Donatella Di Cesare »DER GRÖSSTE JÜDiSCHE DENKER iST NUR EiN TALENT. (iCH Z. B.)« Wittgensteins versagtes judentum 1. Leben, Philosophie und die »arbeit an Einem selbst« In den letzten Jahren hat sich das Hauptinteresse an Wittgensteins Werk über das Logisch-Semantische hinaus auf das anthropologische Umfeld, auf Ethik, Religion, Ästhetik verschoben. Dabei haben Wittgensteins Charakter und vor allem seine Biographie zunehmend Bedeutung erlangt.^ Die Berichte von Zeitgenossen, die Briefe und Tagebücher des Autors und vor allem die Vermischten Bemerkungen, die Wittgenstein im Laufe der Jahre immer wieder notierte, dienen als Quelle der neuen Biographien - bis zur letzten komplexen und gründlichen Erzählung von Monk.2 Eine solche AufWertung des Biographischen hat eine Marginalisierung des philosophischen Werks befürchten lassen. Die Frage wurde gestellt, ob das Leben eines Philosophen für sein Denken wirklich relevant sein könne. Es ist zwar eine alte Frage, die aber neuen Anklang vor allem bei den Analytikern gefunden zu haben scheint. Dies belegt zum Beispiel das Sammelwerk Wittgenstein: Biography and Philosophy, in dem diskutiert wird, ob und wie Wittgensteins Leben mit 185 1 Vgl. Wuchterl 2009, 14-23. 2 Monk 1994. 186 seiner »Denkbewegung« zusammenhängt, ob und inwiefern ein philosophischer Gebrauch seiner Tagebücher, seiner Briefe und seines Nachlasses legitim sei.3 Gewiss gibt es Philosophen wie Aristoteles, die ihr Leben für die Entfaltung ihres Denkens als vollkommen irrelevant betrachten. Es gibt aber andere wie Friedrich Nietzsche, die in ihrer Philosophie den Ausdruck ihrer Individualität gesehen haben. Entscheidend ist aber eben die Auffassung der Philosophie. Im Falle eines logischen Traktats ist es sicher nicht notwendig, auf die Individualität des Philosophen zurückzugehen. Da aber die Philosophie sich nicht auf Logik reduzieren lässt und da sie keine Wissenschaft ist, erweist sich jede Trennung zwischen Leben und Denken als abstrakt und künstlich.^ Im Falle Wittgensteins geht es nicht nur um eine Vermutung. Denn er selbst schreibt: Die Arbeit an der Philosophie ist - wie vielfach die Arbeit in der Architektur - eigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst. An der eignen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (VB 1994: 52) 2. Ein »alienated Jew« Die Aufwertung des Biographischen hat unter anderem eine Frage aufgeworfen, die früher im Schatten geblieben war: die Frage nach Wittgensteins Judentum. Obwohl er katholisch getauft war, kam Wittgenstein bekanntlich sowohl durch den väterlichen als auch, wenngleich nur zum Teil, durch den mütterlichen Zweig aus einer jüdischen Familie, die im Laufe der Jahrzehnte ihre Herkunft verdrängt hatte. Dies war das Ergebnis der sehr starken Assimilierung der mitteleuropäischen Juden im 19. Jahrhundert. Doch Spuren des Judentums waren geheimnisvoll bei den Wittgensteins verblieben. Denn auch Familien des Großbürgertums, die, so wie die Wittgensteins, reich, geachtet und integriert waren und zur jüdischen Gemeinde Wiens Distanz hielten, brachte der schleichende Antisemitismus ihre »nicht arische« Abstammung immer wieder zu Bewusstsein. Es ist daher kein Wunder, dass Wittgenstein, um sich bei einem Sportverein einzuschreiben, der nur »Arier« zuließ, bereit war, seine jüdische Herkunft zu ver-heimlichen.5 Dies scheint seine erste Konfrontation mit dem Antisemitismus gewesen zu sein. Sein Verhalten, das Wittgenstein später bedauerte, kann mit demjenigen eines »Konvertiten«, eines »Krypto-Juden« verglichen werden. So 3 Vgl. Klagge 2001. In dieser Hinsicht sind vor allem wichtig die hierin enthaltenen Beiträge von Ray Monk (Monk 2001: 3-15, James Conant (Conant 2001: 16-50) und Alfred Nordmann (Nordmann 2001: 156-175). 4 Anders als in der »analytischen Philosophie« ist deshalb eine solche Debatte über »Biographie und Philosophie« in der sogenannten »kontinentalen Philosophie« ziemlich unvorstellbar und eigentlich sinnlos. 5 Vgl. Monk 1994: 30 f. nennt Steven S. Schwarzschild ihn einen »alienated Jew«. Und er vergleicht zurecht seinen Zustand mit demjenigen vieler anderer jüdischer Intellektueller seiner Zeit - zunächst mit dem von Franz Rosenzweig.6 Gerade diese Annährung an Rosenzweig wirft viele Fragen auf, die trotz der zunehmenden Anzahl von Studien über dieses Thema in dem letzten Jahrzehnt unbeantwortet bleiben, und zwar weil sie meistens einfach schlecht gestellt sind. Zunächst wird nämlich gefragt, ob Wittgensteins Judentum nur eine biographische Einzelheit sei, die man zwar, um korrekt zu sein, nicht vergessen dürfe, die aber letztlich vernachlässigbar sei.7 Diese - wenn auch mehr oder weniger stillschweigend - weit verbreitete Stellungnahme ist neuerdings auf eine ziemlich radikale Art von McGuinness zum Ausdruck gebracht worden. Aufgrund der Assimilation, oder besser: der »Verdunstung« des Judentums in seiner Familie habe sich Wittgenstein - so McGuinness - »nicht für jüdisch« gehalten, und »wir brauchen dies auch nicht zu tun«.® Die rein biographische Frage würde so ein für allemal zu einer »Endlösung« kommen. Doch es ist derselbe Wittgenstein, der vom Judentum überhaupt und auch von seinem Judentum mehrmals bei verschiedenen Gelegenheiten spricht - wie David Stern in zwei wichtigen Beiträgen klar hervorgehoben hat.9 Es ist derselbe Wittgenstein, der sich nicht ohne eine leise Ironie als »jüdischen Denker« (VB 1994: 40) bekennt. Was will er damit sagen? Warum sagt er es überhaupt? Es scheint, als ob seine Bemerkungen über das Judentum, die lange verschwiegen wurden, endlich ernst zu nehmen sind. Freilich handelt es sich nicht darum, eine jüdische Identität für Wittgenstein zu beanspruchen, eine Identität übrigens, die Grund innerer Qual gewesen sein dürfte, als vielmehr die Grenzen der Biographie zu überschreiten, um die Bemerkungen des Autors über das Judentum zu untersuchen und deren Tragweite und Nachwirkung für seine Philosophie recht einschätzen zu können. 6 Vgl. Schwarzschild 1979: 160-165. Auf eine Ähnlichkeit zwischen Wittgenstein und Rosenzweig auch in Bezug auf ihr Kriegserlebnis verweisen Abramowitch und Prince, die in ihrem Aufsatz aber vor allem Wittgenstein »talmudische Logik« hervorheben. Vgl. Abramovitch - Prince 2006: 533-553, insb. 536. 7 So zum Beispiel Schulte, der zwar zugibt, das »Thema Judentum« sei »wichtig für Wittgenstein«, der aber auf nur zwei Seiten die Frage vom Tisch räumt. Vgl. Schulte 2001: 29 f. 8 McGuinness 1999: 57-77, insb. 76. 9 Vgl. Stern 2000: 383-402. Stern hat mit Recht unterstrichen, wie unklar die Frage bis jetzt ist: »I argue that much of this debate is confused, because the notion of being a Jew, of Jewishness, is itself ambiguos and problematic«. In diesem Sinn kritisiert er McGuinness und fügt hinzu: »No list of definitions could do justice to the historical and genealogical dimension of this issue« Stern 2001: 237-272, insb. 238 und 242. 