Arbeit-Musik-Berge Ein Leben von Dr. Julius Kugy Bergverlag Rudolf Rother München 49008 52147 Satz und Druck d es es Werkes: Bergoerlag Rudolf Rothe r, München Dem Andenken meiner lieben Mutter Inhaltsangabe Heimat. 7 Muz und da« Turteltäubchen. 67 Studentenzeit. 75 Aufstieg. ll- Toni. 145 Johann Sebastian Bach. 151 Pierluigi da Palestrina. 181 Die Berge. 217 Benjamin. 245 Mein« letzte Erstersteigung. 257 Arbeit und Sorgen. 265 Krieg und Nachkrieg. Mein Bergbuch. 279 Mottele. 295 Ein Nachwort zu meinem Bergbuch. 505 Der Alpengarten „Juliana" im Trentatal . 559 Zwei Gedenktafeln. Der Treu«. 545 Abgesang. 555 Heimat Meine ersten Erinnerungen aus der Kinderzeit füh¬ ren mich in ein bescheidenes Haus der Via San Ana- stasio Triests, das erst die Nummer acht, dann die Nummer vierzehn trug. Es lag am Ende einer langen Häuserinsel an der Grenze der Stadt, bergauf, der alten Opcina-Straße zu, war einstöckig, besaß einen schönen Balkon und reizende grüne Fensterläden. Über dem Hause und seiner ganzen Anlage lag die gemüt¬ liche Ruhe und die Innigkeit des Biedermeierstiles. Die vier vorhandenen Zimmer genügten damals. Ein großer Reichtum an Nebenräumlichkeiten und eine ge¬ wisse Raumverschwendung in der Einteilung machten das Haus sehr wohnlich. Die Böden waren gedielt. In der sehr geräumigen Küche lagen Steinfliesen. Erst viel später, bei zunehmender Wohlhabenheit, wurden Zimmer und Gänge mit feinen Parketten ausgelegt. Als zu uns zwei Brüdern Paul und Julius der Reihe nach noch vier Schwestern gekommen waren, und alles sich sehr schön zu entfalten begann, nahmen wir im Nebenhause eine ganze Wohnung dazu, so daß man, wenn man wollte, da schon von „vorderen" und von „Hinteren" Gemächern reden konnte. Diese zweite Woh¬ nung lag in ganz gleicher Höhe mit der unsrigen, so daß sich nach dem Durchbruche einiger Mauern der Übergang von der einen zu- anderen ganz unmerklich vollzog. Nach rückwärts schauten die Fenster in Hof 7 und Garten. Das Ganze lag auf leicht ansteigendem Terrain, so daß im langen und breiten Torweg fünf, zum ersten, dem Ziergarten, wieder fünf, zum zweiten, dem Nutzgarten mit dem Ziehbrunnen, weitere drei Stufen emporführten. Im ersten Garten schöne, große Obstbäume, vor allem ein riesiger Aprikosenbaum, der den ganzen Hof beschattete und ob seines Reichtums an herrlichen Früchten ganz sagenhaft geworden ist, ein feiner Birnbaum, Pflaumenbäume. Dann gleich vorne bei der Geißblattlaube, wovon die fünf Stufen über¬ wölbt waren, ein vornehmer, kerzengerade aufsteigen¬ der, schön gewölbter Mimosenbaum, dessen feingefie¬ derte Blätter sich allabendlich zum Schlafengehen zu¬ sammenfalteten, wohlgepflegte Rosensträucher, Sta- chelbeerspaliere, oben in der Ecke eine liebe, von Gei߬ blatt und Jasmin übersponnene, von Hollunder- und lichterloh und blattlos blühenden Iudasbäumen be¬ schattete Gloriette mit einem schweren, runden Mar¬ mortisch und Holzbänken im Kreise, rings an den hohen Gartenmauern hinlaufend Weinlauben, Pergole ge¬ nannt, von denen im Herbst Trauben aller Arten lok- kend niederhingen. Auch schwere darunter, groß wie Zwetschgen. Über und um den sehr malerischen, tiefen, kühlen Brunnen im zweiten, erheblich größeren Gar¬ ten waren gleichfalls Weinlauben gezogen, die Gemüse¬ beete der Mitte zur Linken von Rebenspalieren, zur Rechten wieder von Rebenlauben eingefaßt. Eine lange Hecke weiß- und rotblühender Monatsrosen ganz links am Rande, über der hohen Mauer, die zu den darunter¬ liegenden, fremden Terrassen und Gärten abfiel. Vom oberen Teil dieses Gartens sah man in jener ersten Zeit ein blaues Stückchen Meer. Später wurde uns die- 8 ser freundliche Blick verbaut. Am obersten Ende ein altes, baufälliges Gartenhaus, das dem alten Gärtner Giorgio zur Wohnung diente. Der ging noch in der Tracht der Triester Karstbauern einher, im blauen, mit großen, hängenden Metallknöpfen gezierten Jan¬ ker, kurzen, weiten, am Knie offenen Beinkleidern und weißen Wadenstrümpfen. Auf dem Kopfe trug er bei feierlicheren Anlässen die charakteristische, braune Pelz¬ mütze, die wie ein niedriger Lehnstuhl aussah. Es lag so viel Sonnenschein, Licht, Glanz und warme Stimmung über dies alles gegossen. Der südliche Him¬ mel lachte wie ein blaues Wunder strahlend herab, das flimmernde Meer sandte von seinen Farben durch die Lüfte herüber, die Sonne unserer Jugend zog über uns ihre glorreiche Bahn und grüßte im Niedergehen mit feurigen Strahlengarben. Es dufteten Jelängerjelieber und Jasmin, es glühten die roten Sommerrosen, es reiften die Trauben. Sicher behütet und zärtlich ge¬ führt, bin ich in diesem wohligen Heimatreiche allge¬ mach zum Bewußtsein gekommen, daß ich da bin. Geboren bin ich am 19. Juli 1858 in der Villa Graffemberg des Grafen Coronini in Görz zur Zeit einer Choleraepidemie in Triest. Ob wohl meine Vor¬ liebe für den Isonzo, für die Iulischen Alpen, von denen er kommt, für die Iulierwasser, die er zum Meere führt, für Sommerfrischen im allgemeinen, damit in Zusammenhang steht? Getauft wurde ich in Triest. Unser Haus war damals von Wiesen und Gärten umgeben. Da blühten im ersten Frühling meines Le¬ bens die Mandel- und die Aprikosenbäume in sanf¬ tem Prangen, und unser alter Biedermeierstil paßte ganz wunderlieb in den zarten, duftigweißen und rosig 9 schimmernden Blütenrahmen. Manchmal wurden wir nicht aus den Zimmern gelassen und wir sahen durch die Fensterscheiben, wie draußen die Bäume sich schüt¬ telten und bogen. Das sah sehr drohend und feindlich aus. Ein Ächzen und Heulen fuhr durch die Lüfte. Es war Winter, und die Bora brauste von Nordost einher. Wir aber meinten, die Bäume seien böse und machen den Wind. Mein Vater ging früh am Morgen aus und kam nur über Mittag und dann spät abends, oft sichtlich er¬ müdet, nach Hause. Ich frug, wo er denn immer hin¬ gehe, und man sagte mir, er gehe zur Arbeit. Da be¬ obachtete ich ihn, wenn er heimkam, ob er nicht eine Picke oder eine Schaufel über der Schulter trage. Da ich nie etwas derartiges sah, konnte ich mir die Sache lange nicht erklären. Später habe ich das Arbeiten ohne Picke noch Schaufel und das müde Heimkommen am späten Abend wohl auch selbst gelernt. Erst allmählich begann ich zu verstehen, daß mein Vater Kaufmann sei, und was dies bedeute. Gemeinsam mit einem Ge¬ sellschafter führte er ein Großkaufmannshaus, das er im Jahre 1.842 begründet hatte. Die Firma lautete „Pfeifer Kugy", war sehr angesehen und zählte zu den ersten am Triester Platze. Es war ein sogenanntes Triester Kommissionsgeschäft. Die Waren: Kaffee, Ole, getrocknete Südfrüchte wurden aus aller Herren Ländern, von fernen Erdteilen und Kolonien über See eingeführt und an die Kaufleute des österreichischen und ungarischen Inlandes, der Schweiz, des südlichen Deutschlands, Polens, Rußlands, der Balkanländer weitergegeben. Es gab viel Arbeit und auch der Sor¬ gen genug. Aber Triest hatte damals seine goldene Zeit. 10 Es war der Stapelplatz für einen guten Teil des mitt¬ leren und des südlichen Europa, ganz unbestritten für die gesamte österreichisch-ungarische Monarchie. Der Wettbewerb Hamburgs war noch nicht so fühlbar und so übermächtig herandrängend, wie er es später und gar heutzutage geworden ist. Wenn man fleißig, um¬ sichtig und rechtschaffen war und natürlich auch etwas von freundlichen Wellen getragen wurde, konnte man damals bald ein kleiner, und mit einer Steigerung von Glück und Geschick gewiß auch ein großer König werden. Dies ist allerdings meinem Vater nicht beschieden gewesen. Er war ein außerordentlich tüchtiger Kauf¬ mann von großem Können, sehr bedeutenden Fach¬ kenntnissen und von lautersten Grundsätzen, aber bei allem Fleiß und aller Energie des Handelns etwas zu weich, viel zu ideal, vor allem zu vertrauensvoll. Dreimal mußte er von vorne beginnen, weil unglück¬ lich ausgegangene Gutstehungen für „Freunde" ihn fast zur Gänze wieder zurückgeworfen hatten. Er tat es mit Geduld und ohne Murren, auf Gott und seine eigene Kraft vertrauend, beharrlich, tapfer und stark. Meine Mutter legte ihm nahe, uns Söhnen davon doch zu erzählen, damit wir daraus lernen. Er aber lehnte dies immer ab, er wolle uns unsere Knabenzeit und unser Vertrauen zu den Menschen nicht verderben. Die Mut¬ ter tat es dann selbst, und so erfuhren wir schon bei¬ zeiten, was Treue, was Untreue und was geschäftliche Sorgen bedeuten. So hat es mein Vater nur zu einer guten Wohlhabenheit gebracht, ohne je wirkliche Reich¬ tümer aufhäufen zu können. Aber was zählt ein Über¬ fluß an irdischen Gütern gegenüber der Fülle der sitt¬ lichen Reichtümer, die er jahraus, jahrein mit Wort 11 und Beispiel in unsere jungen Seelen zu träufeln suchte! Er stammte aus einem Bauernhause im Kärntneri- schen, in Lind, einem ganz kleinen Dörfchen bei Arnold- stein. Das war und ist heute noch windisches Land, vom Deutschen stark durchsetzt. Oft erzählte er mir, wie er im Winter den über halbstündigen Weg zur Schule barfüßig zurückgelegt habe. Früh kam er dann in die kaufmännische Lehre, zuerst nach Klagenfurt in das be¬ rühmte Kaufmanns- und Montanindustriehaus Julius von Rainer. Die Söhne des Hauses, besonders August von Rainer zu Harbach, sind auch im späteren Leben seine Freunde geblieben. Dann zog er nach Triest und lernte dort meine Mutter kennen, die älteste Tochter des Finanzrates Johann Vessel, des slovenischen Dich¬ ters, der unter dem Dichternamen Koseski noch heute unter den jugoslavischen Völkern große Verehrung ge¬ nießt. Er hat eigene kleinere Sachen geschrieben, seine hohe Bedeutung für sein Volk und dessen Literatur liegt aber darin, daß er viele Gedichte, Balladen und Dramen Friedrich Schillers in das Slovenische über¬ setzte, daß er dann, gegen den Schluß seines langen Lebens, den großen Wurf tat, an Dantes „Divina Commedia" heranzutreten. Die Übersetzung des „In¬ ferno" gedieh bis zur Drucklegung, die des „Purga- torio" allerdings nur bis zum fertigen Manuskript. Die des „Paradiso" blieb ihm versagt. Er war ein Mann von hohem Geist und von entzückenden altväte¬ rischen Manieren. Als ich zehn Jahre alt wurde, be¬ gann er, mir „Sie" zu sagen, und da Mama ihm dies vorhielt, antwortete er im Tonfall einer großen Hoch¬ achtung: „Er ist ja Gymnasiast!" Und als ich dem alten Herrn eines Tages versehentlich sehr empfindlich 12 auf den Fuß trat, sagte er zu mir in seiner lieben und gütigen Weise: „Auf eigenen Füßen muß der junge Mann einhersteigen und nicht auf fremden!" Meine Eltern waren beide wahrhaft fromm. Kir¬ chengänger waren sie nicht. „Beten heißt arbeiten", hörte ich meinen Vater oft sagen. Aber abends beim Zubettegehen sprach er immer aus tiefstem Herzen einige Bittworte vor sich hin, die beim lieben Gott gewißlich soviel gegolten haben werden wie ein eingelerntes Abend¬ gebet. Im Speisezimmer stand ein Klavier. Es war aus¬ nehmend lang und ruhte auf runden Glasständern. Der Ton war angenehm weich und rein, erinnerte nur ein ganz klein wenig an das alte Spinett. Natürlich, so ein modernes Fortissimo konnte man aus ihm nicht her- ausbringen. Aber die alten Klassiker kamen darauf schön zur Geltung. Die Tasten waren etwas schmal, auch schon etwas vergilbt. Auf der unteren C-Oktave waren mit schwarzer Tusche in großen lateinischen Buch¬ staben die deutschen Notenbezeichnungen ausgeschrieben. Der Erbauer des Instrumentes hieß Biber, das sagte eine kleine Firmatafel über der Klaviatur. Diese hatte keinen Deckel wie jetzt, man öffnete das Klavier, wie man einen altmodischen Kasten öffnet. Mein Vater liebte es sehr. Manchmal, des Abends, setzte er sich dazu und begann, leise zu phantasieren. Die Akkorden¬ reihen folgten sich in feinem Wohllaut, die auftretcn- den Dissonanzen wurden bald, klar, folgerichtig und klangschön gelöst, Triller und Skalen, auch Sprünge vermieden. Er modulierte so, wie man es einleitend auf der Orgel tut. Man merkte sofort, daß er in der Harmonielehre gut zu Hause war. Andächtig hörten 13 wir alle zu. Ich höre es noch heute! Er hatte einen sehr schönen, weichen Anschlag, nie habe ich ein wirkliches Forte von ihm gehört, nur ab und zu ein reizvolles An¬ schwellen, das sich bald wieder im ruhigen Piano verlor. Und wie am Klavier, so war er im Leben. Er führte mit wenig Worten, still und leise. Ich kann mich kaum erinnern, jemals von ihm ein heftigeres Wort gehört zu haben. Er konnte sehr heiter und fröhlich sein und sehr herzlich, oft bis zu Tränen lachen, aber alles immer im feingestimmten Piano oder im rasch verklingenden Mezzoforte seines Klavierspiels. Hatten wir Kinder etwas angestellt, so zankte er uns nie aus, wie es sonst wohl geschieht, er verwies es uns nur in lieben, aber um so eindringlicheren Worten. Waren es gröbere Sünden, vielleicht ab und zu nicht vollkommen erst¬ klassige Schulzeugnisse, so war er nicht böse sondern gekränkt. Er nahm es sich stumm zu Herzen. Und das wirkte natürlich bei uns viel mehr als die härteste Strafpredigt. Als ich im ersten Semester des dritten Jahres Jus nach altem Studentenherkommen sehr viel jubiliert und gar nichts studiert hatte, da sagte er bei meiner Abreise von Triest nach Wien zum zweiten Se¬ mester nur sehr ernst und etwas traurig zu mir: „Nicht wahr, Julius, jetzt wirst du wieder fleißig studieren?" „Ja, Papa", versprach ich betroffen, warf mich sofort mit Feuereifer auf Sachen- und Erbrecht und „All¬ gemeinen Teil" des Bürgerlichen Gesetzbuches und sandte am Schluß des Semesters glänzende Collo- quienzeugnisse heim. Da war er gerührt, und ich so froh! Einmal hatte er einem Unterbeamten -es Hauses etwas zu verweisen. Es geschah im Nebenzimmer, und 14 als er zu uns heraustrat, sagte er: „Jetzt habe ich es ihm ganz kurios gesagt!" Wir aber hatten aus dem Nebenzimmer nur seine ruhige, sanfte Stimme gehört. Da konnte Mama ihre Meinung in Wort und Ton schon „kurioser" fassen, und der „kurioseste" von uns allen bin wohl ich gewesen, wenn ich einmal im spä¬ teren Leben mich in der Notwendigkeit glaubte, es je¬ mandem „kurios" sagen zu müssen! Unsere Mutter war dagegen gut hörbar. Wenn sie aus dem Hoffenster ihr langgezogenes „Gior-giooo" hinüberrief, dem sie irgend einen Auftrag für die Stadt zu geben hatte, fo hallte ihre Stimme wie ein Heller Weckruf über Bäume und Garten und zündete in der Seele des alten Gärtners, der dann sofort mit aller Kraft sein „veZno — veZnooo" — „ich komme, ich komme!" zurücksandte und voll Bewunderung leiser hinzufügte: „benecletts czuella vose" — „gesegnet jene Stimme!" Sie war eine starke, sehr temperament¬ volle Persönlichkeit, eine wundervolle Hausfrau, rasch und bestimmt im Befehlen, unermüdlich und froh in der Arbeit. Warm das Herz und am richtigen Fleck. Von großer Güte, voll Menschenfreundlichkeit und Er¬ barmen, zu jeder Stunde hilfsbereit Schwachen ge¬ genüber, immer gleich gegen alle, gegen Hoch und Nied¬ rig, gegen Arm und Reich, manchmal jäh aber immer gerecht, im Auftreten bescheiden aber sicher, aufrecht und offen, wachsam, energisch und klar. Vielen Un¬ glücklichen ist sie Trost und Hilfe gewesen. Die Dienst¬ leute fürchteten und verehrten sie. Sie wollte ein ge¬ ordnetes Haus und die Kinder brav, pflichtgetreu und tüchtig, und umfaßte alles mit einer unerschöpflichen Liebe und mit einer Treue ohne Gleichen und ohne 15 Ende. Gegen Widersacher von Vater, Kindern und Haus war sie scharf, kampfbereit, unerbittlich. Lüge und Verstellung traf sie nach Gebühr. Unser Lachen und Scherzen machte sie gerne und aus fröhlichem Her¬ zen mit, übersah aber niemals Maß und Ziel. Kam ein Vorschlag an sie heran, der ihre Zustimmung fand, hatte man eine Absicht, die ihr gefiel, so sagte sie dazu: „Gute Idee!" Das sind bei uns geflügelte Worte geworden. Wurden sie mehr aus Höflichkeit, ohne rechte Überzeugung, ausgesprochen, so kam dies sofort im min¬ der begeisterten Tonfall zum Ausdruck, und man wußte, woran man war. Ihre besondere Fürsorge wandte sie, so früher wie später, immer demjenigen der Kinder zu, welches derselben am meisten bedurfte. Sie war ganz einfach und anspruchslos für sich selbst, voll ehrgeiziger Pläne für uns. Dem Militär war sie abgeneigt. „Kou voglio 8ciabole" — „ich will keine Säbel", pflegte sie zu sagen, als die Schwestern groß geworden waren. Aber in den späteren Jahren, da sie Großmutter war, sind schon Ausnahmen vorgekommen. Als unser be¬ rühmter Großadmiral Anton Haus bei uns verkehrte, der allerdings keine „seiabola" sondern ein Heller, all¬ umfassender Geist war. Und als dann so einer vom Generalstab herankam, der eine gar herzliebe Enkelin zur Frau wünschte und der es verstand, Mama so fein und geschickt um den Finger zu wickeln, daß sie sich gerne in diesen besonderen und gewiß unabweislichen Fall schickte. Meinem Vater und auch uns Brüdern, nachdem wir die Nachfolge angetreten hatten, war sie in geschäft¬ lichen Dingen eine klar voraussehende Beraterin. Man¬ ches wäre vielleicht besser ausgegangen, hätte man es 16 ganz nach ihrem Sinne gemacht. Da sie viel gab, mußte sie von Wohlhabenheit umgeben sein. Sie hatte eine Vorliebe für Haus- und Grundbesitz, ohne es je dazu gebracht zu haben. Und so schaue ich sie jetzt, wenn ich in verträumter Stunde an sie denke, droben im Para¬ diese in einem lieben Hause mit grünen Fensterlein, wie das unsere es war, von einem Lächeln der Milde und der Güte verklärt, doch in aufrechter und ernster Wür¬ de, als Großgrundbesitzerin, und mir dünkt, als trüge sie ein feines Krönlein auf dem weißen Haupte. Das muß ihr der liebe Gott selbst aufgesetzt haben, der sie sehr hoch hält und gerne auf ihren klugen Rat hört. Noch ein Drittes war damals in unserem Hause: unser altes Kindermädchen Ursula Schebenik aus Loitsch in Kram, „die Urschka". Sie war schon vor der Mut¬ ter eingezogen und unser Vater sagte, sie sei immer so gewesen wie zur Zeit, da sie in mein Bewußtsein trat. Ein altes, hageres Gesicht, ein bleistiftdünnes, graues Zöpflein, eine kleine, trockene, fast hinfällige Gestalt. Wie ein Schatten schlich sie lautlos durch das Haus und war überall und nirgends. Manchmal ver¬ dichtete sich der Schatten zu einem still lauschenden Ohr, das an den Schlüssellöchern hing und lange da¬ von nicht loskam. Denn Urschka mußte alles wissen, und was man ihr nicht sagte oder anvertraute, das er¬ lauschte sie. Sie war sehr fromm und eine starke Kir¬ chengängern, ihr Zimmerchen unter dem Dach hing voll Heiligenbilder. Noch stärker war sie im Lottospiel. Sie studierte alle Zettel, grübelte über allen Num¬ mern, legte alle Träume aus, und dann erzählte sie uns Kindern mit leuchtenden Augen und in großer Ergrif- 2 17 fenheit, sie habe fast einen „Ambo" oder einen „Terno" gewonnen. Arme Urschka! Sie hat nie Glück in der Liebe gehabt, keines im Spiel und auch keine Erspar¬ nisse, denn alle ihre bescheidenen Einkünfte wurden Zeit ihres Lebens ohne Erfolge „gesetzt". Nur zweihundert Gulden hatte sie gleich anfangs zu Vaters Händen in das Geschäftshaus eingelegt. Die sollten aber auch nach ihrem Tode im Hause verbleiben und ihm Glück brin¬ gen. Sie war eine überaus kostbare Stütze für Mama, ganz besonders in der Kinderfürsorge. In unseren Kin¬ derkrankheiten pflegte sie uns Tag wie Nacht mit rüh¬ render Hingabe, mit einer Ausdauer und einer Leistungs¬ kraft, die niemand ihrem schwanken Körper zugetraut hätte. Da brauchte sie keinen Schlaf, nur manchmal dämmerte sie am Krankenlager. Ihre Treue zu un¬ serem Hause und zu uns allen war unverrückbar und ohne Beispiel. Allabendlich beim Schlafengehen kam sie, so lange sie lebte, der Reihe nach zu unseren Betten und rückte uns sorgfältig und mit leiser Hand die Dek- ken um Schultern und Rücken. Wer von uns hätte sonst einschlafen mögen oder können! Aber Urschka war nicht bloß Kinderwärterin. Sie war ebenso tüchtig in den Zimmern, im Wasch- und Bügelraum, und nicht zuletzt war sie eine ganz gro߬ artige Köchin. Mein Vater frug sie oft, wie sie es denn mache, daß alles so gut sei. Sie antwortete: „Mit Liebe!" Das war es! Ich will beispielsweise nur von ihrem Spinat sprechen. Der ist unerreicht geblieben, er war ein Gedicht. Mit der Gabel zu essen. Von dem schwärmen wir Geschwister noch heute. Und wenn ich zu meiner braven Haushälterin sage: „Der Spinat von heute hat mich an den seligen der Urschka erinnert", 18 dann ist sie dankbar, froh und stolz und verlangt sich nichts Besseres. Natürlich, so kleine Unebenheiten und Differenzen kommen im Hauswesen schon vor, und Mama hatte ihr starkes Temperament. Da packte Urschka ihre Hei¬ ligenbilder und all ihre Habseligkeiten zu einem kleinen Bündel zusammen und ging fort. Wo sie denn sei, frugen wir bange, als sie so plötzlich verschwunden war. „Bei Frau Velasti", sagte Mama. Das war eine große Gönnerin der Urschka von allerältesten Zeiten her, eine Dame, bei der es immer so wunderschön nach Bratensauce und Wildbret duftete. Da fand sie Unter¬ kunft und einen ihr zusagenden Schmollwinkel. Es legte sich eine große Schwüle über unser Haus, eine graue Wolke war vor die Sonne getreten, alle, die gute Mut¬ ter mit einbegriffen, schlichen wir gedrückt umher. Aber siehe: am nächsten oder längstens am übernächsten Tage war Urschka wieder da. Sie saß mit ihrem kleinen Bündel, still wartend und versonnen, in der Küche. Wir begrüßten sie mit Hellem Jubel, Mama mit ein¬ begriffen, und es war alles wieder gut. Bis zur näch¬ sten Unebenheit. Denn drei- oder viermal ist das schon vorgekommen. — Als Urschka vierzig Jahre Dienstzeit hatte, reichte ich für sie um die Ehrenmedaille „yusckrLAintL »n- lloruin" ein. Da ich aber befürchtete, sie könnte die Verleihung nicht erleben, kaufte ich eine und über¬ reichte sie ihr feierlich im Namen des Kaisers. Sie war hochbefriedigt, legte sie sofort an und trennte sich nicht mehr von ihr. Auch als später die richtige Medaille von der Stadtgemeinde kam, blieb sie unbeirrt bei der „kaiserlichen"! 19 Es kam der Tag, da sie sterben mußte, an Alters¬ schwäche. Mama und ich waren bei ihr. Sie hatte nur mehr eine Sorge: wo und wie man sie begraben werde. Wir sagten ihr: mit allen Ehren in unserem Familien¬ grabe. Dies versprachen wir ihr vielleicht auch aus Egoismus, da wir ja wußten, wie nützlich sie uns beim großen Weckruf am Jüngsten Tage werde sein können. Sie legte sich zufrieden zurück und atmete still und leise. Immer langsamer. Wie lag sie geduldig und abge¬ klärt da! Unbeweglich, schon ganz heilig! Dann setzte der Atem eine kurze Weile aus, kam aber wieder. Und so noch einige Male. Die Pausen wurden immer län¬ ger. Schließlich blieb er ganz aus und kam nicht mehr zurück. Einen so seligen und friedlichen Tod habe ich nie wieder gesehen. Sie wurde in das Familiengrab gebracht, wo unser Vater schon lange schlief. Es ist ein Leben der Pflichterfüllung und wundervoller Treue ge¬ wesen. Auch Urschka ist natürlich im Paradiese. Man findet sie dort am sichersten in der Nähe der k. k. Lotto- kollektur. Da schaut sie in die Zettel, prüft die Num¬ mern und setzt und gewinnt! Die Erziehung von uns Kindern führte die Mutter. Aber in zwei wichtigen Fragen ist unser Vater entschei¬ dend eingetreten: in der Sprache und in der Musik. Die Muttersprache meiner Mutter war die italienische. Wir Buben sprachen infolge dessen bis zu unserem fünften oder sechsten Jahr nur italienisch und kannten kein Wort deutsch. Da sagte eines Tages -er Vater, er sei ein deutscher Kärntner und wünsche, daß die Kin¬ der deutsch erzogen würden. Die Umwandlung wurde sofort ins Werk gesetzt. Die Eltern und so auch Urschka sprachen nun deutsch zu uns. Ich erinnere mich, daß 20 mein Bruder und ich manchmal im Spielen innehielten und zueinander sagten: „So, setzt werden wir deutsch reden!" Und dann kauderwelschten wir uns in raschen, nachgeahmten Tönen gegenseitig an, daß es nur so eine Art war. Es kam ein deutscher Lehrer zu uns ins Haus, Margreiter, der Typus des österreichischen Dorsschul¬ meisters. Eine lange, hagere Gestalt, ein knochiges Ge¬ sicht, eine lange, spitze Nase, gütige Augen, fliegende Rockschöße. Er brachte uns die Anfangsgründe im Le¬ sen und Schreiben bei, dann vererbten wir ihn auf die Heranwachsenden Schwestern und kamen in eine da¬ mals stadtberühmte, deutsche „Haupt-Elementar-Klas- senschule". Dort war ein armer, abgeschabter, gedrück¬ ter Lehrer, dem man häufig die ausgestreckte Hand Hin¬ halten mußte, auf daß er darauf mit seinem Lineal einen wohlgezielten Hieb anbringen könne. Viel schlimmer war der Direktor. Er hatte gleißnerische Mienen und grau¬ same Augen. Er trug ein Rohrstaberl in der Hand und schlug damit die Knaben in oft barbarischer Weise. Das mag damals ein Erziehungsmittel gewesen sein, aber ich war ganz entsetzt. In unserem milden Hause kannte man das nicht. Mich haben Lehrer und Direktor nie berührt, zu mir gaben sich beide sehr liebreich. Und das war gut so für sie. Denn, bei Gott, ich hätte es ihnen, da ich groß und stark geworden war, mit Zinsen und Zinseszinsen zurückgegeben. Dem einen mit dem Lineal, dem andern mit dem Rohrstaberl! So hatte ich beschlossen. An Margreiter denken wir alle noch gerne und dank¬ bar zurück. Er wurde bei uns so eine Art Hausmöbel und kam auch später, als wir ihm alle entwachsen waren, oft zu Besuch und zu Tisch. „Meine Kinder, wo sind 21 meine Kinder", rief er da immer beim Kommen mit großer Emphase. Als er ans Sterben kam, besuchte ich ihn im Auftrage Mamas im Spital, brachte ihm eine Flasche Himbeersaft und frug ihn, ob er etwas benötige. „Ja", antwortete er, „fünf Gulden möchte ich." „Ich habe nur drei", sagte ich zaghaft. „Her damit!" rief er aus, nahm und versteckte sie und ver¬ lor sich gleich darauf in ein armes, irres Phantasieren von einer Lichtschere. Das ist bei uns ein geflügeltes Wort geworden. Aber es wäre vielleicht gut gewesen, wenn wir im späteren Leben dieses „Her damit" un¬ seres braven, sterbenden Lehrers viel energischer ge¬ sagt und auch gehandhabt hätten! Ich erinnere mich nicht mehr, wie das gekommen ist, aber plötzlich sehe ich mich vor dem Klavier sitzen und auf die tiefe Oktave starren, worauf die Buch¬ staben geschrieben waren. Ich hatte eine Lehrerin, ein feines, schüchternes Fräulein mit einer zarten, unschlüs¬ sigen Stimme, mit viel falschem Haar unter dem ech¬ ten, nach der damaligen Mode, mit viel Nerven, aber von großer Geduld und Güte. Ein Fräulein Moßer. Ich kann nicht sagen, daß ich mit Begeisterung an das Klavier gegangen bin. Ich war schwer zu finden, wenn die Stunde beginnen sollte. Doch muß die Leh¬ rerin gut gewesen sein, denn ich bin über die Anfangs¬ gründe sehr rasch und leicht und in einer mir heute ganz unbewußten Weise hinweggekommen. Eine genaue Er¬ innerung beginnt bei mir erst da, wo ich schon spielen konnte. Mein Bruder hatte seine Stunde vor mir. „Wie heißt das H mit einem Kreuz?", frug ihn die Lehrerin. „Hais", antwortete er. „Und wie das H mit einem Be?" „Has", war die rasche Antwort. Denn 22 es muß offenbar heißer Sommer gewesen sein. Ich bemerkte bald, daß Fräulein Moßer sich vor mir mehr fürchtete als ich vor ihr. Das befriedigte mich, und ich traf meine Maßnahmen