DOI: 10.32022/PHI31.2022.122-123.1 UDC: 130.121 vorwort Cathrin Nielsen Eugen-Fink-Zentrum Wuppertal, Bergische Universität Wuppertal, Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal, Deutschland nielsen@uni-wuppertal.de Hans Rainer Sepp Faculty of Humanities, Charles University, Patkova 2137/5, 182 00 Praha 8 - Liben, Czech Republic hr.sepp@web.de Der vorliegende Band ist das Ergebnis eines Forschungskolloquiums, das im November 2021 als 1. Internationale Forschungstagung im Rahmen eines binationalen DFG-GACR-Forschungsprojekts zwischen den Universitäten Prag und Wuppertal in Villa Lanna, einem Tagungsort der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, stattgefunden hat. Ganz im Sinne des Titels „Neuere Forschungen zu Eugen Fink" gab es keinen thematischen Schwerpunkt; angedacht war vielmehr, neue Möglichkeiten des Umgangs Phainomena 31 | 122-123 | 2022 und der Kontextualisierung von Finks vielseitig aufgefächerter Philosophie zu erkunden. Eugen Fink (1905-1975), Schüler von Edmund Husserl und Martin Heidegger, war nach seiner Promotion Husserls Privatassistent. Unmittelbar nach Kriegsende wurde er auf den Lehrstuhl für Philosophie und Erziehungswissenschaft an der Universität Freiburg berufen, den er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1971 innehatte. Er war Gründer und erster Direktor des Freiburger Husserl-Archivs. Die Auseinandersetzung mit Finks Denken steht international, aber auch im deutschsprachigen Raum noch in den Anfängen. Das gilt insbesondere von seinem Spätwerk (ab 1945), in dem er immer deutlicher einen von Husserl und Heidegger unabhängigen Weg einschlägt: die Frage nach dem Weltbezug des Menschen und nach der Welt uberhaupt. Ähnlich wie bei Husserl das „Bewusstsein" und bei Heidegger das „Sein", ist bei Fink die „Welt" der Bereich einer ursprunglichen Scheidung, welche den Grundriss des philosophischen Konzepts vorgibt. Steht bei Husserl mit dem Bewusstsein die Differenz von naturlicher und transzendentaler Subjektivität 6 und bei Heidegger mit dem Sein die ontologische Differenz im Mittelpunkt des philosophischen Interesses, so bei Fink mit Welt die „kosmologische Differenz". Welt in ihrem Doppelcharakter meint dabei zum einen die Welt im Menschen (existenzieller Weltbegriff), zum anderen Welt als das, was sich als Gegenstand unserer Erfahrung entzieht und zu dem wir uns doch als Ganzem verhalten (kosmologischer Weltbegriff). Vor allem zwei Unzulänglichkeiten motivieren dabei Finks dritten Weg: 1) die Reduktion der Welt als Horizont aller Erscheinungen auf das Subjekt bei Husserl, 2) eine Form von Ontologie, die das Seiende hermeneutisch in Richtung auf das Sein uberschreitet, wie Fink es in Heideggers Seinsdenken erkennt. Vielmehr gelte es, im Sein in der Welt die Spur desjenigen zu erfahren, das radikal uber dieses Sein hinaus ist. Allein in diesem Hinaussein deute sich „Welt" an, und zwar phänomenal nur im Entzug. Um die Radikalität dieser Paradoxie - Welt als etwas zu denken, das phänomenal entzogen und hermeneutisch unsagbar ist und dennoch erscheint und die Antwort des Menschen herausfordert - auf den Begriff zu bringen, bedarf die anti-spekulative Grundeinstellung der Phänomenologie nach Fink einer grundsätzlichen Revision. Es gilt, die Welterfahrung als ontologische Erfahrung zum Problem zu machen, das heißt, die Phänomenologie von Einleitung | Uvod der in ihr selbst aufleuchtenden Grenze her neu aufzurollen. Das erfordert in seinen Augen zugleich, einen neuen Bezug zur metaphysischen Tradition herzustellen und somit ins Gespräch mit geschichtlichen Positionen zu treten. In seinen Vorlesungen und Publikationen setzt sich Fink im Rahmen einer kritischen Durchhellung der ontologischen Grundbegriffe des abendländischen Denkens insbesondere mit der antiken (Xenon, Parmenides, Heraklit, Platon, Aristoteles) sowie der neuzeitlichen Philosophie (Descartes und Leibniz