Dragica Bukovcan Fachhochschule für Polizeibeamte* UDK 811.112.2'373.7:340.113 VERBOT VS. GEBOT. DICHOTOMIEN UND GEGENSATZPAARE IN DER RECHTSSPRACHE 1 EINFUHRUNG Rechtssprache ist als Metasprache und als Objektsprache Gegenstand des Interesses sowohl der Juristen wie auch der Linguisten. Zu diesem komplexen und nach wie vor unerforschten Bereich des Sprachgebrauchs zählen Dichotomien und Gegensatzpaare, die in der Rechtssprache äußerst wichtige, nach einigen Autoren sogar fundamentale Rolle spielen. In der Rechtssprache sind sie als sprachliche Universalien überall belegt /öffentliches Recht vs. Privatrecht; legal vs. illegal; gesetzmäßig vs. gesetzwidrig, Positivität vs. Realität des Rechts; Rechtmäßigkeit vs. Rechtswidrigkeit; Rechtssicherheit vs. Rechtsunsicherheit; verfassungswidrig vs. verfassungsmäßig, mündig vs. unmündig/, aber in verschiedenen Rechtssystemen sind ihre spezifischen Erscheinungsformen und Funktionen zu notieren, die Rechtstradition und -konzepte einer konkreten Gesellschaft widerspiegeln, wonach die Rechtssprache zugleich auch gesellschaftspolitische Sprache ist. In der Fachliteratur gibt es mehrere Definitionen und Aufteilungskriterien dieses Sprachphänomens. Oft wird von „echten", „falschen", „kritischen" oder „verdeckten" Dichotomien im juristischen Diskurs gesprochen, obwohl eine einheitliche Kategorisierung aus verschiedenen sprachlichen und außersprachlichen Gründen nicht möglich ist. Außerdem entwickeln sich ständig neue Rechtskonzepte mit veränderter Versprach-lichung der Inhalte als Folge dynamischer gesellschaftlicher Veränderungen. Mit anderen Worten: Oppositionen im Allgemeinen und Dichotomien im Besonderen sind in der Rechtssprache diffuse und schnell veränderliche Kategorien. Man geht daher von der These aus, dass es keine einheitliche Methode für Identifikation und nähere Bestimmung aller Erscheinungsformen sowie verschiedener auf komplexen Begriffsrelationen gründender Funktionen von Dichotomien und Gegensatzpaaren in der Rechtssprache geben kann. Für die Analyse und Interpretation sind logische Bilder und deutsche Tradition der Begriffsjurisprudenz bzw. dieser Tradition zugrundeliegende Idee von „Kern und Hof von Rechtsbegriffen" zweckdienlich. Deutsche Rechtsquellen dienten als Referenzrahmen, wogegen die Quellen aus anderen Rechtssystemen die Anwendbarkeit des vorgeschlagenen Interpretationsmodells bestätigen oder aber auf die Divergenzen in Rechtskulturen und -traditionen hinweisen sollten. Die Adresse des Autors: Fachhochschule für Polizeibeamte, G. Suska Str. 1, HR-10020 Zagreb, Kroatien. E-Mail: dbukovca@fkz.hr 2 THEORETISCHER EXKURS Opposition (lat. oppositio) bedeutet Gegenüberstellung. In der Semantik werden Oppositionen als Relationen des Bedeutungsgegensatzes verstanden.1 Dabei ist zu betonen, dass ausgesprochen in der juristischen Fachsprache keinesfalls von einem einfachen Miteinanderkommen von zwei lexikalischen Einheiten mit entgegengesetzter Bedeutung die Rede sein kann. Oppositionelle Beziehungen zwischen Begriffspaaren sind im juristischen Diskurs ausgesprochen komplex: Rechtssprache weist vielfältige bipolare und multipolare Bedeutungsbeziehungen auf. Sie können verschiedene Formen der Antonymie annehmen (echte Unterlassungsdelikte vs. unechte Unterlassungsdelikte; starker Verdacht vs. schwacher Verdacht; natürlicher Tod vs. nicht-natürlicher Tod; Unterlassungsdelikte vs. Begehungsdelikte; Gewalttäter vs. Gewaltopfer; bewegliche Sache vs. unbewegliche Sache; milde Strafe vs. scharfe Strafe; gerecht vs. ungerecht; fahrlässige Tötung vs. vorsätzliche Tötung; zulässiger Beweis vs. unzulässiger Beweis; politischer vs. dogmatischer Rechtsbegriff usw.), oder aber auf Grund ihrer begrifflichen Komplexität, ihres terminologischen Potentials und konzeptueller Divergenzen der Rechtssysteme neue dynamische Modelle produzieren, die identifiziert