Dean Komel 81 Dean Komel Versucht man, die heutige Situation Europas aus einem philosophischen Ansatz zu verstehen, taucht automatisch die Frage auf, ob damit zugleich eine konkrete Chance zur Verständigung über die Zukunft Europas geboten wird. Die Philosophie hält sich gegenüber einem solchen Angebot eher kritisch zu- rück, wobei diese Zurückhaltung nicht als ein Zurückweichen vor der kon- kreten Welt mit ihren geschichtlichen Problemen zu verstehen ist. Man muß sogar sagen, daß die geschichtliche Konkretheit Europas ohne die kritische Haltung der Philosophie nicht das sein könnte, was sie ist. Daraus folgt wohl auch die Frage, was Europa heute ist, eine Frage, welche die Philosophie in ein Gespräch bringt, in dessen Durchgang sie ihre eigene kritische Sprache zu entfalten vermag. Ein solches Gespräch kann gewiß nicht zum Ziel haben, die Wirklichkeit Europas zu bestätigen oder sie sogar zu festigen, denn das würde bedeuten, daß diese Wirklichkeit schon im voraus als eine indiskutable Gegebenheit ohne Al- ternativen und insbesondere ohne die Möglichkeit eines Anderen angenom- men wird. Ein philosophisches Gespräch, das davor zurückweichen würde, kritisch über die Begrenztheit des heutigen Europa durch »Unmöglichkeit«, das »Unmögliche« und »Ohnmacht« zu sprechen, würde sich mit Hinblick auf die Enthüllung der Wahrheit als unglaubwürdig erweisen. Es würde im voraus auf die Möglichkeit verzichten, daß die Wahrheit auch eine andere und anders sein kann. Im Sinne einer solchen Abgrenzung ist somit auch die An- erkennung zu verstehen, daß die unbegrenzte Ausbreitung der Macht, die den heutigen Globalisierungsprozessen zugrunde liegt, nicht »alles« ist, und daß EUROPAS CONTEMPORALITÄT Phainomena xviii/68-69 Dean Komel 82 uns in diesem Sinne ein Gespräch bleibt, das – sollte es geschichtlich möglich sein – diese Möglichkeit aus einer vorlaufenden Erfahrung schöpfen muß. Eine solche geschichtliche Erfahrung, deren Aufschlußkraft sich für Euro- pa unmittelbar nahelegt, ist durch die Überlieferung verschiedener Sprachen vermittelt, die sich bereits zu einem gemeinsamen Gespräch zusammenfanden und noch weiterhin zusammenfinden, ohne daß eine Kultursprache die Ober- hand über die anderen gewinnen würde. Dabei lassen sich weder die in der Vergangenheit wie die gegenwärtig ausgetragenen konflikthaften Beziehungen zwischen diesen Kulturen verneinen noch ihre »geschichtlichen« Tendenzen zu einer kulturellen und nationalen Vorherrschaft. Durch diesen tradierten Zustand wird das Verständigungsinteresse eher geboten als verneint; man will die konflikthaften Beziehungen durch das gemeinsame Gespräch überwinden, statt durch sie beherrscht zu werden. Dabei muß betont werden, daß sich die- ses Interesse weder individuell noch gemeinschaftlich aufdrängen läßt; es muß sich vielmehr aus sich selbst im Sinne dessen herausbilden, was die interkul- turelle Lage als ihr eigenes Inter-esse entwickelt. Wird die Möglichkeit eines interkulturellen Dialoges nicht durch ein solches Daseinsinteresse bestimmt, sondern durch Auseinandersetzungen bezüglich kultureller Eigenarten oder politische Interessensphären, dann verkommt der Dialog zum bloßen Mittel für andere Bedürfnisse und vermag nicht jene Verbindungsmitte zu bilden, in die man auf der Grundlage einer geschichtlichen Erfahrung eintritt. Für die geschichtliche Erfahrung Europas läßt sich sagen, daß sie sich in sich wie eine nachdrückliche Erfahrung der Geschichtlichkeit