187 188 3. Über jüdische Philosophie Um die Frage nach dem Judentum in Wittgensteins Leben und Philosophie zu erläutern, soll die Aufmerksamkeit, wenn auch nur kurz, auf ein Thema gelenkt werden, dessen Zusammenhang mit dieser Frage nicht unmittelbar einleuchten mag. Es ist das heute viel diskutierte Thema der »jüdischen Philosophie«. Gibt es eine »jüdischen Philosophie«? Und was ist sie? Ist es berechtigt, überhaupt davon zu reden? Nichts scheint nämlich absurder und unlogischer als die Verbindung zwischen Philosophie und Judentum - zwei Extreme, eine nicht versöhnte und nicht versöhnliche Kontradiktion. Denn das Adjektiv verweist hier nicht auf eine Nation (wie man etwa mit einer gewissen Selbstverständlichkeit von »deutscher« oder von »französischer« Philosophie spricht). Das Judentum identifiziert sich nicht mit einer Nation. Das Adjektiv droht eher, den Begriff der Philosophie selbst implodieren zu lassen, als ob man zwei seit jeher antagonistische Pole zusammenrücken wollte: die griechische und die jüdische Tradition. Hat Salomon Munk 1849 zunächst von »jüdischer Philosophie« gesprochen, so ist Die Philosophie des Jud^entums von Julius Guttmann das erste Gesamtwerk gewesen, das, 1933 veröffentlicht, heute noch als unabdingbarer Bezugspunkt gilt. Das Buch eröffnet mit diesen Worten: Das jüdische Volk ist nicht aus eigener Kraft zu philosophischem Denken gelangt. Es hat die Philosophie von außen empfangen, und die Geschichte der jüdischen Philosophie ist eine Geschichte von Rezeptionen fremden Gedankenguts, das dann freilich unter eigenen und neuen Gesichtspunkten verarbeitet wird.10 Sicher ist, dass die Begegnung zwischen Judentum und Philosophie auf Phi-lon von Alexandria zurückgeht und durch Maimonides und Mendelssohn hindurch bis mindestens zu Levinas gelangt. Damit will ich keineswegs sagen, dass die jüdische Philosophie sich in einer systematischen Kontinuität entwickelt hat. Gerade das Gegenteil trifft zu: In ihrer Geschichte ist die jüdische Philosophie durch eine tiefe Diskontinuität (von Zeiten, Orten, Sprachen) und durch einen re-produktiven, über-setzerischen Charakter gekennzeichnet. Dank ihrem Dazwischen-Sein ist die Bewegung des Übersetzens das, was sie von Anfang an bestimmt. Die Geschichte der jüdischen Philosophie, die aus Segmenten (dem griechischen, spanischen, deutschen Segment) besteht, ist die Geschichte eines diasporischen Denkens, das von einer Sprache in die andere nach Gastfreundschaft gesucht hat. Die jüdische Philosophie hat sich deshalb nach dem Vorbild 10 Guttmann 2000: 43. einer transkriptiven Veränderung immer wieder verwandeln und neu erdenken müssen.11 Das Bewusstsein ihres reproduktiven Charakters spitzt sich in der jüdischen Philosophie des 20. Jahrhunderts zu. Aber gerade in diesem Kontext stellt sich mehr als anderswo das Problem der Einschließung bzw. Ausschließung einiger Namen. Im Unterschied zu Philosophen wie Cohen, Rosenzweig, Arendt, Jonas, Levi-nas gibt es Philosophen jüdischer Herkunft wie Husserl, der - übergetreten zum Protestantismus - über sein Judentum nie nachgedacht hat. Sein Name würde wohl nicht in einem Kapitel zu finden sein, das der jüdischen Philosophie des 20. Jahrhunderts gewidmet ist. Wie stellt sich aber die Frage im Falle Wittgensteins? 4. Klare Worte aus Tel Aviv: Paul Engelmann Diese Frage ist bis jetzt noch nicht in ihrer vollen Komplexität gestellt worden, und zwar wohl wegen einer Reihe von Umständen, die auch mit der Wirkungsgeschichte der Philosophie Wittgensteins zusammenhängen. Der erste, der die Frage erhoben hat, war Paul Engelmann, einer der engsten Freunden Wittgensteins. Ihre menschliche und intellektuelle Beziehung, die sich über den Zeitraum von 1916 bis 1930 erstreckte, wurde für beide entscheidend. Wie er selbst in dem Entwurf eines Briefes an Elizabeth Anscombe in Erinnerung ruft, der wahrscheinlich auf den 18. 5. 1963 zurückgeht, war Engelmann »der einzige« in den Kriegsjahren, der mit Wittgenstein über Themen sprechen konnte, die ihn zutiefst betrafen.i2 Als Wittgenstein 1963 schon der Star der Philosophie in der angelsächsischen Welt, auf dem alten Kontinent hingegen noch verfemt war, schrieb Engelmann, der damals in Tel Aviv im neu gegründeten Staat Israel lebte, einen Aufsatz mit dem Titel Wer war Ludwig Wittgenstein?'!^ Fast am Ende seines Lebens meldete sich also Engelmann zu Wort, um von seinem alten Freund und vom Tractatus zu sprechen, jenem Zeugnis ihrer zahlreichen und leidenschaftlichen Gespräche. Doch nicht nur deswegen. Tatsächlich er hatte eingesehen, dass Wittgen- 11 Vgl. Bensussan 2003. 12 Paul Engelmann, Nachlass, Jewish National and University Library, Jerusalem, Konvolut 143 (4 Seiten). Zu diesem Brief vgl. auch Schneider 1999: 115-154, insb. 141-142. 13 Paul Engelmann, Nachlass, Jewish National and University Library, Jerusalem, Konvolut 142, Typo-skrip Wer war Ludwig Wittgenstein, »VI.63". Dieser Text, von dem offenbar viele, von einander nur leicht verschiedene Versionen existieren, war zunächst die Grundlage eines Vortrags, der erstmals auf Englisch unter dem Titel Who was Ludwig Wittgenstein? in der Zeitschrift Prozdor (1963, 6/7) erschien, die von Engelmann herausgegeben wurde; später ist der Text auf Deutsch veröffentlicht worden. Vgl. Somavilla 2006: 123 f. 189 steins außerordentlicher und blendender Erfolg trügerisch zu werden und nicht nur seine europäische und kontinentale Herkunft, sondern auch die Komplexität seiner Gestalt und seines Denkens im Schatten zu lassen drohte. Er stellte deshalb zum ersten Mal die Frage nach Wittgensteins Entwurzelung aus der jüdischen-wienerischen Kultur, deren »Sprössling« zugleich und »Antipode« er gewesen war. In der angelsächsischen Welt, auf die Wittgensteins Wirkung bisher am größten war, kann diese Erscheinung ohne eine intimere Kenntnis seiner geistigen Mutterbodens unmöglich richtig verstanden werden. Und erst in die Landschaft des heute ebenfalls längst ausgestorbenen österreichisch-jüdischen Geistes versetzt, gewinnt die rätselhafte moderne Gestalt Leben und wird auf einmal urbekannt. Ludwig Wittgenstein (1889-1951) stammt aus Wien und ist, obwohl er seine höhere Ausbildung in England erworben hat und in seinen späteren Jahren Professor der Philosophie in Cambridge war, geistig durchaus nach Wien zuständig; nicht nur als einer der wenigen letzten wirklichen Versteher der großen Geister der alten Wiener Kultur (der große Brahms war mit seinen Eltern befreundet), sondern als der größte Sprössling und Antipode jener späten, wienerisch-jüdischen Kulturepoche, in der sich im ersten Viertel unseres Jahrhunderts ein bisher letztes Aufleuchten des europäischen Geistes kundgegeben hat. Er selbst, wie bereits sein Vater Karl Wittgenstein, 190 im christlichen Glauben aufgewachsen, entstammte einer jüdischen Familie.