und verstanden werden sollen. Wie sich die Zeiten ändern, erläutert Mirow in seinem Buch „Neue Formen der Dichotomie der Straftaten". Mirow (2001: 47) vergleicht die Aufteilungskriterien der Straftaten in der Vergangenheit mit heutiger Kategorisierung. Er stellt fest, dass nicht ein „absoluter" Wert für die Klassifizierung der Straftaten nach ihrer Schwere ausschlaggebend ist, sondern ihr „relativer" Wert. Die Tatsache, dass im Strafgesetzbuch „Straftaten von erheblicher Bedeutung" aufgelistet sind, impliziert, dass auch Straftaten von nicht-erheblicher Bedeutung existieren, so Mirow (ebd.). Die Realität sieht natürlich anders aus: Jede Straftat ist für einen anständigen Menschen „von erheblicher Bedeutung". Mirow führt auch ein vielsagendes Beispiel der Straftatenkategoriesierung aus der Vergangenheit an (ebd., 48). Das Allgemeine Gesetzbuch über Verbrechen und derselben Bestrafung Joseph des II. von 1787 (bekannter als ,.Josephina") wies eine Zweiteilung der Delikte in Kriminalverbrechen und politische Verbrechen auf, wobei zu bemerken ist, dass für politische Verbrechen viel mildere Strafen vorgesehen wurden (Züchtigung mit Schlägen, Ausstellung auf der Bühne, öffentliche Arbeit, Ortsverweisung) im Vergleich zu den Strafen für Kriminalverbrechen (Anschmiedung und Todesstrafe). Die überlieferte deutsche Tradition der Begriffsjurisprudenz hatte mit ihrer Dichotomie von „Kern und Hof von Rechtsbegriffen" zweifellos langfristig juristisches Denken mitbestimmt. Es schien einfach, Rechtsbegriffe zu interpretieren, wenn man an klarer Unterscheidung von ihrem Kern und Hof glaubte. Alle Rechtsbegriffe haben einen Begriffskern, in den die unzweifelhaften Fälle gehören. Beim usprünglichen Begriffskern decken sich gesetzgeberischer Wille, sprachliche Formulierung und unmittelbares Bedeutungsverständnis (Jesch 1957: 174f). 1 „Opposition" war der zentrale Begriff in der Phonologie der Prager Schule, der aber auch bei der semantischen Merkmalsanalyse gern angewendet wurde. Bei der Bestimmung des Begriffshofes ist Jesch (1957: 182) doch etwas vorsichtiger: Der Begriffshof ist ein diffuser Bereich,2 der am Rande des Begriffskernes beginnt. Er ist nach außen nicht fest abgrenzbar sondern wird erst durch jede Subsumtion oder Exzeption an der betreffenden Stelle näher bestimmt. Begriffshöfe können sich auch überschneiden, so daß der gleiche Sachverhalt einmal diesem, ein andermal jenem Begriff zugerechnet wird. Dass dieser auslegungstheoretische Gesichtspunkt verfehlt ist, kann am Begriffspaar fahrlässige Tötung/vorsätzliche Tötung bzw. Fahrlässigkeit/Vorsatz näher erörtert werden. Die Bedeutungsbestimmung jedes Rechtsbegriffs setzt ein umfangreiches juristisches Fachwissen voraus. So muss man z.B nicht nur wissen, dass es im deutschen Strafrecht drei unterschiedliche Erscheinungsformen des Vorsatzes gibt (Absicht, direkter Vorsatz und Eventualvorsatz), sondern auch wodurch sich diese Formen voneinander unterscheiden, um dann im zweiten Schritt versuchen zu bestimmen, ob Vorsatz und Fahrlässigkeit sich gegenseitig ausschließen. Diese Abgrenzung ist auch mit Hilfe weiterer Begriffserläuterung nicht möglich:3 Abgrenzung Vorsatz zu Fahrlässigkeit Man muss den Vorsatz von der Fahrlässigkeit differenzieren. Gerade bei der Unterscheidung zwischen Eventualvorsatz und der fahrlässigen Handlung ist hier die Entscheidung oftmals kompliziert. Im Zivilrecht wird Fahrlässigkeit in § 276 Absatz 1 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches für das Zivilrecht erklärt. Fahrlässigkeit setzt Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit voraus. Wer also den Schaden voraussieht, aber der Hoffnung ist, er werde schon nicht passieren, der nicht Voraus sieht, dass er Erfolg hat, obwohl er sich bei einer verkehrsüblichen Sorgfalt klar hätte sein müssen, der handelt fahrlässig. Im Strafrecht handelt fahrlässig, wer