenden Belege aber sollen meine Behauptungen erhärten. »Ueberau, wo die Türken hinkamen, scheint unter ihrer Berührung die Fruchtbarkeit des Bodens versiegt zu sein. Was haben sie aus den reichen Anschwemmungen am Tigris und am Euphrat gemacht? Jene Gebiete bedeckten sich mit ungeheuren Sümpfen und wurden zu Pest- und Fieberheerden. Die Erde ist fruchtbar, kann aber, weil es an einer richtigen Vertheilung des Wassers fehlt, nicht bebaut werden und liegt nun öde da. Das Blut der eingeborenen Rassen hat keine Milderung erfahren, sondern es ist geschwächt worden durch den Einfluss der Vielweiberei, und die Zahl der Bevölkerung sank in dem Maasse, als der Umfang des unbebauten Landes wuchs. »Ich grübele heute mehr, als gut ist. Doch seit meinem Eintritte in Chaldäa sehe ich bei jedem Schritte und in jedem Augenblicke, wie tief das Uebel wurzelt, und mein hiervon ganz erfüllter Geist vergleicht fortwährend die Ueppigkeit und den Glanz des entschwundenen babylonischen Zeitalters mit der gegenwärtigen Armut und Greisenhaftigkeit. »Wie kann man aber auch wohl in der nun grösstentheils zur Wüste gewordenen Umgegend von Bagdad diese einst so fruchtbaren Ländereien vergessen, wo das Getreide einen 30ofachen Ertrag gab, wo die Blätter des Weizens und der Gerste 4 Finger breit waren? Herodot will nicht sagen, wie hoch dort Mais und Sesam stehen, weil er eben fürchtet, man werde ihn der Uebertreibung zeihen. Ist es meine Schuld, dass ich das Konsulat nicht verlassen kann, ohne durch irgend ein unangenehmes Etwas an das Lässig-Schlaffe, welches die asiatische Türkei nun vollständig einlullt, erinnert zu werden? —.« (Frau Johanna Dieulafoy, »Reise um die Welt,« 7. März 1885.) In der Londoner Zeitschrift »The Academy« (v. 25. November 1876) heisst's: »Der Mensch verschwindet aus jenen herrlichen Ländern, welche einst den Garten der Welt darstellten. Alte Fürstengeschlechter hatten der Bewässerung dienende Bauten ins Leben gerufen, und diese Meisterwerke 24* sind heute formlose Trümmerhaufen. Die immer weiter vorrückende arabische Wüste bedeckt mit ihrem Sande die fruchtbaren Gefilde Syriens und wird bald das Mittelmeer erreicht haben. Allein in der Umgegend von Aleppo sind während eines Zeitraumes von etwa 20 Jahren 100 Dörfer verschwunden. Zwischen Smyrna und Ephesus legt der Reisende einen Weg von 50 Meilen zurück, ohne weder von einer Bevölkerung, noch von bestellten Feldern auch nur die mindeste Spur anzutreffen, und doch befindet er sich in einem Bezirke von wunderbarer Fruchtbarkeit, welcher das schönste Klima der Erde hat. Die ausgedehnten, ertragreichen Landstriche des türkischen Armeniens, Troas, selbst die Gegend am Bosporus, glichen noch vor 20 bis 30 Jahren einem Gemüsegarten und sind nun weiter nichts als eine Wüstenei, auf der hier und da und dort Trümmerhaufen und Gräber sich zeigen. An der Grenze Armeniens erhebt sich eine Stadt mit grossen steinernen Häusern und hohen Wällen; einst hatte sie, man erinnert sich dessen noch, eine zahlreiche Einwohnerschaft, und heute ist sie die Stadt der Todten.« — »Die herrlichsten Provinzen der Welt,« sagt Georg Bowen, »haben während des Friedens schlimmer als andere Länder während der fürchterlichsten Kriege zu leiden gehabt.