^^ Engelmanns Worte sollten nicht missverstanden werden. Sie zielen nämlich nicht darauf, eine Zugehörigkeit zu beanspruchen. Vielmehr zielen sie darauf, Wittgensteins Gestalt auf die Landschaft jenes verschwundenen »jüdischen Geistes« zurückzubeziehen, in der Engelmann ihm begegnet war, fordern ein, den Topos des »analytischen« Wittgensteins in Zweifel zu ziehen und sein Werk aus der mitteleuropäischen Kultur heraus zu lesen und verlangen schließlich zum ersten Mal ein Nachdenken über Wittgensteins Verhältnis zum Judentum. Engelmann stellt die Frage in der Art, in der sie gestellt werden sollte. Für Wittgensteins Sicht des Judentums wichtig ist seine Selbstdeutung als »jüdischer Denker«. Kurzum: Das Judentum ist nicht nur ein mühseliges, erkämpftes Kapitel seines Lebens, ist nicht nur ein - wenn auch wichtiges - Thema einiger seiner Notizen. Das Judentum durchdringt seine Philosophie: Es ist der Leitfaden seiner Arbeit an sich selbst; es bestimmt die Art seines Denkens, sein reproduktives Talent, sein Klärungswerk, seine Fähigkeit, Gleichnisse zu erfinden, das Bedürfnis, die Fragmente seines Lebens in eine »Übersicht« zu sammeln, um seine 14 Paul Engelmann, Erinnerungen an Ludwig Wittgenstein, in: Somavilla 2006: 123 f. Individualität zu bewahren, um seine Differenz zu akzeptieren. Für Wittgenstein ist das Judentum eben diese Differenz. 5. Im Zeichen der Negation Weininger und die Umkehrung des Antisemitismus Wie kann man diese These aber aufstellen, wenn Wittgenstein sich schon bei seinem ersten Zusammenstoß mit dem Antisemitismus so wenig bewusst gezeigt hatte, bis zur skrupulösen Verheimlichung seiner jüdischen Herkunft? Die Dinge scheinen noch komplizierter zu werden, sobald man seine Bewunderung für Otto Weininger und für dessen umstrittenes Buch Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung in Betracht zieht. Weiningers Buch wurde im Frühjahr 1903 veröffentlicht. Einige Monate danach, am 4. Oktober 1903, wurde er sterbend im Flur des Hauses in der Schwarzspanierstraße aufgefunden, in dem auch Beethoven gestorben war. Er war nur 23 Jahre alt. Sein Selbstmord wurde von vielen als noble Konsequenzgeste, als der tragisch logische Schluss seiner Argumentationen verstanden. Die fatale Alternative war die zwischen der »Verpflichtung des Genies« und dem Tod.15 So begann ein Weininger-Kult, dem sich auch Wittgenstein nicht entziehen konnte. Geschlecht und Charakter ist von den gesellschaftlichen, ethischen und intellektuellen Spannungen durchzogen, die das Wien des Fin de sihcle quälten. Es ist zugleich eine Antwort auf den Triumph der Wissenschaft, auf den Niedergang der Künste, auf die Dekadenz jener Zeit der geringsten Originalität und der größten Originalitätshascherei. Doch Weiningers provokatorische Antwort ist verblüffend: Die Entwicklung der modernen Zivilisation wird anhand der sexuellen Polarität des Männlichen und des Weiblichen gelesen, wobei das Weibliche das Negative darstellt; zu dieser Negativität kommt aber die des Juden hinzu, der seinerseits »durchtränkt« sei von Weiblichkeit.^^ Misogynie und Antisemitismus werden so legitimiert und begründet, wobei nicht zu vergessen ist, dass Weininger homosexuell und Jude war. Das lange Kapitel, das den Titel »Die Juden« trägt, ist eine beunruhigende, aber gar nicht triviale Wiederaufnahme von damaligen antisemitischen Stereotypen. Es besteht deshalb kein Zweifel, dass es ausgezeichnetes Material für die Propaganda der Nazis - angefangen mit Hitler - lieferte. Es wäre aber ein Irrtum, dieses Buch als einen Anachronismus zu betrachten, es als moralisch abscheulich zu beurteilen. Unter anderem könnte man solchermaßen nicht erklären, warum 191 15 Dies ist die von Monk aufgezeigte Alternative. 16 Weininger 1980: 434. 192 es für Wittgenstein über Jahrzehnte hinweg so wichtig war.i7 Auf jenen fürchterlichen und extremen Seiten, in jener Synthesis von weitverbreiteten Vorurteilen konnte Wittgenstein seinen schwer einzugestehenden Selbsthass, der sowohl seine Weiblichkeit aus auch sein Judentum betraf, schwarz auf weiß formuliert finden. Es war also wie sich im Spiegel zu betrachten, was er bis damals deshalb vermieden hatte, weil es ihm das Bild zurückwarf, das die anderen von ihm hatten und das er letztlich verinnerlicht hatte. Dies ist nämlich die paradoxe und verheerende Wirkung der Vorurteile, der Homophobie und des Antisemitismus. War Wittgenstein dann aber Antisemit? In einem gewissen Sinn wohl; er war es, als er Geschlecht und Charakter las; - so wie vielleicht, aufgrund des Spiegelbildeffekts, auch viele andere europäische Juden jener Jahren, in denen sich durch den wachsenden Antisemitismus die »Endlösung« vorbereitete. Das Bild, das die anderen von uns haben, trifft uns im Innersten, und es ist sicher nicht einfach, sich davon zu befreien. Die Lektüre von Weininger bestimmte für Wittgenstein wohl den Anfang der Befreiung. Denn der schwerste Teil der Arbeit war schon getan. Das erbarmungslose Bild von sich selbst war schon gezeichnet. Er konnte sich nicht entziehen. Das muss nicht einfach gewesen sein, bedenkt man, dass der Jude für Weininger keine Seele hat, zutiefst irreligiös ist (da das Judentum nur eine »historische Tradition« ist), keine philosophische Begabung besitzt, da er sich zu klaren und deutlichen Ideen nicht erheben kann, aber vor allem zur bloßen »Reproduktivität« verurteilt ist. Der Jude kann die kreative Originalität eines Genies nicht haben. Von hier geht Wittgenstein aus, nicht um sich diese Thesen anzueignen, aber auch nicht, um sie einfach abzustreiten, das heißt, um etwa zu behaupten, dass es doch ein »jüdisches« Genie mit Originalität gibt, sondern vielmehr, um die kreative, schöpferische Originalität, jenen festen Grundsatz der westlichen Zivilisation, in Frage zu stellen und um die »jüdische Reproduktivität« bewusst zu beanspruchen. Auf diese Weise ist das Zeichen der Negation »~« auszulegen, das in einem sehr bedeutenden Brief an Moore vom 23. August 1931 erscheint. I can quite imagine that you don't admire Weininger very much, what with that beastly translation & the fact that W. must feel very foreign to you. It is true that he is fantastic but he is great & fantastic. It isn't necessary or rather not possible to agree with him but the greatness lies in that with which we disagree. It is his enormous mistake which is great. I.e. roughly speaking if you just add a »~« to the whole book 17 Auf diese Schwierigkeit stößt auch Monk. Vgl. Monk 1994: 40. Doch gerade Monk hat das Verdienst, die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der von Weininger vertretenen Thesen gelenkt zu haben. Das Verhältnis Wittgenstein-Weininger ist daher das Thema von vor kurzem erschienenen Beiträgen in Stern / Szabados 2004. it says an important truth. However we better talk about it when I come back. (CC 1995: 250) Dieser Brief spricht nicht nur für den nachhaltigen Einfluss Weinigers auf Wittgenstein. Er lässt auch verstehen, wie Wittgenstein ihn las, und