darnach. Wenn mein Bruder bei ihr saß, schlich ich mich manchmal heimlich unter das Klavier, stemmte mich mit den Schultern an und hob es empor. Dies sah einem Erdbeben täu¬ schend ähnlich und sie erschrak immer sehr. Ihre Methode war ganz äußerlich, pianiftisch, von Theorie war darin keine Spur. Sie sah auf Geläufigkeit und gewiß auch auf reines, rhythmisches Spiel, aber musikalisch wußte sie mich nicht zu fesseln. Beim Spielen der damals üblichen Salonstücke, die ,Mon reve" oder sonstwie hießen, langweilte ich mich sehr, und es kam in mir keine Freude auf. Mein Vater bemerkte es und war betrübt. Er war tiefer, innerlicher Musiker, vollkom¬ men der klassischen Richtung ergeben. Beethoven war sein Höchstes. Er sprach mit der Lehrerin, und sofort darauf saß ich vor meinem ersten Beethoven, vor der As Dur Sonate. Die ist dann mein ganzes Leben hin¬ durch mit mir gegangen. Ich denke wohl, daß ich die „mareia funebre" noch eindrucksvoll genug vortragen kann, und auch das nicht leichte Finale spielte ich zu Zeiten so, wie es nach meiner Meinung gespielt werden soll. Nun ging es besser. Aber mein Vater tat noch mehr. In unserem Kaufmannshause arbeitete damals Richard Kühnau mit, von dem ich schon in meinem Bergbuche erzählt habe. Er hatte mit einer eigenen Unternehmung in Galatz in Rumänien kein Glück ge¬ habt, war dann bei unserer Firma als Oberbuchhalter untergekommen. Er war ernster Musiker klassischer Richtung, als Reichsdeutscher damaliger Einstellung 23 starker Idealist, begeisterter Liedertafler, emsig tätiger, aber ganz unschädlicher Stammtischredner und Ver¬ einsmeier, ein lieber, feiner, engelsguter Mann ohne Falsch. Den bat der Vater, er möge sich der Musik bei seinen Buben annehmen. Kühnau griff die Mission mit dem ihm eigenen Feuereifer auf, und alsbald er¬ schien er eines Abends bei uns mit einer vierhändigen Ausgabe des Septetts von Beethoven. „Septuor", hieß es auf dem Titelblatte. Bruder Paul sollte den Baß spielen, ich den Violinpart. Aber oft setzte sich Kühnau links oder rechts selbst ans Klavier und spielte uns unsere Aufgabe vor. Sein Spiel war nicht sehr sonderlich, er besaß nur mehr Überbleibsel einer früher erworbenen Technik, doch war er sehr taktfest, vollkom¬ men sicher und feinfühlig in Rhythmus und Dyna¬ mik, Feind übermäßigen Pedals, und wo es an etwas fehlte, da halfen seine große musikalische Erfahrung und seine Helle Begeisterung schön mit. Mama stand oft dabei und sagte gütig zu ihm: „Herr Kühnau, was für eine Geläufigkeit Sie haben!", was ihm immer sehr wohl tat! Ich fand einige technische Schwie¬ rigkeiten, so in den himmlischen Variationen, beson¬ ders in jener, die in unserer Ausgabe gänzlich dem Vio- linpartspieler oblag. Aber Bruder Paul behauptete mit großer Entschiedenheit, daß seine Begleitung zum herr¬ lichen, frohen Gesang im Trio des Scherzo überhaupt das Schwierigste sei, was man bewältigen könne, und ich mußte das, ob ich wollte oder nicht, bewundernd an¬ erkennen. Natürlich konnten mir damals die unver¬ gleichlichen Motive und Fügungen des Septetts nicht so viel sagen wie später oder gar heute, nach über sechzig Jahren, aber wir beide wurden von seinen hohen Schön- 24 Heiken vollkommen erfaßt und beherrscht. Kühnau strahlte ob seines ersten Erfolges, und unser Vater war dankbar und gerührt. Nach dem Septett führte uns Kühnau zu den Symphonien Beethovens. Zur ersten und zweiten, dann zur fünften und zur sechsten mit Vogelsang, Wachtelschlag und Kuckucksruf, zur gewaltigen „Eroica". Mit stets wachsenden Erfolgen! Diesem lieben Manne, dem ich immer treue Erinne¬ rung bewahrt habe und bewahren werde, und dem „Schillerverein" in Triest verdanke ich es, daß ich zur richtigen Zeit tiefempfänglicher Jugend mit ersten, ent¬ scheidenden Schritten aus den engen und düsteren Klam¬ men des Klavierübens in die weiten, lichten Hallen der Musik eingetreten bin. Wie öde und leer blickt dort das Auge. Wie das gelangweilte, glanzlose der War¬ tenden in den Bahnhöfen, ehe der Zug ihrer Bestim¬ mung fährt. Dem echten Musiker müssen Helle Ker¬ zen in den Augen brennen. Gesegnet das Andenken der Männer, die es verstanden, in unseren jungen, ahnungs¬ geschwellten, nach Höhen und Weiten sich sehnenden Herzen das heilige Feuer der wahren und tiefempfun¬ denen Musikpflege zu entzünden! Der „Schillerverein" ist der Sammelpunkt aller Deutschen in Triest gewesen. Die deutsche Kolonie war damals groß, es hat Zeiten gegeben, da der Verein an die zweitausend Mitglieder zählte. Die Ziele waren Geselligkeit, literarische Anregungen und Musik. In diesem Sinne ist der viele Jahrzehnte hindurch glän¬ zend geführte Verein für Triest von großer kultureller Bedeutung geworden. Die musikalische Arbeit, die er geleistet hat, wirkt, der neuen Generation allerdings ganz unbewußt, heute noch nach. Die musikalische Lei- 25 tung lag in den Händen eines der genialsten Musiker, die mir im Leben je begegnet sind, Julius Hellers. Er war Schüler Helmesbergers, Konzertmeister und Gei¬ ger, und wäre als solcher berufen gewesen, es zu Welt¬ ruf zu bringen, hätte er nicht bald begonnen, seine wun¬ derschöne Technik zu vernachlässigen. Er war ein Mann von prachtvollem Geist und glänzendem Witz, von sel¬ ten umfassender Bildung, sehr belesen, klarsten und schärfsten Urteils, im Leben viel erfahren, weltgewandt, schlagfertig und von souveräner Sicherheit. Er ist ein geradezu begnadeter Interpret Beethovens gewesen. Ich habe fast alle großen Geiger meiner Zeit gehört, keiner hat mich in der Führung der Quartette Beet¬ hovens oder mit dem Vortrag des herrlichen Violin¬ konzertes mehr und tiefer erfaßt als Julius Heller. Er hat sich mit seiner so bescheidenen musikalischen Stellung in Triest, wo er turmhoch über allen anderen emporragte, genügen lassen, aber der liebe Gott hatte ihm Geschenke in die Wiege gelegt, die ihn zum Aller¬ größten befähigt hätten. Ich bin ihm später sehr nahe¬ gekommen, wurde sein Schüler in Harmonielehre und Generalbaß, musizierte sehr viel mit ihm und bin auch im Schillerverein, erst als Verwaltungsrat, dann als einer der drei Direktoren, Jahrzehnte hindurch an sei¬ ner Seite gewesen, erst klein und vor seiner Kraft und Größe zurückstehend, dann immer mehr und mehr er¬ starkend und tüchtig mitschaffend. Ich war noch ein ganz kleiner Knabe, als der Schil- lerverein unter Hellers Leitung die „Schöpfung" von Haydn aufführen ließ. Es geschah in einem Theater, im „Teatro Armonia". Wir saßen alle in einer Loge. Mein Vater hatte mich auf das Kommende vorbereitet, 26 aber ich erinnere mich, daß mich die große, für die Ewig¬ keit gemeißelte, geheiligte Stelle der Offenbarung „Und es ward Licht!" geradezu überwältigte. Mein Vater hatte Tränen in den Augen. Das Orchester war aus Berufsmusikern und guten Dilettanten, der Chor aus den Kreisen des Vereins zusammengestellt. Die Sopranpartie des Erzengels Gabriel sang ein Fräu¬ lein Ricci mit bestrickendem Wohllaut. Sie trug ein himmelblaues Engelskleid und war, wie mir schien, soeben vom Paradiese herabgestiegen. Dazu ein herr¬ licher, maienfrischer Tenor, Dr. Gnesda, und ein tüch¬ tiger Baß, Kitke, ein Schüler oder Nachahmer Stau- digls. Mama aber war ganz aufgelöst beim Zwie- gesang Adams und Evas: ^Teurer Gatte!" Den san¬ gen eine Frau von Goraeuechi und ein Baron Georg Ritter von Zahony in sehr edler und wirklich ergreifen¬ der Weise. Wir haben alle noch lange von dieser „Schöpfung" gelebt! „Haupt-Elementar-Klassenschule" und ihr Direk¬ tor, der Tückische und Grausame, waren überstanden. Ich kam 1868 in das Triester deutsche Gymnasium. est Isets!" Neue Lehrer, neue Lehren! In -en Zwischenstunden blickte ich mich um. Wer ist der Stärkste? Ich wollte es sein. Ich wurde einer der größten Raufer des Jahrhunderts. Anlaß dazu gab es genug und immer. Rom und Karthago, Griechen und Perser, Sparta und Athen, dann der deutsch-fran¬ zösische Krieg. Anfangs unterlag ich mitunter, aber bald wußte ich, was Siegesfreude ist, und wurde sehr geachtet und gefürchtet. Mit meinem späteren Schwa¬ ger Emil Oblasser, einem blonden Siegfried, an der Seite, konnte ich es schon mit zwölf oder vierzehn 27 „Franzosen" aufnehmen. Da stürmten wir, zu zweit aus verschiedenen Ecken anspringend, das vollbesetzte Katheder, daß es nur so krachte und staubte! „Was habt ihr denn gemacht?", frug der gütige italienische Professor Piceiola, wenn er hereinkam und das Schul¬ zimmer voll Pulverrauch fand. „Wir haben getanzt." Damals wurde ich auch ein Meister in der Verstel¬ lungskunst und in der Scheinheiligkeit. Gewöhnlich fiel Emil herein und ich ging straflos aus. Dafür schrieb ich ihm nobel manchmal die „Poenitenzen". Aber es kam schon vor, daß mich der eine oder der andere der Professoren im unrichtigen Augenblick überraschte, wenn ich gerade auf einem besiegten Feinde kniete. Die Mutter wurde besorgt, da ich nicht heimkam, eilte her¬ unter ins Gymnasium und fand mich in beschauliches „Nachsitzen" versunken. Das war immer ein drolliges Wiedersehen. Ich lächelte halb betrübt, halb verlegen, sie wußte nicht, solle sie lachen oder sich ärgern. Dann kam der herzensgute Direktor Loser, verzieh großmütig, und wir wanderten vergnüglich selbander nach Hause, wobei ich ihr erzählte, wie es hergegangen war, und meine Unschuld im hellsten Licht aufleuchten ließ. Es ist sogar vorgekommen, daß wir durch einen redege¬ wandten Herold eine ganze höhere Klasse zum Ent¬ scheidungskampfe herausfordern ließen. Aber ein Klas¬ senkamerad zeigte feige alles an und es gab eine pein¬ liche Untersuchung, die erst sehr gefährlich schien, dann, dank unserer festen Haltung, ohne Schaden im Sande verlief. Ich will den Kameraden nicht nennen, er trug seither zum ewigen Gedenken den Namen „Ephialtes". Und trägt ihn noch heute! Sonst war ich im Gym¬ nasium brav und studierte fleißig. Das war mir leicht. 28 Ich hatte einen offenen Kopf und faßte alles rasch auf. Auch der Ehrgeiz kam dazu. Ich wollte unter den Er¬ sten meiner Klasse stehen, wenn möglich der Erste sein. Dies gelang mir allerdings nicht. Der sehr begabte große „Büffler" und leider auch „Angeber", der diese Stelle inne hatte und mit bewunderungswürdiger Zähigkeit und Kraft verteidigte — er ist später ein sehr geschickter Advokat geworden —, war nicht zu überwin¬ den. Aber an den zweiten oder den dritten Platz bin ich schon fast immer gekommen. Noch ein starker Ansporn zu Fleiß, Lust, Einsatz und Erfolg war da: die hohe Freude und das herzenswarme Lob der Mutter und das schöne Aufleuchten im Auge des Vaters, wenn ich ein gutes Zeugnis nach Hause brachte. Und wie damals, so stehe ich auch heute noch, da ich ein alter Mann bin, ohne Unterlaß im Banne der dankbaren Erinnerung an ihn, und tue oder schaffe ich etwas, wovon die Leute sagen, es sei gut, so schaue ich auf und zurück in ferne Zeiten, ob ich nicht irgend¬ wie in seinem gütigen, stillen Antlitz dem aufleuchten¬ den Blick begegne, der mir sagt: „Julius, das hast du brav gemacht!" Wo ich gehe und stehe, segne ich ihn und sein Andenken! Unter meinen Klassenkameraden waren feine Jun¬ gen: Jenny, Medicus, Oblasser, Solla. Ich hatte sie sehr lieb. Mit vielen hat mich aufrichtige Freundschaft, mitOblasfer guteSchwagerschaft, das ganzeLeben hin¬ durch verbunden. Einige sind schon sehr früh gestorben, zwei noch im Gymnasium. So der herzliebe, glänzend begabte, viel beweinte Stephan Perugia. An unseren Schulsachen nahmen die Eltern innigen Anteil. Glaubten wir uns zurückgesetzt oder ungerecht 29 behandelt, so stand uns Mama mit heißem Tempera¬ ment, aber auch mit klugem Rat helfend und tröstend zur Seite. Manchmal wurde die Kirchenstille, die über Schul¬ sälen und Gängen lag, durch ein lautes, zorniges Ge- keif jäh unterbrochen. Der Professor der Naturge¬ schichte, Weltpriester Acurti, hatte sich mit dem Schul¬ diener oder mit einem Schüler oder gar mit einem Professorkollegen geärgert. Da gab es etwas! Alles horchte auf. Es stockten strenge Prüfer und demütige Geprüfte, es erstarben auf aller Lippen die schönen Vo¬ kabeln, es versiegte der unerschöpfliche, edle Quell alles Denkens und Wissens, der aus lateinischer und griechi- chischer Grammatik fließt, es schwiegen die Dichter Roms, die Philosophen Griechenlands: gellende Kampf¬ rufe ertönten und ein fürchterliches Ungewitter brauste und raste mit elementarer Gewalt durch die heiligen Hallen des Hauses. Aber wie gekommen, so verebbte der Aufruhr rasch, ganz plötzlich. Ein feines Lächeln er¬ hellte das hagere, scharfgeschnittene Gesicht des Pro¬ fessors, und er sagte mit besänftigter, freundlicher Stimme sein „Guten Tag, Herr Kollega!" Mich hatte Professor Acurti sehr gerne. Nachdem ich in einer rasch hkngeworfenen schriftlichen Schul¬ arbeit eine selbständig erdachte, offenbar neue und, wie mir schien, sehr zutreffende Klassifikation der Cro- cusflora unseres Karstes nach der Struktur der Wur¬ zelzwiebeln aufgestellt hatte, erhielt ich von ihm für alle Folgezeit in sämtlichen Fächern, die er lehrte, die sel¬ tene Note „Ausgezeichnet". Und sein Beispiel riß auch andere Professoren mit. Ich bin von der zweiten Gym¬ nasialklasse an unter seiner Führung ein sehr begeister- 30 ter Botaniker geworden. Im ersten und zweiten Ka¬ pitel meines Bergbuches ist vieles erzählt, was diese und die folgenden Ausführungen ergänzt. Bald war ich ein anerkannter Fachmann in der Karstflora. Zureisende fremde Botaniker suchten mich auf. Ich hatte meine bescheidene, kleine Berühmtheit. Auch Richard Kühnau hatte sich inzwischen mit aller Freude und Gründlich¬ keit, derer er fähig war, dieser liebenswürdigsten aller Wissenschaften zugewendet und griff zum zweiten Male in mein Leben ein. Denn er nahm mich auf manche größere botanische Unternehmung mit, die mir ob mei¬ ner großen Jugend damals noch verschlossen gewesen wäre, und, was für mich noch viel bedeutungsvoller war: er führte mich Männern von Ruf und Ansehen zu, denen ich die allerschönsten Anregungen verdankte. Muzius von Tommasini und Rudolf Baumbach waren darunter. Jener lenkte mir Sinn und Schritte zur fast sagenhaft anmutenden Ausfahrt ins Wundersand der Blauen Blume meines Herzens, der märchenhaften Seabiosa Trenta, zu einer Ausfahrt und Suche, die „wie eine Vision, wie ein Lied von wahrhaft seligem Klang", wie ein feiner Roman der Sehnsucht durch einen großen Teil meines Lebens gezogen ist, dieser senkte in meine empfängliche Seele alle Romantik sei¬ nes begnadeten Dichterherzens und die goldenen Schätze seiner Poesie. Ich glaube wohl, mich in weitem Sinne einen Schüler Baumbachs nennen zu dürfen. So hat mich, lind und leise, die Botanik zu den Bergen geführt. Bei Saussure und Tyndall war es die Physik, bei Hacquet sind es Mineralogie und Bo¬ tanik gewesen, bei anderen vielleicht physiologische For¬ schungen. Ich bin aus der Karst- zur Alpenflora empor- 31 gestiegen, erst in Wünschen und Hoffnungen, dann in berauschender Wirklichkeit. In der feingestimmten, her¬ ben Landschaft des Karstes, auf den duftenden Nar¬ zissenwiesen des Monte Spaeeato, im blütendurch- wirkten Walde von Lipiza, am festgefügten, trotzigen Kirchlein von Repen Tabor, am breiten Giebel des Monte Kokus und an der steilen Felsnase des Nanos habe ich zuerst begonnen, von den Blumen der Iulier zu träumen und vom altehrwürdigen Dom des Triglav. Aber mein Herz war schon vorbereitet ge¬ wesen. Der „Bergfrühling" meines Buches erzählt davon. Mein Vater hatte mir schon in meiner frühesten Jugend von den Bergen gesprochen. Er mußte wohl, er hatte sie in sich, unbewußt vielleicht, so wie sie in mir waren. Ganz dunkel steht eine seiner Erzählungen, von einer kühnen Ersteigung, vor mir. Da kam der gewagte Meistersprung eines Bergführers vor. Von einerKlippe auf einen Eisgrat hinab. Es scheint mir irgendeine Legende vom Tödi gewesen zu sein. Mein Gott, dieser Sprung! Im Herzen wallte es mir heiß auf, wir schau¬ ten einander verständnisinnig an, voll Bewunderung für solch eine Tat. Und noch heute tut es mir so leid, daß ich in meinem reichen Bergleben nie auf den Tödi ge¬ kommen bin. Suchte und fand ich die Daphne alpina in den Randfelsen von Contovello oder holte ich die Aurikeln von den Wänden der „Draga" von Orlek, aus den Klammen von San Kanzian, so sprachen sie zu mir, als wären sie Blütenboten, von der Alpenflora gesendet. In den Felswüsteneien und Karrenseldern des Karstes, wo Ode und Einsamkeit ist und die ge¬ waltig geleistete Arbeit des Wassers von versunkenen 32 Jahrtausenden erzählt, ahnte ich die hochgehobenen, weltenfernen Kare des Iulischen Hochgebirge Von Norden herüber grüßten mich, still leuchtend, die Schneefelder des Kanin, der hochragende Krn, die Kö¬ nigskrone des Triglav. Von jenseits des flimmernden Meeres die seligen Euganeischen Hügel, der blauende Monte Baldo, die Heere der Dolomiten. Alles lockte, alles rief! Es kamen die Tage meiner Feuertaufe in den Arnoldsteinerwänden des Dobratsch, der in Regen und in Strömen von Bier ertrunkenen Fahrt auf den Krn. Immer drängender die tief verhaltene Sehnsucht, immer lebendiger, immer heißer die zu den lichten Höhen der Berge emporlodernden Wünsche. Es ist nichts plötzlich, in einem einzigen Anlauf, es ist alles schritt- und stufenweise gekommen, in folge¬ richtiger, schöner, nie unterbrochener Entwicklung. So gekommen, wie es kommen hat müssen. Als dieser Werdegang nach Jahren des Hoffens und Harrens vollendet war, fand ich mich, unsagbar beglückt und trunken von Schönheit und jubelnder Freude, an der strahlenden Brust der Berge! Schon lange vor der Botanik hatte mich die Zoologie sehr angezogen. Ich erinnere mich genau der übermäch¬ tigen Freude in mir, als ich von meinem Vater das erste zoologische Bilderbuch geschenkt erhielt, das für damalige Zeiten ein wirkliches Prachtwerk Larstellte. Denke ich an jene für mich überaus selige Stunde zu¬ rück, so weht mir heute noch, nach über sechzig Jahren, der starke Firnisgeruch entgegen, den seine großen, far¬ bigen Drucke ausströmten. Später, als die sechs Bände des ersten „Brehm" ins Haus kamen, blätterte und studierte ich täglich eifrig darinnen und las dem Vater Z 33 fast allabendlich die Stellen vor, die mich besonders gefesselt hatten. Eine große Liebe für die Tiere ist mir zeitlebens verblieben, wie sie noch in meinen späteren Jahren in den vier Tiergeschichten zum Ausdruck ge¬ kommen ist, die ich dem Andenken an vierbeinige Haus¬ genossen längst versunkener Zeiten pietätvoll gewidmet habe, und die diesem Buche eingefügt sind. Wenn an Sommerabenden unsere Fenster offen standen, wehten von der Bergseite her ferne, herrliche Töne herein. Sie kamen von einer Kampagne, die mit hohen Bäumen an der alten Opcinastraße stand. Volks¬ weisen und Schubertlieder. Adina Bideleux sang. Es war die schönste Stimme, die ich je gehört habe. Ein wundervoller Sopran, hell und frisch wie Finkenschlag, wehmütig und süß wie das Flöten der Nachtigall, zau¬ berhaft dunkel geschattet wie der Sehnsuchtssang der Amsel. Wenn Adina Bideleux sang, schwiegen die Vö- gelein und hörten ihr zu. Wenn sie sang, konnte man mit Tränen in den Augen aufjubeln und im tiefsten Her¬ zen fromm werden. Wenn sie später in Max Bruchs „Birken und Erlen" die stimmungsvollen Schlu߬ worte vortrug: „So drang herunter, so drang herauf der Töne Gelispel im Wechsellauf", oder wenn sie das „Heilig, heilig, heilig ist Gott, der Herr" im „Elias" anftimmte, rieselten kalte Schauer an mir herab. Man war sprachlos und gerührt, niemand konnte sich dem Banne ihres Gesangs entziehen. Vielleicht hat die große Marie Wilt etwas Ähnliches in der Stimme gehabt. Sie selbst war nicht hübsch und in ihrer ersten Mäd¬ chenzeit ein rechter Range. Sie ist nicht in die richtigen Lehrerhände gekommen, es wurde an ihr mehr ver¬ dorben als gerichtet. Später ging sie, vielleicht aus die- 34 sem Grunde, auch stimmlich zurück und ist schon lange, lange in fernem Lande rühmlos gestorben. Aber noch immer höre ich diese Stimme, wie sie siegreich und leuchtend, in Jubel und reinster Schönheit zu den Höhen emporsteigt, oder wie sie im Abgesang eines Liedes in tiefergreifender, feierlicher Ruhe und mit einem Wohl¬ laut ohne gleichen, von der niederschwebenden Melodie getragen, zufriedene Heimkehr hält! Wir sind im patriotischen Sinne erzogen worden und wurden gute Altösterreicher. Doch ohne übertrie¬ benen Chauvinismus, ohne Deklamationen noch De¬ monstrationen. Frühzeitig haben wir gelernt, eines je¬ den Überzeugung zu achten, wenn sie auch gegenteilig war. Sie mußte nur wahr und ehrlich sein. Dies galt auch im religiösen Empfinden. So ist es gekommen, daß wir überall gleich gut angesehen wurden und daß wir in den italienischen und den slovenischen Kreisen Triests gleich freundliche Aufnahme fanden wie in den deutschen. Es war unser und mein Grundsatz, daß jedes Volk das volle Recht, aber auch die Pflicht seiner Ent¬ wicklung habe. Das Jahr 1866 war für den Vater eine schwere Sorgenzeit, die aber besser vorüberging, als man befürchtet hatte. In meinen ersten Erinnerun¬ gen steht die niederschlagende Nachricht von der unglück¬ lichen Schlacht bei Königgrätz, dann kamen die helleren Berichte von den Erfolgen in Italien. Als der große Seeheld von Lissa, Tegetthoff, in einem Volks- und Matrosenfest gefeiert wurde, führte uns Buben Urschka dahin und wir unterhielten uns königlich beim drolligen „Sacklaufen" und bei der schwierigen Erkletterung des glattgeölten Mastbaumes der „Cucagna". Jenes Fest steht sehr deutlich vor mir. Ich höre noch die brausen- 35 den Hurrarufe beim Erscheinen des siegreichen Flotten¬ kommandanten und die feierlichen Akkorde unserer Volkshymne, die allüberall erklangen. Wenn der Vater im Sommer zum Kurgebrauche nach Rohitsch-Sauerbrunn fuhr, wurden wir Buben mitgenommen. Wir machten auch die Kur mit, so ge¬ sund wir waren, tranken das Wasser und trugen tapfer die Folgen. Ich botanisierte sehr fleißig, fand aber nur die gewöhnlichen Gräben- und Heckenpflanzen. 7870 kamen wir zum ersten Mal in das Kärntnerische. Mein Vater sah es nach vielen Jahren wieder. Wir wohnten in seinem Heimathause in Lind. Tante Agnes führte die Wirtschaft und kochte uns die schönsten Mahl¬ zeiten. Lieb und brav waren ihre drei Töchter, unsere Cousinen: Agnes, die älteste, Monika, die sich so sehr nach besserer Bildung sehnte und leider ein sehr trau¬ riges, selbstgewolltes Ende gefunden hat, und Ursel mit den wunderschönen, träumenden Blauaugen. Im Mittelpunkt des Hauses und der Arbeit stand der älteste Bruder, Onkel Simon, ein schöner, alter Bauer von sehr ruhigem Wesen und vornehmer und würdiger Haltung, die den gewesenen Soldaten verriet. Er hatte 7848 und 7859 die Feldzüge in Italien mitgemacht und es bis zum Korporal gebracht, viel gesehen und er¬ lebt, und war voll spannender Soldaten- und Kriegs¬ geschichten, denen wir Buben in sprachloser Bewunde¬ rung lauschten. Sehr arm der dritte, arg verzichtete Bruder Jakob. Er war so gut! Er weinte immer so bitterlich, wenn wir wieder fortzogen! Alle drei Brü¬ der sahen sich sehr ähnlich. Es waren Pferde da und Fohlen, Rinder, Kälber und Schweine. Wir traten sofort zur Arbeit an. Ich half auf Feldern und Ackern 36 mit, fuhr die hochbeladenen Heuwägen kühn in die Scheune ein, hackte Holz, drosch, verkehrte brüderlich mit Knechten und Halterbuben, kutschierte den Ein¬ spänner nach Arnoldstein und nach Warmbad Villach und kam sehr bald zu schwieligen Händen und zu bäuer¬ licher Art. Wußte ich mich ganz allein, so probierte ich wohl auch meine Stimme und jodelte und sang nach Herzenslust. Dann fing ich Krebse in den kleinen Was¬ serläufen der Sumpfwiesen, entdeckte eine wundervolle feuchte Trogwiese, die voll Gentiana Pneumonanthe in entzückendem Dunkelblau stand, kam, auf trügerisch schwankenden Moosgründen vorsichtig dahinschreitend, zu etwas unheimlich anmutenden, rostbraun schimmern¬ den Stellen im Moore, darauf ich zum ersten Mal unsere beiden Droseraarten mit weitgeöffneten Wim¬ perblättern auf Jnsektenfang lauern sah. Auch eine große, schöne, blaßblau blühende Gentiana stand in seltenen Exemplaren dort, die mir seltsam erschien. Doch gelang es mir damals nicht, sie einwandfrei zu bestimmen, und noch weniger ist mir dies heute aus der Erinnerung möglich. Vielleicht ist es nur eine ver¬ schiedene Form der Pneumonanthe gewesen, obwohl sie nur einblütig war und mir nach ihrem ganzen Aus¬ sehen irgendwo anders hin zu deuten schien. Blickte ich auf, so stand der ganze lange Zug des Dobratsch vor mir, vom altehrwürdigen Schrotturm bei Föderaun mit großen, immer höher emporstreben¬ den Waldrücken herüberstreichend bis zu den weißen Arnoldsteinerwänden, rotleuchtend die breiten Steil¬ stellen der Mitte, wo der gewaltige Bergsturz 4348 niedergebrochen ist. Weiter im Hintergründe, nach We¬ sten hin, der Osternig. Die Iulischen Alpen im Süden 37 konnte man nicht sehen, dazu mußte man zu den Hohen des Wurzener Passes, des „Krainberges",emporsteigen. Das Lat ich sehr oft. Und schaute hinüber, stumm, er¬ wartungsvoll, ehrfürchtiglich, voll Zweifel an meiner Berufung, an meiner Eignung und an meinem Können. Unser Vater führte uns gerne zu den Ufern des Hellen, eilenden Gailflusses, zu den Kirchtagen imGail- tal, wo wir die reizenden Volkstrachten sehen konnten, das „Kufenstechen" der berittenen Burschen und die sonstigen Überreste mittelalterlicher Spiele. Es war schöne, fröhliche Zeit! Immer unvergessen wird mir der erste Tag dieses Wiedersehens bleiben. Wir gingen in den Gemeinde¬ wald. Der Vater hieß uns Holz sammeln, er zündete ein kleines Feuerlein an, das erste meines Lebens. So mag er getan haben, als er, ein kleiner, barfüßiger Junge, hier die Kühe hütete. Wir blieben eine Weile, und als es zu dämmern begann, sagte er, wir müßten es nun löschen. Dann gingen wir nach dem nahen Pöckau ins Wirtshaus, wo am Abend die Burschen saßen. Er ließ Wein auffahren, und sie sangen ihre Kärntnerlieder. Die schönen, frohen, traurigsüßen, herzbeklemmenden, herzbefreienden Kärntnerlieder: „Er muß reisen auf fremde, fremde Straßen, Muß sein Diandle Ei'm andern überlassen — Ja, ja, wie hart ist das!" und dann: „Verlassen, verlassen Wia der Stan auf der Straßen" — 38 und das schneidig rhythmisierte: „Jetzt kommen die lustigen Karntnerbuam Ham!" Mein Vater war in tiefster Stimmung. Manchmal sang er leise in der „Drüberstimme" mit. Man sah es ihm an: aus jedem Lied traf ihn, mild und weich, das traute, treue Auge der Heimat. Dann gingen wir langsam nach Hause. Die Roggenäcker standen in hohen, reifen Ähren, von der Heidenblüte wehte starker, süßer Honigduft. Linde lag die laue Sommernacht über dem Tal. Die Wälder schliefen, die alten Sternenbilder grüßten. O Kärntnerland! Damals oder das Jahr darauf bin ich zum ersten Mal auf den Dobratsch gekommen. Ich schlief zum ersten Mal auf dem Heu. Ich sah die Iulier in ihrer vollen Pracht und Herrlichkeit. Ich sah sie bei sinken¬ der Sonne, da Ströme feuriger Lohe über sie fluteten und sie mit flammenden Kränzen glutroter Rosen um¬ wanden, sah sie bei Sonnenaufgang, da