bis hin zu Kant, Hegel und Nietzsche) auseinander und entfaltet auf dieser ideengeschichtlichen Grundlage eine eigenständig entwickelte kosmologische Anthropologie. Danach ist der Mensch weder Subjekt noch Seiendes noch Dasein, sondern „durch den Bau der Welt bestimmt", d. h., er existiert im offenen Spielraum der „kosmologischen Dialektik" von Himmel und Erde, Welt und Ding. Fink entfaltet die in das polare Wesen der Welt eingebettete menschliche Existenz am Leitfaden der „Grundphänomene" von Arbeit, Herrschaft, Liebe, Spiel und Tod. Dabei wird vor allem der Dimension der „Co-Existenz", die sich als Spielraum der Politik, als Erziehung, in der Generativität und im Totenkult äußert, ein zentrales Gewicht eingeräumt. In zahlreichen 7 Vorträgen, Artikeln, Gelegenheitsschriften und Rundfunksendungen bezieht Fink zudem vor dem Hintergrund seiner aus der Kosmologie entfalteten Sozialphilosophie, philosophischen Anthropologie und Bildungsphilosophie zu den aktuellen Fragen der Bildungspolitik und Technik Stellung. Aufgrund seines denkerischen Zugriffs wie seines breitgefächerten und umfangreichen Werks gilt Eugen Fink mittlerweile international als bedeutender Vertreter der deutschsprachigen Philosophie der Nachkriegszeit, der schon in seinem Frühwerk entscheidende Anstöße für das zeitgenössische Philosophieren, vor allem in Frankreich (Maurice Merleau-Ponty, Jacques Derrida, Marc Richir), gegeben hat. Nach Finks Tod im Jahre 1975 war zunächst das 1981 von Ferdinand Graf an der Pädagogischen Hochschule Freiburg gegründete Eugen Fink-Archiv Anlaufstelle für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt, die sich mit dem Werk Finks bzw. der Freiburger Phänomenologie befassen oder Schriften Finks in andere Sprachen übersetzen. Die Begründung der Eugen Fink Gesamtausgabe durch Hans Rainer Sepp und Cathrin Nielsen im Jahre 2005 (vgl. den Aufriss am Ende des vorliegenden Bandes) Phainomena 31 | 122-123 | 2022 und der in diesem Zusammenhang umfassend gesichtete und an die Universitätsbibliothek Freiburg überführte Nachlass Finks bedeutete einen weiteren Schub in der Auseinandersetzung mit seinem Denken. Ab 2009 übernahm das Internationale Eugen Fink-Archiv für phänomenologische Anthropologie und Sozialphilosophie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz unter Stephan Grätzel die Geschicke. Seit 2019 gibt es nun sogar zwei Eugen Fink-Zentren an deutschen Universitäten, was als Zeugnis der wachsenden Bedeutung Finks gewertet werden kann: Die ehemalige Mainzer Forschungsstelle und das Archiv sind jetzt an der Professur für Philosophie unter Leitung von Holger Zaborowski an der Universität Erfurt angesiedelt. Die Aufgabe der Koordination der Eugen Fink Gesamtausgabe liegt dagegen bei dem 2019 unter der Leitung von Alexander Schnell gegründeten Eugen-FinkZentrum Wuppertal (EFZW). Damit konnte die Eugen Fink Gesamtausgabe institutionell an einen gut vernetzten Lehrstuhl für Philosophie in Deutschland angebunden werden, der die Phänomenologie maßgeblich vertritt. Zu den Forschungen, die die seit 2006 im Karl Alber Verlag erscheinende 8 Gesamtausgabe der Werke Finks im deutschsprachigen Raum begleiten, zählen u. a. der von Annette Hilt und Cathrin Nielsen herausgegebene Sammelband Bildung im technischen Zeitalter, der Finks Philosophie der Erziehung im Kontext seines Gesamtwerkes gewidmet ist. Die von Cathrin Nielsen und Hans Rainer Sepp edierten Publikationen Welt denken (2011) und Wohnen als Weltverhältnis (2019) beschäftigen sich mit der zentralen kosmologischen Problematik von Finks Denken und der auf ihre Welthaftigkeit hin eröffneten existenziellen Situation des Menschen, seiner zentralen Bestimmung als „ens cosmologicum". Parallel zu der vorliegenden Publikation erscheinen als Band 2022/2 der Phänomenologischen Forschungen die Ergebnisse einer Internationalen Forschungstagung zum Thema „Eugen Fink und die