zwar in jener Unstimmigkeit, die nicht zu einer Negation, sondern zur einer Umkehrung des Antisemitismus führt, welche er gerade in jenen Jahren vollzieht. Aber Wittgensteins Nachdenken wird durch ein unerwartetes Ereignis gezeichnet: durch einen Traum. Am 1. Dezember 1929 notiert er ihn in seinem Tagebuch. Das ist das erste Zeugnis, in dem er von seinem Judentum spricht. Es ist zugleich auch eine Art De-Negation. Nicht, dass Wittgenstein seine jüdische Herkunft wirklich negiert und verleugnet hätte; doch er hatte sie verschwiegen, und dabei hatte er sich selbst nicht weniger als den anderen seine Bindung zum Judentum verheimlicht. In Cambridge hatte er zu verstehen gegeben, dass er der sehr aristokratischen und sehr germanischen Familie der Sayn-Wittgensteins angehöre. Dagegen war er eigentlich nur ein Jude - der Traum kommt, um es ihm in Erinnerung zu bringen. Ein seltsamer Traum: Ich sehe in einer Illustrierten Zeitschrift eine Photographie von Evighztg (Vertsagt), der ein vielbesprochener Tagesheld ist. Das Bild stellt ihn in seinem Auto dar. Es ist von seinen Schandtaten die Rede; Hänsel steht bei mir und noch jemand anderer ähnlich meinem Bruder Kurt. Dieser sagt, dass Vertsag [sir] ein Jude sei, aber die Erziehung eines reichen schottischen Lords genossen habe. Jetzt ist er Arbeiterführer. Seinen Namen habe er nicht geändert, weil das dort nicht Sitte sei. Es ist mir neu, dass Vertsagt, den ich mit der Betonung auf der ersten Silbe ausspreche, ein Jude ist, und ich erkenne dass sein Name einfach verzagt heißt. Es fällt mir nicht auf, dass es mit »ts« geschrieben ist, was ich ein wenig fetter als das übrige gedruckt sehe. Ich denke: muss denn hinter jeder Unanständigkeit ein Jude stecken. Nun bin ich und Hänsel auf der Terrasse eines Hauses, etwa des großen Blockhauses auf der Hochreit, und auf der Straße kommt in seinem Automobil Vertsagt; er hat ein böses Gesicht und ein wenig rötliches blondes Haar und einen solchen Schnauzbart (er sieht nicht jüdisch aus). Er feuert nach rückwärts mit einem Maschinengewehr auf einen Radfahrer, der hinter ihm fährt und sich vor Schmerzen krümmt und der unbarmherzig durch viele Schüsse zu Boden geschossen wird. Vertsag ist vorbei, und nun kommt ein junges Mädchen, ärmlich aussehend, auf einem Rade daher und auch sie empfängt die Schüsse von dem weiterfahrenden Vertsag. Und diese Schüsse, die ihre Brust treffen, machen ein brodelndes Geräusch wie ein Kessel in dem sehr wenig Wasser ist, über einer Flamme. Ich hatte Mitleid mit dem Mädchen und dachte nur, in Österreich kann geschehen, dass dieses Mädchen kein hilfreiches Mitleid findet 193 und die Leute zusehen, wie sie leidet und umgebracht wird. Ich selbst fürchte mich auch davor, ihr zu helfen, weil ich die Schüsse Vertsagts fürchte. Ich nähere mich ihr, suche aber Deckung hinter einer Planke. Dann erwache ich. Ich muss nachtragen ... dass ich ja selbst von Juden abstamme oder dass der Fall Vertsagts ja auch mein Fall ist. Nach dem Erwachen komme ich darauf, dass ja verzagt nicht mit »ts« geschrieben wird, glaube aber sonderbarerweise, dass es mit »pf« geschrieben wird: »pfer-zagt«. Ich habe den Traum gleich nach dem Erwachen notiert. Die Gegend, die in dem Traum etwa der Gegend hinter der Hochreiter Kapelle entspricht (die Seite gegen den Windhut), stelle ich mir im Traum als einen steilen bewaldeten Abhang und eine Straße im Tal vor, wie ich es in einem anderen Tal gesehen habe. Ähnlich einem Stück der Straße von Gloggnitz nach Schlagl. Als ich das arme Mädchen bedauere, sehe ich undeutlich ein altes Weib, welches sie bedauert, aber sie nicht zu sich nimmt und ihr hilft. Das Blockhaus auf der Hochreit ist auch nicht deutlich, wohl aber die Straße und was auf ihr vorgeht. Ich glaube, ich hatte eine Idee, dass der Name, wie ich ihn im Traum ausspreche, »Vert-sagt« ungarisch ist. Der Name hatte für mich etwas böses, boshaftes, und sehr männliches. (MS 107: 219 f. / 1. Dezember 1929) Nach dem Erwachen, als Wittgenstein versucht, den Traum niederzuschreiben, kreisen seine Bemühungen vor allem um den Namen der Hauptfigur »Vertsagt«, der als »pferzagt« entstellt wird. Er fügt hinzu, er habe geglaubt, dass der Name, sowie er ihn im Traum aussprach, das heißt mit der Betonung auf der ersten 194 Silbe, und zwar »Vert-sagt«, ungarisch sei. Der Name hatte etwas »böses« und »sehr männliches«. Denkt man an Wittgensteins beinahe obsessive Sensibilität für die Sprache, so ist es kein Wunder, dass ein Name und nicht ein Bild den Angelpunkt bildet, um den sich der Traum dreht. Andererseits ist dieser Name kein eigentlicher Name, kein Eigenname, sondern ein Wort, das, auf alle mögliche Weisen entstellt, viele verschiedene Worte hervorbringt, die zu einer kurzen, aber wichtigen Erzählung sich verbinden lassen. Von »Vertsag[t]« ausgehend gelangt man zu »verzagt«, und dann wiederum zur doppelten Bedeutung von »Versagen«, bis zu »Vert-sagt«, das schließlich »Wert sagt« lautet. Der Traum könnte nur aufgrund der Auslegung des Namens zusammengefasst werden: Herr Vert-sagt, dessen Fall demjenigen Wittgensteins ähnlich ist, sagt, dass er »Wert« hat, und zwar Bedeutung, Vorzug, Verdienst, Rang, Würde, Besitz, Vermögen, Reinheit - alles Synonyme von »Wert«. Aber in Wirklichkeit hat er versagt, ist er gescheitert, oder vielleicht hat er sich etwas versagt, und zwar auf etwas verzichtet, das ihm ver-sagt, das heißt zugleich verweigert und verheißen war. So ist der verschreckte und verschüchterte Herr Vertsagt mutlos geworden, und er hat sich am Ende als verzagt erwiesen. Doch verzagt und kleinmutig ist er nur aus Versehen, denn er hat nicht gemerkt, dass sein Name nicht mit »z« son- 18 Soweit ich sehe, fehlt bis jetzt eine vollständige Auslegung dieses Traums. dern mit »ts« geschrieben ist. Ihm hat nur der Mut gefehlt, um endlich zu sagen, was er versagt hat: das Jude-Sein. Der reiche schottische Lord ist nichts anderes als ein Jude, der sich versteckt hat - bis zur »Unanständigkeit«. Spielt das Wort »Anständigkeit« eine entscheidende Rolle in Wittgensteins Wortsschatz, und folgt sein Leben deshalb schon lange der ethischen Forderung, trotz alledem anständig zu sein, so verweist das Wort »Unanständigkeit«, hier in dem schlimmsten Sinn angenommen, auf den nationalsozialistischen Jargon.i9 Der Traum, der mit einem sowohl beunruhigenden als auch prophetischen Schlussteil endet, in dem das »ärmlich aussehende« Mädchen umgebracht wird, ohne dass »das alte Weib« etwas tut, um ihr zu helfen - Vorzeichen der dem jüdischen Volk drohenden Vernichtung - wird der erste Schritt für Wittgenstein sein, um die Unanständigkeit einzuräumen, sein Judentum verschwiegen zu haben, wird ihn, Jahre danach, sogar zu einem öffentlichen Bekenntnis bringen. Das sich selbst und den anderen abzulegende Bekenntnis war für Wittgenstein notwendig nicht nur für seinen introspektiven Weg, um ein anständiger Mensch zu