die ersten, lieben Morgenlichter, keusch und rein, in ihren glor¬ reichen Wänden spielten. Es ist ein goldener Tag der Hoffnungen und der Verheißungen gewesen. Es war die Morgenröte -es halben Jahrhunderts, das mir die Berge in nie versagender Güte und Treue mit ihren Wundergaben erfüllt haben! Aber auch der Botaniker in mir jubelte auf, als ich bei der Gipfelkapelle die feine Azalea procumbens fand, die schon lange ein Ziel mei¬ ner Wünsche gewesen war. Unsere Studien schritten gut voran. Für das La¬ tein und das Griechische nahm uns der Vater Korrepe¬ titoren aus den höheren Gymnasialklassen, die täglich 39 zu uns kamen. Sie waren sehr sorgfältig ausgewählt und bewährten sich ausgezeichnet. Erst -er hochbegabte Matejcic, der es später zu einer hohen Schulstelle ge¬ bracht hat, nach dessen Abgang zur Hochschule Fabris, ein überaus bescheidener, aber nicht minder ernster und tüchtiger junger Mann. An beide denke ich dankbar zurück. ! Die Schwestern waren herangewachsen und in die evangelische Schule gekommen. Unser Haus begann, sich des Nachmittags mit Lehrern zu füllen. Der eine ging, der andere kam. Zum Iausenkaffee vereinigte die Mutter Lehrer, Korrepetitoren und Kinder im Speisezimmer. Der schwarze Kaffee wurde in einer breit gebauchten, langhalsigen Flasche aufgetragen, die, in weiße Tücher gehüllt, wie ein Wickelkind in einem blitzblanken Messinggestell lag. Jedem schenkte sie die Milch dazu, wie er es wünschte. Die Lehrer lobten Kaf¬ fee und Kuchen, Mama zog sie der Reihe nach in freund¬ liche Gespräche, wir Kinder waren stumm und gefräßig. Und die Reihe der Hausarmen unserer Jugendzeit zieht an mir vorüber, die Urschka bedachte: der „orbo", der Blinde, „ei -onko", der Klumpfuß, und so fort. Auch ein gar armer, zwerghafter, verwachsener Knabe war später da, den Mama mit tiefem Erbarmen und mit rührender Fürsorge behandelte. Ihr Stolz sind ja immer die geraden Glieder ihrer Kinder gewesen und sie hat dafür oft Gott gedankt. Oft saß jener Knabe in unserem Garten, es sind gewiß die schönsten Stun¬ den seines unglücklichen, kurzen Lebens gewesen. Fremde Musikanten läuteten an und erhielten manchmal Ein¬ laß. Sie stellten sich in den Hof und sangen die Gassen¬ hauer jener Zeit: 40 vo te AL Lncom cspio dlr'el konci xe mio, 1.0 voio spossrl" oder: „Oli, oli, olä! ätrarrona come vs? ker OAAi la vs trene, Oomsni no se sa!" Zur Weinlese erhielten wir kleine Krummesser und durften mitarbeitert. Die Trauben kamen in große, offene Bottiche, Giorgio wusch sich vorher sorgsam die Füße, dann stieg er auf und trat so lange umher, bis aller Saft ausgeflossen war. Der Wein geriet sehr leicht, ganz leicht, über alle Maßen leicht, etwas säuer¬ lich. Aber er war, wie unser Vater mit Stolz sagte, echt. Trotzdem wäre es nicht möglich gewesen, sich da¬ mit einen heißen Kopf, eine „dsla", anzutrinken. Wir fanden ihn köstlich und nannten ihn bescheiden „Vi- netto". Bei den Spöttern und Neidern unseres Hau¬ ses dagegen hieß er „I-scrimae XuZ^". Über unser Haus kamen schlimme Zeiten. Der Sohn des Gesellschafters war in die Firma eingetreten und bald begannen Intriguen und Treibereien gegen den Vater. Es wurde immer klarer und offenkundiger: man wollte ihn aus der Firma verdrängen. Anstatt den Kampf aufzunehmen, zog er sich gekränkt und in tiefer Betrübnis in sich selbst zurück. Diesem niedrigen, schlechten Spiel war er nicht gewachsen. Die Sache wurde immer ärger. Der Magazineur ließ sich Waren¬ unterschleife größeren Umfanges zu schulden kommen. Der Vater verlangte dessen Entlassung, der Gesell¬ schafter fand es für richtig, den ungetreuen Mann in 41 Schutz zu nehmen. Unser Vater wurde immer trüber und gedrückter, er verlor alle Energie, versank in Grü¬ beleien und wurde schließlich krank, gemütskrank. Alle liebevollen, starken Bemühungen der Mutter, alle gut¬ gemeinten Vorstellungen unserer Freunde halfen zu keinem Erfolg. Es stellten sich fixe Ideen ein, die sich in traurigem Kreise um Zweifel über alte Kapitals¬ buchungen, um Verarmung und um das Schicksal von uns Kindern drehten. Der Arzt machte darauf auf¬ merksam, daß sich in solchem Zustande leicht Selbst¬ mordgedanken einstellen könnten. Er empfahl größte Vorsicht und stete Wachsamkeit. Bal- mußten wir zu unserem großen Schrecken feststellen, daß seine Be¬ fürchtungen tatsächlich zuzutreffen begannen. Die Mut¬ ter tat in bewunderungswürdiger Weise, wenn auch oft unter heißen Tränen, ihre Pflicht, Stunde um Stunde, Tag und Nacht! Wir Buben halfen tüchtig mit. Vielleicht nicht immer mit einem vollen Verständnis der Sachlage, doch mit dem bestimmten Gefühl einer uns allen drohenden, furchtbaren Gefahr. Die Schwe¬ stern waren noch so jung. Zu all dem kam noch ein schwerer Kapitalsverlust: während der Krankheit des Vaters hatte der Gesellschafter ein ganzes Vermögen an Waren einem Unwürdigen anvertraut, der plötzlich mit dem Gelbe verschwand. Die Sache trieb unauf¬ haltsam ihrem Ende zu, schon schien alles verloren. Da wurde eines frühen Morgens der Vater aus dem Bette geholt. Der Gesellschafter war in der Nacht, Hals über Kopf, operiert worden. Er lag im Sterben. Und er starb. Mit einem Schlage hatte der Vater das Heft in der Hand. Er fand sofort seine alte Kraft und seine Energie wieder. Nie werde ich den Blick 42 seiner Augen vergessen, da der aus schwerer Prüfung wiedererstandene Mann eines späten Abends nach Hause kam und uns den Entlassungsbrief an den ungetreuen Beamten zeigte. Aber er war großmütig wie immer. Er bot dem Sohne des Gesellschafters unter angemes¬ senen Bedingungen die Fortsetzung des Gesellschafts¬ verhältnisses an. Die Bedingungen wurden nicht an¬ genommen, man stellte andere, unannehmbare. Es folg¬ ten von Seite des Vaters sofort Kündigung des Ver¬ hältnisses, Liquidation der alten Firma „Pfeifer Kugy", Gründung der neuen „P. Kugy", Auszah¬ lung der Erben. Diese haben noch manchen dunklen Winkelzug ausgeführt oder versucht, es wurde auch eine Konkurrenzfirma errichtet. Aber das Schicksal hatte zu unseren Gunsten entschieden. Die Widersacher sind der Reihe nach verdorben und gestorben. Und Bruder Paul, der damals in der Hauptsache Historiker und Philosoph war, konnte mit stolzem Blick sagen: „Das ist die ausgleichende Gerechtigkeit!" Unser Vater war wie neugeboren. Er hat die schwie¬ rige Liquidation mit großer Raschheit und mit unver¬ gleichlicher Meisterschaft durchgeführt. Ohne jedes Schwanken stellte er feine neue Firma an Platz und Rang der früheren. Glückliche Jahre halfen mit. Eine schwere Zeit war überwunden. Der liebe Gott hat es damals gefügt, daß ihr dramatischer Verlauf nicht zu einer Tragödie geführt hat. Er hat mich auch später beschützt, wenn die Wege meines Lebens durch gar Schweres und dramatisch Geschürztes hindurchsührten, und er möge mir weiterhin gnädig sein, so lange es ihm noch gefällt! Freunde legten meinem Vater nahe, er möge mich 43 aus den Studien nehmen und zur Arbeit im Geschäfte heranziehen. Es wurde mir ganz kalt, als ich dies er¬ fuhr. Aber er entschied, ohne lange zu überlegen: „Erst soll er fertig studieren, dann kann er kommen, wenn er will!" Schon während seiner Krankheit hatte man ihn nach Bad Sankt Leonhard gebracht, das in einem hohen, stillen Berg- und Waldwinkel ob Himmelberg in Kärn¬ ten liegt. Doch damals mit nur geringem und rasch vorübergehendem Erfolge. Nun aber wurde Sankt Leonhard sein bevorzugter und sehr geliebter Ferien¬ aufenthalt. Wir Buben wurden wieder mitgenommen. Es war dort oben immer sehr liebe, frohe Gesellschaft. Man machte kleine Ausflüge, Kärntnerlieder wurden geübt und gesungen. Die Aussichtswarten hießen „Him¬ mel", ich glaube, daß ich damals bis in den „Sieben¬ ten Himmel" gekommen bin. Es waren wunderschöne, steile Wiesenhänge, von goldenen Arnikablüten übersät, richtige Kärntnerbergwiesen. Einmal erschienen zwei Prachtjungen mit Rucksäcken und Bergstöcken: Felix und Oskar von Luschan. Wie waren die schlank und schön! Vater und Söhne schlossen innige Freundschaft. Wir zündeten des Abends große Bergfeuer an, die weit ins Tal leuchteten, gruben jeden rasenbewachsenen Erd- oder Schutthaufen auf, in der Meinung, es seien Keltengräber. Tief unten im Gurktal, in Kleinglödnitz, hausten die „Spitzerbuben" im Sensenwerk ihres Va¬ ters, der gelehrte Hugo, der schneidige Max und die jüngeren Brüder. Mit diesen kam ich zur altberühm¬ ten, klingenden und singenden Flattnitzeralpe, zum duf¬ tend blühenden „Speik" der Haidnerhöhe. Zu Wald¬ poesie und Almenzauber, zu Kärntnerlust und Kärnt- 44 nerfreud. Voll froher Jauchzer das Kommen, voll schweren Abschiedsleides das Gehen. Die Heimat un¬ seres Vaters lachte auch uns heimatlich an! In späteren Jahren leistete dort oben Rudolf Baum¬ bach dem Vater Gesellschaft. Mein „Bergfrühling" erzählt davon. Zu den satzungsmäßigen Veranstaltungen des Schil¬ lervereins gehörten auch Orchesterkonzerte. Da gingen nach dem Gymnasialunterricht Emil Oblasser und ich oft nicht sofort nach Hause, kamen auch manchmal ver¬ spätet zum Speisen. Wir setzten uns auf die Galerie des Schillervereinssaales und hörten andächtig den Proben zu. Heller dirigierte in genialer Weise und mit viel Witz und Humor. Wenn er die „8i§nori Irow- bom" ansprach, die „Herren Posaunen", freute sich der ganze Saal. Im Orchester saßen viele gute Dilettan¬ ten. Professor Aeurti spielte mit lammfrommer Miene das Cello, der Vater Adinas die Flöte. Unter uns ge¬ sagt: man hörte da mehr blasen als flöten, und manchmal schien es mir, als spucke er in sein Instru¬ ment. Aber sehr schön war es doch, und Heller behan¬ delte den feinen, alten Herrn mit großer Auszeichnung. So lernte ich erst die „Eroiea" in den Farben des Or¬ chesters sehr gründlich kennen. Heldenhafte Gedanken zogen dabei durch meinen jungen Sinn. Die „Fünfte" erschütterte mich immer tief. Heller kannte nicht das erst später in Übung gekommene starke Betonen und Retardieren der vier großen Schläge des Hauptmotivs im ersten Satz, das mich immer etwas gesucht anmuten will. Die „Sechste" gab mir all ihre unvergleichliche Naturpoesie, die „Siebente" jubelte und wirbelte nur so durch mein froh mitschwingendes, begeistertes Herz! 45 Aber dies alles trat für mich zurück, als die Proben zu Haydns „Vier Jahreszeiten" begannen. Denn da kam zum Klang des Orchesters das musikalisch rezi¬ tierte Wort und die Macht des Gesanges. Die Auf¬ führung hat auf mich wie eine Offenbarung gewirkt. Ein Fräulein Eberhard sang die Hanne, ein Agramer Tenor, Gerbic, den Lukas, den biederen Simon wie¬ der der unverwüstliche Kitke. Nur einmal hat bei einer Probe unser Vereinstenor Dr. Gnesda ausgeholfen, und da sang er mit so herzerquickender Einfachheit und Natürlichkeit und mit so herrlicher Stimme, daß sich mir heute noch die Brust weitet, denke ich an das fest¬ lich aufgebaute Frühlingsgebet zurück, das Lukas fromm und hoffnungsfroh anstimmt: „Sei nun gnädig, mil¬ der Himmel, öffne dich!" Wie tief und nachhaltend können solche Vereinsauf¬ führungen in das musikalische Leben weiter Gesell¬ schaftskreise, einer ganzen Stadt eingreifen, mögen siesich auch mit der künstlerischen Höhe und der Vollendung jener der großen Zentren nicht messen können. Jede Fa¬ milie kann berufen sein, zu Orchester oder Chor irgend eine noch so bescheidene Arbeitskraft beizustellen, die dann der Anregungen so viele empfängt und sie mit heißglühenden Wangen von Proben und Aufführung mit nach Hause bringt, hochbefriedigt und wohl auch verwundert zusieht, wie ihre Kleinleistung von kundiger Hand einem gewaltigen Ganzen wirkungsvoll eingefügt wird. Auch das hebt über die Mühen des Alltags em¬ por. Es gräbt sich tief in junge und alte Herzen ein. Und siehe da, ich weiß nicht, wie es kam: plötzlich stand meine schöne, stille Schwester Maria, lieblich und hold anzusehen, musizierend an meiner Seite. Ich be- 46 gleitete, sie sang die Sopranrezitative und -Arien der „Jahreszeiten". Sie sang sie mit einer ganz kleinen, feinen, überaus rein intonierten Stimme, die halb noch Kinderstimme war. Später ist Maria eine große Mei¬ sterin des Rezitativ- und Ariengesanges geworden. Wie reizend sang sie das: „Willkommen jetzt, o dunkler Hain!" Der Vater war gerührt und entzückt. Wir konnten ihm keine größere Freude machen, als wenn wir ans Klavier gingen und ihm vormusizierten, da er des Abends müde nach Hause zurückkehrte. Auch die Mutter war begeistert. Sie hat zeitlebens eine beson¬ dere Schwäche für die klassischen Rezitativs bewahrt. Da ließ sie immer alle Arbeit liegen und kam leise heran. Meine Schwester hat später mit Klavierspiel und Gesang viele Erfolge gehabt. Aber gewiß: die jener schönen, fernen Abende trägt sie noch immer als die be- glückendsten ihres Lebens in ihrem reinen Herzen! Noch zwei Musikwerke haben zu jener Zeit tief in meine Seele gegriffen: Verdis „Aida" und sein gro¬ ßes „Requiem". Jene war kurz vorher für die Er¬ öffnungsfeierlichkeiten des Suezkanals in Kairo ge¬ schrieben worden und wurde dann im „Teatro Grande" von Triest aufgeführt. Es sangen die herrlichsten Sän¬ ger des damaligen Italien. Ich glaube nicht, daß ich jemals schöner habe singen gehört oder je schöner werde singen hören. Allen voran stand die wundervolle Stolz. Sie war gleich königlich in ihrer Erscheinung wie in ihrer Stimme. „Aida" ist meine Lieblingsoper geblie¬ ben. Selbst „Lohengrin" und „Tannhäuser" konnten sie nicht aus meinem jungen Herzen verdrängen. Und seither habe ich sie immer mehr geliebt, wie Verdi in mir immer höher stieg, je älter ich geworden bin. Im 47 „Requiem" sangen -ie gleichen unvergleichlichen Künst¬ ler. Franco Faccio dirigierte. Stark, vielleicht über¬ trieben theatralisch auch im „Requiem", aber mit un¬ beschreiblich hinreißender Wirkung. Man mußte es ge¬ hört und gesehen haben, wie er die stürmisch bewegten, brausenden Chor- und Orchestermassen zum gewaltigen Effekt der Generalpause im „Dies irae" führte! Aller Atem stand da still! Noch heute neige ich mich mit Schauern der Ehrfurcht und des Entzückens vor dem größten aller Meister des jungen Italien, wenn im „Domine Jesu" aus absteigenden, lang gehaltenen Noten die Sopranmelodie über den in magischer Helle aufleuchtenden Worten: „Sed signifer Sanctus Mi¬ chael" in himmlischer Schönheit sich aufschwingt, oder wenn Tenor und Baß aus fromm lobsingenden Her¬ zen den inbrünstigsten aller Opfergesänge: „Hostias et preces tibi" emporsenden zu Gottes strahlendem Thron. Unser gutes Fräulein Moßer heiratete und zog nach Amerika. Wir waren ganz erstaunt. Denn wir hätten ihr eine so große Reise nie zugetraut. Über ihre Nach¬ folgschaft wurde lange beraten. Eduard Bix, der da¬ mals der erste Klavierlehrer der Stadt und Heller fast ebenbürtig war, kam noch nicht in Betracht, erst später find Maria und ich in seine wirklich ganz außer¬ ordentliche Schule gekommen. Die Wahl fiel schlie߬ lich auf einen Herrn Kristof, der den Eltern als guter Musiker empfohlen worden war. Keine Frage, das ist er gewesen. Aber er war schon etwas herabgekommen und verbummelt, ein vernachlässigter alter Pianist von großer Begabung aber noch größerer Meinung von sich selbst. Er gab die Stunden so von oben herab. Es lag 48 ihm mehr am Honorar, und er war sehr geübt im Ver¬ langen von Vorschüssen. Für meine Schwestern war er ein Schrecken. Er roch immer nach etwas. Oft däm¬ merte er oder schlief auf seinem Stuhle ein. Trotzdem war er ein wirklich guter Lehrer, und wir haben alle mit ihm große Fortschritte gemacht. Allerdings hatte er an uns, besonders an Maria, Schüler von guter Be¬ gabung und von großem Fleiß. Bruder Paul war schon ausgesprungen, das Klavierspielen freute ihn nicht mehr. Doch ist er sein ganzes Leben lang ein sehr guter Mu¬ siker von großem Verständnis und von ausgezeichnetem, feinem Urteil geblieben. Herr Kristof bediente sich beim Unterricht sehr drastischer Bilder. Machte uns die aus¬ geglichene Technik bei Mozart Schwierigkeiten, so emp¬ fahl er uns: „Das müssen's spielen, als ob's a Glas Wasser trageten." Kamen wir zu den polyphonen Sät¬ zen und zum gebundenen Spiel Bachs, so sagte er: „Das müssen's spielen, als ob's a Limoni ausdrucke- ten." Und zu Beethovens „Sforzati" meinte er: „Das müssen's spielen, als ob's an Nagel einschlageten!" Und wir trugen Gläser voll Wasser auf dem Hand¬ rücken, druckten Zitronen aus und schlugen mit aller Macht Nägel ein, soweit unser altes Klavier es ver¬ trug. Mama pflegte die Stunden zu bezahlen, sobald das Dutzend voll war. Aber manchmal wünschte Herr Kri¬ stof das Geld für die Stunde sofort. Traf es sich, daß Mama nicht zu Hause war, so wurde es schlimm. Da verlängerte er die Stunde oft stark über Gebühr, und das traf leider fast immer die unglückliche Anna, die letzte in der Reihe. „Eins, zwei, drei", klang es weinerlich hinter der geschlossenen Türe. Wir erhoben 4 49 uns und horchten teilnahmsvoll. Das „eins" kämpfte mit verhaltener Verzweiflung, das „zwei" war ein Aufschluchzen aus tiefster Not und aus gepeinigter Seele, im „drei" lag der ganze hoffnungslose Jammer einer trüben Klavierstunde ohne Ende. Dabei flössen reichliche Tränen, während Herr Kristof mit harter Stimme und unbeugsamem Sinn seine tadelnden Aus¬ stellungen machte. Es kommt vielleicht daher, daß Anna am Klavierspiel keine rechte Freude gewann. Aber auch sie hatte sehr viel musikalische Anlage und oft erhei¬ terte sie uns mit improvisierten, selbsterdachten Phanta¬ sien am Klavier, die von sehr kühnem Schwünge waren und in den grellsten Farben und mit vielem Humor das ausmalten, was sie uns darzustellen wünschte. Ich kann nicht sagen, daß ich viel übte. Wenn ich in der knappen freien Zeit, die mir die Gymnasial¬ studien ließen, an das Klavier ging, beschäftigte ich mich viel weniger mit dem rein Pianistischen, mit Etü¬ den und Passagen, als mit dem Durchspielen von Lie¬ der- und vor allem von Oratoriumliteratur, so weit ich solcher habhaft werden konnte. Ich begann immer inten¬ siver durch die großen Werke Haydns, Mendelssohns, Bachs und Händels zu schwärmen, verstrickte mich immer mehr in die Klavierauszüge zu den Oratorien dieser Meister. Dies tat ich vom Lehrer ganz unabhän¬ gig, einem bestimmten Rufe in meinem Inneren fol¬ gend. Meine Mutter erzählte davon Herrn Kristof, und er forderte mich auf, ihm doch etwas vorzuspielen. Ich nahm das „Requiem" von Mozart und muß es nicht schlecht gemacht haben. Denn ich bemerkte, daß sich die verschlafenen Glasaugen des Lehrers zu weiten begannen, und daß darin ein gewisser Glanz aufleuch- 50 tete, der Überraschung, Freude und Stolz auf seinen Schüler bedeuten mochte. Er behandelte mich seitdem mit großer Hochachtung, und es kam eine Art von Kol¬ legialität hinzu, als ich in unserem Hause und vor ihm einen Herrn Schalter zu Schubertliedern begleitete. Es waren die gewöhnlich gesungenen, immer unsterb¬ lichen Sachen: „Der Neugierige", „Der Wanderer", das entzückende „Wohin". Schalter sang sie sehr fein, wie mir schien, und mit großer Hingabe. So hat er mich zu Schubert geführt, der später mein herzlieber Privat¬ heiliger geworden ist. Störend war nur, daß Herr Kristof meinen warmen, stimmbegabten Sänger in du¬ seligen Augenblicken mit dem Gastwirt in Opcina ver¬ wechselte und daß er dann immer steif und fest behaup¬ tete, er sei ja von ihm am letzten Sonntag „bedient" worden. Schon früh wurde ich in die Turnhalle geschickt. Ich wollte stark sein und turnte sehr eifrig. Gleich meinem Vater, den ich allerdings bald an Höhe überragte, war ich von sehr kräftigem Körperbau, „rund", nicht „flach", gestaltet. So wie er war auch ich ein glänzender Schwim¬ mer und Taucher. Bevor, nach Eröffnung des Suez¬ kanals, die Haifische in die Adria und nach Trieft ge¬ kommen waren, machten wir oft weite Schwimmtou¬ ren zu den in der Reede verankerten Schiffen und rasteten auf den „Bojen" und an den „Fari". Im Kopfsprung kam ich ihm allerdings nicht nach, er sprang auch noch in späteren Jahren vom Trampolin mit einer Ruhe und einer eleganten Sicherheit, die alles bewun¬ derte. Im Turnen war ich nicht der Geschickteste, wohl aber sehr solid, immer tadellos in der Haltung, besser am Barren als am Reck. Meine Gestalt war für die- 51 ses zu schwer. Ich wurde Vorturner der zweiten Riege, stemmte wie ein Athlet. Bald war mein Körper straff mit Muskeln bespannt. Im Bad schaute alles auf mich. Ich mag ausgesehen haben wie ein junger Her¬ kules. Mein Vater hat an einem kalten Boratage mit einem gewagten Sprung ins winterliche Meer einem Knaben das Leben gerettet. Viel später habe ich einen Angetrunkenen, der, dem Untersinken nahe, unter dem Bug eines Schiffes um Hilfe rief, zu mitternächtiger Stunde fein an Land gebracht. Ich war stark, mutig und kühn. Bald galt ich als einer der Stärksten in der Stadt. An den Sonn- und Feiertagen streifte ich botani¬ sierend über den Karst. Ich war selten allein, gewöhn¬ lich in Gesellschaft Kühnaus oder Baumbachs oder beider. Von diesen war Baumbach der rüstigere und ausdauerndere Geher. Ich habe ihn nie müde gesehen. Weder Kühnau noch Baumbach waren ja Bergsteiger in unserem Sinne. Trotzdem ist beider Einfluß auf meine Entwicklung als Bergsteiger ein überaus gro¬ ßer gewesen. Als Bergsteiger der alten Richtung natür¬ lich, der in vollster Unbefangenheit, als „reiner Tor", aus idealer Liebe zur Natur ersteht, dem aller Sport und jedes Ichgefühl in den Bergen noch vollkommen ferne stehen. Ich möchte es an dieser Stelle sagen, wie unendlich vieles aus Baumbachs, wie auch schon vorher aus Viktor von Scheffels, Romantik in mei¬ nem Inneren für die Bergwelt geworben, sich in mir in Bergahnen und in Bergstimmung umgesetzt hat. Man denke nur daran, was Baumbachs „Zlatorog" für mein junges Herz bedeuten mußte, in welchem von allem Anbeginn der altehrwürdige Dom des Triglav 52 wie ein Riesenaltar aller frommen Bergsehnsucht und Bergandacht stand. In unseren botanischen Ausflügen spielten die Karst¬ wiesen am Monte Spaccato und die große, grüne Waldoase von Lipiza eine sehr große Rolle. Das sind zu allen Vegetationszeiten sehr reiche und lockende Fundstätten. Jene erreichten wir vom Vorort San Giovanni aus. Der Weg windet sich steil empor, schnei¬ det die Fiumaner Reichsstraße, setzt auch den Schienen¬ strang der Tauernbahn, lenkt höher oben in einen rich¬ tigen kleinen Engpaß ein, zu dem die felsigen Karst¬ hänge des Monte Spaccato, des „Gespaltenen Ber¬ ges", von beiden Seiten zusammenrücken. Der Rück¬ blick auf das Meer ist immer wunderschön. Ist die steile Enge durchschritten, so stehen wir auf dem ebenen Hochplateau des Karstes. Die Wiesen lie¬ gen vor uns. Nach Karsterart sind sie von einem weit¬ maschigen Netz niederer Steinmauern umgeben. Im allerersten Vorfrühling, da noch kalte Winde zum Meere hinabstreichen, steht da, Blüte an Blüte, unser reizender Croeus variegatus. Die lieben Schneeglöck¬ chen beginnen in Hellen Scharen ihr feines Geläute, Muscari botryoides gesellt sich dazu, die kleine, auf¬ rechte, blaublühende Traubenhyazinthe. Auch ein schö¬ ner, weißer Kreuzblütler ist an den Wiesen- und Weg¬ rändern erschienen, Thlaspi praecox. Er gehört zu die¬ sem Vegetationsbilde und will genannt sein. Bald dar¬ auf verkünden die dicht in warme Seidenpelze gehüll¬ ten, schönen, tiefvioletten Glocken der Anemone Mon¬ tana das Nahen der Osterzeit. Es sind sa die Oster¬ glocken. Wo man hinblickt, sieht man sie zu kleinen Gesellschaften und Nestern zusammenstehen. Wenn die 53 Sonnenstrahlen schräg hereinsallen, so weht es weit¬ hin über die Wiesen wie ein feines, seidiges, silberiges Flimmern und Gleißen, als sei zur erwarteten gro¬ ßen Frühlingsseier ein festlich erglänzender, aus Sei¬ denhaaren und Sonnenglanz gewobener Teppich hin¬ gebreitet. Seid gegrüßt, ihr lieben Herolde der seligen Auferstehungszeit! Dann endlich, in den ersten April¬ wochen, hält der volle Karstfrühling dort oben seinen Einzug. Aber nicht mit dem froh und freudig lachen¬ den, manchmal vielleicht auch fast lärmenden Pran¬ gen, dessen der Vollfrühling sonst wohl fähig sein kann, sondern mit einem unbeschreiblichen, stillen, keu¬ schen Leuchten, mit einer herben Anmut, die der selt¬ sam verschlossenen Eigenart des Karstes entspringt, in ernster, fast schwermütiger, wunderbar ergreifen¬ der Poesie. Denn der Karst kann fa und darf nicht jubeln, es liegt über ihm immer etwas wie ein leises, in Geduld und Entsagung ergebenes Weh. So ist auch die Frühlingsfeier dort oben schlicht und einfach. Da und dort schmucke, gelbe Lenzfahnen, die der Hartriegel aus¬ steckt. Den Dörfern zu einige Blütenbäume, schüchtern, verstreut, hinter den grauen Steinmauern halb ver¬ steckt, wie von ungefähr, schneeweiß und pfirsichfarben. Blaue Karstberge weit im Hintergründe, ein Kranz leuchtender Frühlingswolken am Horizont. Heller Son¬ nenschein über allem und viel schönes, weißes Licht. Und alles so still! Nicht eine Stimme lauter Freude! Das dumpfe Lärmen der Stadt halten die breiten Karstwälle ab.Auf den Wiesen steht dieKarstnarzisse in vollem Flor. Es ist der Narcissus angustifolius. Er ist feiner und schlanker, weniger üppig, als die Narzisse unserer Hoch¬ gebirgshalden, aber an Wohlgeruch übertrifft er wohl 54 alle die Geschwisterarten. So weit das Auge blickt, schwanken und nicken die schönen, weißen Blüten im Frühlingswind. Narzissen überall. Die Lüfte sind er¬ füllt von ihrem süß berauschenden Duft. Dazwischen schart sich der entzückende Frühlingsenzian, die Gen¬ tiana tergestina, bald zu vereinzelten Inseln, bald zu ganzen Feldern, oder er zieht weitausgreifende, leuch¬ tendblaue Ornamente frei über den Blütenplan hin. Im Schutze der Gesträuche, an den Mauern, hat sich eine dritte, eine sehr vornehme Blume angesiedelt, die kleine, schlanke Karstlilie, die Schachblume oder Kai¬ serkrone, Frittilaria tenella, mit der nickenden braunen, innen feinfarbig gesprenkelten Glocke. Dazu Windrös¬ chen, weiße und gelbe, das reizend duftige, zartgeglie¬ derte Isopyrum thalietroides, das schmalblättrige Lun¬ genkraut mit den roten jungen und den blauen älteren Blüten.Gewiß, derBlumen genug.Und doch: der Boden, aus dem sie so lieblich und vielfarbig sprießen, ist hart geblieben und dürr. Den herben Ernst, der auf dem Antlitz des Karstes liegt, vermag auch die sanfte Hand des Frühlings nur zu mildern, nicht wegzulöschen. Das wäre das bescheidene Bildchen des Karftfrüh- lings am Monte Spaccato. Aber es kommt noch etwas dazu, es schwebt etwas unsagbar Feines darüber, das man nicht malen kann, ein leises, süßes Klingen und Singen, gar liebe Musik. Eine Gartenammer, der Ortolan des Karstes, Emberiza hortulana, besorgt sie. Aus Schlehdorn, Hartriegel und Blütenbaum sendet sie, selbst fast immer unsichtbar, von nah und von ferne, bald wunderfein gezirpt, bald sehnsuchtsvoll gerufen, ihr kurzes, kleines Motiv herüber. Ein unsterbliches Motiv: die ersten vier Noten in Beethovens Fünfter 55 Symphonie, dreimal Quinte — kleine Terz. Ich kann es vom Dufte der Karstnarzissen, vom Blau des En¬ zians, von der schlanken Liliengestalt der Kaiserkrone nicht trennen. Es ist für mich das Motiv des Karst¬ frühlings. Die Gartenammer kann nur dieses eine, sonst nichts. Sie retardiert es nicht, wie heutzutage die Dirigenten mit der Künstlerlocke in den Konzert- Hallen, sie denkt nicht an die Pforten des Lebens, „daran das Schicksal mit vier ehernen Schlägen pocht!" Sie singt es in aller Unschuld aus ihrem kleinen, froh lob¬ preisenden Frühlingsherzen. Wie eine leise, herzerquik- kende Stimme der Natur, wie ein kleines Sonnenlied der dankbaren Kreatur erhebt es sich in holder Poesie, fein und rein, aus der Stimmung und dem Zauber der lichten Frühlingssymphonie des Karstes. Es schreitet die Zeit, neue Formen, neue, sattere Farben treten in rascher Folge in das Vegetations¬ bild unserer Wiesen. Bald herrschen die großen, gel¬ ben Kompositensterne des Senecio lanatus vor, an einer verschwiegenen, im Gewirr der Karstmauern nicht leicht auffindbaren Stelle blüht die seltene Valeriana tube¬ rosa. Dann erhebt die seltsam weiche, über und über von weißen FLlzflocken überzogene, moschusduftende Iurinea mollis ihr schweres, dunkelrotes Blütenhaupt, die Iris illyrica entfaltet, niedrig wachsend, an stark besonnten, geschützten Stellen ihre wundervoll gebau¬ ten, hochgehelmten, bald zart-, bald tiefvioletten Blü¬ ten. Der Kuckuck ruft. Der Sommer erscheint mit bunten Schmetterlingsblumen, mit weißen Spiraeen, Melissen und Margeriten, mit breit, hoch, sparrig auf¬ strebenden Umbelliferen, bis dann, gegen den Herbst zu, der ganze Plan den feingezeichneten, hellfarbigen 56 und den dunkelvioletten Saturejaarten gehört, die alle Lüfte mit ihrem scharfen, betäubenden Äthergeruch er¬ füllen. Die Enge des Paffes wird noch später, ganz zum Schluffe, die schöne, lilafarbene Iberis umbellata schmücken, und die gewaltige, monumental ragende Campanula pyramidalis dort Wache stehen. Über den grauen Felsenharnisch des Karstes legen sich immer tiefere violette Töne. Alles Laub auf Sträuchern und Bäumen ist grell rot und gelb geworden. Flammenbüsche stehen da und dorten, der würzige Perückensumach hat sein brennendes Herbstkleid angetan. Immer ernster werden die Farben, die das Meer herübersendet. Die niedriger streichende, gar die untergehende Sonne wirft über alles einen düster erglühenden, oft geradezu my¬ stischen Schein. Alles sinkt in Starre und in schweres Schweigen zurück. Nun ist der Karst ganz stark, ganz ungemildert, ganz rücksichtslos und unerbittlich in seiner Eigenart. „So bin ich, ich bin der Karst, ich tue, wie ich will, ich verhandle nicht!", sagt er rauh und blickt trotzig und selbstbewußt dem Winter und den eisigen Stür¬ men der heimatlichen Bora entgegen. Er wird gepan¬ zert sein und gerüstet. Er fürchtet keinen Teufel! Eine Wegstunde vom Monte Spaecato liegt der Lipizanerwald. Man kommt über die malerischen Dör¬ fer Padrie und Gropada dahin. Es ist eine schöne, große Waldinsel, in der die Zerreiche vorherrscht, mit¬ ten im Karstland. Sie ist von Mauern umfriedet, war Domäne des berühmten kaiserlichen Hofgestütes. Da¬ mals war Lipiza der bevorzugte Ausflugsort der wan¬ derlustigen Triester deutschen Kolonie. Heute ist der Zugang durch strenge Verbote fast völlig gesperrt. 