des Daseins zeigt. Ihre Überlieferung trägt eine existenzielle Aussagekraft mit sich, die verwehrt, daß das Gespräch über den Sinn Europas allein durch die Bildung institutioneller Kapazitäten zustande kommt, die den Teilnehmern an diesem Gespräch einen angemessenen Informations- und Kommunikationsrahmen sicherstellen würden. Viel wichtiger als solche »Installationen« eines europä- ischen Gesprächs ist dagegen eine aus dem unmittelbaren Dasein entspringen- de Gesprächsbereitschaft, die wie ein freies Bewußtsein davon erwachen muß, was uns heute als eine geschichtliche Erfahrung Europas zukünftig zu einem gemeinsamen Gespräch führen kann. Dieses spontane Freiheitsbewußtsein hat sich durch die Erfahrung der Ver- schiedenheit der Sprachen und Kulturen Europas bzw. überhaupt durch das Vermögen zur Selbstunterscheidung individualisiert. Eben aus diesem Grund läßt sich diese Erfahrung nicht wie ein allgemeines »Identitätsband« in das europäische Gebäude einfassen. Und noch weniger kann man sich mit einer »einheitlichen europäischen Kultur« auf dessen Grundlage identifizieren. In Dean Komel 83 dieser Hinsicht ist bereits die Proklamierung »Wir Europäer« problematisch. Das Bewußtsein dieser Erfahrung ist je nach Sprache und Kultur verschieden und manifestiert sich auf die ihm jeweils eigene Weise. Obgleich sie sich keiner höheren Einheit unterwerfen läßt, wird sie jedoch von uns allen geteilt, so daß sie eine Welt bildet, die als »unsere gemeinsame Welt« betrachtet werden kann – auch dann, wenn sie uns mit Bezug auf die Werte trennt, durch die das Be- wußtsein von ihrer »Identität« gestiftet werden sollen. Der Sachverhalt, daß wir uns in der jeweils eigenen Verschiedenheit zu einem Gespräch zusammenfin- den, geht jeder werthaften Bestimmung der Identitäten und auch der Identität selbst als einem bereits hergestellten Wertmaßstab wesentlich voraus. Wie ist nun der Charakter dieses Vorausgehens im Kontext dessen zu bestimmen, was sich uns wie ein europäisches Gespräch verschiedener Sprachen überliefert? Eben dieses Erfahrungsfeld, das jeder Gewährleistung einer Identität vor- ausgehen sollte, bezeichnen wir als die »Contemporalität Europas«. Es ist da- bei kritisch zu hinterfragen, ob nicht gerade die Gewährleistung und Vollen- dung der Identität des Vorhandenen als einer bedingungslosen, alles ergreifen- den Macht die Erschließung dieser Contemporalität und die Offenheit eines wirklichen Gesprächs über die Zukunft Europas unmöglich macht, insofern es diese Zukunft schon im voraus in bloßen Perspektiven der »Entwicklung« betrachtet. Die Identität dessen, was »entwicklungsmäßig« am Werk ist, trägt ein anderes Gesicht, wenn es zum Zentrum einer Macht gemacht wird, die sich zukünftig entwickeln soll, als wenn man es aus der Mitte dessen erfährt, was ein Gespräch über die Zukunft zuläßt. Dieser Unterschied kann nicht ein- fach unter den Tisch geschoben werden, an dem man sich dann über wissen- schaftliche und politische Standpunkte bezüglich der Entwicklungsstrategien austauscht. Die mögliche Suche nach einem Gleichgewicht setzt bereits eine Synchronisierung der Aspekte »Zukunft« und »Entwicklung« voraus, die je- doch nicht einfach verfügbar ist und sich willentlich nicht erzwingen läßt; sie muß vielmehr mit der Zeit irgendwie von selbst kommen, und andererseits muß man ihr – eben weil man nicht über ihre Vorläufigkeit verfügt – in einem Gespräch entgegenkommen, das von der geschichtlichen