« »In Kleinasien sind die Ackerbautreibenden und die Heerdenbesitzer mit 62 °/o ihres Einkommens besteuert. Verringert nun die Dürre den Viehstand, so raffen Hunger und Krankheit ein Drittel oder auch die Hälfte der Bevölkerung dahin. Die Steuern aber werden trotzdem erhoben, und man nimmt den Leuten das ihnen von den Hilfsvereinen geschickte Geld weg und zwingt sie, ihre Schafe mitten im Winter zu scheeren.« (Quarterly Review, 13. Mai 1876, S. 391.) »Der Bauer schlägt seine Oel- und Feigenbäume nieder; über deren Früchte kann er sich ja keineswegs freuen, und sie hetzen ihm im Gegentheile nur schlimme Erpressungen auf den Hals. Er fürchtet den Besitz aller Dinge, welche nicht ein Zeichen äusserster Armuth sind, und der Besitzlose ist das einzige Wesen, dem man Schonung angedeihen lässt. Von aufgespeicherten Kapitalien kann hier eben keine Rede sein, weil es an jeder Sicherheit fehlt.« (Contemp. Rev. De-cember 1876, S. 148.) Das Nachstehende entnahm ich den Briefen einer Persönlichkeit, welche mit der türkischen Sprache und den türkischen Sitten gründlich vertraut ist, und zwar durch einen langjährigen Aufenthalt in der Türkei. »Einige Millionen Türken haben mit Hilfe des Schwertes das arabische Kalifat und das byzantinische Reich erobert und länger als 4 Jahrhunderte hindurch ihre Herrschaft über 30 Millionen Menschen verschiedener Rasse und verschiedenen Bekenntnisses zu wahren gewusst. Diese Thatsache beweist doch aber, dass sie ein ganz besonderes Talent zum Regieren haben. Steht ein Türke in dem Alter, dass er die Gestaltung seiner Zukunft ins Auge fasst, so ist all sein Wünschen und Sehnen darauf gerichtet, ein Amt zu erlangen, und als Greis empfindet er nur darüber, keins mehr zu haben, Bedauern. Er kann noch so reich sein und strebt doch danach, von der Regierung angestellt zu werden. Leichten Herzens giebt er seine Ruhe und Unabhängigkeit hin, worauf er eben wenig Werth legt im Vergleiche zu der Wichtigkeit, welche ein Beamtentitel ihm verleiht. Ich habe hohe Würdenträger gekannt, die auf dem Gipfel der Ehre und des Glückes standen und von einer ehrenwerthen und ihnen treuergebenen Familie umringt wurden. Sie durften nun ausruhen und geniessen. Doch der Sultan hatte ihnen kein Amt überwiesen, und diese Unthätigkeit brachte sie zur Verzweifelung. Ein Grossvezier wird durch den Befehl des Sultans, auszuruhen, vollständig niedergeschmettert und erlangt seine Spannkraft erst wieder, so bald er von neuem in einen, wenn auch geringeren, Posten einrücken darf. »Ehemalige Beamte, die alles besitzen, was dem Leben Werth giebt, demüthigen sich vor den Bedienten verschiedener Würdenträger, um auf diesem Wege das heissersehnte Ziel zu erlangen. Jeder Türke stellt gleichsam ein Doppelwesen dar. Als Beamter ist er stolz, unzugänglich, anmaassend, und nur vor den gefürchteten fremden Diplomaten beugt er sich. Ein Aus- länder hat im Verkehre mit ihm ein wahres Martyrium von Demüthigungen und Verdriesslichkeiten auszustehen. Doch der nicht im Amte befindliche Türke ist der freundlichste, liebenswürdigste, höflichste, wohlwollendste, zugänglichste und gastfreundlichste Mensch. »Die Europäer haben im Verkehre mit den Türken deren Vertrauen gemissbraucht. Sie wussten ja, dass die hinter ihnen stehenden Gesandten und Konsuln sie, der Gerechtigkeit zum Trotze, schon stützen würden. Das eben hat nun die Türken misstrauisch, verschlagen und bösartig gemacht, und sie sind dahin gekommen, beim Kampfe gegen die Fremden, welche sich auf Kosten des Landes bereichern