57 Zahlreiche Dolmen mitten im Walde, allenthalben die Fundorte schöner Karstpflanzen. Da blüht im Früh¬ ling eine mannigfache Orchideenflora, die Karstnar- zisse, die Kaiserkrone, im Mai die stolze Paeonia pere- grina, bald darauf der scharfe Ätherdüfte ausströmende Diptam, die stille, weit aufgebogene Iris graminea und an seltenen Stellen, zu denen etwas Glück die Wege weifen muß, in funkelndem Orangerot das Lilium car- niolicum. Ein entzückender Reichtum an bunten Far¬ ben, für den Botaniker ein seliges Karstparadies. Ein freundliches, kleines Wirtshaus mit Backhähndeln, „Spritzkrapfen", gutem „Terran" und weiter Schau bis zu den blauenden Randbergen, das längst einge¬ gangen ist, mitten im etwas erhöht gelegenen Gestüte. Am schönsten ist der Wald, wenn die Pfingstrosen blühen. Wie ihn unser lieber Karstsänger Baumbach so schön beschreibt: „Es prangt in Maiengrüne Der Lipizanerwald, Es schmückt sich die Doline Mit Blumen mannigfalt. Pfingstrosen purpurn winken, So weit das Auge sieht, Es schmettern Edelfinken Ihr fröhlich Hochzeitslied!" Das war ein feines Wandern damals, so an der Seite jener beiden Männer, und ich war wohl ein beneidens¬ werter Junge. Kühnau betreute mich mit rührender Sorgfalt, in seiner lieben, immer etwas feierlich wür¬ devollen Art. Baumbach war voll sonnigen Humors, voll Schnurren und kostbarer kleiner Geschichten aus seiner Studenten- und Wanderzeit. Ich konnte, halb 58 verstehend, halb ahnend, manchen Blick in seine liebe Dichterseele tun, aber in seiner schönen, großen Be¬ scheidenheit sprach er auch später, La schon -er Lorbeer seine Stirne umkränzte, nur ganz selten, so nebenbei und andeutungsweise, von seinem poetischen Schaffen. Oft denke ich an dies alles zurück. Wie rasch verflog so ein Festestag unter Botanisieren, Lachen und Scherzen. Und natürlich: auf das „Einkehren" wurde niemals vergessen. Ich bin später noch gar viel über den Karst gegangen, Jahre hindurch alle Sonn-, alle Feiertage: als Jüngling, als Mann, als alter Herr. So frohe und sorglose Zeit ist mir nicht wieder be- schieden gewesen. Zu Peter und Paul 1.874 nahm mich Kühnau zum Standort der Digitalis ferruginea nach Ospo mit. Es war ein glühend heißer Tag, wir wurden davon beide krank. Ich genas bald von meinem Sonnenstich, er er¬ lag der übermäßigen Belastung seines schwer kranken Herzens. Urschka hatte ihn bis zuletzt in ihrer sorg¬ samen Pflege. Das war ein großer Schmerz für mich. Ich trauerte sehr, und noch heute, nach über 57 Jah¬ ren, grüße ich sein Andenken in unwandelbarer Treue und mit einer Dankbarkeit, die nicht erlöschen wird, so lange ich noch zu leben habe. Die Geschäfte blühten, unser Vater schaffte Pferde und Wagen an, die natürlich hauptsächlich der Arbeit zu dienen hatten. So ist Christian, der Kutscher, ins Haus gekommen. Ich sah ihn mir erst prüfend an, dann kam es bei der ersten Gelegenheit zu einem ehr¬ lichen Ringkampf zwischen uns beiden, denn ich mußte doch wissen, wer der stärkere sei. Ich war es. Ich nagelte ihn mit beiden Schulterblättern fein und schön 59 ins Gras. Wir sind gute Freunde geworden. Ich hatte den braven, arbeitsfrohen Mann immer sehr gerne, er war und blieb treu wie Gold und schwor sein Leben lang mit nie wankendem Vertrauen auf seinen hei߬ geliebten „Herrn Julo". Natürlich hat auch er es zu seiner Medaille „quadraginta annorum" gebracht, denn wer zu uns kam und seine Pflicht erfüllte, der blieb. Es folgten im Schillerverein auf Haydns „Jahres¬ zeiten" Mendelssohns „Lobgesang" und sein großes Oratorium „Elias". In beiden Werken sang Adina Bideleux die Sopranpartie. Gewiß: „Alles, was Odem hatte", lobte an jenem Abende den Herrn! Und den Zwiegesang der armen Witwe mit dem Propheten hab< ich nie inniger, gottergebener und herzergreifender singen gehört als damals. Denn auch der Bariton, der ein bescheidener Triester Gesangslehrer war und einen ganz unbekannten Namen trug, sang außerordentlich schön und aus voller, warmer Seele. Kamen wir während des Sommerurlaubes in Dorf¬ kirchen, so zog immer die Orgel meine volle Aufmerk¬ samkeit auf sich. Der feierliche Orgelklang nahm mich ganz gefangen. Es wuchs in mir der Wunsch auf, es mit dem Spiel doch zu versuchen. Ich tat es erstmals in Arnoldstein. Als ich fertig war und mit hochgeröte¬ ten Wangen zu meinem Vater trat, sagte er in seiner lieben Art zu mir, ich habe auf der Orgel soweit ganz gut Klavier gespielt. Er sprach mir von der Notwendigkeit des Legatospiels, von dem Respekt, den man immer vor der Orgel haben müsse, da sie alle weitesten Möglich¬ keiten und ungemessene Reiche für ein tiefgründiges Präludieren eröffne, eine gewaltige Literatur für sich besitze, in ihrer königlichen Eigenart Klavierstücke nie- 60 mals vertrage. Zum Schlüsse betonte ergänz besonders, daß das Registrieren eine große und schwierige Kunst für sich sei, die sehr viel Nachdenken, viel Übung und vor allem viel feinen, eigenen Geschmack erfordere. Ich war stark entmutigt, und die Schwierigkeiten, die sich vor mir auftürmten, erschienen mir unüberwindlich. Trotzdem blickte ich immer wieder zu den Orgeln der Dorfkirchen hin, und es ist sogar einmal vorgekommen, daß ich in Steinbüchl in Oberkrain über Einladung des musikbegeisterten Pfarrers zu einer ganzen Messe musizierte. Natürlich konnte ich wieder nur mir pas¬ send erscheinende Klavierstücke bringen, dazu hatte ich die Aufgabe, im gegebenen Augenblick rasch zum Ge¬ sang dreier ländlicher Kirchensängerinnen hinüberzu¬ modulieren, die strenge darüber wachten, daß all die vielen Strophen ihrer Kirchenlieder zur richtigen Zeit an ihrem richtigen Platz einsetzten. So kam ich zu keiner Beschaulichkeit und mühte mich sehr, hatte zudem einen offenbaren Mißerfolg bei einem frommen, alten Bauer, der mich scharf anknurrte, weil ich zur „Wandlung" auf dem leisesten Register einen reizenden, kleinen Mo- zartsatz, den Stolz meines Programms, spielte. Trotz¬ dem war mein äußerer Erfolg beim Gutsherrn und bei meinen Freunden aus der Umgebung groß. Meine innere Befriedigung dagegen blieb sehr klein, gleich null, eher noch einige Grade darunter. Ich gedachte reuig der warnenden Worte meines Vaters und kam mir so vor, wie ein großer Schwindler sich in Augen¬ blicken der Einkehr vorkommen mag. Der erste gute Organist, den ich hörte und spielen sah, war der Lehrer meiner Schwestern, Merk. Er be¬ gleitete in der evangelischen Kirche in Triest auf dem 61 dortigen guten Werk den großen Iubelchor „Singt unserm Gott" in Händels „Judas Makkabaeus". Ich bewunderte seine sehr präzise Pedaltechnik: Absatz — Spitze, Spitze — Absatz, sah, wie er zu den Einsätzen der Chorstimmen in der Fuge mit Bedacht die passen¬ den Register zog, war überwältigt, als zum Schlüsse das volle Werk erbrauste. Damals muß in meiner Seele der Entschluß klar geworden sein, es auch ein¬ mal so weit zu bringen, und wir werden später sehen, wie ich schließlich tatsächlich in eben jener Kirche zur Orgel gekommen bin und in ihrem Spiel allgemach zu erstarken begann. Das Jahr 1875 brachte mir meine erste Hochtour, den Triglav. Das war damals noch eine alpine Tat. Allerdings ist die Ersteigung des Triglav meiner eige¬ nen raschenInitiative entsprungen, mein Vater wünschte damals, uns Buben nur die Überschreitung des Skrbi- najoches aus dem Küstenländischen in die Wochein vor¬ zubereiten. Der Kandidat für Triglav oder Großglock¬ ner findet heute bald an jedem zweijährigen Kinde einen wohlinformierten Berater für Ausrüstung, Anmarsch und Durchführung. Das war damals, vor über einem halben Jahrhundert, ganz anders, viel schwieriger. Nie¬ mand konnte uns etwas sagen. „Wir werden zu Herrn Truden gehen", sagte mein Vater, .der ist von Tol- mein zu Hause und hat uns sehr gerne. Dort werden wir alles erfahren." Herr Truden stand breit hinter seinem Ladentisch und klagte sehr über die schlechten Zei¬ ten, obwohl er schon damals sehr wohlhabend aussah. Der Vater trug ihm die Sache vor. Herr Truden hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu, verstand lange nichts, frug immer wieder, sehr beunruhigt und er- 62 staunt, hatte nie etwas von der Škrbina gehört. Schlie߬ lich sagte er mit Tränen in den Augen: „Ach, Herr, ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, gehen Sie doch lieber nicht hin!" Trotzdem gingen wir hin, Bruder Paul und ich. Damals war man allgemein der Meinung, daß eine Bergtour ohne Wacholderbranntwein unmöglich sei. Mama gab uns ein Fläschchen davon und Zucker in Stücken dazu, weil der Schnaps am besten wirke, wenn man davon einige Tropfen auf Zucker nehme. Wir hatten es aber bald heraus, daß die Wirkung stark ver¬ bessert und gehoben werde, wenn man ihn schluckweise nahm. Wie ist jede kleinste Einzelheit jener Bergtour meiner Erinnerung eingeprägt verblieben. Ich sehe mich in der kleinen Alpe Ravne ob Tolmein, wie ich, sehr erhitzt vom eiligen Aufstieg, immer wieder vom köst¬ lichen Wasser trinke. Das Herz steht mir nochmals still, gedenke ich der Edelweißhalden knapp unterhalb der Schartenhöhe, des ersten Ausblickes hinüber auf König Triglav. Und da grüßt plötzlich aus jenseitigen, sonnenflimmernden Tiefen ein so strahlender Spiegel herauf, so berückend, so sinnverwirrend in Glanz und Farbe, nicht grün, nicht blau, so märchenhaft selig anmutend und wirkend, daß wir uns lange nicht be¬ wußt werden können, es sei der Spiegel des Wocheiner Sees. Dann die letzte Rast an der obersten Quelle der Wocheinerseite, schon in der Waldregion, wo wir von Sonnenbrand und Wacholderschnaps so ausgedörrt ankommen, daß Bruder Paul behauptet, fünf Liter Wasser getrunken zu haben, während ich es nach ge¬ wissenhafter Schätzung nur auf vier gebracht zu haben glaube. Wer hat die goldene Feder, die solche Berg- 63 freude beschreiben kann und solche Schönheit malen? Und mit welchem König oder Kaiser willst du tau¬ schen, du Junger, du Glücklicher, du Gottgesegneter, der du soeben von deiner ersten Ausfahrt ins Zauber¬ reich der Berge zurückgekommen bist? In der Sektion Küstenland des Alpenvereins hielt ich im Winter darauf meinen ersten Vortrag, über meine Touren 1875. In der Wiener „Botanischen Zeitschrift" des Dr. Alexander Skofitz erschien meine erste botanische Arbeit über Skrbinajoch, Cerna Prst und Triglav, die ohne mein Vorwissen, zu meiner Über¬ raschung und auch Verlegenheit, aber zur hohen Freude meines Vaters, als Feuilleton in der damaligen „Trie¬ ster Zeitung" nachgedruckt wurde. So unbedeutend und gymnasiastenhaft dieser Aufsatz war, horchten doch meine Triester Gönner und Freunde etwas auf. Und mein Vater sagte zufrieden: „Schreiben kann er!" Das Jahr 7876 brachte mir die Maturitätsprü¬ fung. Die war damals durchaus nicht so einfach, wie sie es heutzutage ist, sie stellte ganz gewaltige Anfor¬ derungen an jeden, der es mit dem Studium ernst nahm. Wir hatten noch aus sämtlichen Gegenständen schriftliche und mündliche Prüfung abzulegen. Es war deutsche und italienische Literatur dabei, Logik, Psy¬ chologie; schon die Religionsprüfung erstreckte sich über vier umfangreiche Bände, die man beherrschen mußte. Ich brachte ein glänzendes Zeugnis nach Hause, in wel¬ chem vier „Ausgezeichnet" prangten. In Latein hat mir Tacitus mit einem dunklen Dreiwörtersatz eine schlimme Falle gelegt. Ich kam glücklich heraus, doch konnte es mein Lateinordinarius nicht verhindern, daß der klein¬ herzige Schulinspektor meine gewöhnliche Lateinnote 64 „vorzüglich" auf „befriedigend" herabdrückte. In der Physik bestand ich glänzend, obwohl der Professor, sehr mit Unrecht, die Richtigkeit einer großen Formel bestritt, die ich hinzuschreiben hatte. Zur Frage des //Investiturstreites" mußte ich zweimal sprechen: vor dem Religions- und dem Geschichtsprofessor, unserem verehrten Jesenko freigeistigen Angedenkens. Das eine Mal in kirchlichem, das andere Mal, rasch umsat¬ telnd, in historischem Sinne. Mit der Schilderung der Sklavenverhältnisse in Rom habe ich mir das vierte, das schwierigste „Ausgezeichnet", in Geschichte, geholt. „Mama, ich weiß gar nichts", hatte ich gesagt, als ich zur Prüfung ging. „Mama, ich weiß alles", war mein sehr unbescheidener, nur durch die hohe Sie¬ gesfreude zu entschuldigender Ausruf, als ich zurück¬ kam. 5 65 Muz und das Turteltäubchen Zieht man an unserem Tore die Klingel, so wird es mittelst eines Hebels vom ersten Stockwerk aus geöffnet. Der Fremde steht verblüfft und weiß nicht recht, soll er warten oder eintreten. Eine Torhalle empfängt ihn, die durch das ganze Haus geht, und an deren Seitenwänden die alten Götter Griechenlands angemalt sind. Die „Ahnengalerie" sagten später mo¬ derne Freundes die so was nicht haben. Dann steigt man einige Stufen hinauf zu einer höheren Plattform. Links die Türe zum Holzkeller und die Treppe zu den Wohnräumen, rechts die Waschküche, in der zu Mamas Zeiten bis in die späte Nacht gebügelt wurde. Gerade¬ aus öffnet sich das Tor zum Hof. Dahinter liegt der Garten, zu dem wieder einige Stufen emporführen. Er ist von hohen Mauern umgeben wie ein Kloster- garten. An sein oberes Ende hat uns die neuere Zeit ein riesig hohes Zinshaus hingestellt, dessen weißge¬ tünchte, uns zugekehrte Feuermauer so grell leuchtete, daß man einige Zeit lang Gletscherbrillen aussetzen mußte, wenn man hinsah. Wilder Wein, Epheu und rankende Rosen haben sich später hoch emporgearbeitet, so daß sie den unteren Teil verdeckten. Eine ganze grüne, rosendurchwirkte Wand war es im Sommer. Ich hatte mein Auge bald so eingestellt, daß ich nur die sah, das Grellweiße darüber strafte ich mit Verach¬ tung und sah es einfach nicht. Das muß man sich im 67 Leben angewöhnen. Den grellen Alltagseffekten, die alle Leute uns vor die Nase hängen, werden wir nicht entgehen können. Aber das richtig eingestellte Auge gleitet kalt und unempfindlich daran vorbei und dar¬ über hinweg und führt verständnisvoll nur Bilder zur Seele, denen sie sich gerne und dankbar erschließt. Vom Dache des Hauses sah, da wir alle noch sehr jung waren, lange Zeit eine weiße Katze in den Hof herab. „Herrgott, da müßte es schön sein", dachte sie offenbar, denn sie saß immer oben und schaute sehn¬ süchtig. Auf einmal war sie da. Sie hatte den Weg gefunden. Aber anstatt sich unmanierlich zu benehmen, den Tauben nachzujagen und anderen Unfug zu treiben, trug sie den feinsten Anstand zur Schau und bekun¬ dete die wohlerzogensten und friedfertigsten Absichten. Kam jemand von uns herab, so umkreiste sie ihn hoch¬ gehobenen Schwanzes in der anmutigsten und einschmei¬ chelndsten Weise, so daß niemand den geringsten An¬ stand daran nahm, daß aus der Dachkatze eine Hofkatze geworden war. „Aber herauf kommt sie mir nicht", sagte Mama! Stundenlang saß die Katze und blickte zur Küche hinauf, bis das Fenster klang, die Köchin sich zeigte und ihr etwas Gutes hinabwarf. Das blieb so eine Weile, dann begann die Katze, die schon Muz hieß, mit sanfter Würde die Treppen emporzugehen bis zur Kü¬ chentüre. Da saß sie bescheiden und miaute manchmal leise, bis die Köchin ihr etwas brachte. Wir fanden, daß die Sache sich ganz folgerichtig entwickelt hatte, und daß der Platz vor der Küchentüre nach aller bis¬ herigen Aufführung der gebührende und selbstverständ¬ liche sei. 68 „Aber in die Küche kommt sie mir nicht", sprach Mama! Wieder verging einige Zeit, da hatte es sich Muz unter dem Sparherd bequem gemacht, wo es am heiße¬ sten war. Das geschah wieder so ohne alles Aussehen, in der natürlichsten, einfachsten und klarsten Weise, als sei es so vorbestimmt gewesen, und niemand erhob dagegen eine Einsprache. Muz wurde wunderschön. Sie hielt auf peinliche Reinlichkeit, und da sie keine Sorgen hatte und an der Quelle saß, wo es an gutem Essen nicht mangelte, so rundete sie sich sanft aus, ohne an Eleganz und Ge¬ schmeidigkeit zu verlieren. Denn sie war noch jung. Alle sagten, eine so schöne Katze sei noch nicht dagewesen. Da lag sie also in der Sparherdhitze und schnurrte behaglich. „Aber in die Zimmer kommt sie mir nicht", er¬ klärte Mama! Und richtig! Eines Tages zog sie auch da ein. Nicht etwa heimlich, nicht an den Wänden einherschleichend, furchtsam und fluchtbereit. O nein! Die Türen waren offen geblieben, und da kam sie mitten durch die „Zim¬ merflucht" heran, rechts Platz und links Platz, als gehe ein unsichtbarer Hofstaat mit, Schritt vor Schritt, sanft und mild, hoheitsvoll und wunderfein in ihrer samtenen, schneeweißen, sieghaften Herrlichkeit, wie eine wirkliche Königin. Nur eine Schleppe hatte sie nicht. Den Schweif hielt sie bolzgerade in die Höhe, denn das ist bei den Katzen Zeichen höchster Feierlichkeit und strenge Vorschrift spanischen Katzenzeremoniells. Wir standen alle auf. Sie aber ging schnurstracks zu Mama und machte ihr eine feine Hof- und Staatsvisite. 69 Mama war gewohnt, ihre Besuche mit Auszeichnung zu empfangen, und so machte es sich wunderschön. Nur hätten wir es gerne gesehen, wenn Mama Muz ein¬ geladen hätte, ihr gegenüber Platz zu nehmen, wie sie es selbst bei viel steiferen und anmutloseren Damen immer zu tun pflegte. Aber das tat sie nicht. Sie beugte sich wohl vor unseren Hausgeistern, die den Tieren freundlich gesinnt waren, aber gerade Bruderschaft hat sie mit diesen nie getrunken. Muz war zu nobel, um ihren Erfolg voll auszu- nützen. Wohl blieben ihr die Zimmer offen und sie kam manchmal leise schnurrend herein, aber immer waren es nur Spaziergänge und kürzere oder längere Besuche. Ihr Lieblingsplatz blieb unter dem Sparherd. In unserer Küche lebte damals eine reizende Turtel¬ taube. Die saß am Fenster, blickte in den Garten, flog aber nie fort. Sie war einmal zugeflogen gekom¬ men und geblieben. Eine liebe, feine Turteltaubenseele. Erst schien sie ein junges, wenig erfahrenes Turtel- taubenmäderl, im Verlaufe der Jahre wurde sie lang¬ sam ein still in sich zurückgezogenes Turteltaubenalt- jüngferchen. Nach der großen Welt ist ihr Sinn nie gestanden. Theater hatte sie in der Küche genug. Viel¬ leicht ist auch der schützende Wall der Klostermauern nach ihrem Geschmack gewesen. Und doch hat die kleine, schlanke Person in den wenigen dramatischen Augen¬ blicken ihres Lebens eine Energie bekundet, die man in diesem zierlichen Körperchen niemals geahnt hätte. Zwischen Katze und Turteltaube entwickelte sich mit der Zeit ein zartes Verhältnis oder besser gesagt, da ja kein zweideutiges Wort in die Wechselbeziehungen dieser beiden reinen Seelen hereinpaßt, eine innige 70 Freundschaft. Sie gesellten sich zueinander. Kam man in die Küche, so hockte neben der in immer üppigerer Leibesfülle prangenden, auf die warmen Steinfliesen schneeweiß und blank hingegossenen Muzgestalt schlank und fein das haselbraune Turteltäubchen mit dem schwarzen Ringlein um den Hals. Es war ein Bilderl aus dem Tierparadiese. Natürlich, ein paarmal sind schon Meinungsver¬ schiedenheiten vorgekommen. Manchmal erhob sich Tur¬ teltäubchen, stellte sich vor Muz hin und begann, ihr ordentlich die Leviten zu lesen. Wirklich, sie hat ihr sehr energisch ihre kleine, zierliche Meinung gesagt. Vielleicht hat Turteltäubchen gefunden, daß Muz nun denn doch zu dick werde oder zu faul sei. Oder war es die Platzfrage? Wer weiß es! Es ist sogar vorgekom¬ men, daß die Turteltaube auf die Katze losging, denn sie war ein nervöses Persönchen. Das war so drollig, wenn sie sich mit aufgeblähtem Hälschen immer wieder hochaufrichtete und gleich darauf tief niederduckte, und ihr so girrend und zankend näher und näher an den Leib rückte. Und was tat Muz? Sie stand auf und flüchtete aus der Küche die Treppe hinab in den Hof. Einmal hat das Turteltäubchen sie bis an die Küchentüre verfolgt, da hat es, wie man so sagt, die gute Muz einfach hin¬ ausgeschmissen. Aber Muz hatte recht. Ich würde auch davonlaufen, hätte ich eine keifende Frau. Und das sage ich euch, ich käme nie wieder zurück! Muz aber, die Sanfte und Großmütige, wartete geduldig eine Zeit¬ lang im Hofe, bis der Zorn verraucht war, dann kam sie wieder ruhig herauf, als ob nichts wäre. Da lager¬ ten sie wieder, Muzekatze und Turteltäubchen, knapp 71 beieinander unter dem Sparherd, und es herrschte holde Eintracht und süßer Friede. Muz ist in unserem Hause sehr alt geworden. Ich war schon Student in Wim, und sie saß noch da. Sie bekam sehr schwere und breite Formen, wie Juno, als sie dreißig Jahre alt war, oder wie die Frauen, die Rubens gemalt hat, obwohl sie immer weiß in weiß und nur etwas in zart rosa verblieb, oder, wenn es er¬ laubt ist, diesen Vergleich heranzuziehen, wie die selige große Kaiserin Maria Theresia. Dann starb sie eines natürlichen Todes, denn ewig kann leider niemand leben. Es herrschte große Trauer, meine vier Schwestern weinten. Da kam Baumbach dazu. Auch er war tief gerührt. Er hat sich hingesetzt und hat einen Nachruf geschrieben, der wirklich schön ist und der alle sehr getröstet hat. Denn er lautet also: Katzenjammer Motto: „Auch das Schöne muß sterben." Vier holde Mägdlein stehen Um einen Grabesstein, Und weiße Tücher wehen, Und Tränen fallen drein. Sie rieseln und sie rinnen Aus Äuglein braun und blau, Wem gilt das Sehnen und Minnen? Der schönsten Katzenfrau. Sie ist den Weg gefahren, Den alles Ird'sche geht; 72 In ihren besten Jahren Hat sie der Tod gemäht. Sie stieg in's Reich der Schatten Ach, allzufrüh hinab, Und schnöde Mäuse und Ratten Umtanzen ihr Heldengrab. Sie schritt einher so zierlich Wie Mägdlein beim Reigentanz. Wie trug sie so manierlich Und stolz zugleich den Schwanz! Sie hatte der Turteltaube In Liebe sich gesellt. Sie war zu gut, ich glaube, Für diese schlechte Welt. Drum laßt die bittre Klage, Ihr holden Maide, sein. Ruht auch im Sarkophage Der Katze modernd Gebein, Es stieg zum Katzenhimmel Ihr Geist. Dort kost mit ihm Ein fröhliches Gewimmel Von Katzen — Seraphim. Dort dräut den Engelkatzen Kein zähnefletschender Hund, Dort fliegen gebackene Spatzen Der Muz in den offenen Mund. Dort springen vor ihrer Nase Die Mäuse gebraten umher, Dort fließt von Milch eine Straße, Und nimmer wird sie leer. 73 Kling' aus in süßen Tönen, Mein Katzen-Grabgedicht, Und trocknet Euch, Ihr Schönen, Die Tränen vom Gesicht! Des Schicksals schwerer Hammer Schafft leider manchmal Schmerz, Doch auf den Katzenjammer Folgt wieder Lust und Scherz. 