Vermittlung der Ver- schiedenheit der Sprachen Europas herrührt. Diese mögliche Synchronisie- rung betrifft sowohl die geschichtlichen als auch die sprachlichen Verstehens- horizonte und ist in dieser Hinsicht zugleich diachron, insofern die geschicht- liche und die sprachliche Erfahrung vorläufig erst nach ihrer Contemporalität suchen, was etwas anderes ist als »Identitätsstiftung«, da diese Suche über die Grenzen des Eigenen hinausgeht und nach einer Berührung mit dem Anderen Ausschau hält. Phainomena xviii/68-69 Dean Komel 84 Im Zusammenhang mit dem Begriff von der »Identität Europas«, über den es weder in gesellschaftswissenschaftlichen Theorien noch in der politi- schen Praxis einen Konsens gibt– was eher zu einer Verstimmung als zu einer (Ein)Stimmigkeit beiträgt – soll hervorgehoben werden, daß hier nicht nur Meinungsverschiedenheiten herrschen, sondern daß wir auch hinsichtlich der Verständigung über ihn nicht weiter kommen, solange sich uns der Horizont entzieht, aus dem heraus er verstanden werden sollte. Dieser »Entzug« wurde in der Philosophie schon vor über einem Jahrhundert als die europäische Er- fahrung erfaßt, und zwar unter dem Namen »der europäische Nihilismus« bei Nietzsche und später – noch nachdrücklicher – bei Heidegger als die »Seins- vergessenheit« im Sinne eines »Schicksals des Abendlandes«. Ungeachtet des- sen, wie weit man einen solchen ›seinsgeschichtlichen Nihilismus‹ als mög- lichen Ansatzpunkt zum Verstehen des Horizontentzuges der gegenwärtigen »Identität Europas« akzeptieren kann, ist doch zur Kenntnis zu nehmen, daß der Begriff der »Identität« in der Philosophie ursprünglich als Bestimmung des »Seins« als des »mit sich selbst Identischen« erscheint. Und eben durch das sich von allem anderen unterscheidende »Sein« spricht alles in vielfacher Weise, wie es Aristoteles in seiner Metaphysik über to on legetai pollachos sagt. Wenn das Sein zur Sprache kommt, spricht es uns notwendigerweise in Ho- rizonten der Verschiedenheit an, wodurch auch seine Geschichtlichkeit be- stimmt wird, die sich wie eine Identitätserfahrung in sich selbst als ausdrück- lich individuell und unterschieden manifestiert. Das fordert zugleich unseren Willen dazu auf, über diese Unterschiede hinaus eine Identität zu stiften, die alle Horizonte unterschiedslos erfaßt. Diese Unterschiedslosigkeit ist wieder- um die Spur des Horizontentzuges, die es zu verfolgen gilt, jedoch nicht durch einen Willen nach Identifikation, sondern durch das Eröffnen eines Gesprächs. Unter »Gespräch« wird hier nicht irgendeine kommunikative Kompetenz zum Dialog verstanden. Folgen wir einem Hinweis Gadamers, ist die Sprache in sich selbst ein Gespräch, weil das Seinsmäßige allein durch die Verschieden- heit der Sprachen spricht. Wenn wir in der bekannten Bestimmung aus dem Werk Wahrheit und Methode, »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache«, den Nachhall des Aristotelischen to on legetai pollachos erkennen, dann läßt sich behaupten, daß die geschichtliche Erfahrung Europas durch die Erfah- rung der Verschiedenheit der Sprachen vermittelt wird, die aus sich heraus eine Gesprächsmitte erschließt. Das wird deutlich genau dann, wenn der »Ni- hilismus der Identität« beginnt, sich zu enthüllen, und sich zugleich die Krise der europäischen Kultur als einer Kernkultur offenbart. Und doch bleibt uns weiterhin das Gespräch. Dean Komel 85 Wenn wir heute bemüht sind, aus philosophischen Grundlagen