Klassische Deutsche Philosophie. Eine Auseinandersetzung im Spannungsfeld zwischen Transzendentalphilosophie, Phänomenologie und Metaphysik", die im Februar 2020 vom Eugen-Fink-Zentrum Wuppertal in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie, FU Berlin (Dina Emundts), ausgerichtet wurde. Als Ergebnis eines am Internationalen Eugen FinkArchiv für phänomenologische Anthropologie und Sozialphilosophie in Erfurt veranstalteten Workshops zur „Phänomenologie des Spiels" im Februar Einleitung | Uvod 2022 erscheint zudem Anfang 2023 beim Karl Alber Verlag in der Reihe Interpretationen und Quellen ein von Annette Hilt und Holger Zaborowski herausgegebener Band zu Finks Studie Oase des Glücks (1957), der neben dem Primärtext 14 interpretierende Beiträge umfasst, die Perspektiven auf seinen werkgeschichtlichen, systematischen wie interdisziplinären Kontext geben. * * * Die Aufsätze im vorliegenden Band „Eugen Fink. Annäherungen | Approaches | Rapprochements" sind dagegen absichtlich breit gestreut, lassen sich jedoch in drei Schwerpunkte gliedern: 1. Fink im Kontext philosophischer Positionen, 2. Sozialphilosophie und 3. Ontologie und Kosmologie. I. Fink im Kontext philosophischer Positionen Der erste Abschnitt verortet Fink im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Positionen sowohl der klassischen neueren Philosophie als auch der Phänomenologie. So widmet sich Alexander Schnell Finks phänomenologischer Auslegung des Kapitels „Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe" in Kants Kritik der reinen Vernunft und rekonstruiert in einer eng an Kants Text angelegten Lektüre, wie Fink den grundlegenden Bezug von Zeit, Einbildung und Ich herausstellt. Mit Finks Nietzsche-Deutung beschäftigt sich Cathrin Nielsen. Nietzsche interessiert Fink als ein Denker, bei dem sich im Fragehorizont der Metaphysik und doch zugleich über ihn hinaus eine neue Welterfahrung abzeichnet. Enggeführt wird dies im Bild vom „Torweg" aus dem Zarathustra, das Fink als Antagonismus von Ontologie (Sein) und Kosmologie (Zeit) deutet. Finks Interpretation betrifft dabei nicht nur das Denken und den geschichtlichen Ort Nietzsches, sondern reicht ebenso in Finks eigenen Entwurfshorizont hinein. Giovanni Jan Giubilato zeichnet unter Berücksichtigung des jüngst veröffentlichten Nachlassmaterials und in kritischer Auseinandersetzung mit Heidegger Finks sukzessive Annäherung an das Kernproblem seines kosmologischen Denkens nach: die Frage nach der Individuation. Lutz Niemann unternimmt es, Finks Kosmologie und das Denken von Emmanuel Levinas in Totalität und Unendlichkeit entlang der 9 Phainomena 31 | 122-123 | 2022 Metaphorik von Tag und Nacht aufzuschließen und einander kontrastierend gegenüberzustellen. Anders als Levinas denke Fink keinerlei Hierarchie zwischen Licht und Dunkel, sondern ein Zugleich und verhindere so jeglichen Anspruch auf Totalität, auf ultimativen Sinn. Karel Novotny konzentriert sich auf den Begriff des Raumes und seine Deutung in zwei Versionen der gegenwärtigen kosmologischen Philosophie: der von Eugen Fink und der von Renaud Barbaras. Beide nehmen ihren Ausgang von einer kritischen Analyse einer körperbezogenen Zentrierung des Raumes in der Phänomenologie Husserls, divergieren jedoch in der Artikulation des kosmologischen Rahmens und des Ursprungs des gelebten Raums. II. Sozialphilosophie Der zweite Abschnitt ist Beiträgen zu Finks Sozialontologie und -philosophie gewidmet, die er insbesondere in seinen Vorlesungen nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltet. Artur R. Boelderl diskutiert Übereinstimmungen zwischen den Darstellungen von Sozialität, wie Fink sie in Existenz und Coexistenz unter dem Begriff der „Gemeinschaft" entwickelt, und denen, die Jean-Luc Nancy vor allem in La communauté désoeuvrée und Être singulier pluriel vorlegt. Ihre Gemeinsamkeiten beruhten auf einer chiasmatischen