74 Studentenzeit Es klopfte: die Berufsfrage stand vor der Türe. Es war früher so ziemlich ausgemacht gewesen, daß Paul Medizin studieren, ich ins Geschäftshaus zum Vater eintreten werde. Doch hatte mein Bruder, der mir in den Studien um ein Jahr voraus war, in¬ zwischen seine Absicht fallen gelassen und sich an der juridischen Fakultät der Wiener Universität eingeschrie¬ ben. Auch für mich wünschten die Mutter eher aus ehrgeizigen, der Vater auch aus praktischen Motiven, daß ich erst das Doktorat der Rechtswissenschaften mir erwerbe, bevor ich Kaufmann werde. Ich war es so zufrieden. Um aber zu vermeiden, daß ich als fertiger Iuris Doktor von allem Anfang beginnen müsse, wurde bestimmt, daß ich im ersten Jahr in Wien mich inskribiere, jedoch in Triest verbleibe und täg¬ lich im Comptoir arbeite. Im zweiten Jahr würde ich dann durch erhöhten Fleiß leicht das Versäumte nach¬ holen und das erste Staatsexamen ablegen können. Der Entschluß war mir leicht. Ich hatte von Anbeginn viel kaufmännische Luft eingeatmet, schon in unseren ersten Kinderspielen waren wir oft Kaufleute gewesen. Freud und Leid des kaufmännischen Berufes waren, wie man gesehen hat, an meinen offenen Augen und an meinem empfänglichen Herzen vorübergezogen. Ich fühlte mich dazu gehörig. Es lockte mich die Aussicht, an der Seite meines Vaters arbeiten zu können. Auch war ich mir 75 der Bedeutung unseres Kaufmannshauses für das Wohl und Wehe unserer ganzen Familie vollkommen bewußt. Die in allen Gassen Triests und so auch in unseren Magazinen zu Tage tretende großartige Be¬ wegung der Ware, die rastlos rasselnde Arbeit im Ha¬ fen, auf den Überseeschiffen, der Verkehr mit fernen, fremden Ländern, der Gedanke an das gewaltige, fein¬ maschige Riesennetz, das die große Formel „Soll und Haben" mit tausend- und abertausendfachen Beziehun¬ gen, Verbindungen und Verrechnungen, Gemeinsam¬ keiten, Abhängigkeiten und Freundschaften über den ge¬ samten Erdball spannt, die zielbewußte, selbstsichere Festigkeit, der freie Geist, die Selbständigkeit der An¬ sichten, die Unabhängigkeit der Lebensführung, die mir in den leitenden kaufmännischen Kreisen zu herrschen schienen, dies alles gefiel mir sehr. Ich fand im kauf¬ männischen Beruf viel Poesie und Romantik. Triest wurde auch damals von sehr glücklichen Zeiten getragen, es war ein reicher, blühender Hafenplatz von großer Bedeutung und von lockendem Versprechen für die Zu¬ kunft. Ich wurde Praktikant in der Triester Börsenfirma „P. Kugy" und begann, unter der Anleitung meines Vaters sehr fleißig zu arbeiten. In der freien Zeit warf ich mich, der Schulfesseln ledig, mit verdoppel¬ tem Eifer auf die Musik. Denn die hatte während der Maturazeiten natürlich stark zurückstehen müssen. Ich kam als Schüler zu Eduard Bix. Dies ging nicht ohne den lebhaftesten Protest des armen Herrn Kristof vor sich, der sich in seinen Anrechten auf mich betrogen wähnte, behauptete, er habe „die Kastanien aus dem Feuer geholt", und seine flammende Epistel an meine 76 Eltern mit dem Feuerwerk einiger sehr drastischer Kraftworte Beethovens schloß. Er tat uns aufrichtig leid, aber alles hatte in ganz selbstverständlicher Weise zu dieser Entwicklung meines musikalischen Werde¬ ganges gedrängt. Bix war ein sehr zarter, überaus feinfühliger Mann, hochstehender Musiker, herrlicher Pianist und ein ganz außerordentlicher Lehrer. Er mußte natürlich beim er¬ sten Probespiel bemerken, daß meine Klaviertechnik durch das viele selbständige Musizieren stark verwil¬ dert war, und begann sofort, mich mitClementis„Gra- dus ad Parnassum" und mit einigen kleineren, innigen Sachen von Schumann, so mit der lieben, schmucken „Arabeske", zu einer feineren Art emporzuheben. Ich glaube, daß ich mit ihm sehr viel gelernt habe, und daß jenes eine Jahr gediegenster Schule heute noch bei mir nachwirkt. Wenn es richtig ist, was die Leute sagen, daß ich klar gestalte und mich befleiße, im Spiel stets vollkommen korrekt, sauber und dynamisch maßvoll zu sein, so führe ich dies immer dankbar auf ihn zurück. Er war mehr Geist als Körper. Gleich Heller wurzelte auch er im Schillerverein. Es war ein hoher Genuß, die beiden Künstler zusammen musizieren zu hören. Wie alle seine Schüler liebte und verehrte ich ihn heiß und war sehr betrübt, als er aus immer bedenklicher schwan¬ kender Gesundheit erst in ein heldenmütig ertragenes Siechtum verfiel, dann bald, allzufrüh, sterben mußte. Ich musizierte in jenem Jahr sehr viel, übte täglich zwei Stunden. In vierhändigem Spiel ging ich die Symphonien unserer Klassiker durch, spielte auch mit guten Partnern auf zwei Klavieren aus der kleinen Li¬ teratur, die dafür geschrieben worden ist. Da stand an 77 erster Stelle Schumanns wundervolles „Andante mit Variationen", das wir damals vom berühmten Ehe¬ paar Iäell in wirklich entzückender Weise wiederholt gehört hatten. Dann begleitete ich viel zu Gesang und bemühte mich, meine Sänger mit Blumenbeeten und Rosenspalieren zu umgeben, wo Text und Art der Kom¬ position es erforderten oder gestatteten. Der Zug nach den Bergen war in mir immer stär¬ ker geworden, und das Jahr 1877 spielt in meinem alpinen Werdegang insoferne eine wichtige Rolle, als ich mich da erstmals von den schon ziemlich ausgefah¬ renen Geleisen der landläufigen Bergfahrten entfernte und mit der zweiten Brether Ersteigung des Ialoue eine Tour hinstellte, die sich in damaligen Zeiten schon sehen lassen konnte. Auch meine erste Ausfahrt zur Scabiosa Trenta fällt in jenes Jahr. Man muß es aber wissen, wie ich schon damals Bergnatur und Berge im Sinne und im Herzen trug, wie ich sie studierte, wie ernst ich sie nahm und wie heilig. Stundenlang, bis in die späteste Nacht hinein, konnte ich über die Kar¬ ten gebeugt sitzen und den Verlauf von Tälern und Kämmen verfolgen. Welch innige Zwiesprache hielt ich da mit den Bergen, die ich aber von der Größe und Schönheit der Natur nie trennen konnte noch mochte, so daß es gleichzeitig immer eine Zwiesprache mit dieser selbst war und geblieben ist. Es war gewiß noch viel mehr als Studium und Zwiesprache, es war ein tiefes Sehnen in mir, das rein und fromm durch meine Seele zog und sich zu einer wahrhaften, inbrünstigen An¬ betung der Bergnatur steigerte. Wie versenkte ich mich in die Pernhartschen Panoramen vom Triglav und vom Großglockner, auf denen jede Berggestalt mir etwas zu 78 sagen hatte, wo ich in den Frieden der Täler ahnungs¬ voll hinabsah und mir im Überblicken von steilen Pro¬ filen und Tiefen und Abgründen dazwischen, hochklop¬ fenden Herzens, die Herrlichkeit der Gipfelfreuden aus¬ zumalen suchte, die mir vielleicht dereinst beschieden sein würden. Kennt das die Jugend der modernen Rich¬ tung, die es sich angewöhnt hat, hastige Umfrage zu halten, wo vielleicht noch „etwas Neues" zu machen wäre, dann loszieht und den Kletterblock „erobert"? Kennt sie es doch, so ist es gut. Kennt sie es nicht, so möchte ich sie herzlich bedauern. Es sind ja keinerlei Großtaten dabei und nichts, womit man so recht prun¬ ken könnte. Aber in jenen stillen, nächtlichen Feier¬ stunden haben mich die großen, die ewigen, die gütigen Berge zu Gast gebeten. Damals ist ihre Einladung an mich ergangen, ich möge doch kommen. Es waren die ersten Wiegenlieder, die mir an der Schwelle meines Berglebens gesungen wurden. Und wenn ich heute die funkelnden Reihen der Geschenke überschaue, die ich den Bergen verdanke, so gehören diese ersten, süßen, mor¬ genfrischen Wiegenlieder mit zum größten Reichtum, den sie mir gegeben haben, und sie werten nicht geringer, und ich möchte sie gewiß so wenig missen als all die rauschenden Schönheitssymphonien der späteren Zeit, als all die Erfolge an den ragenden Festungen der Iu- lier, auf den Zinnen der Dolomiten, an den gleißen¬ den Ostwänden des Monte Rosa oder an der eisstarren¬ den, erbarmungslosen Brenvaflanke des Mont Blane. Dort waren die Hoffnungen und die Verheißungen, hier kam dann die Erfüllung! Lange bevor ich in die Kerma der Iulier gekommen bin oder in die Seissera, trug ich das Bild dieser Täler 79 schon m mir. In den letzten Gymnasialklassen haben mich meine Wünsche oft in das Stubachtal der Hohen Tauern geführt, das ich auch heute nur den Karten nach kenne und in Wirklichkeit nie gesehen habe. So ist es für mich das Tal unerfüllter Iugendsehnsucht geblie¬ ben. Als ich 7878 Mitglied des Alpenvereins wurde, las ich dessen Publikationen mit heißestem Interesse. Ich behielt fast jedes Wort auswendig, und wenn Er¬ steigungen von Bergen vorkamen, die schon in meinem Herzen nachklangen, schrieb ich sofort an die glücklichen Sieger oder an die Sektionen um weitere Aufschlüsse, erlebte auch fast immer die hohe Freude, daß ich ernst genommen und einer eingehenden Antwort gewürdigt wurde. Nach einem Vortrage, den ich 7927 in einer großen süddeutschen Stadt hielt, verlas der Vorsitzende in seiner Dankrede zum Schlüsse einen Brief von mir, den ich 7877, vor einem halben Jahrhundert, an die Sektion gerichtet hatte. Es war eine dringende An¬ frage um weitere, mir so wichtige Aufschlüsse über eine Ersteigung der Königin Marmolada. Und dann die Bücher! Erst Wagners „Entdeckungs¬ reisen in der Heimat", wovon ich im „Bergfrühling" erzähle, dann Whympers unsterbliches Werk „8cmm- l>Ies 2M0NA81 tye das wie eine Feuerfackel in meinem Herzen zündete, und das liebenswürdigste aller Bergbücher, Gilberts und Churchills „IKe Dolomite ^lountmns", das viele Jahre mit mir gegangen ist und sicherlich auch vorbildlich vor mir stand, als ich mein eigenes Bergbuch schrieb. In diesen Blättern erzähle ich von meiner Arbeit, von der Musik und von den Bergen. Da könnte viel¬ leicht die Frage nahe liegen, was wohl stärker in mein 80 Leben eingegriffen haben mag, ob die Musik, ob die Berge. Ich glaube, daß ich ohne viel Nachdenken ant¬ worten müßte, die Berge hätten es getan. Es hat in meinem Leben Zeiten gegeben, sehr bewegte, dra¬ matische, fast wohl tragische, wo alle Musik in mir schwieg. Die Berge sind nie von mir weggetreten, sie standen immer in mir, leuchtend und ruhevoll. Wenn es, wie wir später noch sehen werden, zweimal in mei¬ nem Leben Unsicherheiten, Irrewerden und Schwankun¬ gen auch ihnen gegenüber gegeben hat, so ist meine Zu¬ gehörigkeit zu ihnen doch niemals abgerissen worden, und ich fand, sobald ich nur einigermaßen zu Atem ge¬ kommen war, sofort wieder und jedenfalls viel rascher und leichter als zur Musik, den Weg zu ihnen zurück. Sie sind mir Tröster gewesen, Helfer und Führer, wo diese lange schon versagt hatte und weiterhin noch versagte. Es will mir sogar vorkommen, als sei mir erst in den Bergen das wahre Verständnis für die Musik aufgegangen. Gewiß glaube ich auch, es in den Bergen weiter gebracht zu haben als in der Musik. Jene umfasse ich mit viel mehr Verständnis und mit weit reicheren Kenntnissen. Zu einer Zeit, da meine Eis- und meine Pedaltechnik auf für mich erreichbaren Höchstpunkten standen, zog ich manchmal Parallelen zwischen Gehen im Eis und Orgelspiel: zu beidem ge¬ höre ein gewisses Feingefühl in den Füßen und ein „sicherer Tritt". Das zweite Jahr Jus brachte mir Schlimmes. Als ich nach Wien kam, sah ich mit Schrecken, wie weit mir meine Kollegen voraus waren. Ich hatte gar keine Übersicht über den sehr umfangreichen Stoff, der zu bewältigen gewesen wäre, fand mich schwer zurecht, und 6 81 als ich zu studieren begann, langweilten mich Institu¬ tionen, Deutsches und Kanonisches Recht ganz entsetz¬ lich. Dazu packte mich ein sehr heftiges Heimweh, es zog mich mit unwiderstehlicher Gewalt zurück in das schöne, lachende Vaterhaus, in die hell leuchtende Sonne, an das blaue Meer meiner Triesterheimat. Dies alles stürmte so plötzlich und so übermächtig auf mich ein, daß ich alle Fassung verlor und eines trüben Tages, da die Wiener Novembernebel besonders tief und hoffnungslos niederhingen, kurz entschlossen alles hinwarf und ohne weiteres Überlegen, vollkommen ge¬ brochenen Mutes, nach Hause fuhr. Ich wolle im Ge¬ schäfte weiterarbeiten, mich vielleicht in den kaufmänni¬ schen Fachwissenschaften vervollkommnen, aber das Jus sehe mich niemals wieder! Alles war erstaunt, so etwas hatte sich niemand erwartet. Mein Vater war sehr be¬ trübt, sah aber schweigend zu. Es wurden böse, schwan¬ kende Zeiten für mich, ich irrte durch Zweifel und schlaflose Nächte hin und her, bis ich endlich zur Be¬ sinnung erwachte und zum Entschluß mich durchrang, die juristischen Studien wieder aufzunehmen und jeden¬ falls das erste Staatsexamen zu machen. Doch mußte der Prüfungstermin auf den Oktober geschoben werden, da ich zum Iulitermin nicht mehr fertig geworden wäre. Ich war sehr lückenhaft vorbereitet. Noch heute er¬ scheinen mir in wüsten Träumen die „dapiiula ramni", nach denen sich Professor Maaßen des Kir¬ chenrechtes sehr angelegentlich bei mir erkundigte und die mir vollkommen unbekannt geblieben waren. Ich befürchtete schon das Schlimmste und atmete sehr erleich¬ tert auf, als der Dekan verkündete, ich habe die Prü¬ fung bestanden. Auf dem Wege zum Telegraphenamt, 82 wo ich den glücklichen Erfolg nach Hause melden wollte, blickte ich mich an jeder Ecke ängstlich um, ob mir nicht jemand nachkomme, um mir zu sagen, man habe sich geirrt, ich sei durchgefallen. Der Siegesrausch war bald verrauscht, da stellten sich neuerdings die bösen Zweifel ein. Diesmal in noch verstärktem Maße. Zu der Abneigung vor den juristi¬ schen Studien gesellten sich schwere Bedenken, ob ich in den erwählten kaufmännischen Beruf auch wirklich hineinpasse, ob ich mich darin glücklich und zufrieden fühlen werde. Denn das ist ja nie in Frage gewesen: ich war weder zum Juristen noch auch zum Kaufmann ge¬ boren. Darüber durfte man sich keiner Täuschung hin¬ geben. Meine Anlagen hätten mich offenbar auf ganz andere Wege gewiesen. Ich war inzwischen in andere Kreise gekommen, zu Hörern anderer Fakul¬ täten in Fühlung getreten. Aus meiner engeren Um¬ gebung bewegte sich Felix von Luschan schon zielbewußt auf die Anthropologie zu, Diener und Böhm waren Geologen, Solla Botaniker, Otto und Emil Zsig- mondy, Julius Hochenegg begeisterte Mediziner. Sie alle folgten einem ganz bestimmten, einem übermäch¬ tigen inneren Zuge, sie konnten nicht anders. Heute glaube ich, es genau zu wissen, wozu ich berufen ge¬ wesen wäre: auf Grund naturwissenschaftlicher oder medizinischer Studien hätte ich Forschungsreisender werden sollen. Da würde ich es wohl weit gebracht haben. Mein offener Sinn und mein Verständnis für die Natur, die gewaltige Kraft meines gesunden und festen Bauernkörpers, die Leichtigkeit, womit ich mich durch Schwierigkeiten, Gefahren und Mühsale aller Art hindurchzuschlagen vermochte, mein Mut, 83 meine Kühnheit, die jedoch niemals in Dreistigkeit, geschweige denn in „Dummdreistigkeit" überging, meine freie, aber immer entgegenkommende Art, mit Leuten zu verkehren, manches andere noch, hätten mich dazu gewiß vor vielen anderen befähigt. Ich mühte mich red¬ lich, mich aus diesen Zweifeln wieder emporzuringen, litt viel. Mein Vater hat nur ganz wenig eingegriffen. Er wolle mir zu meinem Glück keinerlei Hindernisse in den Weg legen. Ich solle mir alles reiflich und gut überlegen. Daß es sein innigster Wunsch, ja sein Traum war, mich in seiner Arbeit zur Seite zu haben, wußte ich seit jeher. Wir waren eben beide gleicher Art. Zweifel, Befürchtungen und Sorgen verschlossen wir gerne still in uns. Das mag sein Gutes haben, aber man leidet darunter doppelt. Es hat ein halbes Jahr gedauert, ehe ich herauskam. Das Pflichtgefühl hatte gesiegt. Ab und zu drohende kleine Rückfälle überwand ich dann leicht. Entschlossen und sicher bewegte ich mich von nun an in den ursprünglich festgelegten Bahnen weiter. Es ist wohl so, daß das wirkliche Genie sich unter allen Umständen freie Bahn bricht und dahin gelangt, wo es hingehört. Das kleinere Talent muß sich bescheiden, daß es seinen Platz im Leben erfülle, wohin das Schicksal es gestellt hat. Gelingt ihm dies voll und ganz, so kann gewiß auch so ein wahres Glück gefunden sein. Das Studentenleben als solches habe ich nicht viel mitgemacht. Corps- und Burschenschaftswesen zogen mich nicht an, ich habe dafür wohl nicht das richtige Verständnis mitgebracht. Wenn ich es frei bekennen darf, möchte ich sagen, daß es mir eher mißfiel und drollig vorkam. Ich will es gewiß nicht mutwillig an¬ greifen, weiß auch genau, welche Bedeutung ihm in 34 Deutschland von altersher, aus der Überlieferung glor¬ reicher Jahrhunderte, zukommt. Aber ich muß immer ganz wahrhaft sein und es offen sagen dürfen, wie ich mich zu den Dingen einstelle, die mir durch die Feder laufen. Auch auf die Gefahr hin, daß dies oder jenes meiner rasch und keck hingesprochenen/ganz individuell gemeinten Urteile von einer überwältigenden Mehr¬ heit sehr entschieden abgelehnt werden könnte. Auch die von den Schlägern verschnittenen Gesichter, die ich in Deutschland sehe, wollen mir gar nicht gefallen. Kann jemand sie schön oder imponierend finden? Ich habe in meinem Leben so viele sehr tapfere Menschen kennen gelernt, die keinerlei „Schmisse" zur Schau trugen. Ich bin nie ein Freund von Uniformierungen gewesen. Wallende Federn, Fuchsschwänze auf den Baretten und anderer Tand erinnerten mich immer etwas zu sehr an das Tierreich. Sehe ich einen General oder sonst einen hohen Würdenträger in voller Gala, so denke ich heute noch an den Hahn, der in seinem buntesten Prunkkleide einherstolziert. Gleich meinem Vater bin ich auch äußer¬ lich immer schlicht und einfach geblieben, trug nie eine Feder am Hut, noch eine Blume im Knopfloch, noch einen Ring am Finger. Aber in den „Akademischen Gesangsverein" bin ich sofort eingetreten. Ich war begeistert, als ich ihn an einem großen Festkommersabend zum ersten Mal hörte. Die schönen, jugendfrischen Stimmen, über die er naturgemäß verfügte, der warme, frohe Klang haben es mir sofort angetan, und ich bin ihm treu geblieben, so lange ich in Wien weilte. Die musikalische Leitung lag in den Händen des genialen Chormeisters Richard Heuberger und seines gleichfalls hochmufikalischen 85 Stellvertreters Hanns Treidler. Dort schloß ich bald mit dem jungen Eusebius Mandiczewsky feste Freund¬ schaft. Dr. Schaumann, in ulkigem Latein „Specta- vir", Dr. Wiesinger, „Quomodocantur" geheißen, be¬ sorgten die Soli, wo solche vorkamen. Dr. Schultner ließ oft seinen herrlichen Tenor ertönen, Dr. Fischer, „Pescator" genannt, redigierte mit unerschöpflichem, quellfrischem Witz die urdrolligen „Kneipzeitungen". Die Proben, bei denen ich nie fehlte, fanden in der alten Aula der Universität statt. Ich besaß eine Helle Stimme von ausgesprochenem Tenorklang, kam aber aus Man¬ gel an Schulung nicht hoch. So wurde ich in den zwei¬ ten Tenor eingereiht, in dem ich bald zu den Führenden emporrückte. Oft wurde ich auch zu den Soloquartetten herangezogen, galt also etwas im Chore. Ich bin sonst nie ein Freund von „Liedertafelmusik" gewesen, aber unsere beiden Chormeister verstanden es mit sehr feiner Auswahl und Führung meisterlich, unseren musikali¬ schen Veranstaltungen einen besonderen akademischen Charakter und einen jugendlich festlichen Glanz zu wah¬ ren. Wie stimmungsvoll brauste immer schon zu Be¬ ginn das „Gaudeamus igitur" als Wahlspruch einher. Wie klang bei uns Engelsbergs entzückender„Dr. Heine" und des gleichen Meisters liebenswürdigstes, melodien¬ reiches Werk, das „Italienische Liederspiel". Die „Wiener Singakademie" stellte dazu ihre frischen Frauenstimmen. Als zu den gemeinsamen Proben der ganze blühende Rosenhag reizender junger Mädchen erschien, der da mitwirkte, erhob sich aus unseren Reihen ein ganz unbeschreiblicher Sturm begeisterter Prositrufe. So sang die „Singakademie" an jenen Abenden die schönen, bald frohlockenden, bald weh- 86 mütigen Liebeslieder mit hochgeröteten Wangen, der „Akademische" mit höher schlagenden Herzen. Wun¬ dervoll war Dr. Schultner in der Tenorpartie! Sehr genau erinnere ich mich auch des tiefen Eindruckes, den Goldmarks „Frühlingsnetz" auf mich machte, als wir es sangen. Mannerchor mit Hörnerbegleitung. So stimmungsvoll! Einmal, 1878 oder 1879, studierten wir zwei Lie¬ der von Brahms, „Ich schell mein Horn ins Jammer¬ tal" und „Das Lied vom Herrn von Falkenstein", Opus 43, Nummer 3 und 4, die Heuberger für vier¬ stimmigen Männerchor herausgeschrieben hatte. Da er¬ schien Johannes Brahms, stürmisch begrüßt, zu un¬ seren Proben. Es war noch der junge Brahms, glatt¬ rasiert, wie ein ideal schöner Pastor anzusehen. Er fand viel Freude an den beiden Chorliedern und gab Heuberger Recht, daß sie für die Chorbearbeitung be¬ sonders geeignet seien. Aber man muß es auch gehört haben, wie unser Chormeister die große Steigerung im sehnsüchtig drängenden Mittelsatz des zweiten Lie¬ des: „Sie ging den Turm wohl um und wieder um" herausgearbeitet hatte, und wie hinreißend das bei uns klang, die wir natürlich alle für das schneidige Mädel der Ballade lebhafteste Partei ergriffen. Anton Bruckner hat bei uns seinen „Germanenzug" dirigiert. Das war sehr drollig. Es begleitet ein Blä¬ serchor. Bruckner forderte jedes Mal mit weit aus¬ greifenden Dirigentengesten und in voller Begeisterung zu dessen Eintreten auf und war immer sehr enttäuscht, wenn anstatt des starken Bläserchorals das dünne Spi¬ nett! einsetzte, das zu unseren Proben diente. An der Stelle, wo die ersten Tenors auf dem oft wiederholten 87 hohen As die Worte festzuhalten haben: „Die Höhe ist erklommen, die Höhe ist erklommen", brach einem Sänger nach dem anderen die Stimme ab, so daß zur großen Heiterkeit der übrigen Stimmen immer mehr Tenors von der „erklommenen Höhe" jammer¬ voll wieder abrutschten. Dann zog er, ganz ergrif¬ fen und sehr erhitzt, sein Taschentuch, das farbig gewürfelt und geradezu endlos lang war und weit¬ hin sichtbare Spuren von Schnupftabak trug. Da¬ mit war dann immer ein jubelnder Lacherfolg besiegelt. Wir hatten den kindlich gütigen, manchmal etwas ver¬ bitterten alten Herrn sehr gerne, und er fühlte sich in unserer Mitte außerordentlich wohl. Er kam sehr oft zu unseren Kneipen und erhielt jedesmal die deutlichsten Beweise unserer aufrichtigen Zuneigung und unserer großen Verehrung. Ich hatte mich mit mehreren Kol¬ legen zu seinen Kursen über Harmonielehre an der Universität eingeschrieben, doch sind wir nur wenig über den Quartsextakkord hinausgekommen. Sehr bald nach Beginn des Kollegs pflegte er uns nämlich zu fragen, ob wir die oder jene seiner Symphonien kennen. Da wir dies fast immer verneinen mußten,bemerkte er enttäuscht: „Ach, das ist aber schad, meine Herren! Ich sag Ihnen, die ist wunderschön!", und sofort begann er dann, uns in die Schönheiten seiner Komposition einzuführen und uns in seine künstlerischen Absichten, auch wohl in seine Zukunftspläne Einblicke zu eröffnen, die von einem ihm ganz eigentümlichen, frommen Mystizismus getragen wurden. Seine Musik verstand ich damals gar nicht, ich gehörte nicht zu der ansehnlichen, sehr begeisterten und manchmal nach den Aufführungen auch recht lär¬ mend auftretenden Gemeinde, die stark zu ihm hielt. 88 Erst viel später ist mir dafür das Verständnis auf¬ gegangen, und wenn ich seine Werke heute höre, werde ich jedesmal von seiner rührenden Frömmigkeit und besonders auch von dem oft wahrhaft überirdisch wir¬ kenden Orchesterglanz tief ergriffen, den er über seine aus reinstem Herzen und aus tiefster Seele sich empor¬ ringenden Konzeptionen zu legen vermochte. An der Orgel bewunderte ich seine geradezu gewal¬ tige Meisterschaft im Improvisieren, fand weniger Ge¬ fallen an seinem Spiel selbst, weil seine Pedaltechnik mir etwas vernachlässigt und unsauber schien. Aber dies ist vielleicht nur in seinen letzten Jahren, da ich ihn hörte, so gewesen. Auch Eduard Hanslicks Vorlesungen über „Mu¬ sikgeschichte" hörte ich an der Universität. Er sprach nicht frei, sondern las ziemlich eintönig aus seinem Manuskript, was die Wirkung erheblich beeinträch¬ tigte. Das war nicht der lebhafte, überaus farbige, geistsprühende Hanslick der Musikfeuilletons in der „Neuen Freien Presse" und seines späteren, reizend schönen Erinnerungsbuches, es war bei vorsichtiger und etwas verwaschener Kritik das unfreie Aneinanderreihen des musikhistorischen Verlaufes und das Dozieren eines ledernen Professors. Wir hatten alle das Gefühl, daß er hei seinem so außerordentlich umfassenden Wissen den schönen, warmen Stoff weit anziehender hätte ge¬ stalten können. Dafür brachte er sehr viele Beispiele am Klavier, das er mit großer Fertigkeit beherrschte. Doch klang sein Spiel etwas hölzern, was vielleicht schwer zu vermeiden ist, wenn man Beispiele bringt. Mir hat das geläufigste Spiel immer viel zu wenig gesagt, wenn nicht Innerlichkeit und Poesie dabei waren. 