heraus die Möglichkeit der europäischen Erfahrung zu thematisieren, geht es uns vor al- lem darum, auf eine besondere Weise das Bewußtsein von einem gemeinsamen Gespräch der verschiedenen Sprachen zu erwecken. Die Situation des europä- ischen Gesprächs wird dabei nicht nur durch den Umstand charakterisiert, wer hier spricht und was gesprochen wird, sondern auch dadurch, wie das akzeptiert wird, was uns im Sinne dessen, was da ist, anspricht. Insofern sich eben durch dieses Ansprechen ein »Fehlen des Horizonts« offenbart, wird ein Gespräch nötig, das die Macht des Tatsächlichen, welche Verschiedenheit nur innerhalb der Grenzen des Eigenen und nicht an der Grenze zum Anderen gestattet, auf irgendeine Weise zu brechen hat. Eine solche Verschiedenheit im Gespräch er- öffnet sich nicht als Tatsache eines vorgefundenen Zustandes der Gegenwart. Sie erwacht in einem dialogischen Zwischen, das die Erfahrung des Fehlens des Horizonts dadurch zuläßt, das es die Horizonte zwischen dem Vergangenen und dem Zukünftigen erschließt. Was uns im dialogischen Zwischensein in die Mitte der Horizonte versetzt, d. h. in die Mitte des Ansprechens dessen, was da ist und uns als Welt beherrscht, das möchten wir unter dem Namen »Con- temporalität« erfahren. Insofern hier ausdrücklich von der »Contemporalität Europas« die Rede ist, ist schon im voraus offensichtlich, daß sich diese keiner bereits gestifteten Identität entnehmen läßt, weil sie wie ein ›Zwischen‹ jede gesetzte Identität als einen Berührungspunkt von Verschiedenheiten enthüllt. Europa ist heute bemüht, in allen relevanten Bereichen der gesellschaftli- chen Entwicklung wenn schon nicht an erster Stelle, so doch zumindest unter den ersten in der Welt zu sein. Dieser Sachverhalt bietet jedoch an und für sich keine unmittelbare Antwort auf die Frage, wodurch die Contemporalität Europas gebildet wird. Sie darf schon aus dem Grund nicht mit der Entwick- lungskategorie der Modernität verwechselt werden, weil sich diese nicht nur gelegentlich, sondern vielmehr permanent in die Krise des eigenen Fortschrei- tens verwickelt, von dem »stets etwas Neues« diktiert wird. Die Modernität kann somit allein in eigener Contemporalität und nur auf die Art und Wei- se einer Krise eingeholt werden. Nietzsche enthüllte, obwohl noch tastend, in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen als erster diesen krisenhaften Charakter der Contemporalität, wobei ihm die moderne Aktualisierungsweise der Ge- schichtlichkeit als kritischer Ansatzpunkt diente. Gianni Vattimo nahm in den frühen Schriften Nietzsches sogar erste Ansätze derjenigen philosophischen Postmoderne wahr, die die Beschränkung der Moderne in ihrer eigenen gren- zenlosen Aktualisierungswut erkannte. Dabei wurde weder von Vattimo noch von anderen Befürwortern der Postmoderne der Umstand genügend beachtet, Phainomena xviii/68-69 Dean Komel 86 daß sich die Erfahrung der Contemporalität nicht restlos mit der modernen Konzentration auf die Aktualität dessen gleichsetzen läßt, was jeweils am Werk ist. Ihre Ausbreitungsweise zwischen Geschichtlichkeit und Zukunft weist auf eine wesentlich andere Berührung dessen hin, was heute da ist, indem sie in sich die Möglichkeit des Anderen bildet, d. h. nicht nur dessen, was jetzt am Werk ist, sondern auch dessen, was von selbst kommt, und zwar dadurch, daß sie sich Zeit und Raum zum Zusammenfügen gibt. Die Contemporalität ist kein »Kontakt mit der Zeit« nur im Sinne