trotz seiner eigenen Kenntnisse Möglichkeiten und Fähigkeiten eine Pflichtwidrigkeit begeht, die vermieden hätte werden können. Wo liegt die Grenze zwischen „Kern und Hof dieser beiden Begriffe? Schließen sie sich gegenseitig aus? Kann an diesem Punkt die Entscheidung getroffen werden, ob jemand in einem konkreten Fall fahrlässig oder vorsätzlich handelte? Die Antwort ist eindeutig - nein! Der Richter muss aber eine rechtswidrige Handlung eindeutig (nach dem positiven Recht) qualifizieren (können), um ein „gerechtes" Urteil zu fällen. Es empfiehlt sich, multidisziplinär vorzugehen. So kann z.B. ein Psychologe zu Rate gezogen werden:4 2 Alle Betonungen von mir. 3 Quelle: http://www.juraforum.de/lexikon/vorsatz-im-strafrecht (gesehen am 01. Oktober 2013). 4 Die Quelle wie oben. Psychologie und der Vorsatz im Strafrecht Die Psychologie hat natürlich ursächlich auch mit dem Vorsatz im Strafrecht zu tun. Hier wird Vorsatz als die Absicht, in einer gewissen Situation eine bestimmte Handlung auszuführen, definiert. Nach dem Wissenschaftler Peter M. Gollwitzer, einem Motivationspsychologen aus Nabburg, „besteht der Vorsatz aus einer Spezifikation von Ort, Zeit, Art und Weise der Handlung" Die Psychologie unterscheidet weiter zwischen Implementierungsintention und Zielintention. Diese Zielintention ist eine Absicht, ein bestimmtes Verhalten auszuführen oder ein bestimmtes Handlungsergebnis zu erreichen. Motivation ist das auf beispielweise neuronaler Aktivität, einer kognitiven Aktivierung beruhende Streben, ein Ziel zu erreichen. Psychologische Deutung des Vorsatzes (Implementierungsintention, Zielintention, Motivation usw.) erweitert den begrifflichen Rahmen (Kern oder Hof?) und trägt dadurch der Lösung des Dilemmas „vorsätzlich" oder ,.fahrlässig" keinesfalls bei. Man könnte hier von einer „kritischen" Dichotomie sprechen.5 Beim rechtsvergleichenden Ansatz vertieft sich die Problematik der Bedeutungsbestimmung durch begriffliche Asymmetrie der Konzepte immense. Auf der Sprachebene ist der Vergleich mit Common-Law Rechtssystemen täuschend einfach: fahrlässige Tötung = involuntary manslaughter, vorsätzliche Tötung = voluntary manslaughter. Eine an dieser Stelle unentbehrliche Wörterbuchrecherche führt aber zu folgenden Ergebnissen: „fahrlässige Tötung" - (involuntary) manslaughter/involuntary homicide/manslaughter through culpable negligence/murder by negligence/negligent homicide; „vorsätzliche Tötung" - culpable homicide/intentional homicide/premeditated murder/wilful killing/voluntary manslaughter. Zuerst ist das sprachtheoretische Dilemma, ob und wieweit die aufgelisteten englischen Termini Synonyme sind, zu lösen. Wenn die Frage (wenigstens zum Teil) mit „Ja" beantwortet werden kann, bleibt zu klären, wie aus diesen Benennungen Begriffspaare bilden, die in einem „entweder-oder"-Verhältnis anstatt in einem diffusen „mehr-oder-weniger"-Verhältnis stehen könnten. Mit obigen Beispielen ist die intersprachliche Problematik der juristischen Dichotomie nur angedeutet und bedarf einer tieferen Analyse. Dichotomien als zweigliedrige Begriffspaare gründen in der Regel auf dem binären Code (Verbot vs. Gebot; Recht vs. Unrecht) im Sinne des system-funktionalistischen Positivismus. Der dem menschlichen Denken naheliegende stare Binarismus führt oft zu falschen Dichotomien nach dem Prinzip „entweder-oder" (Wahrheit oder Lüge; das Wahre oder das Falsche; Schuld oder Unschuld). Ausserdem werden durch dualistisches Denken Herrschaftsverhältnisse sowohl in der Privatsphäre wie auch in der Gesellschaft aufgebaut und weiter entwickelt. Im juristischen Diskurs fungieren Dichotomien als wichtiges und nützliches heuristisches Werkzeug, das aber von einigen Rechtstheoretikern und -philosophen scharfer Kritik 5 Über Typologie der Dichotomien wird weiter im Text diskutiert. ausgesetzt ist. Dascal (2008a) setzt Dichotomien