89 In meiner Studentenbude Beatrixgasse 12, die über den Stadtpark hinweg zum Stephansturm hin¬ sah, stand ein von mir gemietetes, gutes Klavier. Es kamen des Abends stimmbegabte Kollegen, auch ganz prächtige Geiger zu mir. Ich begleitete Schubert- und Schumannlieder, die schönen Balladen von Karl Loewe, spielte Beethovens Violinsonaten. Zum wirklichen Üben kam ich immer weniger. Unvergeßlich ist mir das erste philharmonische Kon¬ zert geblieben. Der edle, dunkel getönte, von den wun¬ dervollen Geigen mit gleißendem Silber überzogene Prinzipalklang des Orchesters nahm mich ganz gefan¬ gen. Das ist auch heute immer noch so, wenn ich die Philharmoniker höre. Einen Schritt weiter und ich stand vor Wagner. Ganz begeistert, ganz überwältigt natürlich! Hanns Richter dirigierte im Hofoperntheater die Tetralogie. Da Sitzplätze für mich unerschwing¬ lich waren, nahm ich alle Qualen des überlangen An¬ stellens und der oft fürchterlichen Enge im Steh¬ parterre mit Leichtigkeit in den Kauf, um mich dejm großartigen Zauber dieser Musik hingeben zu können, die mich mit geradezu elementarer Kraft erfaßte. Ich taumelte durch Leitmotive und Bläserfanfaren, durch Stabreime und bengalische Lichteffekte nur so hin, lang¬ weilte mich nicht im geringsten, wenn Wotan seine aus¬ führlichen Reden hielt, geriet bei Walkürenritt, Feuer¬ zauber, Waldweben und gar bei Siegfrieds Trauer¬ marsch in Delirien des Entzückens, gebärdete mich wie ein richtiger „Wagnerianer", schrieb maßlos aufge¬ regte Briefe nach Hause, als wüßte ich fetzt erst, was Musik ist. Nur eines habe ich nicht getan: ich habe es mir nie einfallen lassen, Wagner auf dem Klavier 90 spielen zu wollen. So viel Vernunft ist mir doch im¬ mer noch geblieben. Erst viel später haben anfangs leise, dann auch schärfere Widerstände in mir zu erstehen begonnen. Es mag sein, daß mich die oft stark übertriebene Art der zünftigen Wagnergilde zum ersten Widerspruch ge¬ reizt hat. Es kam dazu, daß ich in der ungeheuren Schar tief überzeugter Wagneranbeter so unglaublich viel Volk fand, das von Musik und Musikalität in mei¬ nem Sinne nicht eine Ahnung hatte. Daß Kreise, wo ich meinte, nur hoffnungslose Leere an Musik bemerkt zu haben, sich plötzlich in glühender Begeisterung zu Wagner bekannten. So begann ich, immer mißtrau¬ ischer zu werden, wenn man mir übermäßig von Wag¬ nermusik vorschwärmte. Ich mußte an den lieben, alten Bukovics im Wiener Stadttheater denken. Der saß mit blödem Gesicht auf einer Bank, und sein Nachbar frug ihn: „Herr, sind Sie musikalisch?" „Nein", ent¬ gegnete er gleichmütig, „ich bin Wagnerianer!" Ich bin Wagnermusik gegenüber gewiß erheblich kühler geworden. Sie liegt mir nicht ganz, oder, rich¬ tiger gesagt, es ist da wohl ein Mangel in mir selbst. Vielleicht verletzt mich die fortgesetzte Verwendung, fast Unterordnung der Musik als eines der Mittel zum Gesamtzweck. Oder ist es wirklich nur die Reaktion in mir gegen ein Übermaß an Enthusiasmus, das sich allzusehr breitmachen will? Denn man glaube nicht, daß ich mich dem gewaltigen Genius Wagners ver¬ schließe. Seine Musikdramen halten mich immer sehr stark in ihrem Bann, ich sitze ganz andächtig da, höre voll aufrichtiger Bewunderung, oft tief ergriffen zu, in voller Stimmung, immer mit dem Hute in der 91 Hand. Erst wenn ich das Theater verlasse, wollen sich Widersprüche in mir regen. Da muß ich, wenn ich die heißen, verzückten Gesichter sehe, besonders aber, wenn ich vorr den Überzeugten und Wissenden „gestellt" werde, zu reagieren und zu protestieren beginnen, und es kommt wohl auch vor, daß ich mich zu stark hin¬ reißen lasse und halblaut an den Straßenecken schimpfe. Und noch etwas: ich liebe den Heimgang, die Rückkehr ins Vaterhaus, den Abgesang in der Musik so sehr. Gewiß hat Wagner solcher Abgesänge gar manche ge¬ schrieben, die in ewiger Schönheit erstrahlen. Aber er kargt mir damit zu sehr, er treibt nach seiner Eigenart gerne rast- und ruhelos immer weiter. Das macht mich bekümmert und unruhig. „Geh' doch endlich nach Hau¬ se", möchte ich ihm manchmal lieb zureden. Und die lustige Triester Canzonetta fährt mir dabei durch den Sinn: „Ko AO Is cisve ckel porton, per Äliclsr 2 csss"— „Ich habe den Haustorschlüssel nicht, um nach Hause zu gehen!" So steht es in mir, wenn ich es ganz auf¬ richtig sagen darf und soll. Vielleicht könnte es mög¬ lich sein, dies aus dem musikalischen Werdegang eines in den alten architektonischen Formen der Musik tief Verwurzelten zu erklären, ohne daß ich mich in musik¬ ästhetischen Ausführungen ergehe, die mir sicherlich nicht zustehen. Sehr viel Anregungen verdanke ich den großen Auf¬ führungen der „Gesellschaft der Musikfreunde". So lange sie unter Hanns Richters Leitung standen, zogen sie mich derartig an, daß ich bei keiner fehlte und auch nach vollendeter Studienzeit die lange Reise von Triest nach Wien nicht scheute, um an der Generalprobe und 92 am Konzert teilzunehmen und dann sofort wieder zur Arbeit zurückzueilen. So hörte ich erst Bachs „Jo¬ hannes"-, später die „Matthäuspassion", beide mit dem himmlischen Evangelisten Gustav Walters, und die großartige Messe in Hmoll, Haydns „Jahres¬ zeiten" und „Schöpfung", Schumanns „Paradies und Peri" und „Szenen aus dem Faust", Beethovens Wunderwerk, die „Missa solemnis", die gewaltigen Chorwerke Händels: „Josua", „Israel in Egypten", „Judas Makkabäus", den „Messias". Ja, Händels heldische Musik war damals ganz besonders nach mei¬ nem Sinn. Ist seine Erfindung auch nicht immer tief¬ gründig und originell, stellenweise sogar fast etwas flach und leer, so versteht er es doch, so ungeheure Räume mit seinen hochemporgewölbten Säulen- und Kuppelbauten zu Überspannen und in wundervoller Klarheit des formalen Aufbaues derart überwältigende Massenwirkungen zu erzielen, daß alle kleinliche Kri¬ tik zurücktreten muß und man sich rückhaltlos, oft mit verhaltenem Atem der Pracht und Größe seiner Schöp¬ fungen hingibt. Man gedenke der Riesenchöre in seinen Oratorien. Im „Israel" des Auszuges aus Egypten mit dem grandiosen, wahrhaft erschütternden Schluß, des achtstimmig losbrechenden Jubels, da der Herr, der „König auf immer und ewig, das Roß und den Reiter, den Reiter und das Roß hat in das Meer gestürzt", seines fugierten „Singt unserm Gott und macht sein Lob bekannt" im Judas Makkabäus, des vom fürstlichen Glan; der Trompeten emporgehaltenen „Hallelujah" im Messias. Sie wirkten und wirken heute noch auf mich wie elementare Ereignisse, als steige die große, goldene Sonne auf oder als gehe sie 93 unter Pauken- und Trompetenschall in triumphaler Farbenpracht glorreich nieder. Unvergessen ist mir auch eine Aufführung des „Deutschen Requiems" von Brahms im Hofoperntheater geblieben, in welchem Hanns Richter den fabelhaften Paukenorgelpunkt am Schlüsse der DdurFuge „Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand" zu geradezu betäubender Macht zu steigern wußte. Herrgott, ist das etwas gewesen! Es kam einhergerasselt wie ein Erdbeben. Als müßten alle Toten auferstehen, in die großartige Pracht des Kir¬ chenschlusses zu schauen, der das Ende der Fuge krönt: „Und keine Qual rühret sie an!" Mozarts unsterbliches Requiem, das mich so treu durch meine Knabenzeit be¬ gleitet hatte, hörte ich in der, wie mir schien, vollende¬ testen Aufführung erst viele Jahre später im Großen Musikvereinssaal. Dr. Bruno Walter dirigierte. Noch ergreift mich in der Erinnerung die fromme Demut und Innigkeit, die über seinem „Lacrymosa" lag, und noch sein stark retardiertes, lang hingezogenes „Amen", das am Schlüsse dieses in himmlischer Einfachheit und Reinheit aufgebauten Satzes wie durch ein Riesen¬ portal zum Trost und Erlösung verheißenden, in hei¬ ligem Licht erstrahlenden D dur Schlußakkord hin¬ führt. Ich hatte das Glück, in Wien sofort in sehr lieben Familien Aufnahme zu finden. Zu allererst im Hause meiner alten Freunde von Luschan, die „Stoß im Him¬ mel" wohnten. Otto und Emil Zsigmondy, die ich in Millstatt hatte kennen gelernt, kamen mir mit herz¬ licher Wärme, ja mit wahrer Begeisterung entgegen. Vater und Mutter lebtm noch, Richard, der spätere große, nobelpreisgekrönte Chemiker, und Karl, der 94 Jüngste, waren noch Knaben. Die Zsigmondy führten mich August von Böhm zu, dem der Ruf voranging, er sei der beste Kletterer Wiens. Er war auch ein be¬ rühmter Schweiger, der jedoch gelegentlich in einer Weise „auftauen" konnte, daß man ihn gar nicht wie¬ der erkannte. Sein Vater war Direktor im Rudolf- spital, wo sich auch die große Dienstwohnung der Böhm befand. Ich war sehr bald der gerne gesehene „Struw¬ welpeter" des überaus gastlichen Hauses und einer frohen Mädchenschar, die dort verkehrte. Denn man sollte es heute gar nicht für möglich halten, wie viel Haar ich damals hatte. Mama Böhm, die leider im¬ mer so schwer krank war, wurde schon im Frühsommer nach Weißenbach bei Mödling gebracht. Ich kam an -en Sonntagen viel dahin, über Schuberts „Hölde- richsmühle", aus der damals immer Walzer ertön¬ ten, die offenbar ein sehr starker Hausknecht spielen mußte. Denn derartige Klavierbässe habe ich nie wie¬ der gehört. Man konnte sie manchmal für Pöller- oder gar für Kanonenschüsse halten! Wir durchstreiften den herrlichen Wiener Wald, bewunderten die reiche Or¬ chideenflora auf den entzückend schönen Waldwiesen, pflückten Waldmeister, tranken Maiwein, zählten die Rufe des Kuckucks, lachten, tollten, sangen. Von mei¬ nen Freunden empfing ich der alpinen Anregungen viel. Sie erzählten mir von der Fabelerscheinung und vom Fabelkönnen Ludwig Purtschellers, führten mich Karl Diener zu, dessen klares, blaues Auge und ruhige, be¬ scheidene, aber sehr sichere Art mir gar gut gefielen, später Louis Friedmann, der, jünger als wir, eben daran ging, seine glänzende alpine Laufbahn zu be¬ ginnen. 95 Einmal, zu Ostern, leistete ich der dringenden Auf¬ forderung Böhms Folge, ihn auf einer Raxtour zu begleiten. Ich hatte keinerlei alpine Ausrüstung, ging im Stadtkleid, in leichten, ungenagelten Stadtschuhen. Trotzdem führte er mich vom Mnderwirt im Reistal über „Protestwand", „Alpenklubsteig", „Wilden Zer¬ benriegelkamin" auf das Plateau. Das Terrain war hart gefroren, noch vielfach von Winterschnee überdeckt, der schwierige Kamin über und über vereist. Nicht ein¬ mal einen Pickel hatte ich, wie ich so meinem glänzend gerüsteten Führer folgte. Es war keine leichte Sache, ich mußte mich tüchtig anstrengen. Im Abstieg konnte ich Böhms außerordentliche Fertigkeit im „Abfahren" bewundern, eine Fertigkeit, die mir selbst nie gegeben gewesen ist. Auch im Hause Hochenegg habe ich sehr liebe Stun¬ den verbracht. Felix von Luschan hatte mich bei Fer¬ dinand von Hochstetter eingeführt, dem berühmten Ge¬ lehrten, der damals Generalintendant der Wiener Hof¬ museen war. Seiner und der geistvollen, musikalischen Dame des Hauses, Georgiana von Hochstetter, werde ich immer in inniger Dankbarkeit gedenken. Liebe, blaue Kinderaugen grüßten zutraulich und hell, wenn man hinkam. Sie blicken heute, nach über fünfzig Jahren, ebenso hell und freundlich auf meine stillen Wege, wenn es auch nicht mehr Kinderaugen sind. Und von hier, von der Döblinger Hauptstraße, kam ich schlie߬ lich nach Erdberg, in die liebe Schwalbengasse, wo Hofrat von Hochstetters älterer Bruder Karl, der große Industrielle, und Frau Justine Hochstetter, Frau Georgianas Schwester, ihr entzückendes, reich gesegnetes Haus führten. Dieses ist dann mein Wiener Heimat- 96 Haus geworden. Mama Hochstetler! Wenn — wie es so oft geschieht — ihr Bild durch meine Seele zieht, so erhebe ich mich und neige mich in Ehrfurcht und in unbegrenzter Liebe und Treue tief vor ihm. Und grüße, bewegten Herzens, das Andenken dieser gütigsten und edelsten, im Leben wie über dem Leben mutig und hoheitsvoll dastehenden Frau. Dem ganz einzigartigen Zauber ihrer starken, temperamentvollen Persönlich¬ keit konnte sich niemand entziehen, der je das Glück hatte, ihr nähertreten zu dürfen. Zehn Kinder im Hause. „Oieci Loi e tutti vivi" — „Zehn Kinder und alle lebendig" — pflegte Schwester Anna mit Stolz zu sagen, als sie sich später mit dem zweiten Sohne des Hauses, dem heutigen Anatomen der Wiener Univer¬ sität, Dr. Ferdinand Hochstetler, verlobte. Sie hat sich in seiner starken und sicheren Hut im Verlaufe vie¬ ler überaus glücklicher Jahrzehnte aus vielversprechen¬ den Anfängen zum unvergleichlichsten Hausmütterchen entwickelt, das die Historie meines Lebens kennt. Geht nur hin und schaut selbst. Und sagt mir dann auch, ob ihr je ein blühenderes Angesicht unter schneeweißerem Haar gesehen habt! Unvergeßlich werden mir die Kegelnachmittage der allerersten Zeit bleiben, da Vater Hochstetler noch lebte. Eine frische Studentenschar der drei weltlichen Fakultäten, der Technik, der Kunstakademie vereinigte sich dazu, Namen darunter, die es später zu Hellem Glanz gebracht haben. Vater Hochstetler hatte für einen jeden von uns ein freundliches, kluges oder aufmun¬ terndes Wort, oft teilnahmsvollen, richtig zutreffen¬ den Rat. Sank der Abend nieder über Haus und Gar¬ ten, der so stimmungsvoll unter schönen, alten Bäu- 7 97 men lag, leuchteten die Lichter im Prater gegenüber auf und klangen die frohen Weisen der Militärmusiken über den Donaukanal herüber, so setzten wir uns in langen Reihen und in tunlichster Wohlerzogenheit und Artigkeit zu Tisch, und es war alles so gut und so lieb und wunderschön. Gütig und voll Verständnisses für Jugend und ihre Art überblickten unsere Gastgeber die frohe Tafelrunde. Kopfhänger war keiner darunter. Dann im Sommer die Villa Hochstetler in Aigen bei Salzburg. Da gab sich ein in reicher Gastlichkeit geladener, engerer Freundeskreis der Söhne des Hau¬ ses Stelldichein. Man kam aus den Bergen, so die Brüder Zsigmondy, so ich, hielt dort fröhliche Rast. Es wurde musiziert, Ausflüge nach Hellbrunn, nach Fürstenbrunn, zum Königssee, in die Ramsau, auf den Gaisberg füllten die Tage, oder man lauschte unter dem historischen Eckfenster dem Orgelspiel Pater Pe¬ ters und versammelte sich dann zu langen Sitzungen im Peterskeller. Ein ganzer Flügel der Villa stand zu unserer Verfügung, das „tzusrtier Istin". Es war ein Quartier des Frohsinns und des Lachens. Dort habe ich in Hallen und Tönen viele unvergeßliche Tage verlebt. Die Universitätsjahre sind naturgemäß auch für meine bergsteigerische Entwicklung sehr bedeutsam ge¬ wesen. "l877 war ich zur Suche nach der Scabiosa - Trenta zum ersten Mal in das Trentatal gekommen. Dieses großartigste und eigenartigste aller Iuliertäler nahm mich sofort ganz gefangen. Es wurde das ideale Hochgebirgstal meiner Jugendzeit. Das, was den Zsig¬ mondy vielleicht das Zillertal geworden war. Nichts kam für mich dem Trentazauber gleich. Ich trat in die 98 Schule der Trentaner Wildschützen. Es waren durch¬ wegs Meistergeher, Meister des Gleichgewichtes im Fels. Mein erster Begleiter war Anton To'zbar, der unglückliche Bärentöter, ihm folgte bald der unver¬ gleichliche Andreas Komac. Wie oft sehe ich heute noch seine leichte Gestalt, wie sie in wundervoller Sicher¬ heit und Eleganz zur Höhe schwebt. Er schien fast immer zu gehen, selten wirklich zu klettern. Daher mag es wohl auch kommen, daß ich mich nicht erinnern kann, ihn je außer Atem gesehen zu haben. Damals wurde so eigentlich der Grund gelegt zu meiner Erschließungs¬ arbeit in den Iulischen Alpen. Die Details dazu sind in meinem Bergbuche erzählt. Es lag eine Romantik über jenen ersten großen Fahrten, die sich nicht beschrei¬ ben läßt, die heute vielleicht kaum mehr verständlich sein kann. Ganz könnte man sie wohl nur verstehen, wollte man sich die unnötige Mühe geben, und wäre es überhaupt möglich, sich vollkommen in meinen Werde¬ gang einzuleben. Es war eine Romantik versunkener, lange verklungener Zeiten. Wir sind ja in der Er¬ kenntnis der Berge so weit vorangeschritten, diese selbst uns um so vieles näher gerückt. Ich begann, neue Wege zu suchen, an verschlossenen Bergespforten zu rütteln. 1880 fiel mir, nach wiederholten Versuchen, der Suhi Plaz zu, die farbige, von feuriger Lohe umzüngelte Škrlatica, die „Scharlachwand", der Kronauer. Es war die erste Ersteigung eines dominierenden, gewal¬ tig ragenden Berges. Ich habe erzählt, wie die Er¬ reichung dieses Zieles mir bis dahin nur die Erfüllung eines sehnlichen Wunsches bedeutet hatte, einen gewiß wohlverdienten Lohn für ehrliche Mühe und Beharr¬ lichkeit, wie die berauschende Wirkung einer alpin-sport- 99 lichen Einwertung des Erfolges erst im Augenblick ganz plötzlich hinzutrat, als ich einige Tage darauf in Kronau erfuhr, ich habe mich, ohne es zu wissen, im Wettbewerb mit einem Bergsteiger von hohem Rang befunden. Obwohl des Andreas herrliches Falkenauge die riesige Südwand genau gemustert hatte, sind wir jenes erste Mal einen gar schlimmen Weg gegangen und haben weit leichtere Möglichkeiten zur Rechten ganz übersehen. Das oberste, etwas überhängende Stück kam mir außerordentlich schwierig und gewagt vor. Heutzutage würde man sich an einer derartigen Stelle photographieren lassen und käme damit in eine illu¬ strierte Zeitschrift. Das kannte man damals nicht, und es war nobler so. Erst das dritte Mal konnten wie dies korrigieren. Da ist aus einem sehr schwierigen Berg ein überraschend leichter geworden. Das Jahr 1881 schenkte mir die Erstersteigung des Triglav über seine großartige Westflanke aus 'dem Trentatal, den „Kugyweg". Auch dieses Problem war nicht aus sportlichen Einflüssen entstanden. Die Er¬ bauung der Predilbahn schien damals nahegerückt, die Leiter der „Sektion Küstenland" legten Wert darauf, daß ein Flitscher-, ein küstenländischer Weg auf die Spitze gefunden werde. Sie hatten den Wunsch, ihre Hand an den großen Berg zu legen, der bis dahin ein „krainischer" gewesen war. Man blickte erwar¬ tungsvoll und zuversichtlich auf mich: Kugy voran! Unter„Neuem Weg" verstand man damals den leich¬ testmöglichen Zugang über eine noch nicht durchstiegene Flanke zur Spitze, und es hieß: „Je leichter, um so wünschenswerter und richtiger!" Und dies ist mir ja auch überraschend gut gelungen. Der Gedanke an die 100 eigene Glorie, gar an ein Übertrumpfen eines unbe¬ quemen „Konkurrenten", stand damals wirklich nicht in erster Linie. Führend war der Wunsch, den Berg von dieser oder von jener Seite, aus diesem oder aus jenem Zugangstal, für andere, für die große Welle der Al¬ penwanderer zugänglich zu machen. Heute fucht man die kühne, die „ideale" Linie: „Je schwieriger, um so schöner!" In diesem Sinne wäre das Gegenstück zu meinem „Kugyweg" wohl der berühmte — richtiger gesagt „berüchtigte" — „Nordostpfeiler" im großen Felsendreieck der Nordwände des Triglav oder -essen nicht minder schwierige „Nordwestkante", die beide erst 1929 von erstklassigen modernen Kletterern bewältigt worden sind.Hätte ich damals die„Linie"gesucht,so wäre ich vom „Flitscher Schnee" geradeaus über die Wand emporgeklettert, wie man es später gemacht hat, und nicht nach rechts auf die „Flitscher Scharte" und auf den Südgrat ausgebogen. Trotzdem ist der „Kugyweg" der klassische Weg von der Trenta aus geworden und geblieben. Ich bin der Meinung, daß die richtigen „Wege" von den Bergen geöffnet und nicht von den Menschen erzwungen sein sollen. Daß also die klassische alpine Aufgabe darin bestehe, den schon vorgesehenen Weg richtig zu finden. Die erzwungenen Wege, so dünkt es mir, sind doch eher Ausfluß der „Ichgefühle". Aber ich kann mir nicht helfen: diese „Ichgefühle" haben in meinen Augen, der ewigen Größe der Berge gegen¬ über, etwas „kurze Beine". Auch das habe ich schon erzählt, daß es sich nicht um Überwindung großer technischer Schwierigkeiten gehan¬ delt hat. Es galt nur, den Bann zu brechen, der über dieser Seite des Berges lag. Schafhirten und Wild- 101 schützen hatten den übergewaltigen, außerordentlich stei¬ len Sockel schon nach allen möglichen Richtungen durch¬ stiegen, über den Steig „Skok" bis hinauf zum„Flit- scher Schnee", durch die berückende Felsenwelt, „Pod Stena" — „Unter den Mauern" — geheißen, bis hinüber zum Dolecsattel. An den Gipfelaufbau hatte sich niemand gewagt. Er war in mystisches Dunkel gehüllt, Thron der Wolken und der Götter. Den Weg vom „Flitscher Schnee" zur „Flitscher Scharte" hat uns eine flüchtende Gemse gewiesen. Man kann den in Ruhe weidenden, sich langsam verziehenden, seltener den gesagten und gehetzten Gemsen sehr vieles absehen. Ihnen danke ich beispielsweise auch die Auffindung des Nordzuganges zur Korspitze und die Entdeckung des Wunders der „Götterbänder" in den Gamsmutter- Nordwänden. Wie genau erinnere ich mich des Auf¬ bruches zu jener Triglavtour von der Baumbachhütte. Es war vier Uhr morgens, allererstes Grauen, der Mor¬ genstern stand in funkelnder Pracht, wie ein Glückes- stern der Verheißung, knapp über dem Gipfel des Trig¬ lav, den wir sechs oder sieben Stunden später betraten. Denn wir waren damals rasch. Ich sandte, einer Ver¬ abredung gemäß, drei Helle Jauchzer ins Tal hinab und war davon hochbefriedigt, denn ich meinte, nun stehe die ganze Trenta da und blicke staunend herauf. Es hat mich aber niemand gehört. Mein Gott: bei 2200 Metern Höhendifferenz! Es hatte sich in jenen Jahren auch zu entscheiden, ob ich in die führerlosen Wege meiner Freunde einlen¬ ken oder bei der bisher traditionellen Art verbleiben wolle, die auch meine Art geworden war: beim Gehen mit Führern. Meine innige Freundschaft mit den Brü- 102 dern Zsigmondy, auch meine aufrichtige Bewunderung für Purtscheller, hatten mich der von ihnen eingeschla¬ genen neuen Richtung sehr nahe gebracht. Der Übergang von der Hochalmspitze zum Ankogel war uns l 879 führer¬ los gelungen. Während unserer ersten Dolomitenfahrt wurden wir zwar jedesmal von einem Führer begleitet, auf den Monte Cristallo vom alten Arcangelo Dimai, auf Höchste Zinne und Piz Popena von Michel Inner- kofler, aber der Führer war da mehr „Wegweiser" gewesen, wir gingen in allem übrigen ganz selbständig und immer unangeseilt. Ich bin so gewissermaßen mit an der Wiege des führerlosen Gehens gestanden. Aber man darf es mir nicht Übelnehmen, und es liegt mir natürlich jede geringste anzügliche oder polemische Absicht gänzlich ferne, wenn ich es hier offen bekenne, daß wir diese Frage damals mehr vom Geldstandpunkt aus auf¬ faßten. Wir waren Studenten, abhängig, naturgemäß recht knapp an Mitteln. Die sportliche Hochwertung des führerlosen Gehens scheint mir, so weit ich es be¬ obachten konnte, erst später hinzugetreten zu sein. Ich erinnere mich genau, daß selbst Purtscheller, unser aller unerreichter, glorreicher Meister, der für mich nicht nur ob seines Könnens, sondern ebenso auch ob seiner tiefinnerlichen, von Großmut, Güte und rührender Be¬ scheidenheit geadelten Art die Idealgestalt des deutschen Bergsteigertums darstellt, noch in sehr späten Zeiten zu mir sagte, er beneide mich um meine Art, in die Berge zu gehen. Aber mit dem Aufwand, den ich für zehn Bergtouren machen müsse, könne er leicht deren dreißig und auch viel mehr bestreiten. Die Entscheidung ist mir leicht geworden. Ich habe darüber in meinem Bergbuch gesprochen und möchte 103 das dort Gesagte hier nicht wiederholen. Ich zog es vor, als „Herr" in die Berge zu gehen. Daß ich es nicht als „Mehlsack" tat, weiß man. Die rein materielle Arbeit überließ ich gerne anderen, tat sie nur, wenn ich mußte, bewältigte sie auch leicht, wo es notwendig war. Es ist ja die gesamte Arbeit meines Lebens Herren¬ arbeit gewesen. Ich hatte das große Glück, immer ideale Führer an meiner Seite zu haben. Sie vereinig¬ ten höchstes Können mit äußerster, manchmal fast über¬ trieben erscheinender Vorsicht. Meine herzlieben füh¬ rerlosen Freunde hatte ich sehr genau beobachtet. Nie konnte ich mich eines gewissen unheimlichen Gefühles erwehren, wenn sie in die Berge zogen. Otto, der mir in alpinen Auffassungen am nächsten Stehende, teilte dieses Gefühl mit mir. Er hat mir oft gesagt, er gehe als Behüter Emils mit. Ich wünschte, mich den Ber¬ gen niemals siegessicher oder gar in Selbstüberhebung zu nähern, ich wollte es immer in Bescheidenheit und in Demut tun. Was sind wir gegenüber ihrer Macht und Größe! Je älter ich wurde, desto schwerere Ver¬ antwortlichkeiten lasteten auf meinen Schultern. Im¬ mer mehr fühlte ich mich verpflichtet, mich mit allen Sicherheiten umgeben zu müssen, wollte ich nicht Ge¬ fahr laufen, im Falle eines Unglückes schuldig befunden zu werden und es tatsächlich auch sein zu können. Auch sah ich mich in den Bergen gerne von der urwüchsigen Natürlichkeit ihrer Bewohner umgeben. Und ich frage mich oft, ob ich wohl der Kenner der Iulischen Alpen geworden wäre, als der ich heute gelte, hätte ich mich nicht in treuer Bergkameradschaft zu meinen ange¬ stammten Führern auch dem Verständnis der Seele der Völker genähert, denen sie angehörten und die zu 104 Füßen jener Berge wohnen. Kann man die wunder¬ volle, tiefernste Poesie des Kanin voll erfassen, ohne den Friauler der Raceolana oder den Flitscher, den Resianer zu kennen, oder den lichten Glorienschein über dem Gipfel des Triglav erstrahlen sehen, ohne zu wissen, wie der Slovene zu seinem heiligen Berg emporblickt? Das sind alles Dinge, die mir nach meiner Auf¬ fassung mehr die Art als das Wesen -es Bergstei¬ gens zu berühren scheinen. Es sind verschiedene Wege zum gleichen, großen Ziel. Ein jeder mag sie in voller Freiheit beurteilen und seine Entscheidungen nach eigener Überzeugung treffen, besonders wohl nach sehr sorgfältiger Prüfung seiner eigenen Möglichkei¬ ten, Fähigkeiten und Kräfte. Wie aber seine Entschei¬ dung auch ausfalle, wird er immer sehr gut daran tun, wenn er eine tüchtige Schule bei einem großen Führer durchmacht, ehe er sich selbständig zu machen gedenkt. Und da meine ich den Berufsführer, der natur- und pflichtgemäß dem Wetten und Wagen im großen Wer¬ ben um die Bergziele enger bemessene Grenzen zieht, als dies der Gipfelstürmer um jeden Preis tut. Vor¬ aussetzung dafür ist natürlich, daß die eherne Gilde der Führerpioniere, wie wir sie noch kannten, nicht aus¬ sterbe. Ich kann es nicht glauben, obwohl sich hie und da Anzeichen eines Verfalles bemerkbar zu machen scheinen. Wer unsere alpinen Klassiker mit Liebe und Verständnis gelesen hat, der weiß es, was sie bedeutet hat und welch hohe Zier sie ihrer Zeit gewesen ist. Unsere Weisheit den Bergen gegenüber muß sein, daß wir zu ihnen kommen und von ihnen gehen immer mit einem frohen Lächeln auf den Lippen. Daß wir 105 in die Berge gehen, um dort zu leben, nicht um dort zu sterben. Auf ihrer ungeheuren Schaubühne ist Raum für Lustspiele, für Schauspiele und für erschütternde Tragödien. Und gar oft steht das Lustspiel ganz knapp neben dem Trauerspiel, das Lachen knapp neben dem Weinen, neben Jammer und Tränen. Der Alpinis¬ mus von heute hat neue, nie geahnte, sehr kühne Wege eingeschlagen. Je mehr man sich allerdings vom Gei¬ stigen und Seelischen entfernt, das ihm stets inne¬ wohnen soll, se schärfer man das Mittel zum Zweck, das rein Technische, das Materielle im Bergsteigen als Selbstzweck betont, um so näher scheint mir eine Umkehr zu stehen. Denn alle Übertreibung führt in ihren letzten Folgen mit unfehlbarer Sicherheit zur Einsicht und zur Korrektur. Man vergesse niemals, daß der Tod in den Bergen nicht immer ein Helden¬ ende, sondern sehr oft nur eine große Dummheit be¬ deutet. Und niemals über den großen Zielen, welche die Berge uns weisen, die noch weit größeren Ziele, die uns im Leben gestellt sind. Denn der Alpinismus soll im richtigen Sinne eine Schule für dieses Leben sein, das in gebieterischer Höhe über ihm steht. Immer aber und welcher Tonart er auch angehöre, soll der Bergsteiger sein: wahrhaft, vornehm und bescheiden! Seien wir eingedenk der schönen Worte Andreas Fi¬ schers: „Die Berge sind es wert, daß der Mensch zu ihnen seine beste Wallfahrt lenke", und der starke Spruch stehe über all unserem Tun: „8acro 6ei monti OLM ricoräo!" — „Heilig alle Erinnerung aus den Bergen!" In den letzten Universitätsjahren bin ich ein sehr fleißiger Student gewesen. Ich glaube, ich habe zu 106 viel studiert. Zu den Prüfungen arbeitete ich Tag und Nacht. Es war nach wie vor keine große Begeisterung für das Jus in mir, es war das Pflichtgefühl, das mich führte. Ich übte nicht mehr am Klavier, meine Technik ging stark zurück. Durch Gesetzbücher, Para¬ graphen und Kommentare gaben mir die Berge das Geleite. Der Triglav blickte mir überall entgegen, immer sah ich seine Urwälder, seine schwermütigen Al¬ men, den seltsamen Blütenglanz seiner Flora. Auch körperlich war ich herabgekommen. Als ich einmal, nach der in Ehren bestandenen zweiten Staatsprüfung, alleingehend, auf Flügeln der Sehnsucht rasch, rasch dem Gipfel meines Idealberges zustrebte, blieb ich, völlig untrainiert wie ich war, und vom Rucksack schwer bedrückt, im Krummholz der Oberen Kerma liegen und konnte dort stundenlang darüber nachsinnen, wie ich es anstelle, diese beschämende Scharte auszuwetzen. Zu den drei Rigorosen ließ ich mir Zeit, ich wollte sehr gut vorbereitet sein. Es kam, 1882, der Tag mei¬ ner Promotion zum Doktor Iuris utriusque. Ein herr¬ licher Frühsommertag, der noch heute in meiner Er¬ innerung wie in goldener Fassung erstrahlt. Mama Böhm, Mama Hochstetler, die Zsigmondy, alle meine Hellen Freunde waren in der Aula der alten Universität zugegen, ich sprach die herkömmliche lateinische DankeS- formel in großer Andacht. „Er hat erstürmt die Klip¬ penburg des hohen Doktorats!" Mein Gott, ich mein¬ te, meine Hand läge auf der Klinke zum Tor des Pa¬ radieses. Als ich es — nach einigen Wochen der sorg¬ losesten Iubelzeit — erwartungsvoll öffnete, stand das praktische Leben vor mir, in nüchterner Prosa, gleichgültig, kühl ablehnend, fast etwas feindlich, sang- 10? und klanglos. „Kennst du mich nicht", sagte ich zu ihm, „ich bin der Dr. Julius Kugy!" Fast hätte ich aus dem Übermut jener Tage gesagt: „der berühmte" oder etwas ähnliches. „Ich kenne dich nicht", antwor¬ tete es fremd, „zeige nun, wer du bist!" Und die be¬ trübliche Einsicht dämmerte in mir auf, daß ich wohl gar viel studiert hatte, aber im Grunde so wenig, so nichts, so gar nichts wisse noch bedeute! Da mein Vater wünschte, daß ich meine erwor¬ benen juristischen Kenntnisse in die Rechtspraxis um¬ setzen lerne und so auch festige, trat ich vorerst als Rechtspraktikant in das Städtisch-Delegierte Bezirks¬ gericht, die Pretura Urbana Civile, in Triest ein. Un¬ sere Hoffnung, ich würde für das zweite Halbjahr in -er gleichen Eigenschaft in das Triester Handels- und Seegericht, den Tribunale Commereiale e Marittimo, übernommen werden, scheiterte an unserer zu großen Aufrichtigkeit; wir hatten es offen gesagt, daß ich nur ein Jahr lang zu dienen gedachte. In den Triester Ge¬ richten wurde schon damals in italienischer Sprache verhandelt. Das war sehr gut