dessen, was der Zeit folgt und in dieser Hinsicht jetzt und zeitgemäß ist. Sie kann weder als Modernität noch als Aktualität ausgelegt werden, obgleich sie mit beiden in einem Wechselbezug steht. Insofern »Contemporalität« das bezeichnet, was sich heute in einem Moment des Übergangs zwischen dem Vergehenden und dem Kommenden befindet, bildet sie nicht nur einen Modus der Zeit, sondern auch ihren horizontalen Berührungspunkt, durch den die Zeit allererst da ist. Contemporalität bedeutet also ein Berührungsereignis von Sein und Zeit. Die Auffassung der Contemporalität als einer ereignishaften Berührung wird sprachlich durch das slowenische Wort sodobnost für Contemporali- tät nahegelegt. Soll dieses Wort sein Bedeutungspotential behalten, ist es nur schwer in andere europäische Sprachen übersetzbar, die sich diesbezüglich größtenteils auf die lateinische Form (»Contemporanität«; contemporare: gleichzeitig sein; contemporalis: gleichzeitig) stützen. Das Wort sodobnost setzt sich aus dem Präfix so- (mit-) und dem Stamm doba (in der Bedeutung von: was geeignet ist, Epoche, Zeitalter) zusammen, der von der etymologischen Wurzel dhab* skladati (übereinstimmen), stikati se (sich berühren) abgeleitet wird und auch in den Worten wie dobro (gut), podoba (Bild), udobje (Be- haglichkeit), spodoben (anständig) vorkommt. Diese etymologische Wurzel hat zugleich eine Bedeutungsverwandtschaft mit der etymologischen Wurzel ghad*, die den Stamm der Worte wie dogodek (Ereignis), zgodba (Erzählung), zgodovina (Geschichte) bildet. Das slowenische Wort sodobnost deckt sich be- deutungsmäßig nicht mit Gleichzeitigkeit; es drückt also nicht etwas aus, was in der Zeit mit der Zeit ist, sondern meint die Berührung des »Mit-der-Zeit- seins« als einen ereignishaften Berührungspunkt für Welthorizonte. Die Con- temporalität als ein »Mit-der-Zeit-sein« erschließt dagegen eine seinsmäßige Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung, d. h. die Stimmung der Zeit, durch die nicht nur wir über eine Zeit verfügen, sondern die Zeit zugleich über uns verfügt. Sie kommt in dieser Doppeltheit des »Seins mit der Zeit« zum Ausdruck, in der Horizonte entstehen, d. h. angeeignet und wieder ent- zogen werden. Dean Komel 87 Was bedeutet das mit Bezug auf das oben bezeichnete Problem der Contem- poralität Europas, wenn seine geschichtliche Erfahrung eine Möglichkeit zum Gespräch über die Zukunft liefern soll? Es wurde festgestellt, daß ein solches Gespräch durch ein unmittelbares Daseinsinteresse veranlaßt sein muß und daß es keineswegs genügt, an ihm bloß »zeitgemäß« interessiert zu sein. Nur auf diese Weise vermag sich eine geschichtlich gegebene Möglichkeit als eine andere Möglichkeit durchzusetzen. Eine faktisch belegte interessierte Ausein- andersetzung mit dem Sinn Europas wurde etwa durch die politischen Ereig- nisse veranlaßt, die ihren symbolischen Ausdruck im Fall der Berliner Mauer fanden, als viele europäische Intellektuelle aus einem zeitgemäßen Bedarf ver- suchten, die neue geschichtliche bzw. postgeschichtliche Situation Europas zu bestimmen. Es stellte sich dabei heraus, daß die Frage der Contemporalität Eu- ropas keinesfalls selbstverständlich ist. In diesem Zusammenhang möchte ich auf Derridas 1990 in Turin gehaltenen Vortrag L’autre cap hinweisen, in dem er die in Valèrys berühmter Abhandlung La Crise de l’esprit an die Europäer ge- stellte Frage nachdrücklich hervorhebt: »Was werden Sie HEUTE tun?