werden, sondern auch um anständig zu philosophieren. Das Bekenntnis ist die Bedingung der Philosophie. Es war dann kein Zufall, dass er im November 1936, gerade beim Arbeiten an der Endfassung des ersten Teils der Philosophischen Untersuchungen, einzelnen Familienmitgliedern und engen Freunden schrieb, um sie von seiner bevorstehenden Beichte zu benachrichtigen. Niemand von ihnen hat aber von der Beichte berichtet. Nur in den Erinnerungen von Howald Hutt und Fania Pascal sind Andeutungen zu finden. Pascal zufolge betraf die erste »Sünde« sein Judentum.20 Wittgenstein hatte ihr gesagt, er habe allen zu verstehen gegeben, er sei zu drei Vierteln »arischer« und zu einem Viertel »jüdischer« Abstammung, während es sich genau umgekehrt verhielt. Deshalb hatte er ihr damals erklärt, dass er aus einer jüdischen, wenn auch assimilierten Wiener Familie stamme, und er hatte ihr vor allem offen gestanden, dass er aus Furcht, abgelehnt zu werden, nicht den Mut gefunden hatte, sein Judentum zu bekennen. Nach den Nürnberger Gesetzen - und die Beichte folgt unmittelbar darauf - galt Wittgenstein dadurch als Jude. 19 In Mein Kampf benutzt Adolf Hitler das Wort »Unanständigkeit« in Bezug auf die Juden. Der erste Band erschien 1925, der zweite 1927. Aufgrund der enormen Verbreitung des Buches ist es schwer anzunehmen, dass Wittenstein es nicht kannte. 20 Pascal 1987: 65. 195 196 6. Der Jude als »Schmarotzer«: Hitlers Verleumdung Wittgensteins Bemerkungen über das Judentum sind nicht nur persönlicher, sondern auch philosophischer Art. Er weiß sehr gut, dass er von sich selbst und von seinem Judentum unter individuell-biographischem Gesichtspunkt spricht, doch weiß er ebenfalls, dass seine Frage eine philosophische Valenz hat. Wer ist der Jude für Wittgenstein? Wer ist Wittgenstein der Jude? Er ist sich auch bewusst, dass die Frage eine Falle darstellen könnte. Es wäre nämlich, als ob man nach dem Wesen des Judentums fragen würde. Dies würde einen Rückfall in diejenige sokratische Frage nach der Identität - ti esti? - bedeuten, welche die ganze Philosophie irregeleitet hat. Könnte gerade diese griechische Frage für die Definition des Judentums geeignet sein? Offensichtlich nicht. Um so unverständlicher ist, dass die heutige Debatte gerade um diese Frage kreist. McGuinnes ist zum Beispiel nicht der einzige, der sich in einer Reihe von Definitionen versucht, um die Bedeutung von »Jewishness« festzulegen - ein Terminus, der beinahe ein Nonsens sei.21 In einer zurecht sehr kritischen Besprechung von Chatterjees Buch über Wittgenstein und das Judentum geht Andrew Saldino in dieselbe Falle.22 Er behauptet nämlich, dass, wolle man das Etikett »Jude« Wittgenstein zuschreiben, man das »Jude-Sein« definieren müs-se.23 Ti esti? Was ist? Aber gerade dies ist die Frage, die Wittgenstein absichtlich vermeidet. Denn sie würde »dem Wunsch nach Verallgemeinerung«, dem metaphysischen Streben nach dem Wesen, nach der Identität der Idee entgegenkommen, die - fest und unbeweglich - hinter der Differenz stecken würde.24 Anders gesagt: Eben weil es sich einer Definition der Identität entzieht, verweist das Judentum ständig auf die Differenz. 21 Überhaupt ist die Art, in der McGuinness die Frage aufwirft und vom »Judentum« auch in seinem berühmten Buch Young Wittgenstein spricht, sehr fraglich und nicht einwandfrei. So zögert er zum Beispiel nicht, von »jewish blood« zu reden. Vgl. McGuinness 2005: 53. 22 Vgl. Chatterjee 2005. Trotz seiner guten Absichten ist das Buch von Chatterjee mehr als enttäuschend; es verursacht viele Verwirrungen, behandelt ^emen nicht, die entscheidend sind, und am Ende erreicht es nur das entgegensetze Ziel dessen, das es wohl vorhatte. 23 Vgl. Saldino 2006: 78-84, insb. 81: »Either the designation Jewish has some positive attributes (in which case there is some essential Jewish thought) or the claim is not worth making at all«. Aus diesen Worten geht deutlich heraus, dass die Diskussion über das Jude-Sein, die das ganze jüdische Denken der letzten Jahrzehnte, vor allem nach der Schoah, gekennzeichnet hat, in dem analytischen Zusammenhang leider völlig unbekannt ist. Deshalb wird die Frage nach Wittgesteins Judentum meistens einfach falsch gestellt. Für die insgesamt negative Reaktion auf Chatterjees Buch siehe auch Rogers Horn 2006: 155-157 und Abramo-vitch 2008): 423-424. 24 Vgl. BBB 1984: 38 f.; Z 1984; 444, 377-378; PU 1984: 92. Deshalb beschränkt sich Wittgenstein auf ein deskriptives Vorgehen. Er beschreibt und beansprucht für sich nur scheinbar negative Eigenschaften. In seinen heftigen antisemitischen Aussagen charakterisiert Hitler den Juden als »Schmarotzer« und »Parasit«, dem jene Eigenschaften fehlen, »die schöpferisch und damit kulturell begnadete Rassen auszeichnen«; der Jude habe nie »eine eigene Kultur besessen«, so dass die »Grundlagen«, auf der eine Kultur allein entstehen kann, von Anderen geliefert worden seien.25 Wie sehr der Jude nur nachempfindend, besser aber verderbend, fremde Kultur übernimmt, geht daraus hervor, dass er am meisten in der Kunst zu finden ist, die auch am wenigsten auf eigene Erfindung eingestellt erscheint, der Schauspielkunst. Allein selbst hier ist er wirklich nur der »Gaukler«, besser der Nachäffer; denn selbst hier fehlt ihm der allerletzte Wurf zur wirklichen Größe; selbst hier ist er nicht der geniale Gestalter, sondern äußerlicher Nachahmer.26 Mit einem unerwarteten Zug nimmt Wittgenstein diese ^ese wieder auf und kehrt sie um: Die vielleicht schwerste Verleumdung durch den antisemitischen Rassismus wird zum Grund für die Beanspruchung des jüdischen reproduktiven Talents - die Öffnung zu einer neuen Art des Philosophierens. 7. Altes und Neues verbinden: Über »jüdische Reproduktivität« Die Anklage war andererseits nicht neu. Doch in Bezug darauf zieht Wittgenstein es vor, Renan zu zitieren. In einer kritischen Notiz aus dem Jahr 1930 über Renans fragwürdiges Buch Histoire du peuple d'Israel, das von dem »,bon sens precoce' der semitischen Rassen« spricht, merkt Wittgenstein ironisch in Klammern: »eine Idee, die mir vor langer Zeit schon vorgeschwebt ist« und beansprucht für sich selbst dieses »Undichterische«, das unmittelbar aufs Konkrete geht. Hinzu fügt er noch: Das, was meine Philosophie bezeichnet. Die Dinge liegen unmittelbar da vor unsern Augen, kein Schleier über ihnen. - Hier trennen sich Religion & Kunst. (VB 1994: 29)27 Damit meint er wohl, man solle sie von Seiten der ersten, der Religion, nicht des Poetischen und der Kunst betrachten. So als ob er sagen wolle: Nun sei es! Reproduktivität und nicht originelle Schöpferkraft. Aber gibt es wirklich schöpferische Originalität? Sollte man nicht schon immer durch die Anerkennung des- 25 Hitler 1939: 297. 26 Hitler, 1939: 298. 27 Vgl. Renan 1889-1893. 