wollen, die Hinterlist als Waffe zu gebrauchen. Ihre Unaufrichtigkeit ist nun ebenso thatsächlich, als ihre Aufrichtigkeit früher sprichwörtlich war. Hierin, nicht aber etwa in Gründen religiöser Natur, wurzeln die Abneigung und die Verachtung, welche der Türke dem Franken entgegenbringt. »Man hat sich französische, englische, deutsche Ingenieure und Lehrer kommen lassen. Diesen wurde ein hohes Gehalt und das Schellengeklingel türkischer Titel zugestanden, und sie erhielten die Erlaubniss, den Fez und die Uniform tragen zu dürfen. Doch ihr Amt sank sehr bald zu einer wahren Sinekure herab, und in Wirklichkeit liess man sie, wie gross ihr guter Wille und ihre Fähigkeiten auch immer sein mochten, nichts thun. So steht's heute um die deutschen Offiziere, deren Ankunft viel Staub aufgewirbelt hat, und welche zum Nutzen der Civilisation und des Fortschrittes einen Kreuzzug friedlicher Art unternehmen sollten. »Ich hatte einen Türken zum Nachbarn, der als vorurtheils-loser, fortschrittlich gesinnter Mann bekannt war; derselbe plauderte gerne mit mir und stellte Fragen an mich. Eines Tages nun drehte das Gespräch sich um den Ursprung der Perlen, und der Türke folgte zunächst aufmerksam meinen Worten, schüttelte dann aber zweifelnd den Kopf und sagte: »Die Perlen sind nicht, wie Sie behaupten, in den Austern zu finden. Es giebt vielmehr einen Fisch, der während des Regens den Kopf aus dem Wasser hervorstreckt, und jeder Tropfen, welcher ihm dabei in das geöffnete Maul fällt, wird in seinem Magen zu einer Perle. So steht's in unseren Büchern.« »Er hielt es für unter seiner Würde, noch weiter über die Sache zu sprechen, und beobachtete ein verächtliches Schweigen. Derartiges ist aber keineswegs ein vereinzelter Fall. Auf dem Gebiete des Gewerbes und der Erfindungen gesteht der Türke dem Europäer wohl eine Art von Ueber-legenheit zu; doch im Grunde seines Herzens hegt er für denselben immer eine gewisse Verachtung und betrachtet ihn in vieler Hinsicht als ein niedrigeres Wesen. »Ist der Moslim aber irgend eines an Europäern verübten Verbrechens schuldig, so wird er, wie sehr man die Regierung von anderer Seite auch bearbeiten möge, doch stets auf dem einen oder dem anderen Wege der Strafe entgehen.--- »Unter einander machen die Türken sich ungeheuer lustig über das angebliche Einvernehmen der Mächte in Sachen des Halbmondes. Es ist ihnen sehr erwünscht, auf diese Weise dem Drucke fremder Forderungen entgehen zu können, und sie rechnen auf die Eifersucht, durch welche Europa entzweit und zur Ohnmacht verdammt wird. Ihr Frohlocken findet bisweilen in den zu Stambul erscheinenden Zeitungen Ausdruck, und Lord Grandville wurde da als »Caramfil« — Gewürznelke — und Herr Goschen als »Kochan« — Pflastertreter — bezeichnet, während Lord Salisbury sich früher einmal einen »Salisupurie« — einen alten Besen — nennen lassen musste. Diese Spielereien nahmen zuletzt aber einen solchen Umfang an, dass den türkischen Zeitungen eine amtliche Verwarnung zuging. Sir Layard hatte sich eben zu seinem grossen Bedauern genöthigt gesehen, den Direktor des Pressbureaus daran zu erinnern, dass ja der »Levant Herald« um weit geringerer Ursachen willen unterdrückt worden war. Mittel, welche nicht handgreiflich sind, bleiben den Türken gegenüber wirkungslos, und mit einer blossen Einschüchterung ist denselben keineswegs beizukommen. Im Glücke offenbaren sie einen ungeheueren Hochmuth, und andererseits können sie auch wiederum kriechen und sich bücken und ducken, falls ihr Vortheil dies zu erheischen scheint. Ich habe dabei aber eben die Türken im Auge, welche den Regierungskreisen mehr oder minder nahe angehören.