«.1 Wir können hier auf Derridas Ausführungen nicht detaillierter eingehen. Es soll nur angemerkt werden, daß Derridas Dekonstruktion des Geistes dieser Frage zwar die Problematik der Identifikation dessen enthüllt, was heute da ist, dieses von Derrida jedoch bloß als eine Seinsidentität und nicht als Berührung von Hori- zonten verstanden wird, durch die die Erfahrung der Contemporalität als ein Mit-der-Zeit-sein charakterisiert ist, das wesentlich verschieden spricht. Derrida ist darauf aufmerksam, wie heute von Europa gesprochen wird; er ist dagegen nicht darauf bedacht, daß dies bereits eine europäische Erfahrung der Sprache bzw. der Verschiedenheit der Sprachen und der durch sie entworfenen Kulturen voraussetzt. Diese Anmerkung möchte ich mit einem Zitat aus einem anderen philosophischen Werk untermauern, das fast zur gleichen Zeit wie Derridas Werk erschienen ist, nämlich aus Gadamers Buch Das Erbe Europas, wo er mit Nachdruck sagt: »Jeder Blick in die Zukunft der Welt und auf die Rolle, die die europäische Kulturwelt über ihre Geisteswissenschaften in ihr spielen könn- te, hat davon auszugehen, daß dieses Europa ein vielsprachiges Gebilde ist«.2 Diesen für die heutige Lage maßgeblichen Gesichtspunkt der Mehrsprachigkeit kann man, den Ausführungen Derridas zufolge, als naiv humanistisch bezeich- nen. Gadamer untermauert ihn jedoch durch das Ereignis einer Grunddifferenz, das sich bereits am Anfang der Philosophie zugetragen hat und nicht nur die eu- 1 Jacques Derrida, Der andere Kap. Die Vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1991. 2 Hans-Georg Gadamer, Das Erbe Europas, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1990, S. 37. Phainomena xviii/68-69 Dean Komel 88 ropäische, sondern über Europa hinaus die ganze globale Humanität umspannt. »Es ist somit im höchsten Maße charakteristisch, daß nur in Europa eine solche tiefgreifende Ausdifferenzierung und Artikulierung des menschlichen Wissens und Strebens nach derartigem Wissen entstanden ist, wie es durch die Begriffe von Religion, Philosophie, Kunst und Wissenschaft präsentiert wird.«3 Die geschichtliche Erfahrung Europas ist nicht beliebig; sie erwächst aus ei- ner Aneinanderreihung von geschichtlichen Umständen, weil zu ihrem Ver- ständnis der Kontakt der Horizonte erforderlich ist. Die Horizonte der Ge- schichtlichkeit Europas werden eben durch diese »Grunddifferenzierung und Artikulierung des menschlichen Wissens« bestimmt, wie durch den berühm- ten Aristotelischen Ausdruck to on legetai pollachos angedeutet. Obwohl sie als eine mehrsprachige Erfahrung, wie Gadamer hervorhebt, die Grundlage der Geisteswissenschaften bildet, kann wohl mit Recht behauptet werden, daß sie die Wissenschaft als solche bzw. ihre humane Begründung überhaupt betrifft. Diese ist an und für sich problematisch geworden, insofern sie eines Horizontes zum Verständnis dessen entbehrt, was humane Identität heute ausmacht, und eben in dieser Entbehrung über alle möglichen Horizonte hinausdrängt. Die humane Identifikation mit der Konstituierung der Wissensgesellschaft als dem gegenwärtigen hyperouranion reicht nicht zum Grund dieser Entbehrung hin, weil sie ihn im voraus als einen Mangel an Macht begreift. Darin ist sie gegen- über der Übernahme von Menschlichkeit und damit auch gegenüber jeder ge- schichtlichen Übernahme gleichgültig. Es läßt sich daher keine geschichtliche Identität erzwingen; aus der Contemporalität der geschichtlichen