in einen breiteren pragmatischen Kontext, wobei entgegengesetzte Positionen der Opponenten im logischen Sinne nicht kontradiktorisch sein müssen. Pragmatische Auffassung der Dichotomie im Recht bedeutet die Suche nach Problemlösung und nicht die Wahrheitssuche an sich. Dascal und Knoll (2011: 10) vertreten die Meinung, dass Meinungsverschiedenheiten, besonders im öffentlichen Bereich (zu dem ,Recht' zweifellos gehört), auf Dichotomien gründen. Als eine der „gefährlichsten", in vielen politischen Kulturen verbreitete Dichotomie wird „Us vs. Them" qualifiziert. Diese auf einer gewaltgeladenen Ideologie gründende falsche gesellschaftliche Differenzierung hindert das Wachstum, die Entwicklung und vernünftiges Funktionieren der Gesellschaften weltweit. Logisches Denken als analytisches Werkzeug in der juristischen Argumentation gewinnt bei der Auseindersetzung mit juristischen Gegensätzen an Bedeutung. Oppositionen als multidimensionaler Oberbegriff sind in der Rechtssprache vom Paradox als dem Stolperstein, dem man auf jeden Schritt und Tritt begegnet, geprägt.6 Wie weit man sich bei der Interpretation von Dichotomien und Oppositionen auf die Gesetze der formalen Logik verlassen kann, bleibt aber dahingestellt. Einer der Befürworter der formalen Logik im Recht, Jurist George Fletcher, sieht juristische Paradoxien als ein Versagen des juristischen Denkens an und glaubt, dass diese von den Juristen unbedingt zu lösen sind (bei Teubner 1998: 570). Systempsychologe Niklas Luhmann meint, Paradoxien könnte man einfach durch „Entparadoxi-fizierung" umgehen (ebd.). Aus linguistischer Sicht sind Paradoxien im Recht m.E. eher zu akzeptieren als zu interpretieren, geschweige denn auszulegen. Linguisten kennen die (Spiel)regeln der Interpretation (bzw. der Auslegung, nach juristischer Terminologie) der Rechtsbegriffe nicht. Der pragmatische Raum für die Interpretation ist aber groß genung, um eine ertragreiche Analyse zu erlauben. Dabei ist vom „Recht als Spiel"7 und nicht vom „Recht als System von Normen" auszugehen. Im Mittelpunkt der Analyse ist die Wahl spieltheoretischer Methoden und geeigneter pragmatischer Mittel bzw. strategischer Elemente in einer mit Kollisionen und Para-doxien geladenen Interaktion. Die Interaktion (debate nach Dascal 2008a) kann sich entweder als Diskussion (dicussion) oder als Auseinadersetzung (dispute) abwickeln. Dascal erklärt diesen dichotomisierten Neologismus, indem er eine Tabelle der Unterscheidungsmerkmale aufstellt, plädiert aber für dessen „Entdichotomisierung" (Dascal 2008a: 38): 6 Die Tatsache, dass es keine klare Trennlinie zwischen Recht und Nicht-Recht (Unrecht?), Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit oder letztendlich zwischen Soft Law und Hard Law geben kann, bestätigt die These. 7 Die bekanntesten Rechtsspieltheoretiker sind Michel van de Kerchove und François Ost. Die „Spieltheorie" im Recht ist vor allem Rechtsphilosophen zu verdanken. Zur Spieltheorie im Recht aus der Perspektive der rationalen Wahl s. Baird/Gertner/Picker (1994): Game Theory and the Law. S. auch Rainer Lippold (2000): Recht und Ordnung. Statik und Dynamik der Rechtsordnung. Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 21. Wien: Manz. Lippold bezeichnet Spiel als Paradigma der Rechtsdynamik. Discussion The truth Issue can be decided Logical Rational Debate about contents Yields opinion change Dispute My truth Issue cannot be decided Rhetorical Irrational Debate about attitudes Does not yield opinion change Der Opponent wird zu "entweder-oder"-Wahl und damit zur Anwendung bestimmter "Spielregeln" gezwungen, die dann entweder zu einer Lösung (durch Diskussion), oder im Gegenteil, zur Paralyse (durch Streit/Auseinandersetzung) führen. Eine solche Situation ist für den juristischen Diskurs typisch, kann aber an dieser Stelle aus der Perspektive der Sozialwissenschaften nicht weiter verfolgt werden. 