--— — — — — — »Keine Religion legt ihren Bekennern das Almosengeben dringender ans Herz als der Islam, und Einrichtungen zum Schutze von Wanderern, von Armen und Kranken sind am häufigsten in mohammedanischen Ländern anzutreffen. Der Sultan, die Sultanin, der Grossvezier, der Pascha, sie waren in alten Zeiten stets darauf bedacht, ihren Namen mit einer Stiftung frommen oder mildthätigen Charakters zu verknüpfen, und daher finden sich auch in Constantinopel und in den Provinzen so viele Moscheen, Schulen, Springbrunnen und Gast-und Krankenhäuser. Selbst einfache Privatleute suchen auf solchen Wegen die Gunst des Himmels sich zu erwerben. In Adrianopel wohnte neben mir eine reiche Wittwe, welcher der Tod den einzigen Sohn raubte, und zum Andenken an den Verstorbenen liess nun die trostlose Mutter einen Springbrunnen errichten. »An den Rumelien durchziehenden grossen Heeresstrassen bezeichneten Khans die Tagemärsche, und solchen Gebäuden, die theils sich erhalten haben und theils Ruinen sind, begegnet man auch heute noch. Sie wurden alle aus behauenen Steinen und nach dem selbigen Plane aufgeführt, und in ihnen bot die Religion der Gastfreundschaft eine Stätte. »Der Koran lehrt, dass jede Besitzung Gemeingut, und dass deren Eigner nur Verwalter ist. Von Seiten der Armen wird dieser schöne Grundsatz nun aber häufig missbraucht. »Als Mahmud IL, so erzählt man, einst an einem Freitage nach der Moschee sich begab, trat ihm ein ganz zerlumpter, bettelnder Derwisch in den Weg und fragte, in ehrerbietiger Haltung, mit kreuzweise über einander gelegten Händen, dastehend : »Sehr erlauchter Padischah, glaubst du an Mohammed?« »Gewiss, ich glaube an die Worte unseres Propheten.« »Nun gut, so theile deine Reichthümer mit deinem Bruder. Unser Prophet sagt ja, dass alle Moslims Brüder sind.« Der Sultan lachte und liess dem Bettler ein Goldstück reichen. Dieser aber besah es von allen Seiten, schüttelte den Kopf und sagte: »Warum giebst du mir nur eine Zechine, mein Bruder? Heisst das theilen? Was ist doch dieses Stück im Vergleiche zu deinen unerschöpflichen Schätzen!« Hierauf entgegnete dann der Sultan: »Sei zufrieden, mein Bruder. Sage aber keinem Menschen, wie viel ich dir gegeben habe, denn unsere Familie ist sehr gross. Wollten alle meine Brüder ihren Antheil verlangen, so würde nicht allein mein Besitz keineswegs ausreichen, sondern du müsstest auch noch etwas von dem Deinigen hinzuthun.« INHALT. Einleitung zur zweiten Auflage des französischen Originalwerkes .............S. V—XXIV. Erstes Kapitel. Serbien. Geschichtliche Erinnerungen. Von Seigrad nach Pirot...............S. i—46. Der serbische Socialismus und die Radikalen. — Kaiser Duschan und Kossowo. — Der Unabhängigkeitskrieg. — Kara-Georg und Milosch Obreno-witsch. — Fürst Michael. — Smederewo. — Der Abt Tondini. — Nisch. — »Der Schädel -Thurm«. — Ak-Palanka und der Unter-Präfekt Stankowitsch.