Erfahrung bietet sich dennoch ein Gespräch an, welches das vielfältige Sprechen des in die Beziehungslosigkeit Versunkenen wieder in den Vordergrund stellt. In diesem Sinne soll noch einmal betont werden, daß das europäische Ge- spräch der verschiedenen Sprachen nicht bloß einen weiteren Punkt innerhalb der Entwicklungsprogramme für die europäische Gemeinschaft darstellt. Inso- fern es die Contemporalität Europas als einen einzigartigen »Berührungspunkt« von Verschiedenheiten erschließt, bildet es ein humanes Inter-esse, das sich nicht restlos in eine so oder anders systematisierte Funktionsweise der Gesellschaft überführen läßt. Von diesem Systemgesichtspunkt aus, der alles der Funktion ei- nes Machtzuwachses unterwirft, lassen sich im Gespräch bloße Ohnmacht und sogar die Pathologie der heutigen Humanität leicht erkennen. Die unaufhörli- chen Aufrufe zur Konstituierung einer Verantwortungsgesellschaft manifestie- ren jedoch ein gesellschaftliches Unbehagen dahingehend, daß die auf der tech- 3 Ibid., S. 38. Dean Komel 89 nowissenschaftlichen Macht basierende Entwicklung, die als der einzige Garant der Zukunft gilt, strittig wird und als solche eine Antwort von der Humanität verlangt und damit auch das Eröffnen des Gesprächs im Berührungspunkt der horizontvermittelnden Contemporalität. Insofern sich das Inter-esse der Frei- heit des Menschen eben ›dazwischen‹ erschließt, stellt sich nun die Schlüssel- frage, auf welche Humanität, auf wen sich diese Aufrufe beziehen – es scheint nämlich, als bezögen sie sich unumgänglich auf das, was bereits in der Funk- tion der gesellschaftlichen Entwicklung steht, und als würde auch die Akzep- tanz jeder Verantwortung im voraus notwendig als Akzeptanz einer Funktion und nicht als eine spontane Freiheit des grundlegenden menschlichen Inter-es- ses begriffen werden. Und eben in diesem Umstand, daß der gesellschaftliche Funktionalismus – mag es sich um ethische, philosophische, religiöse, soziale, bildungsmäßige, ökologische oder andere »Herausforderungen« der heutigen Humanität handeln – niemals problematisiert wird, zeigt sich die Blockade in der Herstellung einer gesellschaftlichen Verantwortung gegenüber der Frage, wer hier was und worauf antworten sollte. Die Blockade, welche der heutigen Humanität eine Identitätssicherheit und Entwicklungsgarantie bietet, läßt diese gerade mit Hinsicht auf die Indifferenz gleich-gültig. Ihr »Wer« verwandelt sie in »irgendwer« und ihr »Was« in »Irgendwas« solange, bis sie auf die Art und Weise aufmerksam wird, wie die Stimmung der Contemporalität mittlerweile zur Sprache gelangt. Diese Aufmerksamkeit läßt sich aber nicht durch irgend- welche Richtlinien erwecken, sondern kann nur spontan als ein Daseinsinter- esse erwachen, das über ein Gehör für Verschiedenheit verfügt. Das Gehör für Verschiedenheit birgt in sich den Sinn der Humanität, der uns durch die europä- ische geschichtliche Erfahrung der Mehrsprachigkeit nahegelegt wird. Nachdem die grundlegende Frage nach ihr selbst gestellt wurde – die, damit man überhaupt jemand sein kann, von jedem anders beantwortet wird –, steht die Humanität für das Gespräch und damit auch für die Begegnung in der Con- temporalität offen, die nach einer Berührung in der Verschiedenheit – und zu- nächst wohl in der Verschiedenheit ihrer selbst – sucht. Durch die Erfahrung der Contemporalität wird sie eine strittige Identitätsform dessen, was heute am Werk ist und unseren Alltag