197 sen beginnen, was schon gesagt worden ist, und von den Anderen gesagt? Würde nicht dies ein guter Anfang sein, das heißt ein Anfang-Nichtanfang - eben die Reproduktivität? Man kann einen alten Stil gleichsam in einer neueren Sprache wiedergeben; ihn sozusagen neu aufführen in einer Weise, die unsrer Zeit gemäß ist. Man ist dann eigentlich nur reproduktiv. (VB 1994: 118) Reproduktiv sein, das heißt Altes und Neues verbinden, das schon Gesagte wieder sagen, es nach einem neuen Rhythmus ausführen und dadurch unbekannte Bahnen brechen, Umwege erschließen, neue Verbindungen erblicken. Dies ist, was der »jüdische Geist« tun kann: jeweils eine Übersicht erreichen (VB 1994: 41). Das jüdische »Genie« ist nur ein Heiliger. Der größte jüdische Denker ist nur ein Talent. (Ich z. B.) Es ist, glaube ich, eine Wahrheit darin, wenn ich denke, dass ich eigentlich in meinem Denken nur reproduktiv bin. Ich glaube, ich habe nie eine Gedankenbewegung erfunden, sondern sie wurde mir immer von jemand anderem gegeben. Ich habe sie nur sogleich leidenschaftlich zu meinem Klärungswerk aufgegriffen. Kann man 198 als ein Beispiel jüdischer Reproduktivität Breuer und Freud heranziehen? - Was ich erfinde, sind neue Gleichnisse. (VB 1994: 40 f.) Seit dem Tractatus hat Wittgenstein nie den Anspruch des Neuen, nämlich der schöpferischen Originalität erhoben; er zitiert zwar seine Quellen nicht, aber nur weil er weiß, dass das, was er gedacht hat, auf irgendeine Weise schon von Anderen gedacht worden ist. Er weiß, dass seine Gedanken »ihren Glanz dann nur von einem Licht, das hinter ihnen steht, empfangen", dass »sie nicht selbst leuchten« und dass seine »Originalität« - und er unterstreicht: »wenn das das richtige Wort ist« - eine »Originalität des Bodens, nicht des Samens« (VB 1994: 79) ist. In diesem Zusammenhang beruft er sich auf die »Originalität« von Freud. Das jüdische reproduktive Talent ist das, was Wittgenstein immer gesucht hat, was er zu sein entdeckt hat, und zwar in den Jahren, in denen er über seine philosophische Arbeit und zwangsläufig über sich selbst, das heißt eben auch über sein vorher verdrängtes, verweigertes, verleugnetes Judentum nachgedacht hat. Wenn er von dem Juden spricht, von seinem geistigen oder »spiritualistischen« Charakter, der etwa in den Masken von Kraus' ^eaterstücken stilisiert ist, spricht er von sich selbst (VB 1994: 38). »Der Jude ist eine wüste Gegend, unter deren dün- ner Gesteinschicht aber die feurig-flüssigen Massen des Geistigen liegen.« (VB 1994: 39) 8. Hegels Sicht des Judentums. »Juif n'est pas juif« Aber dies ist wiederum eine verfehlte und begrifflich eine völlig unbefriedigende Definition. So als ob Wittgenstein nur imstande sei, negative Eigenschaften - eben die Reproduktivität - zu reklamieren, als ob er neben ihnen keine positive Begriffe liefern könne und sich mit (nicht ungewöhnlichen) Metaphern, Figuren, Gleichnissen - wie dem der Wüste - begnüge. Ist dies aber eine Grenze Wittgensteins? Oder handelt es sich vielmehr um eine bewusste Entscheidung, die nur aus einem tiefen Nachdenken über das Judentum entstehen kann? Wittgenstein schreibt die meisten dieser Notizen in den dreißiger Jahren. Es sind Jahre, die eine epochale Grenze markieren: das Ende des deutschen Judentums. Doch am Rande des Abgrunds scheint sich die Möglichkeit eines »Neuen Denkens« zu öffnen - wie Franz Rosenzweig ankündigt - und zwar gerade aus einer neuen Betrachtung über das »Jude-Sein«28. Deshalb ist es ein Irrtum, Wittgenstein von der »jüdischen Philosophie« seiner Zeit zu trennen - wie es bislang geschehen ist. In jenem Kontext und in jenen Jahren wird nämlich die Unmöglichkeit einer begrifflichen Definition des Judentums anerkannt. Das Judentum entzieht sich nicht nur jedem Begriff, sondern es unterminiert - Rosenzweig zufolge - dessen Identität, annulliert seine Umrisse, erweckt Zweifel über den Begriff selbst, das heißt über die Philosophie, oder, besser, über die abendländische Metaphysik, die abstrakt, statisch, essentialistisch ist. Daher kann das Judentum ein neues Denken in Gang setzen, das sich bewusst in der Sprache artikuliert, das also ein »grammatisches« Denken ist und folglich des Anderen bedarf und die Zeit ernst nimmt, ein Denken, das das Dritte nicht ausschließt und, ohne die Einheit aufzugeben, die Differenz in sich bewahrt. Denn die Differenz lässt die Synthesis offen - damit sie eine »Korrelation« bleibt, wie Cohen nahelegt - und verbietet ihr, eine totalitäre Synthesis zu werden. Auf ähnliche Weise schreibt Buber, dass das Judentum ein polares Phänomen und das jüdische Bewusstsein das gespaltene Bewusstsein dieser Polarität ist; jeder Jude lebt in dieser Spaltung, in dieser Kluft, in der Differenz, die ihn trägt und die er trägt, aus welcher sein Streben nach der Einheit entspringt. In einer weiteren Notiz von 1931, die auf dem ersten Blick enigmatisch erscheinen könnte, schreibt Wittgenstein: 199 28 Vgl. Renan 1889-1893. Der Jude muss im eigentlichen Sinn »seine Sache auf nichts stellen". Aber das fällt gerade ihm besonders schwer, weil er, sozusagen, nichts hat. Es ist viel schwerer freiwillig arm zu sein, wenn man arm sein muss, als, wenn man auch reich sein könnte. (VB 1994: 41) Taucht hier vielleicht ein antisemitisches Klischee auf? Das Klischee nämlich des reichen Juden? Und wenn es so wäre, worin bestünde dann der Zusammenhang zwischen dem Juden und dem Nichts? Was wäre dann der Jude sozusagen »ohne Eigenschaft/en«? Um diese Stelle bei Wittgenstein zu verstehen, muss man eine unmittelbar darauffolgende Stelle lesen, in der er zwischen Eigenschaft, das heißt Besitz, und Macht unterscheidet. Macht & Besitz sind nicht dasselbe. Obwohl uns der Besitz auch Macht gibt. Wenn man sagt, die Juden hätten keinen Sinn für den Besitz, so ist das wohl vereinbar damit, dass sie gerne reich sind, denn das Geld ist für sie eine bestimmte Art von Macht, nicht Besitz. (Ich möchte z. B. nicht, dass meine Leute arm werden, denn ich wünsche ihnen eine gewisse Macht. Freilich auch, dass sie diese Macht recht gebrauchen möchten.). (VB 1994: 44) Der Jude muss also »im eigentlichen Sinne« seine Sache auf Nichts stellen - was ihm schwer fällt, weil er »sozusagen« nichts hat (obwohl er auch reich sein mag 200 - so wird das Klischee vorweggenommen). Was bedeutet das? Hier setzt Wittgenstein einige Worte in Anführungszeichen. Er zitiert. Aber wen? Genau betrachtet zitiert er die Worte Hegels, der im Geist des Christentums schreibt, »die Juden besaßen alles nur geliehen, nicht als Eigentum, weil sie als Staatsbürger nichts waren.«29 Von Hegels Gesichtspunkt sind die Juden nichts, weil sie mit ihrem Jude-Sein keine Identität fordern können, die jedes andere Volk postulieren kann. Dies bedeutet - und hat bedeutet - ein Todesurteil, durch den »Weltgeist« ausgesprochen.30 Auch diesmal kehrt Wittgenstein die Anklage um: Der Jude hat nichts im Eigenen, hat keine Eigenschaft, auf welche er seine Sache gründen soll, und deshalb hat er auch keine Sache, keinen Grund, keinen Boden, keine Wurzel - kein Sein. Hier kommt die Aporie des Jude-Seins ans Licht. Es gibt kein Jude-Sein an sich und für sich. Der Jude hat im Eigenen, keine Eigenschaft zu haben - und 29 Auf einen Zusammenhang zwischen Wittgenstein und Rosenzweig hat neuerdings Putnam hingewiesen. Vgl. Putnam 2008. 