— Pirot. — Die Zadruga. — Die Herstellung von Teppichen. — Die Centrali-sations- und die Schulden-Gefahr. Zweites Kapitel. Von Pirot nach Sofia. Bulgarien. Aus seiner Geschichte und Völkerkunde..........S. 47—72. Der zwischen Serbien und Bulgarien abzuschaffende Grenzzoll. — Zaribrod. — Nikolaus Kireefs Tod. — Der Dragoman - Pass. — Sliwnitza. — Die Bulgaren und ihre Geschichte. — Von der Verwandtschaft zwischen dem Bulgarischen und den anderen slawischen Sprachen. — Herr Jeretschek. — Das Erwachen des Volksgeistes und die Selbstständigkeit der bulgarischen Kirche. Drittes Kapitel. Das heutige Bulgarien.........S. 72—93. Bulgarien seit dem Berliner Vertrage. — Ein Buch über den Fürsten Alexander. — Wahrung des Beamtenthums. — Zankow, Balabanow, Grekow, Karawelow, Slaweikow. — Russlands Haltung. Viertes Kapitel. Sofia. Die wirtschaftlichen Zustände Bulgariens. S. 94—161. Sofia und seine Umgebung. — Der Witosch. — Der Reichthum an Mineralien. — Herr Lascelles und das zerstückelte Bulgarien. — Die Bevölkerung Bulgariens. — Der Staatshaushalt. — Herr Queille und die Schäden des Finanzwesens. — Die Landesbank. — Die Landwirthschaft und ihre Erträge. — Die Zadrugas. — Eigenschaften der Bulgaren. — Die Geistlichkeit. — Warum soll die Landestracht in den Bann gethan werden? — Auslassungen eines Diplomaten über Bulgarien. — Die Schutzverträge. — Wünsche. — Russlands übelberathene Politik. Fü nftes Kapitel. Rumelien und Macedonien.......S. 162 — 229. Wakarel. — Ichtiman. — Alte türkische Redlichkeit. — Treffliche Vorschriften des Islams. — Porta Trajana. — Wetren. — Tatar-Bazardschik und Orpheus. — Philippopel. — Dr. Tschomakow. — Die »bulgarischen Greuel— Rumeliens Verfassung. — Die Parteien. — Das Budget. — Aufwendungen für den Unterricht. — Die geringe Anzahl der Verbrechen. — Das Robert-College. — Macedonien. — Rassenkämpfe. — Planmässig durchgeführte Verfolgungen der Bulgaren. — Die Verblendung der türkischen Regierung. — Die Pauliner. — Stanimaka. — Der Koro. — Albert Dumont über die Türken. 1 Sechstes Kapitel. Constantinopel. Die türkische Herrschaft . S. 230—296. Das Rosenthal. — Adrianopel. — Der fruchtbare und doch ungenützte Boden. — »Die See! Die See!« — San Stefano. — Prinkipo. — Constantinopel und die Moscheen. — Der Selamlik. — In der französischen Gesandtschaft zu Therapia. — Der Verfall und seine Ursachen. — Der Bakschisch. — Das Blowitzsche Heilmittel: Der Verkauf der Wakufs. — Verschiedenartigste Hindernisse. — Die sogenannte europäische Civilisation tödtet die Türkei. — Die Lösung. — Der morgenländische Staatenbund. Siebentes Kapitel. In Rumänien............S. 296—354. Von Warna nach Rustschuk. — Bukarest. — William White, der englische Gesandte. — Herr und Frau Sturdza. — Carmen Sylva. — Das befestigte Bukarest und General Brialmont. — König Karl. — Rumäniens Verfassung. — Die Parteien und der »RomanuU. — Der Unterrichtsminister Aurelian — ßo — und die Ackerbauschule. — Die »Resechis«. — Die Landwirtschaft und die Erträge des Bodens. — Bergwerke. — Das Gewerbe. — Die Judenfrage. — Unterrichtsverhältnisse. — Wirtschaftliche Fortschritte Rumäniens. — Die Donaucommission. — Russische Kutscher. — Die walachische Ebene. — Nach Werciorowa. — Ungarns Fortschritte. — Die Orientpolitik der Grossmächte. I. Alte bulgarische Bücher, S. 355—358. — II. Bulgariens Ausgaben und Einnahmen im Jahre 1884, S. 359. — III. Der serbisch-bulgarische Krieg, S. 360—364. — IV. Die Lage Macedoniens, S. 364—370. — V. Die türkische Herrschaft, S. 370—377. Anhang s- 355—377- Druck von Ramm 4 Seemann in Leipzig. 1. VII. 1946