für die weitere Aus¬ bildung meiner italienischen Sprachkenntnisse. Meine Amtsstunden waren von neun bis zwei Uhr, am Nach¬ mittag saß ich im Bureau bei meinem Vater. Da ar¬ beitete auch schon mein Bruder Paul. Der ehrgeizige Wunsch der Mutter und wohl auch die heimliche Hoff¬ nung des Vaters, zwei Doktorm Iuris zu Söhnen zu haben, war leider nicht in Erfüllung gegangen. Der bosnische Okkupationsfeldzug hatte störend in seinen Studiengang eingegriffen. Und da hat sich eine kleine, drollige Episode zugetragen, die ich an dieser Stelle doch erzählen möchte. Als seine Einberufung kam — er 108 war nach beendetem Freiwilligenjahr Leutnant der Fe¬ stungsartillerie geworden —, war die Mutter über¬ aus aufgeregt. Man hatte ihr erzählt, daß „die Tür¬ ken" nicht viel Rücksichten kannten und die Köpfe ihrer Gegner nur so abzusäbeln pflegten. Sie war trostlos und nicht zu beruhigen. In ihrer Herzensangst entschloß sie sich zu einem etwas absonderlichen Schritt. Sie ging ganz heimlich zum damaligen Höchstkommandie¬ renden, dem Herzog von Württemberg, einem ebenso tapferen wie feingebildeten und liebenswürdigen Herrn, der bei meinen alpinen Vorträgen in der Sektion Kü¬ stenland immer zugegen war, und bat ihn, er möge ihr ihren Paul doch um Gotteswillen herausgeben. Das konnte er natürlich nicht tun. Seine sehr höfliche, ab¬ lehnende Antwort faßte er also an: „Ihr Sohn Paul, gnädige Frau, ist nicht in Gefahr. Die Okkupation wird ein militärischer Spaziergang sein. Aber Sie haben einen zweiten Sohn, den Julius. Der geht in die Berge. Auf den, auf den passen Sie auf, der be¬ gibt sich in weit größere Gefahren!" Der „Spaziergang" war langwieriger, schwieriger und blutiger, als man gedacht hatte. Als Paul nach über Jahresfrist glücklich zurückkam, von Rudolf Baum¬ bach als „Paul, der Siegreiche" begrüßt und gefeiert, konnte er sich in das Prüfungsstudium nicht mehr hin¬ einfinden. So brachte er es nur mehr zum „Absolu- torium" nach dem vierten Jahr der Rechtsstudien, der Doktortitel blieb ihm versagt. Er hatte ein unge¬ mein reiches Wissen, das aber mehr auf historischem und auf philosophischem Gebiete lag. Immerhin ist dieses, sein erstes, Scheitern vor einem Ziele im Leben noch lange Zeit drückend auf ihm und auf den Eltern 109 gelegen. Ich selbst war trotz meines glänzend ausge¬ bildeten Körpers ob meiner Kurzsichtigkeit vom Mili¬ tärdienst befreit worden. Das hat mich damals tief be¬ schämt. Ich schlich nach der Stellung auf Umwegen nach Hause, weil ich das Gefühl hatte, es liege ein Makel auf mir, und es sei eine Schande. In den ersten Wochen beschränkte sich meine amt¬ liche Tätigkeit auf das Falzen von Kanzleipapier und auf das Herbeiholen von verstaubten Aktenbündeln. Ich war etwas verblüfft. Erst später begann ich, eine sehr bescheidene Rolle in „Bagatell"- und in „Sum- marprozessen" zu spielen, holte mir da auch einige ganz hübsche Blamagen. In großen Prozessen konnte ich mich erst im Verlauf späterer Jahre betätigen, als das Handelsgericht mich als Laienrichter berief, und ich an unserem Börsenschiedsgericht als Richter oder als Ob¬ mann teilzunehmen hatte. Auch großen privaten Schieds¬ gerichten präsidierte ich dann oft. Es ging mir der Ruf voran, daß ich von Voreingenommenheiten und Abhängigkeiten frei und für Beeinflussungen feder Art vollkommen unzugänglich sei, und so hatte ich die Ge¬ nugtuung, daß bei ganz schwerwiegenden und verant¬ wortungsvollen Prozessen die Wahl gewöhnlich auf mich fiel, beispielsweise dann, wenn die eine der Pro¬ zeßparteien eine einflußreiche Bank oder etwa der städ¬ tische Verwaltungskörper selbst war, und es sich mit¬ hin darum handelte, daß der Richter in voller finan¬ zieller oder auch politischer Unbefangenheit dastehe. Ich kann nicht sagen, daß mir mein Jus im späteren Be¬ rufsleben greifbare, direkte Vorteile gebracht habe. Der Kaufmann hat für advokatische Arbeiten weder Eignung noch Muße. Die Führung seiner Geschäfte, 110 -as Erfassen -er gegebenen Marktlage, des richtigen Augenblickes, die fehlerfreie Einschätzung aller mit¬ spielenden wirtschaftlichen Faktoren und gar viele an¬ dere Dinge rein kaufmännischer Natur erfüllen ihn voll und ganz. Und es ist auch richtig so. Aber der in¬ direkten Vorteile habe ich genug beobachten können. Der Jurist lernt, den vorliegenden einzelnen Fall von Nebensächlichkeiten zu befreien, klar und scharf vor sich zu sehen und zu erfassen. Seine Mitwirkung kann sehr nützlich sein, wo es notwendig ist, zu organisieren, vor¬ auszublicken, alle rechtlichen und auch wirtschaftlichen Folgen zu bedenken. Gewöhnlich wird er erst heran¬ gezogen, wenn es gilt, etwas zu retten. Und da ist es oft schon zu spät. Es ist vorsichtig und gut, daß seine Mitarbeit schon im Augenblick einsetze, wo es unter¬ nommen wird, etwas zu schaffen. In der wohl vor¬ geprüften und durchgearbeiteten Anlage liegt die beste Gewähr für volles Gelingen. In diesem Sinne glaube ich, meinem Hause doch von einigem Wert gewesen zu sein. Und gewiß konnte ich schon sehr bald in den täg¬ lich vorkommenden Fällen, wo unser sehr umfangreicher Handelsbetrieb des Beirates, oft auch des Eingreifens Les Rechtsanwaltes bedurfte, mein Wort mitreden und in allen Angelegenheiten, die in die Hände der Advo¬ katen gelegt werden mußten, eine sachgemäße Ordnung, Übersicht und Kontrolle festhalten. Ich war noch Student in Wien, als ich schon in den Verwaltungsrat des Schillervereins gewählt wurde. Nun begann ich dort, die Leitung der musika¬ lischen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen. Da¬ bei hatte ich an Heller einen kostbaren Berater und Mitarbeiter. Zu allererst wollte ich Engelsbergs „Ita- 111 lienisches Liederspiel" vorführen. Ich schäme mich dessen durchaus nicht. Man verstehe mich: das melodienschöne Werk dieses reizenden Sängers von studentischer Poesie, von Frühlings-, Berg- und Liebessehnsucht, der mir im „Akademischen Gesangsverein" so fein anmutend und vertraut worden war und der so liebenswürdig und be¬ scheiden lächelnd, in froher Unschuld und Anspruchs¬ losigkeit abseits von -en ganz Großen steht. Es muß ja nicht immer der alte Johann Sebastian sein! Ein guter gemischter Chor war vorhanden, Heller dirigierte, ich saß am Klavier. Wie stimmungsvoll schon der erste Chor: „Es singt sich gut Am Abend in der Kühle, Wenn dann die Mädchen Beieinander stehen." Ein Dr. Purgleitner aus Graz sang mit entzückender, weicher, etwas umflorter Stimme die Tenorpartie. Wie oft denke ich noch zurück an sein tiefinniges: „Ich will hinwegzieh'n über's weite Wasser", an sein von Rosendüften erfülltes Duett mit Fräulein Eberhardts Sopran: „Heb' auf dein blondes Haupt und schlafe nicht!" Und wessen Herz, so es nicht gänzlich und hoff¬ nungslos vertrocknet ist und noch weiß, was Jugend und Liebe bedeuten, weitet sich nicht, wenn dieser So¬ pran in silberhellem, süßem Sehnsuchtssang anhebt: „Müßt' ich gewiß, Daß es mein Liebster hörte: Mit lauter Stimme Fing ich an zu singen. 112 Zu viele Berg' Und Täler sind dazwischen, Und meine Stimme Kann nicht zu ihm dringen!" Eine heiße Welle von Liebe ergoß sich über den Schil¬ lerverein. Gar manches, was bisher still verborgen ge¬ blieben, blühte wundersam auf, Verlobungen, die in der Luft lagen, wurden beschleunigt. Die Mütter sahen mich so dankbar und freundlich an! „O Julius", sagte am Vorabend der Aufführung der Bassist zu mir, der eine etwas spröde Stimme hatte, „mir ist so bang, ich bin so unglücklich: morgen werde ich gicksen!" „Nein, nein, lieber Freund", sagte ich, „sei ruhig, du wirst nicht gicksen." „O Julius, es muß sein, ich ahne es, ich weiß eS genau: ich werde gicksen, ich muß, ich muß gicksen!" „Und wenn du so sicher bist, daß du gicksen mußt, so pass' doch auf und nimm dich zusammen. Halte dich zurück und gickse nicht." „O Julius, du weißt es ja nicht: wenn man gicksen muß, so gickst man. Und ich sterbe, wenn ich gickse. Decke mich, decke mich, wenn ich gickse!" Und er gickste. Er gickste ganz fürchterlich! Gleich in seinem ersten Rezitativ. Gerade auf den Worten: „Nur schöne Mädchen. Amen!" Er mußte gicksen, er war sterblich verliebt, und der Gegenstand seiner Liebe saß in berückendem, himmlischem, beseligendem und ver¬ nichtendem Liebreiz vor ihm unten im Publikum. Man muß es nur wissen, wie das ist! Wer wird da nicht gick¬ sen? Ich habe keinen Versuch gemacht, ihn zu decken. 8 113 Das hätte es nur noch schlimmer gemacht. Einen sol¬ chen Gickser deckt kein Klavierspieler der Welt. Er war auch zu urplötzlich, zu unerwartet, zu elementar ge¬ kommen. Nachdem er gegickst hatte, saß alles bleich und stumm. Eisiges Schweigen herrschte im Saal. Nur Heller blieb ruhig und gefaßt. Er lächelte mir halb gemüt¬ lich, halb spöttisch vom Dirigentenpult zu. Als ich nach¬ her zum Sänger kam, sand ich ihn noch lebend, aber halb ohnmächtig und gänzlich verblödet. Ich redete ihm lieb zu. „Du hast allerdings etwas gegickst", sagte ich tröstend, „aber es macht nichts, die Welt geht auch so weiter." Trotzdem hat sie „Ja" gesagt und hat ihn genom¬ men. Er hat nie wieder gegickst, denn er hat nie wieder gesungen. Es blieb ihm keine Zeit mehr dazu. Er war nur mehr mit seinem grenzenlosen Glück beschäftigt. O Liebe, wie kannst du so töricht sein und lächerlich, so unsterblich lächerlich — und wie bist du so schön, so unsterblich schön! Er ist schon lange gestorben. Aber seine Liebe lebt noch weiter. Irgendwo in einem bes¬ seren Lande, auf einer stillen, seligen Insel, von blühen¬ den Rosen umgeben, im Dufte von Jelängerjelieber und von Jasmin. Man frägt mich oft, warum ich wohl nicht geheiratet habe und so ein alter Junggeselle geworden bin. Oder, wie liebe, mir wohlwollende Freunde es schonungsvoll richtigstellen möchten, ein „junger Altgeselle". Da ant¬ worte ich immer leichthin: „Weil mich keine mochte." Aber das ist nur halb Spaß, halb Koketterie. Die Wahrheit ist es nicht. Ich weiß es wohl, daß mich gar manches liebe Mädchen gerne genommen hätte. Gott 114 segne dafür ein jedes von ihnen. Sei es, daß es noch froh und stark in diesem Leben steht, sei es, daß es schon lange, o schon so lange, in der stillen, kühlen Erde liegt und schläft. Noch stand ich stark im Banne Wagners. Als An¬ gelo Neumanns berühmte Wagnerunternehmung 1883 die „Tetralogie" nach Italien und nach Venedig brachte, fuhr ich mit meinen beiden älteren Schwestern dahin. Wir befanden uns in Gesellschaft der gesamten Fa¬ milie Oblafser, die damals im musikalischen Leben Triests eine führende Rolle spielte. Unser Vater hatte uns auf unser schüchternes Anklopfen die dazu nötigen Geldmittel sofort gerne und reichlich gegeben. Es waren acht unvergeßliche Tage. Wir sahen zum ersten Mal die strahlende Königin der Meere, die Traumstadt Ve¬ nedig. In Neumanns Truppe wirkten Künstler von Rang mit: Seidl als Dirigent, Lieban, Schott, der warme Wallnöfer als Tenors, Frau Kindermann als ausgezeichnete Brünhilde. Ganz reizend war die Ein¬ stellung, die der lebhafte, überaus liebenswürdige Geist des Venezianers zur szenischen Darstellung sofort fand. Dem Italiener liegt das Verständnis für Waldes¬ zauber etwas ferne. „L con 8to dosco" — „Und gib's ihm mit dem Wald", sagte das Publi¬ kum des Teatro Fenice, als der aufgehende Vorhang eine Waldszenerie nach der anderen sehen ließ. Auch der grimmige Drache unserer Fabelwelt ist ihm nicht sehr geläufig. ei cococlrio", erklang es da laut von der Galerie, „Sieh' das Krokodil!" Und der arme, viel verspottete Wotan, der den Venezianern zu mit¬ teilsam war, mußte sich dm etwas wegwerfenden Bei¬ namen „LI vecio monocolo" gefallen lassen: „Das 115 alte Einauge." Ganz Venedig nahm von den Riven, den Brücken, von den Fenstern, Balkonen und Dächern des Canal Grande, in ungezählten Scharen von Gon¬ deln, Kähnen und Barken, staunend, bewundernd und ehrfürchtiglich daran teil, als, inmitten einer Toten¬ stille, derer nur die schweigende Lagunenstadt fähig sein kann, das Orchester Angelo Neumanns auf einer schwarz verhangenen Riesenbarkasse vor den Palazzo Vendra¬ min, das Sterbehaus Wagners, fuhr und dort mit SiegfriedsTrauermarsch in geradezu ergreifender Weihe und Feierlichkeit das Andenken des großen Meisters ehrte. Ein wundervoller Frühlingstag lag über allem, die Gärten standen in jungem, Hellem Grün. Es war wohl die eindrucksvollste und vollendeteste Trauerfeier, an der ich je teilgenommen habe. Am Schluffe der Fest¬ woche stand ein großes Konzert, an dem alle ersten Künstler der Truppe sangen, und das ein dichtgedräng¬ tes, ganz auserlesenes Publikum der Venezianer Ge¬ sellschaft vereinigte. Den Vogel schoß da der Tenor Lieban ab, als er, von Seidl begleitet, in italienischer Sprache Lieder von Schubert vortrug. „Am Meere", „Ungeduld" und andere. Sie waren in jenen Kreisen vielleicht noch niemals gehört worden, wirkten, hin¬ reißend gesungen, in unbeschreiblichem Zauber und ent¬ fesselten wahre Stürme der Begeisterung. Im Sommer war ich in den Iulischen Alpen, den Dolomiten, in Oberkrain, in Salzburg, dann gegen Ende August allein in Triest. Alle anderen befanden sich noch in der Sommerfrische. Als ich eines Abends von einer meiner gewohnten Ausfahrten nach Miramar zurückkam, lag eine Anzahl von Telegrammen auf dem Tische. „Die will ich morgm lesen", dachte ich mir 116 erst. Dann siegte das Pflichtgefühl und ich öffnete sie. Eines enthielt die Nachricht, mein Vater sei in Sankt Leonhard plötzlich an einem Schlagfluß verschieden. Es war wie ein furchtbarer Wetterstrahl aus heiterem Himmel. Ich hatte an diese Möglichkeit nie gedacht. Wohl waren vor Jahren Herzbeschwerden ausgetreten, mein Vater mußte damals oft nächtelang schwer um Atem ringen. Aber das hatte sich gänzlich beruhigt und ausgeglichen, auch nach dem Ausspruch der Arzte schien alles wieder gut. Ich durchwachte die Nacht. Es war mir, als stünde die Welt still! Am frühen Morgen fuhr ich und war in der Abenddämmerung in Sankt Leonhard. So sah ich den stillen Bergwinkel wieder! Alle waren schon versammelt, sie waren von Millstatt herbeigeeilt. Ich wurde gleich zu ihm geführt. Er lag in der kleinen Kapelle, niedrig, ganz einfach aufge¬ bahrt. Fichtenreisig und Waldblumen um ihn, zwei brennende Kirchenkerzen ihm zu Häupten. Lag um sei¬ nen Mund wirklich, wohl kaum bemerkbar, ein leiser Zug, der nicht erlittenen Schmerz bedeutete, aber viel¬ leicht etwas wie Befremden oder Überraschung? Oder schien es mir nur so? Man habe ihn im Walde tot ge¬ funden. Unter einem Baume sitzend, etwas zurückge¬ lehnt, die Hände zu beiden Seiten leicht aufgestützt, den Hut auf dem Kopfe. Nicht die kleinste Spur eines Todeskampfes. Man nahm an, er habe die Mittags¬ glocke gehört und sich eben erheben wollen. Gewiß, ein schöner Tod, und ich wünsche mir keinen leichteren. So rasch und wohl schmerzlos, im Frieden des Wal¬ des. Aber für uns Zurückgebliebene schrecklich. Aus der Einsamkeit dieses Sterbens starrten uns so viele Fragezeichen entgegen. Wie war es doch gewesen? Wer 117 gab Antwort, wer klärte uns auf? Und man hatte ihm nichts Liebes mehr sagen noch tun können, keinerlei Hilfe, keinerlei letzten Dienst erweisen, nichts! So ist unser lieber Vater still, still von uns gegangen. Am nächsten Morgen führte ich den Sarg hinab nach Himmelberg und Feldkirchen. Dann kam die lan¬ ge, schwere Reise nach Triest. Durch die dunklen, stillen Wälder Sankt Leonhards geht heute noch die Sage, ein fremder, gütiger Som¬ mergast, von weiter Ferne her, sei vor vielen, vielen Jahren dort gestorben. Und sie hat fromm hinzu¬ gedichtet, er habe sich seine letzte Ruhestätte am Sankt Leonharder Felsen gewünscht. „Des Gerechten Seele ruhet in Gottes Hand, Und keine Qual rühret sie an!" 118 Aufstieg Es klopfte wieder: der Ernst des Lebens trat herein. Viel Schwerwiegendes mußte geordnet werden. Alle vier Schwestern waren noch minderjährig. Die beiden älteren konnten wir großjährig sprechen lassen, die Ver¬ mögensanteile der beiden jüngeren waren zu Gerichts¬ handen auszubezahlen und anzulegen. Das bedeutete eine Schwächung des Geschäftskapitales um ein Drit¬ tel. Trotzdem führte ich ohne Zögern den Grundsatz durch, daß alle Einkäufe der Firma gegen bare Kasse erfolgen müssen. Denn ich wußte, daß der Platz uns Brüder und unser Gebühren nun genau beobachten werde und wollte an einem alten Erfahrungssatz fest¬ halten, wonach der sicherste Weg zur Erlangung von Vertrauen und Kredit der sei, daß man nicht jenes noch diesen beanspruche, sondern stark und klar seine ruhigen Wege gehe. Ein verläßlicher, gut eingearbei¬ teter Beamtenstab stand uns zur Seite, an seiner Spitze ein braver, unserer Familie vollkommen ergebener Pro¬ kuraführer. Es war ein Kärntner, ein echter Kärnt¬ ner, stark in Romantik getaucht, voll schwärmerischer Liebe zur Heimat, voll Empfänglichkeit für Waldes¬ poesie und Almenzauber, ein Karstläufer wie wir. Langjähriger Reisender des Hauses, herzensgut, lauter, ein treuer Mann, Josef Löhner. Kein genialer Kauf¬ mann, im Gegenteil eher etwas klein in seinen Auffas¬ sungen dem Leben und der Arbeit gegenüber, mit einigen 119 leichten Vorurteilen verschiedentlich«^ Art behaftet. Aber vollendeter Fachmann in den von uns gehandel¬ ten Warengattungen, genauer Kenner der Kundschaft und ihres Bedarfes, vorsichtig und klug in der Füh¬ rung der Geschäfte, mustergültig in der Erfüllung sei¬ ner Pflichten. Sein Hauptverdienst uns gegenüber lag gewiß darin, daß er allem Gewagten und rein Speku¬ lativen sorgfältig aus dem Wege ging, zu ängstlich und durchgreifend, wie uns manchmal scheinen wollte, und daß er alles tat, um diesen seinen Grundsätzen auch in uns dauernden Bestand zu sichern. Ich glaube schon, daß ich in meinem späteren Leben großzügiger gewor¬ den bin, als er es war. Aber es wäre eine Verfehlung diesem Manne gegenüber, der es so ehrlich und so gut mit uns meinte, würde ich ihm an dieser Stelle nicht einige Worte des Dankes und warmgefühlter Erinne¬ rung weihen. Bruder Paul und ich wurden als offene Gesellschaf¬ ter Chefs der Firma. Wir wußten es genau, daß wir uns diese Stellung erst zu verdienen hatten und taten mit dem nötigen Ernst alles dazu. Ich darf es sagen, daß ich im ersten Jahr nach dem Tode des Vaters tagtäg¬ lich bis in die späte Nacht gearbeitet habe. Sehr oft kam ich um Mitternacht heim. Auch später bin ich überaus fleißig geblieben. Dies umsomehr, als wir bald erfah¬ ren mußten, Löhner sei schwer herzleidend und könne uns ganz plötzlich und überraschend entrissen werden. Ich kann wohl erzählen, was arbeiten heißt! Es ist natürlich auch viel Kleinarbeit dabei gewesen. Aber ich wollte möglichst rasch Dinge beherrschen lernen, derer man gewöhnlich erst in jahrelanger Übung voll¬ kommen Herr und Meister wird. Das war vor allem 120 genaue Kenntnis der Ware, der Kundschaft und ihres Bedarfes. Unser Geschäft ruhte von alten Zeiten her- über, da Triest der einzig berufene Stapelplatz für unser Inland gewesen war, noch sehr stark auf geradezu patriarchalischen Grundlagen, so besonders auch im Verkehr unseren Abnehmern gegenüber, und ich mußte es natürlich für richtig halten, diesen überkommenen Zustand möglichst lange zu pflegen und festzuhalten. Die Kundschaft bleibt gerne dem Hause treu, das ihrer Art, ihren Gewohnheiten und ihren Bedürfnissen ver¬ ständnisvoll Rechnung zu tragen versteht. Mein Bru¬ der hielt erst tapfer mit, übertrieb aber nicht und lenkte nach angemessener Zeit in die Gepflogenheit ein, das Bureau bald nach der offiziellen Arbeitszeit zu ver¬ lassen. Wir waren sehr verschieden von einander. Ich bin, wie ich schon erzählte, meinem Vater nachgeraten, hielt mich einsam, verschloß die Sorgen und Kümmer¬ nisse, die das Leben mir brachte, stumm in mir und hatte es darum manchmal recht schwer. Er schlug mehr in die Art einiger Männer in der Familie mütterlicher¬ seits, nicht allerdings der Mutter selbst. Er breitete alles, was ihn beunruhigte oder sonstwie bewegte, in größter Offenheit vor einer Freundesschar aus, in der sich vornehm zurückhaltende Geister wie auch junge Männer tüchtigster, praktischer Richtung befanden, be¬ sprach alles und kehrte dann, seiner Bürde ledig, von Erdenschwere frei, froh und leichtbeschwingt, nach Hause zurück. Das traf er also besser. Ich zweifelte sehr viel an mir und an meinem Können, neigte im geschäftlichen Leben stark einer pessimistischen Auffas¬ sung zu. Er verharrte, je älter er wurde, in einem immer rosigeren Optimismus, in einem oft verblüffen- 121 den Vertrauen zu sich selbst, zu mir, zu unserer ge¬ meinsamen Sendung. Nie hat jemand an den guten Stern seines Hauses und an seine Berufung zu des¬ sen Führung so fest geglaubt wie er. Er schien manch¬ mal wie in Gottesgnadentum befangen. Ich war dem Leben gegenüber — ohne es natürlich zu zeigen — etwas furchtsam, er stark, fast herausfordernd. Trotzdem ließ er mich vor, hielt sich selbst im Hintergrund. Ich war der weitaus leistungsfähigere Arbeiter, auch gewand¬ ter, rascher, unternehmender. Mir paßte es: ich stand in der Front, und er deckte mir den Rücken mit seinem felsenfesten, nie versagenden Glauben an mich und an sich. Zwei Brüder können nicht stärker zu einander hal¬ ten, als wir es taten. Wir hatten uns sehr gerne. Auch nachdem er mir in späten Jahren, ich möchte fast sagen: zum Schlüsse, ohne die entfernteste böse Absicht natür¬ lich, einen Schlag versetzt hatte, der mich fast zu Boden warf, behielt ich ihn ebenso lieb wie vorher. Ohne Schwanken, immer gleich lieb! Er war, wenn auch manchmal jäh und aufbrausend, von einer grenzenlosen Güte. Aber diese Güte ist dann zur Schwäche gewor¬ den, und an dieser Schwäche ist sein Leben gescheitert! Sein zu so Hohem berufenes Leben! Wenn man das Wort „Kaufmann" hört, ist man geneigt, an einen freundlichen, alten Herrn zu denken, der eine schlichte, leichte Kappe auf dem Kopfe und einen Bleistift hinter dem Ohre trägt, ledern hinter dem Ladentisch steht und ängstlich darauf sieht, daß er richtig bezahlt werde. Wer Gustav Freytags ewig jun¬ gen Roman „Soll und Haben" gelesen hat, der weiß es besser. Allerdings, das richtige Bezahlen kommt auch da vor. Es kommt leider überall vor. Ich sah es 122 gerne, wenn man mich besuchte. Unser Geschäft befand sich damals in der Via Crociera, acht. Das ganze Erdgeschoß rechts und links von der Torhalle war von den Magazinen eingenommen. Es waren zwei Riesen¬ räume mit säulengestützten, hochgewölbten. Decken, die durch das ganze, tiefe Haus bis zu den Hinterhöfen liefen. Das eine für den Kaffee bestimmt. Da lager¬ ten oft Tausende von Säcken, nach den Herkunftslän¬ dern geordnet, zu kostbaren Spalieren sorgsam und hoch aufgeschlichtet, auf etwas erhöhten Bohlenböden. Es waren die Brasilkaffees vorhanden: die Rio, Santos, Minas, Campinas, gewaschen und ungewaschen, bis hinab zu den gemeinen Capitania und Victoria mit den bösen Steinen und dem lästigen schwarzen Ein¬ wurf. Der ausgezeichnete „Brenner" Manillas. Dann die feineren Produkte der zentralamerikanischen In¬ seln, die kräftigen San Salvador, die San Domingo mit der schlanken, weißen Bohne, die festgefügten Por- toriceo, von den gewöhnlichen „gebleiten" Sorten über die „Cyrnos", „Florida", „Estrella" aufwärts bis zur geradezu fürstlichen Marke der berühmten Plan¬ tage „Pieraldi". Das Ocker- und Goldgelb der aus¬ gelagerten javanischen Sorten, das entzückend tiefe Blau von Javas „Westindischer Bereitung", der herr¬ lich duftende, lichtgrüne Mokka in den Fardi aus ge¬ flochtenem Stroh. Dazu die gewaltigen Riesenmara- gogyp und die absonderlichen, abenteuerlich geformten Liberia Afrikas, deren Bohnen manchmal schon kleinen Kähnen gleichen wollten. Auch der feinglasierte Cey¬ lonkaffee kam damals noch heraus, ehe die dortigen Kaffeeplantagen den Tee- und Baumwollpflanzungen hatten weichen müssen: in verschiedentlichen Siebun- 123 gen, in großer, kleiner, flacher und Perlbohne, „Tria¬ ge" dazu, sorgsam verpackt in großen Fässern und in kleineren Barrels. Im Hintergründe des Kaffeemaga¬ zins standen der Motor und die Maschinen für die Be¬ arbeitung des Kaffees. Der zweite, eher noch größere Raum war für die Südfrüchte: Mandeln, Johannis¬ brot aus Italien, aus Dalmatien, Zypern, Candia, rote, schwarze Rosinen, Sultaninen in Säcken, in Kist¬ chen, Corinthen, Haselnüsse, Calamatafeigen in Krän¬ zen und lose Feigen aller Art und Herkunft in Säcken, in Kisten, Körben, Trommeln, die feinen Smyrner in Kartons, Hasel- und Pinienkerne, im November bis kurz vor Weihnachten Alexandriner Datteln. Stand ein Fäßchen davon offen, so blieben meine lieben Besuche gerne einige längere Augenblicke, in Nach¬ denken versunken, davor stehen. Sie schmecken gar so gut! Ganz rückwärts der geschlossene, im Winter heiz¬ bare Abteil für die Ole: in Reih und Glied die un¬ geheuren, weißgetünchten „Tinen" aus Eichenholz mit fünfzig bis hundert, die „Cassoni", die eisernen Stän¬ der, mit hundert bis hundertfünfzig Meterzentnern Fassungsraum. Da lagerten in reicher Abstufung Sa¬ menöle aller Art, aus Sesam-, Arachide-, Lein-, Son¬ nenblumensaat gepreßt, und reine Olivenöle, italieni¬ sche, dalmatinische, griechische, auch spanische, vom scharfriechenden Maschinenöl angefangen bis hinauf zu den gänzlich geruch- und geschmacklosen, wie sie der ver¬ wöhnte Tisch verlangt, zu der damals für mich unüber¬ trefflichen Marke SD Molfettas mit dem leisen, feinen „Olivenbouquet". Überall reges Leben, Häm¬ mern, Klopfen, ankommende, abgehende Ware; schwer beladene Ochsen- oder Pferdekarren vor den Toren, 124 Fachine, die trugen und rollten, schlichteten, vernähten, banden, füllten, wogen, jede Arbeiterschar unter ihrem „Capo", ihrem Anführer. Die hatten fast adelig klin¬ gende Namen: „Pepi del Oio", „Toni del Caffe" — „Der Pepi vom Ol", „Der Toni vom Kaffee", tüch¬ tige, gediente Leute, die ruhigen Blickes und gemessenen Schrittes ihre schwere Arbeit taten. In unserem Hause sind viele vierzig- und fünfzigjährige Arbeitsjubiläen gefeiert worden. Und nicht selten sind sie auch meine Ratgeber gewesen. Ich scheute mich nicht, auch diese ein¬ fachen, aber mit der Ware ausgewachsenen und ver¬ wachsenen Männer mitreden zu lassen, wo ich meinte, eines Rates zu bedürfen, und bin damit sicherlich nie schlecht gefahren. Im ersten Stockwerk war unser Bureau. In drei Zimmern saßen die Herren etwas gedrängt beisammen: Chef-, Kassen-, Buchzimmer. Im vierten empfing ich die Agenten und Sensale, hörte ihre täglichen Berichte, verglich die Muster, besprach den Einlauf an Briefen, diktierte die Antworten. Es waren nicht griesgrämige Mienen bei uns, es wehte gesunde, frohe Luft. Der Triester Handel stand damals in vollster Blüte. Die gesamte Stadt war Freihafengebiet, auch die Transit¬ ware konnte überall von Zöllen frei lagern. Davon erzählt heute noch die Bauart der Häuser in den weni¬ ger verkehrsreichen, inneren Gassen der Neustadt. Das Erdgeschoß ist da nicht in kleine Verkaufsläden ein¬ geteilt wie anderswo: überall weite, hochgewölbte Hal¬ len und Magazine, schwere Riegel an den festungs¬ artigen Toreingängen dazu. Karren über