3 DICHOTOMIEN IM RECHT Der empirische Ansatz für Identifizierung und Deutung von Dichotomien in der Rechtssprache sollte konstruktiv und pragmatisch sein: Es geht nicht in erster Linie um konzeptuelle Auseinadersetzungen und Spekulationen, was eine Dichotomie im linguistischen Sinne determiniert, sondern um eine komplexe auf kulturellen Elementen, Gesellschaftsstruktur, Assoziationen und Konnotationen aufbauende Konstruktion der Bedeutung zum Zwecke einer konstruktiven Argumentation (besonders wichtig in der Verhandlung vor Gericht) oder zwecks passender Anwendung in einer konfliktgeladenen Situation, in der die „Wahrheit" von der „Lüge" zu unterscheiden heißt: Als wahrhaftig wird diejenige Aussage empfunden, die besser argumentiert ist. Vor diesem Hintergrund ist die Suche nach „echten Dichotomien", deren Gebrauch im Recht bereits bewiesen ist, eher fraglich. Es hängt vielmehr von rhetorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Opponenten (engl. arguer) ab, ob ein Oppositionspaar als Dichotomie (binary Opposition) konstruiert oder dekonstruiert wird. Dabei ist ständig vor Augen zu behalten, dass es dafür keine eindeutige Identifikationsmethode gibt - vielmehr bestimmen das verschiedene außersprachliche Faktoren wie z.B. soziokulturelles Hintegrundwissen, Ideologien, Glauben und Gebräuche, persönliche oder professionelle Interessen, Machtverhältnisse, u.v.a.m. „Echte" Dichotomien sind selten (Leben/Tod) und spielen im juristischen Diskurs eine nebensächliche Rolle, obwohl ihre Funktion dort oft überwertet wird. In vielen Disziplinen sind sie nach wie vor eine Streitfrage, weil ihre eindeutige Einordnung als „echt", „falsch", „kritsch" oder „verdeckt" nur bedingt und nur in Ausnahmefällen möglich ist. So werden z.B. Begriffspaare Wissen/Information und Unsicherheit/ Risik von Katharina Pistor8 zu den „echten" Dichotomien in den Finanzen eingeordnet, obwohl Einordnungsmerkmale und -kriterien der Autorin aus der Perspektive eines 8 Pistor's Rede im Rahmen der INET Konferenz zum Thema „Fasche Dichotomien", 16.-17. November, 2012 unter dem Titel „Dichotomies in Law and Finance". Sie leitet ein Projekt mit dem Ziel, eine neue Theorie der Finanzen aufzustellen (Legal Theory of Finance - LTF). Juristen, der der Tradition der formalen Logik getreu ist, als fraglich erscheinen könnten. Pistor setzt sich mit (falschen) Dichotomien in Recht und Finanzen kritisch auseinander und regt zum Nachdenken an, indem sie für eine Redefinierung des Verhältnisses zwischen Recht und Finanzen (Law vs. Finance) in einem multidisziplinären Ansatz plädiert. So interpretiert Pistor das Begriffspaar Law vs. Finance eher als Synthese und nicht als (falsche) Dichotomie und stellt die These auf, ,Power is the Differential Relation to Law" (s. Fussnote 8). Die Dichotomie Macht/Recht (Power vs. Law) ist m.E. „echt" und „kritisch" bzw. „gefährlich" zugleich. Macht und Recht können sich gegenseitig suspendieren, oder wie es von Pistor zu hören ist: ,faw can constrain power; power can suspend law" (ebd.). Die Mächtigen gehen mit dem Recht manipulativ um: Sie suspendieren, ändern, ignorieren oder passen Gesetze den Bedürfnissen bestimmter Interessengruppen (z.B. Bankiers) an.9 Bei einer näheren Betrachtung könnte die „Finanzen vs. Recht' Dichotomie als verdeckte Trichotomie (Finanzen - Macht - Recht) mit starker Interdependenz der Elemente interpretiert werden (Abb. 1). Macht ist hier im Sinne von Willkür und nicht im Sinne von Verantwortung zu verstehen. Abb. 1: Verdeckte Trichotomie Die meisten Dichotomien können der Kategorie „falsch" oder „kritisch" zugeordnet werden: Regulierung/Deregulierung; profit vs. non-profit entities; global vs. local.10 Sie gründen auf der Wahrnehmung einer Situation, eines Problems oder eines Konzepts im Sinne von falschen Polaritäten, wodurch mögliche Alternativen übersehen und falsche Entscheidungen (false choices) getroffen werden. 