als Aktualität der »Wissensgesellschaft« bestimmt, die po- tenziell jeden möglichen Horizont ohne Unterschied erfaßt, wodurch die Mög- lichkeit der Berührung in der Verschiedenheit aufgehoben wird. Es geht nicht um die Suche nach »Alternativen« zu dieser Gesellschaft oder um irgendwelche Versuche einer »Gesellschaftsrevolution«; gerade durch die Erfahrung der Ent- behrung eines Horizonts werden wir zu dem Schluß gebracht, daß vor allem das verstehende Eröffnen eines Gesprächs erforderlich ist, das jedoch nicht einfach zur Verfügung steht, sondern eher Unwillen auslöst, den man, will man sich Phainomena xviii/68-69 Dean Komel 90 nicht der Indifferenz überlassen, hinnehmen muß. Die Erfahrung der Contem- poralität auf der Spur der europäischen geschichtlichen Erfahrung des Gesprächs unterschiedlicher Sprachen ist nämlich für die Konstituierung und Funktion der heutigen, auf einer technowissenschaftlichen Produktion basierenden europä- ischen Gesellschaft auf eine Art und Weise störend, die nicht nur die üblichen Schwierigkeiten bei einer konkreten Kommunikation in verschiedenen Spra- chen oder etwa die Übersetzung aus einer Sprache in die andere betrifft. Zu ihrer Lösung stehen uns gewiß ausreichende »menschliche Ressourcen«, »technische Mittel« und »Finanzinvestments« zur Verfügung. Der Unwille wird eben durch den Umstand ausgelöst, daß uns das alles zur Verfügung steht und wir uns sei- ner in der Überzeugung bedienen, uns der Dinge unterschiedslos bemächtigen zu können, wodurch jedoch ein spontanes Bewußtsein von der Verschiedenheit unmöglich gemacht und durch Identitätsindifferenz ersetzt wird. Das, was uns im Sinne einer Machtkonstitution ein potentielles Erlangen von allem und je- dem ermöglicht, löst zugleich eine Not des Interesses am Gespräch verschiede- ner Sprachen aus, das aus dem Zentrum der Macht an den Rand gedrängt wird und somit nicht in der Lage ist, seine eigene Mitte zu entfalten. Eben von diesem Rand aus werden aber auch die Grenzen der Ausbreitung der Macht sichtbar, die sich des Ganzen bemächtigen will. Es wird deutlich, daß die Macht über allem dennoch nicht alles ist und eines Horizontes entbehrt, von dem her man die Zukunft überhaupt erblicken könnte. Und eben die Erfahrung dieses »Nicht-alles« bringt die Chance mit sich, von dem, was heute da ist, in Be- rührung mit Anderem und in der Eröffnung des Gesprächs verschiedener Spra- chen anders zu sprechen. Keine dieser Sprachen sagt alles aus, und eben dieses Bewußtsein verpflichtet sie zu einem gegenseitigen Gespräch, in dem die Spra- chen einander zuhören können. Eine Sprache, die keine andere Sprache hört, kann auch sich selbst nicht hören. Hört sie sich selbst zu, dann hört sie das An- dere ihrer selbst. Und darin meldet sich das spontane Gewissen der Freiheit, von der die Contemporalität Europas jeweils geschichtlich bestimmt worden ist. Kehren wir zu der von Valéry an die Europäer gestellten Frage »Was wer- den Sie HEUTE tun?« zurück, dann läßt sich – auch im Zusammenhang mit ihrer erneuten Formulierung bei Derrida – behaupten, daß ihre Beantwortung heute nicht so sehr das Handeln zugunsten dessen erforderlich macht, was den Europäern gemeinsam ist, sondern eher das Gehör dafür, was sich in dem, was heute am Werk ist, entzieht und uns auf der geschichtlichen Spur und aus dem Gespür für Zukunft um der Zukunft willen dennoch zusammenbringt: das Gespräch der verschiedenen Sprachen. Übersetzt von Alfred Leskovec