Logik, die für Fink im Blick auf die Gemeinschaft wesentlich sei: Wenn sie einen „Sinn" hat (und nicht nur eine „Bedeutung"), dann ist dieser Sinn ein gemeinschaftlicher. Der Sinn der Gemeinschaft ist also Gemeinschaft, oder, wie der Autor mit Jean-Luc Nancy formuliert: „Wir sind der Sinn." Auch nach Jakub Capek geht Finks Philosophie der Sozialität weniger von der Erfahrung des individuellen Fremden aus als vom Primat der Teilnahme an derselben Welt. Fink entfalte diese Idee im Kontext der materiellen Kultur: Danach sind Dinge nicht nur Gebrauchsgegenstände, sondern können zu „bedeutsamen Dingen" werden, die unsere Existenz symbolisch darstellen, und zwar als eine grundsätzlich geteilte Existenz. Dem Autor zufolge bleibt Finks Behauptung, Teilung stifte gemeinschaftliche Einheit, jedoch unbegründet; auch Finks Rückbindung der Philosophie der Sozialität an einen einheitlichen Begriff der Welt weist er als kosmologisch fundierten, illegitimen Optimismus zurück. Stattdessen plädiert der Autor für eine Philosophie der Sozialität, die Einleitung | Uvod die Einheit der Gemeinschaft für grundlegend ungesichert erklärt. Marcia Sa Cavalcante Schuback dagegen diskutiert Eugen Finks Frage nach der Gemeinschaft ausdrücklich im Lichte der kosmologischen Differenz. Danach stelle Fink die Erfahrung der kosmischen Zugehörigkeit ins Zentrum und versuche, Gemeinschaft jenseits der Dialektik von Individuum und Bindung zu denken. Als ein Schlüssel für einen solchen vorindividuellen Begriff des Miteinanders fungiere der erotische Körper. Dominique Epple versucht, sich dem Weltcharakter des „Grundphänomens" der Arbeit bei Fink anzunähern, das sich als ontologische Tätigkeit erweise. Im Ausgang von der Vermutung, dem Begriff der Natur liege bei Fink ein räumlicher Sinn zugrunde, der in einer Interpretation der „Wildnis" als Grenzregion (frontier) entfaltet werden könne, gelangt der Autor zu grundlegenden Überlegungen zum Weltverhältnis der Arbeit. III. Ontotogie und Kosmologie Der dritte und letzte Abschnitt widmet sich Finks kosmologischem Ansatz im engeren Sinne. Anna Luiza Coli konzentriert sich dabei auf den Problemkreis der Ontologie und den Begriff der „ontologischen Erfahrung". Den Ausgang dazu nimmt sie von einer - durch den mittlerweile veröffentlichten Nachlass Finks möglichen - Rekonstruktion des verloren gegangenen „Traktats über die phänomenologische Forschung" aus dem Jahr 1940. Annika Schlitte bringt Eugen Finks Raumverständnis mit neueren Ansätzen in Phänomenologie und Hermeneutik (Edward Casey und Jeff Malpas) ins Gespräch. Nachdem sie Finks kosmologisches Denken mit dem topologischen Denken der Ortsphilosophie kontrastiert hat, umreißt sie mit der anthropologischen und der sozialen Räumlichkeit bei Fink ein Untersuchungsfeld, das die Philosophie des Ortes um eine mögliche praktische Dimension erweitern könnte. Istvan Fazakas schließlich untersucht Finks kosmologische Phänomenologie im Kontrast zu neuen Entwicklungen von Renaud Barbaras' Phänomenologie der kosmischen Welt. Zunächst konzentriert er sich auf die Differenz zwischen dem Verständnis der Welt als Horizont und der kosmologischen Welt jenseits jeder Horizontalität. Anschließend zeigt er, dass und wie die Beschreibung der „elementalen" Dimension der Welt für Fink in das kosmologische Denken Phainomena 31 | 122-123 | 2022 einführt. Auf diese Weise tritt eine Zweideutigkeit zwischen dem Verständnis der kosmischen Welt als Raum und/oder Materie zutage, die sowohl Finks als auch Barbaras' Kosmologie charakterisiert. * * * Wir danken allen Autorinnen und Autoren dafür, dass sie uns ihre Beiträge für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt haben, und den Verantwortlichen von Phainomena. Journal of Phenomenology and Hermeneutics, insbesondere Dean Komel, für die gewährte Möglichkeit, die Ergebnisse unserer gemeinsamen Forschung in diesem Rahmen zu publizieren. 12