9 Oder wie Pistor es formuliert: „Where law is elastic power becomes salient'. 10 Falsche Dichotomien sind im öffentlichen Bereich meist politisch, gesellschaftlich und/oder gesellschaftspolitisch geprägt: Hiermit Verweis auf einen am 02. Juli 2013 in der Schweizer Zeitschrift Vorwärts erschienen Artikel mit dem Titel „Kroatien ante portas", in dem der kroatische Gesprächspartner des Autors vorschlägt, es gäbe „die falsche Dichotomie zwischen der EU und dem Balkan zu durchbrechen". Aus der sozialwissenschaftlichen Sicht sind „verdeckte" Dichotomien (hidden dichotomies) ideologisch verkleidete Kontraditionen (ruler/ruled; die Mächtigen/die Machtlosen;11 säkularer Staat/religiöser Staat). Diese Form von Dichotomien wird in der Regel von verschiedenen Interessengruppen aufgebaut und weiterentwickelt. Besonders gefährlich sind die auf der Machtsucht gründenden verdeckten Dichotomien bei denen es um verdeckte Kontrollmechanismen und Strukturen der Dominanz geht. 4 DICHOTOMIEN VON HEUTE UND MORGEN Durch den Wechsel der Perspektive wird das Konzept der Dichotomie heute informeller und weniger restriktiv im Vergleich zu klassischem Konzept, wonach das Postulat „Sich-Zu-Entscheiden-Müssen" („für oder gegen") keine Relativisierung zuließ. Klassische Dichotomien werden dekonstruiert: an Stelle von „Pflanzen und Tiere" Dichotomie haben wir heute eine Trichotomie: Pflanzen, Tiere und Organismen. Was in der Vergangenheit als „echte" Dichotomie im Recht aufgefasst wurde (z.B. Recht vs. Sittlichkeit),12 erscheint heute nur noch in überlieferter Form in einigen Gesetzesparagraphen (BGB, § 138) als ein vager Rechtsbegriff: § 138 Sittenwidriges Rechtsgeschäft; Wucher (1) Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig. (2) Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen sich oder einem Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen. Diesem Wechsel der Perspektive trägt die gesellschaftliche Entwicklung auf globaler Ebene wesentlich bei. Überlieferte Dichotomien werden ständig redefiniert und der analytische Rahmen wird durch neue Polaritäten erweitert. So entstehen neue Dichotomien und Oppositionen in allen Bereichen des menschlichen Lebens, die Klärung schaffen oder aber weitere Polarisierung in der Welt zur Folge haben können (politischer vs. dogmatischer Rechtsbegriff; Demokratie vs. Pseudodemokratie; Raubtierkapitalismus vs. Kapitalismus mit menschlichem Gesicht; knowledge vs. information; Selbstregulierung vs. Kontrolle). Heutige Dichotomien können auch irreführend sein, wie z.B. bei Kaupa (2012: 33) Grundfreiheiten vs. Allgemeininteresse, die als Rechtsbegriffe ständig in Kollision sind. Obwohl die Grenzen zwischen juristischen Begriffspaaren meist diffus sind (wie im obigen Beispiel), nicht jede Grenzziehung ist sinnlos. Dem Postulat der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit ist Folge zu leisten, indem man die „richtige" Entscheidung trifft. Die Entscheidungsfindung erschwert aber die Tatsache, „dass unser Verstand 11 Oder die Hyperbel: die Ohnmächtigen. 12 Über die „uralte" Dichotomie im Westen Recht u. Gesetz bei Llompart 1993: 85-86. durch eine Überladung mit widersprüchlichen Informationen kurzgeschlossen wird, in denen Wahres und Erfundenes bis zur Un-sinnigkeit und Unkenntlichkeit miteinander so verschoben ist, dass selbst Wahres keinen Wert mehr hat, weil es ohnehin von Unwahrem durchsetzt ist".13 So entstehen verschiedene Formen von scheinbaren oder tatsächlichen Widersprüchen, von denen der juristische Diskurs geprägt ist. 5 RECHTSPARADOXIEN Fundamentale Paradoxien liegen zweifellos in der Unbestimmtheit des Rechts. Aus pragmatischer Sicht ist die Tatsache, dass sich Bürger nach Rechtsnormen verhalten müssen, die sie nicht verstehen oder nicht kennen,14 auch ein Rechtsparadox. Im