30 Hegel: 287, 297. Hegels Verurteilung des Judentums hinderte ihn nicht daran, die politische und gesellschaftliche Emanzipation der Juden zu unterstützen. Dennoch muss hervorgehoben werden, dass Hegel keine andere Religion in derart heftigen Attacken verurteilt wie das Judentum. Hegels Sicht des Judentums reflektiert zweifellos eine weitverbreitete Sichtweise. Aber Hegels Text entspricht nicht nur einer zu seiner Zeit vulgären Verunglimpfung des Judentums, sondern begründet sie auch philosophisch. noch weniger ein Wesen. Wie Derrida in dem Buch Schibboleth, das Paul Celan gewidmet ist, sehr treffend notiert: »Juif n'est pas juif«.3i So hat Hegel in einem gewissen Sinne recht: Es gibt kein Jude-Sein - zumindest, wenn man mit den Begriffen der abendländischen Philosophie argumentiert, wo das Sein über den Juden entschieden hat und ihn den Begriffen von Ursprung, Ratio, Entweder-Oder und selbst dem Begriff des Begriffs unterworfen hat. So bemerkt Wittgenstein: »Der Jude wird in der westlichen Zivilisation immer mit Maßen gemessen, die auf ihn nicht passen.« (VB 1994: 51) Dass Judentum ursprüngliche Dissidenz, Kluft in der unerschütterlichen Totalität, Rest und Resistenz, Widerstand gegen den Totalitarismus für ihn ist, geht aus einer Notiz hervor, die Wittgenstein 1948 geschrieben hat: Humor ist keine Stimmung, sondern eine Weltanschauung. Und darum, wenn es richtig ist, zu sagen, im Nazi-Deutschland sei der Humor vertilgt worden, so heißt das nicht so etwas wie, man sei nicht guter Laune gewesen, sondern etwas viel Tieferes & Wichtigeres. (VB 1994: 147 f.) Der Humor war also von den Nazis verbannt. Ist das alles? Wittgenstein selbst legt nahe, dass in seiner Interpretation des Nazismus etwas mehr steckt. Nicht nur eben, dass man nicht guter Laune war. In einer späteren Notiz von 1949 fügt er hinzu: Wie ist es denn, wenn Leute nicht den gleichen Sinn für Humor haben? Sie reagieren nicht richtig auf einander. Es ist, als wäre es unter gewissen Menschen Sitte einem Andern einen Ball zuzuwerfen, welcher ihn auffangen & zurückwerfen soll; aber gewisse Leute werfen ihn nicht zurück, sondern stecken ihn in die Tasche. (VB 1994: 157) Die Nazis haben gerade das getan: Sie haben sich den Ball in die Tasche gesteckt. Sie haben damit das Spiel aufgehalten, zugeschlossen; sie haben jede andere Art, die Welt zu sehen, verhindert, jede andere Lebensform vertilgt. Hier muss in Erinnerung gerufen werden, was Wittgenstein über die philosophische Tiefe des Witzes in den Philosophischen Untersuchungen sagt (PU 1984: 111). Gewiss lässt die Philosophie »alles, wie es ist« (PU 1984: 124); doch auf neue Analogien verweisen, weitere Ähnlichkeiten erschließen, heißt wohl die Art ändern, in der wir die Sachen sehen - und zwar tatsächlich doch Alles wechseln. 201 31 Für eine detaillierte Darstellung des komplizierten Verhältnisses Hegels zum Judentum vgl. Yovel 1998: 21 sowie jetzt auch Cohen 2010. 202 9. Über das Tragische hinaus: Rosenzweig, Benjamin, Wittgenstein Es ist fast unglaublich, dass Wittgenstein des Antisemitismus bezichtigt wurde - und zwar gerade dort, wo er, durch den Stachel und die Qual der Identität, über das Judentum nachdenkt und es für sich in Anspruch nimmt. Wie es hier schon angedeutet worden ist, hängt dies zum Großteil auch mit der Tatsache zusammen, dass Wittgenstein vom Kontinent (und von der europäischen Geistesgeschichte) isoliert worden ist. Unter den vielen Themen, die philosophisch relevant sind, sei nur noch das ^ema des Tragischen kurz erwähnt. 1929 notiert Wittgenstein: »Die Tragödie ist etwas unjüdisches. Mendelssohn ist wohl der untragischste Komponist." (VB 1994: 22) Einige Zeit darauf, im Jahr 1931, kommt er auf dieses Thema zurück: »Eine Tragik gibt es in dieser Welt (der meinen) nicht, und damit all das Unendliche nicht, was eben die Tragik (als Ergebnis) hervorbringt.« (VB 1994: 35) In seinem Werk Ursprung des deutschen Trauerspiels, das er zwischen 1923 und 1925 schreibt, nimmt Walter Benjamin die schönen und entscheidenden Seiten von Rosenzweigs Stern der Erlösung über den Zusammenhang zwischen dem Tragischen, dem Schweigen und dem Heidentum wieder auf32. Das Schweigen ist im Tragischen verwurzelt, in jener ganz griechischen Dimension des Helden, der allein und aufständisch scheitert an der unüberwindlichen Mauer seiner eigensinnigen Einsamkeit, ohne den Ausweg der Sprache zu finden. Der Heide ist in sich selbst eingeschlossen, in seiner stummen Immanenz; er kann nicht über sich hinausgehen. Das ist eben nur durch die Sprache möglich. Deshalb ist das Tragische tief unjüdisch, deshalb sind Schweigen und Judentum miteinander unvereinbar. Sowohl für Rosenzweig als auch für Benjamin wäre das Judentum ohne Sprache - das heißt ohne das Sich-Hervorbringen jener Öffnung, die die Offenbarung ist - gar nicht denkbar. 10. Wartend auf ein »erlösendes Wort« Diese Stellungnahme könnte auch Wittgensteins Denkweg bezeichnen: von der Tragik zum Ausweg der Sprache oder - wie Isaac Nevo sagt - von dem schweigenden und innerlichen Mystizismus gegenüber einem indifferenten Gott des Trac-tatus zu einer Bekehrung, zu einer sowohl religiösen als auch philosophischen Kon-version, die durch das Nachdenken seines Jude-Seins hindurch geht^^. Das Wort dafür, das Wittgenstein im Big Typescript benutzt, ist »Umstellung« (Wiii: 406, 431). Umstellung - nicht so weit entfernt von Husserls »Reduktion« - weist 32 »Jüdisch ist nicht jüdisch«. Derrida 1996: 76. 33 Benjamin 1991: 286-288; Rosenzweig 1988: 80-90 (65-73). auf eine neue Richtung des Blicks auf sich selbst und auf die Welt, eine »grammatische Inversion«, die Leidensfähigkeit erfordert, in der Erwartung auf ein erlösendes Wort. Die grammatischen Schemata brechen, heißt nicht nur das eigene Denken, sondern auch das eigene Leben »revolutionieren«. Man versteht dann, wie wichtig seine berühmte Beichte über sein »versagtes« Judentum gewesen ist, über die er lange nachgedacht haben soll. 1931 schreibt er: »Eine Beichte muss ein Teil des neuen Lebens sein.« (VB 1994: 40) Es wird sicher kein Zufall sein, dass das Bedürfnis der Beichte sowohl mit einer Wendung in seiner Philosophie als auch mit der Notwendigkeit zusammenfällt, sich selbst durch eine neue Lebensform wiederzufinden. Viel ist schon über die Religion bei Wittgenstein geschrieben worden. Bekanntlich ist er tief von Tolstojs, aber auch von Dostoevskijs Christentum beeinflusst worden. Auch seine Auseinandersetzung mit Kierkegaard und seine wiederholte Lektüre der Bibel wurde nicht vergessen. Dagegen ist nicht genügend Aufmerksamkeit seiner versöhnenden Sicht des Verhältnisses zwischen Judentum und Christentum gewidmet worden, durch die er ihren engen Zusammenhang hervorheben wollte. Vielleicht auch, weil dies seinen Übergang hätte gestatten können, die Rückkehr nämlich von einer christlichen und für ihn wohl zu asphyk-tischen Innerlichkeit zu einer Religion, die jüdisch im Sinne von Äußerlichkeit, ritueller Lebensführung, Ethik - LebensjOrm gemeint ist. Wie nämlich könnte man das Judentum besser denn als eine Lebensform beschreiben?