juristischen Diskurs sind sprachlich-rhetorische Paradoxien zu detektieren, die dann bei gerichtlichen Verhandlungen immer wieder missbraucht werden. Juristen lernen, mit Paradoxien mani-pulativ, kreativ und produktiv umzugehen. In einem Rechtsstreit wenden sie spekulative Denkmodelle an, bedienen sich der Prinzipien der formalen Logik, konstruieren „Wahrheit" und „Richtigkeit" u.v.a.m., um den Streit zu „schlichten" und eine für sie vorteilhafte Entscheidung zu erzwingen. Teubner (2003: 28) weist auf Strukturunterschiede von Kollision („Entweder gilt A oder Non-A; Recht oder Nichtrecht [...]") und Paradox („A weil Non-A und Non-A weil A; Recht weil Unrecht und Unrecht weil Recht [...]") hin und meint, es handele sich in beiden Fällen um Widersprüche, Paradoxien hätten aber kompliziertere Struktur: Kollisionen lassen sich durch Entscheidungen zwischen Alternativen oder duch einen Kompromiss auflösen, wogegen ein Paradox zur Paralyse („Lähmung") führe: „Aus der Direktkonfrontation mit dem Paradox resultiert nicht Befreiung, sondern Paralyse" (ebd., 32). Der heutige Mensch ist als Sozialwesen und als Rechtssubjekt Para-doxien ausgeliefert und gezwungen, sich mit ihnen zu konfrontieren. Kein Wunder, dass er sich dabei „gelähmt" fühlt. Als Beispiel kann in diesem Kontext das Paradox der Minderheitenrechte in Europa erwähnt werden. In der Europäischen Union sind Instrumente für den Schutz der Minderheitenrechte entwickelt worden, die Identität und Kultur von Minderheiten schützen und gleichzeitig Schutzkriterien und -normen bestimmen. Minderheiten passen sich dann diesen Kriterien an und verlieren ihre Identität, die eigentlich geschützt werden sollte. An dieser Stelle ist in der Kategorie der Paradoxien auch einer der bekanntesten Slogans der EU zu erwähnen: „United in diversity!" 6 AUSBLICK Die Grenzen zwischen Recht und Gesellschaft werden immer durchlässiger. Gesellschaftliche Dynamik beeinflußt das Entstehen und die (Re)konzeptualisierung der Rechtsbegriffe, die neu interpretiert und deren Funktionen miteinander verglichen werden. Bei der Gleichsetzung zweier Verhältnisse entstehen Dichotomien und Gegensatzpaare in 13 Quelle: http://www.wahrhaftig-kommunizieren.de (gesehen am 03. Mai 2013). 14 Heutige Gesellschaften sind „überreguliert" und dadurch entsteht ein weiteres Paradox: Die anzustrebende Rechtssicherheit wird auf diese Weise nicht gestärkt, sondern geschwächt. einer Rechtskultur oder in interkultureller Überlappung, die meistens „falsch", „verdeckt" oder „kritisch" und als solche in einem nicht unbedeutenden Ausmaß sozial schädlich sind. Auf der globalen Ebene bedeuten diese rechtssprachlichen Neologismen mit ihren Scheinargumenten einen immer größeren Handlungs- und Manipulationsspielraum für die Mächtigen. Der machtlose Bürger schwebt dagegen zwischen Wissen und Unwissen darüber, welchen Verhaltenspielraum er hat, oder haben könnte, um sich der weitverbreiteten ungerechten Polarisierung in der heutigen Welt entgegenzusetzen. Literatur BAIRD, Douglas G./Robert H. GERTNER/Randal C. PICKER (1994) Game Theory and the Law. Cambridge, Massachusetts/London, England: Harvard University Press. DASCAL, Marcelo (2008a) „Dichotomies and types of debate." In: F. H. van Eemeren /B. Grassen (Hrsg.), Controversy and Confrontation: Relating Controversy Analysis with Argumentation Theory. Amsterdam: John Benjamins, 27-49. DASCAL, Marcelo/A. KNOLL (2011) „'Cognitive systemic dichotomization' in public argumentation and controversies." In: F. Zenker (Hrsg.), Argumentation: Cognition and Community. Proceedings of the 9th International Conference of the Ontario Society for the Study of Argumentation (OSSA), May 18-21, 2011. Windsor, ON, 1-35. FLETCHER, George P. (1985) „Paradoxes in Legal Thought." Columbia Law Review 85, 1263-1292. JESCH, Dietrich (1957) „Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht." Archiv des öffentlichen Rechts 82, 163-249. KAUPA, Clemens (2012) „Die irreführende Dichotomie zwischen Grundfreiheiten und Allgemeininteresse - Zur Rolle juristischer Eliten und der Möglichkeit einer Demokratisierung des Binnenmarktrechts." 