^^ Vielleicht ist Wittgenstein auf diesem seinem ansteigenden Weg dazu gelangt, sich der Form seines Lebens anzupassen, um das Problematische daran zu lösen, soweit er konnte; er ist aber, wie wir wissen, nicht zu einer jüdischen Lebensform gelangt. Hat er nicht Zeit genug gehabt? In einem Gespräch, das Drury berichtet, soll Wittgenstein behauptet haben: »Ihre religiösen Ideen sind mir immer schon eher griechisch als biblisch vorgekommen. Meine Gedanken dagegen sind hundertprozentig hebräisch«.35 34 Nevo 1987/88: 225-243, insb. 226. 35 Sehr interessant ist, was seine Schwester Margaret über das Judentum als Religion und als Lebensform schreibt: »Die jüdischen Geschichten, obwohl [sic!] sie an sich gar nicht so gut sind, beschäftigen mich noch immer. Allein der Gedanke, dass ich aus einem derartigen Milieu stammen kann, das mir so fern + seltsam scheint! Dabei zieht es mich in der Theorie an; ob, weil es so ausgefallen ist oder wegen der Blutverwandtschaft [sic!], das kann ich nicht entscheiden. Und welch eine merkwürdige Religion! Eine, die man nicht nebenbei betreiben kann, wie die anderen die ich kenne, sondern eine die wirklich in fast alle Handlungen des täglichen Lebens eingreift + sie färbt. Sie muss deswegen viel schwerer abzuschütteln sein«. Margaret Stonborough, TB-Eintrag vom 3. Mai 1918, in: Iven 2006: 98. 203 204 Sich sammeln, die Zwischenglieder, die Verbindungen zwischen den zersplitterten Teilen des Lebens in eine Übersicht bringen: das ist der Gipfel der philosophischen Arbeit. Um aber diese Übersicht zu erreichen und sie annehmen zu können, muss man sich selbst von einer äußeren Zeit aus betrachten. Drury berichtet 1948: »Als ich ihn am nächsten Tag im Hotel besuchte, war das erste, was er mir sagte: »Drury denken Sie an den Sabbat.«^^ Einige Monate später schreibt Wittgenstein: »Der Sabbath ist nicht einfach die Zeit der Ruhe, der Erholung. Wir sollten unsre Arbeit von außen betrachten, nicht nur von innen (1949)« (VB 1994: 152) In der wüstenhaften Reproduktivität, in der grammatischen Beschreibung der Sprachspiele, in der erratischen Zusammensetzung der Lebensformen, in dem jüdischen Schicksal liegt für Wittgenstein die Herausforderung seiner Philosophie. Literaturverzeichnis Abramovitch, Henry: Wittgenstein and Judaism. A Triumph of Concealment (Review), in: ^e Journal of Religion, 88 (2008). - / Prince, Raymond: »^e Jewish Heritage of Ludwig Wittgenstein: Its Influence on His Life and Work«, in: Transcultural Psychiatry, 43 (2006). Benjamin, Walter: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Gesammelte Schriften, Bd. I/i, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am 1991. Bensussan, Gerard: Qu'est-ce que la philosophie juive?, Paris 2003. Chatterjee, Ranjit: Wittgenstein and Judaism. A Triumph of Concealment, New York / Bern 2005. Cohen, Joseph: Hegels jüdischer Geist, aus dem Französischen von Stefan Lorenzer, Frankfurt am Main 20i0. Conant, James: »Philosophy and Biography«, in: Klagge, James C. (Hrsg.): Wittgenstein. Biography & Philosophy, Cambridge 2001. Derrida, Jacques: Schibboleth pour Paul Celan, aus dem Französischen von Wolfgang Sebastian Baur, Wien 1996. Drury, Maurice O'Connor: »Gespräche mit Wittgenstein«, in: Rhees, Rush (Hrsg.): Ludwig Wittgenstein: Porträts und Gespräche, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt am Main i987 Guttmann, Julius: Die Philosophie des Judentums, Berlin 2000. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: »Der Geist des Christentums«, in: ders.: Werke, Bd. I: Frühe Schriften, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl M. Michel, Frankfurt i986. Hitler, Adolf: Mein Kampf, München 1939. Iven, Mathias (Hrsg.): ,Ludwig sagt ...'. Die Aufzeichnungen der Hermine Wittgenstein, Berlin 2006. Klagge, James C. (Hrsg.): Wittgenstein. Biography & Philosophy, Cambridge 2001. 36 Drury 1992: 221. McGuinness, Brian: »Wittgenstein und das Judentum«, in: Schneider, Ursula A. (Hrsg.): Paul Engelmann (1891-1965) - Architektur - Judentum - Wiener Moderne, Wien / Bozen 1999. -: Young Wittgenstein. Wittgenstein's Life 1889-1021, Oxford 2005. Monk, Ray: Wittgenstein: Das Handwerk des Genies, aus dem Engl. übertr. von Hans Günter Holl und Eberhard Rathgeb, Stuttgart 1994. -: »Philosophical Biography: ^e Very Idea«, in: Klagge, James C. (Hrsg.): Wittgenstein. Biography & Philosophy, Cambridge 2001. Nevo, Isaac: »Religious Belief and Jewish Identity in Wittgenstein's Philosophy«, in: Philosophy Research Archives, XII (1987/88). Nordmann, Alfred: »^e Sleepy Philosopher: How to read Wittgenstein's Diaries«, in: Klagge, James C. (Hrsg.): Wittgenstein. Biography & Philosophy, Cambridge 2001. Pascal, Fania: »Gespräche mit Wittgenstein«, in: Rhees, Rush (Hrsg.): Ludwig Wittgenstein: Porträts und Gespräche, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt am Main 1987. Putnam, Hilary: Jewish philosophy as a guide to life. Rosenzweig, Buber, Levinas, Wittgenstein, Bloomington 2008. Renan: Ernest: Histoire de Peuple d'Israel, 5 Bde, Paris 1889-1893. Rogers Horn, Patrick: Wittgenstein and Judaism. A Triumph of Concealment (Review), in: Shofar. An Interdisciplinary Journal of Jewish Studies, 2 (2006). Rosenzweig, Franz: Der Stern der Erlösung, Frankfurt am Maini988. Saldino, Andrew: »Wittgenstein and Judaism«, in: Journal for Cultural and Religious ^eory, 7/2 (2006). Schneider, Ursula: »Vom ,Wittgensteinhaus' zum ,Cafe Techelet': Die sichtbaren und die unsichtbaren Werke Paul Engelmanns«, in: dies. (Hrsg.): Paul Engelmann (18911965) - Architektur - Judentum - Wiener Moderne, Wien / Bozen 1999. Schulte, Joachim: Wittgenstein. Eine Einführung, Stuttgart 200i. Schwarzschild, Steven S., »Wittgenstein as Alienated Jew«, in: Telos, 40 (1979). Somavilla, Ilse (Hrsg.): Wittgenstein - Engelmann. Briefe, Begegnungen, Erinnerungen, unter Mitarbeit von Brian McGuinness, Innsbruck / Wien 2006. Stern, David: »^e Significance of Jewishness for Wittgenstein's Philosophy«, in: Inquiry, 43 (2000). -: »Was Wittgenstein a Jew?«, in: Klagge, James C. (Hrsg.): Wittgenstein. Biography & Philosophy, Cambridge 200i. - / Szabados, Bela (Hrsg.): Wittgenstein reads Weininger, Cambridge 2004. Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, München i980. Wuchterl, Kurt: »Neue Tendenzen in der Wittgenstein-Interpretation«, in: Information Philosophie, 2 (2009) Yovel, Yirmiyahu: Dark RR^iddle. Hegel, Nietzsche and the Jews, University Park 1998. 205