52. Assistententagung Öffentliches Recht, Hamburg 2012, Kollektivität - öffentliches Recht zwischen Gruppeninteressen und Gemeinwohl, 33-52. LIPPOLD, Rainer (2000) Recht und Ordnung. Statik und Dynamik der Rechtsordnung. Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 21. Wien: Manz. LLOMPART, José (1993) Dichotomisierung in der Theorie und Philosophie des Rechts. Berlin: Duncker & Humblot. MACAGNO, Fabrizio/Douglas WALTON (2010) „Dichotomies and Oppositions in Legal Argumentation." Ratio Juris 23/2, 229-257. http://onlinelibrary.wiley.com/ doi/10.1111/j.1467-9337.2010.00452.x/full [25. September 2013]. MIROW, Cornelius (2001) Neue Formen der Dichotomie der Straftaten. Berlin: Dunk-ker & Humblot. 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Zu diesem komplexen und nach wie vor unerforschten Bereich zählen Dichotomien und Gegensatzpaare, die in der Rechtssprache wichtige, nach einigen Autoren sogar fundamentale Rolle spielen. In der Rechtssprache sind sie als sprachliche Universalien überall belegt /öffentliches Recht vs. Privatrecht; legal vs. illegal; gesetzmäßig vs. gesetzwidrig/. Ihre spezifischen Erscheinungsformen widerspiegeln Rechtstradition und -konzepte einer bestimmten Gesellschaft. Oft wird von „echten", „falschen" und „verdeckten" Dichotomien im juristischen Diskurs gesprochen, obwohl eine einheitliche Kategorisierung nicht möglich ist. Außerdem entwickeln sich ständig neue Rechtskonzepte mit veränderter Versprachlichung der Inhalte als Folge dynamischer gesellschaftlicher Veränderungen. Heute sind Dichotomien in der Rechtssprache eine schnell veränderliche Kategorie. Für die Analyse und Interpretation konnten logische Bilder und deutsche Tradition der Begriffsjurisprudenz bzw. dieser Tradition zugrunde liegende Idee von „Kern und Hof von Rechtsbegriffen" dienen. Deutsche Rechtsquellen bilden den Referenzrahmen, wogegen die Quellen aus anderen Rechtssystemen die Anwendbarkeit des vorgeschlagenen Interpretationsmodells bestätigen oder aber auf die Divergenzen in Rechtskulturen und -traditionen hinweisen. Schlüsselwörter: Rechtssprache, Dichotomien, Gegensatzpaare, Rechtsparadoxien. Povzetek PREPOVED VS. ZAPOVED. DIHOTOMIJE IN ANTONIMNI PARI V PRAVNEM JEZIKU Pravni jezik kot meta- in predmetni jezik zbuja zanimanje tako pravnikov kot jezikoslovcev. Del pravnega jezika - tega kompleksnega in še vedno neraziskanega področja - so tudi dihotomije in antonimni pari, ki imajo v pravnem jeziku pomembno, po mnenju nekaterih avtorjev pa celo temeljno vlogo. Te jezikovne univerzalije je v jeziku prava mogoče zaslediti prav povsod (javno vs. zasebno pravo, legalen vs. ilegalen, zakonit vs. protizakonit). Njihove specifične oblike so odraz pravne tradicije in pravnih konceptov določene družbe. Pogosto govorimo o »pravi«, »napačni« in »prikriti« dihotomiji v pravnem diskurzu, čeprav enotna delitev ni mogoča. Poleg tega nastajajo vedno novi pravni koncepti, pri katerih je vsebina ubesedena drugače in ki so posledica dinamičnih sprememb v družbi. Dihotomije so dandanes hitro spreminjajoča se kategorija. Pri analizi in interpretaciji smo uporabili logične slike in nemško tradicijo pojmovne jurisprudence oz. idejo o t. i. »jedru in polju pravnih pojmov« („Kern undHof von Rechtsbegriffen"), ki temelji na tej tradiciji. Nemški pravni viri oblikujejo referenčni okvir, na temelju katerega je mogoče bodisi potrditi uporabnost interpretacijskega modela tudi pri virih drugih pravnih sistemov ali pa evidentirati težko premostljive razlike med pravnimi kulturami in tradicijami. Ključne besede: pravni jezik, dihotomije, antonimni pari, pravni paradoksi.