Karren fuh¬ ren einher, alle schwer beladen, die kleineren Schiffe konnten im nahen Canal Grande anlegen und ihre La- 125 düng an den Riven löschen. Brausende Arbeit erfüllte die Gassen der Stadt. Ein Wahrzeichen des Triester Großhandels waren und sind heute noch die Magazinskatzen. Jedes Maga¬ zin hat deren mehrere. Sie sitzen behaglich an den To¬ ren und Fenstern, allein oder zu Gesellschaften ver¬ einigt. Verhandeln ihre Herren auf der Straße, fo stellen sie sich gerne hochgehobenen Schweifes dazu, als hätten sie im Hause Sitz und Stimme und wünsch¬ ten ihr Wörtchen mitzureden. Man respektiert sie und gibt ihnen höflich Raum, wenn man ihre Wege kreuzt. Manchmal sind sie liederlich, verspäten ihre Heimkehr und werden ausgesperrt. Da betteln sie bei den nächt¬ lichen Vorübergehenden, man möge ihnen doch ihr Tor öffnen, oder sie veranstalten, von den Dachkatzen und den Schiffskatzen mit Hingebung und wirksam unter¬ stützt, ganz entsetzliche Nachtkonzerte. Gar lieb und hei¬ matlich stimmungsvoll istunsTriestinerndas Bildchen, wenn in frühester Morgenstunde, vor Arbeitsbeginn, der ganze Stadtteil noch schweigend und still wartend daliegt, und die Katzen, gelassen einherschreitend, als unbestrittene Herren der Gasse, ihren beschaulichen Morgenspaziergang machen. Das Trauerjahr ging vorüber. Ich hatte mich so weit eingearbeitet, manches Schwere glücklich überwun¬ den, fühlte, daß ich meine Sache schon sicherer beherr¬ sche. Die Sonne strahlte, das Leben lockte. Ich war jung und stark, und so schritt ich frei und unbeirrt wei¬ ter durch Sonne und Leben. Nur zwei Dinge sind da¬ mals endgültig begraben worden: meine Absicht, vor Übernahme des Geschäftes ein oder zwei Jahre in Über¬ seeländern zu arbeiten — ich hatte an Singapore ge- 126 dacht —, die große Welt zu sehen, und ein Traum, der noch keinerlei feste Formen hatte annehmen kön¬ nen, der mir in weiter, weiter Ferne, hoch über dem wilden Bergland des Kaukasus, den ungeheuren, wei¬ ßen Dom des Elbrus zeigte. Nach dem Tode des Va¬ ters hatte ich befürchtet, das Schicksal werde mir nun¬ mehr das Bergsteigen überhaupt versagen. Ich dachte an Zeitmangel und an Verantwortlichkeit. Aber bald sah ich ein, daß ich ohne die Berge nicht leben konnte. Es wäre zu leer um mich geworden! Sobald ich es mit meinen Pflichten vereinbar fand, kehrte ich zu ihnen zurück. Immer standen natürlich die Iulischen Alpen im Vordergründe, sie waren mir ja auch räum¬ lich wie seelisch so nahe. Doch fallen in jene Jahre 1883 bis 1.885 auch alle Dolomitenfahrten, die ich gemacht habe. Daß ich mich in diesem Gebiete ver¬ hältnismäßig nur wenig betätigte, nicht einmal alle Hauptgipfel erstieg, und wie es so gekommen ist, habe ich in meinem Bergbuche erzählt. Da ich niemals ein Gipfeljäger gewesen bin und in den Bergen ganz an¬ deres suchte, empfinde ich diese Lücken nicht schwer. Auch in den Dolomiten zogen mich weniger die Berge an, die später sportliche „Modeberge" geworden sind. Viel mehr reizte mich das Sagenhafte, das Geheimnisvolle, die Märchenstimmung, die mir um einen Berg zu liegen schien. Die zwischen fast unberührten, stillen Tälern verborgenen, abweisenden Zinnen der Monti Marma- roli haben mich beschäftigt, lange bevor ich als Erster von der Val de Rin auf die Froppa gelangte, der von südlichem Sonnengold umflutete, zwiegespaltene Turm des Monte Duranno schon vor dem Tage, da ich ihn mit den Zsigmondy vom Cristallo aus suchte. Auf dem 127 Monte Cridola holte ich mir durch rasches, energisches Zugreifen, geradezu im Fluge, hohes, erstes Gipfel¬ glück. Das Jahr 1885 wurde für mich auch darum so bedeutungsvoll, weil ich da erst meine Erschließer- tätigkeit auf die westlichen Iulier ausdehnte, dann in das Eis der Ortlergruppe kam und mich nach der Über¬ schreitung des Ortlers über den Hochjochgrat als Mat- terhornkandidat fühlte: ich blickte hinüber zu den West¬ alpen und pochte, von ihrer strahlenden Herrlichkeit auf das Tiefste erfaßt, hochgemuten Herzens an ihre granitenen Pforten. Zur Musik führten mich meine Pflichten dem Schil¬ lerverein gegenüber zurück. Ich ließ große Gesangs¬ künstler zu Liederabenden kommen, und wenn sie nicht ihre eigenen Begleiter mitbrachten, setzte ich mich oft selbst an das Klavier. Da mußte ich wieder ordentlich üben, was meiner arg vernachlässigten Technik sehr zu gute kam. Das Begleiten ist eine Kunst für sich, es gehört dazu oft viel mehr Musikalität als zur Wiedergabe eines Klavierstückes. Die Begleitung soll nach meiner Auffassung nicht nur so „einhersäuseln", sie muß Kör¬ per und Seele haben, muß unterstreichen, färben, ma¬ len, oft auch führen können, dabei zurückhaltend immer den Sänger im Vordergrund lassen, nie die Aufmerk¬ samkeit von ihm ablenken. Sie verlangt Selbstlosig¬ keit, Feingefühl und Geschmack, sehr verständnis¬ volles Erfassen von Text und Komposition, hat alle Poesie und Stimmung wiederzugeben, ohne dabei je Selbstzweck zu werden, in gewissem Sinne fast unge¬ hörter und unbeachteter und doch gleichberechtigter Teil des Ganzen zu sein. Aus dem Atmen, aus leisesten, 128 ganz geringfügigen Nebenumständen muß der Be¬ gleiter die Absichten seines Sängers rechtzeitig erraten können. Das Forte muß maßvoll sein, nie von der Gewalt des rein pianistischen oder gar des konzert¬ mäßigen. Ich habe im Begleiten einen gewissen kleinen Ruf erlangt. Der damalige, ganz außerordentliche Be¬ gleiter Gustav Walters hieß Rottenberg. Als der große Wiener Tenor einmal nach Triest zu kommen hatte, schrieb ihm Heller, er brauche seinen Begleiter nicht mitzunehmen, er werde hier zwar keinen Rottenberg, immerhin aber einen ganz ansehnlichen „Rottenhügel" vorfinden. Meine ersten Sporen habe ich mir verdient, als Rosa Papiers herrlicher Alt einen Liederabend im Schillerverein füllte. Sie löste mit ihren Vorträgen, ganz besonders mit der„Sapphischen Ode" von Brahms und mit Schuberts „Der Tod und das Mädchen", Stürme der Begeisterung aus, von der auch auf meine Begleitung ein zwar ganz bescheidener, aber mich sehr beseligender Anteil abfiel. Es kamen Bulß, der glanz¬ volle Tenor der Berliner Oper, der stimmgewaltige Scheidemantel, Marcella Pregi mit ihren entzücken¬ den französischen und proveruMschen Chansons, Ellen Forster und Franz von Reichenberg von der Wiener Hofoper. Später Johannes Meschaert mit unvergleich¬ lichen Vorträgen von Balladen Loewes, von Schu- bertliedern und altniederländischen Gesängen, die schöne Römerin Maria Antonietta Palloni, die den beftrik- kenden Wohllaut ihres dunklen, samtenen Mezzo¬ soprans und alle Kunst ihres Bel Canto den Liedern und Arien der alten italienischen Meister lieh, Frie¬ derike Meyer, Albertine Beer. Das berühmte „Flo¬ rentiner Quartett" Jean Beckers musizierte in un- 9 129 serem Saal, große Geiger traten auf: Thomson, Sa- rasate, Wilhelmy, Ondricek. Heller hatte aus Ele¬ menten, die technisch nicht allzuhoch standen, die er aber geradezu meisterhaft zu führen verstand, das erste „Triestiner Quartett" begründet und vermittelte uns da¬ mit die Kammerwerke Beethovens, Mozarts, Haydns, Schumanns, Schuberts. Im Publikum war damals immer ein schöner, wei߬ haariger Charakterkopf sichtbar: Mister Thayer saß still und aufmerksam da, amerikanischer Konsul in Triest, der bekannte Beethovenbiograph, ein uns allen überaus lieber und werter Mann. Und ein kleiner Knabe mit feinen, blassen Zügen in den ersten Reihen: kein Geringerer als Ferruccio Busoni! Der Schiller¬ verein hatte seine großen musikalischen Zeiten, es war mir ein Stolz, führend mitarbeiten zu dürfen. Weit tiefgreifender und wichtiger als die Künstlerkonzerte erschienen mir die Aufführungen großer Oratorien- werke. Mit Heller begründete ich im Schoße des Schil¬ lervereins einen „Singverein", dem wir einen eigenen, vielgliederigen Vorstand gaben, denn damit lockt man die Herren heran und hält sie fest. Präsident war Mi¬ ster Thayer. Er sah mit eiserner Entschlossenheit auf Einhaltung parlamentarischer Formen und auf Füh¬ rung regelrechter Sitzungsprotokolle, wünschte im üb¬ rigen immer nur entweder als Beethovenbiograph Beethoven oder als Amerikaner englischer Herkunft Händel. Es war manchmal nicht leicht, den prächtigen alten Herrn „Herumzukriegen", denn für die „Missa solemnis" oder den „Messias" reichten unsere Kräfte doch nicht. Fehlte es uns an Männerstimmen, so half uns der „Triester Männergesangsverein" aus. In 130 einem war unser Singverein der „Wiener Singakade¬ mie" meiner Studentenzeit sofort ebenbürtig, wenn nicht über, ja, ich glaube doch über: es sangen bei uns unglaublich „saubere" Mädchen mit. Man mußte sich wirklich ganz ungeheuer in acht nehmen, daß man da nicht etwa zu tief in dieses strahlende Augenpaar schaute, in jenen entzückenden „Grübchen" drüben nicht ret¬ tungslos versank. Aber alles sang mit wirklicher Freude und in Heller Begeisterung. Gerne denke ich an unseren zweiten „Elias" zurück, mit dem Wiener Hofopernsänger Josef Ritter als Propheten. Ich liebe die Chore dieses Oratoriums, von denen einige an die Macht und Größe Händels ge¬ mahnen. Auch das „Requiem" von Cherubim, das wir einmal aufführten, ergriff mich sehr und hielt lange mein Interesse wach und meine Seele gefangen, ob¬ wohl dieses Werk durchaus nicht übermäßig kunstvoll, im Gegenteil ganz einfach aufgebaut ist, auch des Rei¬ zes von Sologesängen entbehrt. Ich weiß nicht mehr, was damals in meinem Leben vorgekommen sein mag, das mich dafür so besonders aufnahmsfähig gemacht hatte. Todesahnungen sind es sicherlich nicht gewesen. Es ist ja manchmal auch in den Bergen so, daß wie von un¬ gefähr irrende Nebelschleier den Blick trüben zu wol¬ len scheinen, die in der Erinnerung nicht zu haften ver¬ mögen, wenn sie bald darauf in der siegreich hervor¬ brechenden Sonne spurlos zerflattert sind. Der in frommer Ruhe immer leiser und leiser verklingende, milde in die Ewigkeit deutende Abgesang über den von Stimme nach Stimme immer wieder aufgenommenen Worten „Et lux aeterna lueeat eis" erfüllte meine Brust mit tiefem Frieden. Mein Stolz ist aber unsere 131 zweite Aufführung der „Schöpfung" geblieben. Man vergesse nicht, daß Triest kein Musikzentrum, sondern eine Stadt der Arbeit war, und daß man überall auf Schwierigkeiten stieß. Orchester des „Teatro Grande", mit Dilettanten verstärkt, und vereinigter Chor des „Singvereins" und des „Triester Männergesangsver¬ eins" waren gut. Die Chorproben hatte ich in die Hand nehmen müssen, da Heller lange krank lag. Man folgte mir gerne. Aber er genas rechtzeitig, um Ge¬ samtproben und Aufführung in alter Meisterschaft lei¬ ten zu können. Die Begleitung der Rezitativs am Kla¬ vier war meine Aufgabe. So kindlich einfach und leicht diese Akkordenfolgen natürlich zu spielen sind, glaube ich doch, daß sie von einem wirklichen Musiker an¬ geschlagen werden müssen, sollen sie bei aller Beschei¬ denheit richtig und sicher an ihrem Platze stehen. Die Solostimmen hatte ich wirklich glänzend besetzen kön¬ nen: Ellen Forster Sopran, Wallnöfer von der Pra¬ ger Oper Tenor, Franz von Reichenberg Baß. General¬ probe und Aufführung, beide in unserem „Polytheama Rossetti", waren vom Publikum mit hoher Spannung erwartet worden. Das so lange nicht gehörte, vielen gänzlich unbekannte Werk machte einen tiefen und sehr nachhaltenden Eindruck. Ich hatte viel arbeiten, auch viel Widerspruch und Kleinmut überwinden müssen. Es ist schon eine gewisse Leistung gewesen. Um so grö¬ ßer war meine Genugtuung. Als Reichenbergs eherne Stimme verkündete: „Im Anfänge schuf Gott Him¬ mel und Erde", und gleich darauf Chor und Orchester die berühmte Stelle: „Und es ward Licht" zum strah¬ lenden Fortissimo emporhoben, dachte ich an meinen Vater, der sagen würde: „Bravo Julius, das hast 132 du gut gemacht." Und die Mutter im Parterre tat, mit Tränen in den Augen, das Gleiche! In den Dolomiten war ich wiederholt auf die Spu¬ ren der ruhmreichen Trias Zsigmondy—Purtscheller gestoßen, so gerade an -en Monti Marmaroli. Es kamen dann Schlag auf Schlag ihre geradezu fabel¬ haften Erfolge in den Schweizerbergen, die Überschrei¬ tungen von Monte Rosa, Matterhorn, Bietschhorn. Die „Österreichische Alpenzeitung" brachte Ottos klas¬ sische Schilderung der Ostwand des Monte Rosa, die gewiß den vollendetesten alpinen Aufsatz darstellt, den ich je gelesen habe. Im Februar 1885 hatte ich die Freude, die beiden Brüder als Gäste bei mir in Triest zu sehen. Sie gewannen sich mit ihrer lieben, idealen Art aller Herzen. Jene Tage sind mir unvergeßlich ge¬ blieben. Aber schon im August darauf zerstörte Emils Absturz an der Meise all die glänzenden Hoffnungen, zu denen der hohe Flug seines Geistes berechtigt hatte, und brach Ottos, des unvergleichlichsten Bruders und Bergkameraden, Herz und Lebensmut mitten entzwei. Im Frühling 1886 trat Julius Prochaska mit dem Vorschlag an mich heran, eine gemeinsame Bergreise in das Wallis zu machen. Ich erklärte mich einver¬ standen, unter der Bedingung jedoch, daß der Ein¬ zug in die Schweiz von Macugnaga über den Monte Rosa erfolge. Er blickte mich groß an, dann sagte er „Ja". Ich habe dies alles schon in meinem Berg¬ buche erzählt. Doch verweile ich auch an dieser Stelle gerne einige Augenblicke bei jenen vor Hast und Span¬ nung fast atemlosen Tagen. Mailand, Lago Maggiore, Isola Bella, Pie di Mulera, Val Anzasca, Ma- cugnaga. Unbeschreiblich die Schönheit und Größe der 133 Eindrücke auf diesem ganz einzigen Anmarsche. Wir waren gerüstet, Tags darauf wollten wir aufbrechen. Aber spät am Vorabend traf ein dringendes Tele¬ gramm an mich ein: Löhner war plötzlich an einem Herz¬ schlag gestorben. Aus dem Telegramm klang etwas wie ein Hilferuf meines Bruders. Zurück! In tiefer Nacht lief ich die Val Anzasca nach Pie di Mulera hinab. Isola Bella, Lago Maggiore lachten mir diesmal nicht, nur rasch: Mailand, Triest. Mit fieberhafter Eile und voller Kraft packte ich die Sachen an, die so¬ fort in Ordnung gebracht werden mußten. Das Sie¬ gestelegramm Prochaskas regte einen wahren Sturm in mir auf. Und nach drei arbeitsvollen Tagen wieder vor! Mailand, Lago Maggiore und Isola Bella wie¬ der verheißungsvoll, in paradiesischer Schönheit, Pie di Mulera, Val Anzasea, Macugnaga. Da kam mir mein Luigi Bonetti entgegen, ruhig wie immer, wort¬ karg, voll Vertrauen: es sei steil, sehr steil, aber es werde auch das zweite Mal gelingen. Es gelang. An einem Freitag, den 13. August, überschritten wir die Dufourspitze, pochten um Mitternacht an das Tor des Rifselhauses. Da streckte ich meine müden Glieder. Schlaf ist in jener Nacht keiner gekommen. „Ein ener¬ gischer Mann", sagten die Freunde. Aber mit dieser Energie hat es seine eigene Bewandtnis. Alles sieht die starke Tat, den Erfolg, niemand die Schwankungen der kämpfenden Seele, ehe Klarheit errungen ist, wie man handeln soll und will! Unmittelbar darauf gingen wir auf das Matterhorn. Wir taten es voll Ehrfurcht, in genauer Kenntnis des gewaltigen Romanes, der sich an ihm abgespielt hatte. Ich fand keine besonderen technischen Schwierigkeiten, 134 erhielt trotzdem einen außerordentlich tiefen Eindruck. Am Gipfelaufbau oberhalb der Schulter bedachte ich, wie jene Stellen wohl gewesen sein müssen, ehe man den Berg in Seile und Ketten gelegt hat. Das mögen auch jene armen Epigonen überlegen, die nach der neue¬ sten Mode sagen zu müssen glauben, das Matterhorn sei ein leichter Berg. Und wo er ihnen wirklich zu un¬ erträglich leicht sein sollte, da brauchen sie ja nur einige Meter zur Rechten oder zur Linken auszuweichen. Sie werden zufrieden sein! Ich lernte an jenem Tage nur die Schweizerseite kennen. Ein viel später unternom¬ mener Versuch von Breuil aus scheiterte an einem Wettersturz, der uns in der Capanna Luigi di Savoia überraschte. Ich war schon in leisem Absteigen begrif¬ fen, als ich endlich den Berg von Zermatt nach Italien überschritt. Der Zmuttgrat steht in der Liste meiner unerfüllten Wünsche. Wie es schon so ist, wird diese nicht kleiner. Im Gegenteil, sie scheint mir von Tag zu Tag anzuwachsen, je älter ich werde. Ostwand und Matterhorn sind für die Weiterent¬ wicklung meiner alpinen Laufbahn von einschneidendster Bedeutung gewesen. Alle meine alten Wünsche, die um das Eis der Oftalpen gekreist hatten, um die Ötz¬ taler, die Zillertaler, um Fußstein, Olperer, Thurner- kamp, versanken. So auch all die vielen, heißen Pläne, die mich in das phantastische Reich der Dolomiten zu¬ rückgeführt hätten. Ich verteilte von nun an meine den Bergen gewidmete Zeit zwischen den lieben Iuliern meines Herzens und dem großen Eis der Westalpen. Die Ostwand des Monte Rosa hat mich zwanzig Jahre in ihrem Bann gehalten. Fuhr ich durch den blühenden Garten der lombardischen Tiefebene, so hing mein Auge 135 unverwandt an der „Weißen Wolke" weit drüben am nordwestlichen Horizont, von der Otto so entzückend er¬ zählt hat, die, einer Vision gleich, allen Zauberglanz der gewaltigsten Eismauer Europas über Norditalien wirft. Blicke hinüber von der Kuppel des Mailänder Domes oder von den malerischen Höhen um den Lago Maggiore, wenn in der feierlichen Glorienstunde der ersten Morgenlichter, in fast unirdischer Höhe über dem dunkel getönten Blau der noch schlafenden Täler der Tiefe, das göttliche Lächeln des Rosa aufleuchtet, und sage mir dann, ob du dieses Bild je wieder vergessen konntest. Ein Fragezeichen mitten in der Riesenwand fesselte damals mein ganzes Interesse. Man wußte noch nicht, ob die erste Ersteigung des Nordends von Macugnaga durch Brioschi und Ferdinand Imseng Wahrheit oder Mythus sei. Aber meine Ferien fielen in jenen Zeiten in den Monat Juli, ich kam immer viel zu früh nach Macugnaga, da das Nordend noch weiß, noch über und über vereist war. Ich überschritt den Colle delle Loccie, das Iägerjoch von Macugnaga nach Zermatt, beschäf¬ tigte mich wohl als erster mit dem schwierigen, großen Problem des Nordgrates, erstieg das Nordend von Zermatt aus und blickte staunend und bewundernd hin¬ ab in die ungeheuren Abgründe des Ostens. Doch erst Id 06 glückte mir die zweite große Unternehmung in der Ostwand, die Ersteigung des Nordends von Ma- eugnaga, nachdem jene Frage schon längst in bejahen¬ dem Sinne gelöst worden war. Zermatt und Courmayeur wurden für alle folgen¬ den Jahre meine Standquartiere. Und es ist gewiß selbstverständlich, daß ich schon 1887 meine erste Über- 136 schreitung des Mont Blane folgen ließ, gleich darauf Grand Paradis und Monte Viso, 1888 die herrlichen Grandes Iorasses, die mich allerdings erst wiederholt abwiesen und mir beim vorletzten Versuch fast verhäng¬ nisvoll geworden wären. Daß damals unsere drei Ka¬ rawanen, alle neun Mann, alle, nicht Opfer der Eis¬ lawine geworden sind, erscheint mir heute noch wie ein Wunder. Minderwertige Führer haben den unseligen Vorschlag gemacht, in das große Couloir einzusteigen, und ich, der einzige, der sich der Gefahr richtig bewußt war, hatte aus schlecht angebrachtem Ehrgefühl nach langem Sträuben nachgegeben, um nicht feige zu er¬ scheinen. Ich schämte mich so, daß ich Tränen in den Augen hatte, als wir in Sicherheit waren. Es ist nicht Angst oder Schrecken gewesen. An solcher Dummheit zu gründe gehen! Am Abend, der meiner ersten Überschreitung des Monte Rosa folgte, gaben uns beiden Österreichern von der Ostwand die in Zermatt weilenden Mitglieder des „Alpine Club" einen Punsch. Der berühmte alte Jost des Hotels Monte Rosa war Mundschenk. Ein „Punsch", mir unvergeßlich ob der Güte und Milde des Getränkes und noch unvergeßlicher ob der glänzen¬ den Schar auserlesener alpiner Männer, die dazu mit uns am langen Tische saßen. Seymour King, der Sie¬ ger an der Aiguille Blanche de Peteret, Conway, Da¬ vidson, Eccles, Fitzgerald, Eckenstein, viele andere waren da. Loria sorgte für lustige Witze. Sie sangen mir ihre englischen, ich ihnen meine Kärntnerlieder. Es war wundervoll, sehr herzlich, wir gingen spät aus¬ einander. Auch Farrar mußdamalsanwesend oder doch gewiß nahe gewesen sein, doch erinnere ich mich seiner 137 genau erst von Arolla her, wo wir einige Jahre später zusammenkamen. Nur einen ganz Großen habe ich nie gesehen, so sehr meine Blicke ihn suchten. Er stand, wie man mir sagte, immer still und verschlossen ab¬ seits und war doch der populärste aller Berghelden: Edward Whymper! Diese englischen Bergsteiger ha¬ ben es mir angetan. Ich bin ausgewachsen in Sym¬ pathie und in aufrichtiger Bewunderung für sie. Ich habe sie an der Arbeit gesehen; sah Jahrzehnte hindurch die vielen Träger berühmter Namen ausziehen, still, aber zielbewußt und sicher, sah sie dann nach voll¬ endeter Bergfahrt geräuschlos und frei von aller Pose wieder an ihren Platz zurücktreten. Nichts erscheint mir auch heute noch wünschenswerter, als daß unsere Berg¬ jugend ihrer Art nachgerate. Sie sind die Träger einer ganz unvergleichlichen Tradition. Und die Führer, die damals mit dem schweren, glei¬ chen Schritt ruhmvoll erprobter Eismänner an uns vorbeizogen oder auf der niederen Mauer vor dem Hotel Monte Rosa saßen! Die drei Burgener: dunkel und gelassen Alois, abenteuerlich, etwas fahrig Franz, königlich in Blick und Erscheinung Alexander; dieTruf- fer, die Knubel, die Supersax, die starken Kalber¬ matten, breit und hochragend die Perren, zutunlich und liebenswürdig die Gentmetta; Felix Iulen mit dem feingeschnittenen, schönen Seemannsgesicht und dem treuen Herzen; der alte Taugwalder mit seinem schon stark „vermischten" Gebühren, der „Breithornbiener", der die Pflanzen kannte, Alois Pöttinger, immer froh¬ gelaunt und spitzbübisch; die Zurbriggen: kühnblickend, vielgewandt Matthias, zurückhaltender sein Bruder Louis, der nach glänzenden Reihen verwegenster Taten 138 in den Bergen im Dunkel einer Goldmine des fernen Westens arm verschollen ist; dann die Almer, Ulrich Kaufmann, Peter Baumann, Iofsi aus dem Ober¬ land. Auch da habe ich der Allergrößten einen viel ge¬ sucht, doch nie gefunden: Melchior Anderegg, den viel¬ leicht Unerreichten. Und die fürstlichen Begleitführer aus anderen Tälern und Ländern: froh, keck, blauäugig Peter Dangl aus Sulden, wie aus den Felsen seines Dauphine hervorgewachsen, fast dämonisch anzusehen Maximin Gaspard; der Feuerkopf Christian Klucker, Farrars alter Köderbacher aus der Ramsau, Santo Siorpaes der Dolomiten, Johann Kehrer aus Kals; vornehm und selbstbewußt Emile Rey von Courmayeur; die Devouassoud, die Simond aus Chamonix, der be¬ wegliche Blanc, le Greffier, aus Bonneval; die Val- tournancher mit der Spielhahnfeder auf dem Hute und dem bunten Tuch um den Hals. Und der graue Alte mit dem in Weltenfernen blickenden Auge, der dort still und einsam an der Hötelmauer lehnt und wartet? Das ist Jean Antoine Carrel, „Jl Bersagliere", Whympers großer Rivale auf Leben und Tod, mit ihm durch Matterhorn und Chimborazo doch unzer¬ trennlich verknüpft. Sein Stern ist im Sinken, er sucht Beschäftigung und Verdienst. Alle, alle habe ich sie gekannt. Wie war es schön, wenn ich noch in spä¬ ten Jahren dieser oder jener der legendären Gestalten an der Spitze ihrer Karawane auf einem Eissirst, auf einem fernen Gipfel unvermutet begegnete, und schon von weitem der Freudenruf erscholl: „O, Herr Kugy, Sie sind auch noch am Leben! Und immer noch in den Bergen! Brav, alter Herr!" Das ist gar oft vor¬ gekommen. Ein herzlicher Händedruck, einige frohe 139 Worte, ein „Grüß Gott, auf Wiedersehen!", und wei¬ ter. Und heute noch bringen mir ab und zu, aber immer seltener, junge Westalpenfahrer Botschaft von irgend einem „Alten", der auch noch da ist, der meiner noch gedenkt: einen Gruß aus fernen Tagen. Jene Zeiten sind vorüber. Jetzt sind die Söhne da und die Enkel. Eine neue Welt ist da und ein neues Leben. Mögen sie es alle gut haben! Der alte Seiler regierte die alpine Welt von Zer¬ matt mit großer Würde und mit bewunderungswür¬ diger Tüchtigkeit und Geschicklichkeit. Jedes der Ho¬ tels im Tale oder auf den Höhen eine seiner ausgezeich¬ neten Töchter. Es war ein ganz eigenartiges König¬ reich mit einem überaus volkstümlichen König und glänzend geschulten Ministern. Wiederholt bin ich Gast am Tische von Vater und Mutter Seiler gewesen. Es waren einfache, aber gerade durch die Schlichtheit ihres Wesens imponierende Leute, voll Güte, voll fein¬ sten Verständnisses für alle und für alles. Man fühlte sich dort sicher und wohl geborgen. Das Jahr 1887 ist für mich auch darum sehr be¬ deutungsvoll geworden, weil ich da erstmals an die Nordanstiege des Montasch, des Riesen von Seissera und Dogna, herangetreten bin. Vom Tage meines er¬ sten Versuches aus der Seissera und der Špranje ist mir dieser Gewaltigste der westlichen Iulier an die Stelle des Triglav im Osten getreten, wie Seissera und Nevea an die Stelle des Trentatales. Ich ließ kein Jahr vorübergehen, ohne, oft wiederholt, zu ihm zurückzukehren. Jedem Bergsteiger wünsche ich einen Berg, der ihn auf den Wegen seines Lebens also be¬ gleite, wie dieser Herrliche mich immerfort begleitet 140 hat. Heute noch, in meinen späten Jahren, da ich ihn wohl bewundern, aber nicht mehr angreifen kann, blicke ich prüfend an seinen ungeheueren Mauern empor, suche und finde neue Möglichkeiten und Probleme, lasse sie durch die unvergleichliche Jugend lösen, die auf mich hört und die ich berate. Er hat mir im Verlaufe von vier Jahrzehnten fast alle seine Geheimnisse enthüllt, und ich habe ihm dafür alle Liebe zu Füßen gelegt, derer mein Herz fähig gewesen ist. Mir ist, als lehne mein ganzes Mannesleben an seiner starken Felsen¬ brust, und als leuchte nun ein kleiner Abglanz der Glo¬ rie, die sein königliches Haupt umgibt, herab auf meine weißen Haare. Mein Entwicklungsgang in den Bergen war nun beendet. Ich war frei und stark geworden. Was an¬ dere konnten, das vermochte ich auch. Die Berge stan¬ den mir offen. Schon nach dem ersten Jahr unserer Selbständig¬ keit hatte mir mein Bruder in die Sommerfrische mel¬ den können, die Jahresbilanz sei befriedigend ausge¬ fallen. „Gott hilft!", hatte er fromm hinzugefügt. Die stürmische Aufwärtsbewegung der Kaffeepreise im Jahre 1886 war unserem Hause sehr zu statten ge¬ kommen, wir haben sie auch spekulativ so weit mitge¬ macht, als uns dies nach unseren vorsichtigen Grund¬ sätzen angezeigt erschien. Der später naturgemäß ein¬ getretenen rückläufigen Bewegung und den daraus drohenden Verlusten konnten wir, gut vorausblickend, geschickt genug ausweichen. So war auch im kaufmän¬ nischen Leben eine gewisse Sicherheit über uns gekom¬ men. Die Einführung der Differenzialzölle für Im¬ porte über Triest, die eine ganze Anzahl neuer, großer 141 Kaffee- und Gewürzimporthäuser aus Deutschland und aus Österreich nach Triest rief, der Wechsel in unserer Valuta von Gulden auf Kronen, die Aufhebung des Freihafens und der damit verbundene Übergang zu den „Zollverschluß"- und den „Kontierungsmagazinen" mit ihrer nicht einfachen Anlage und Verrechnung brachten eine Fülle von Arbeit,die uns fleißig und gewissenhaft an unserem Platze fand. Bald sahen wir die Notwendig¬ keit ein, unseren Beamtenstand allgemach erhöhen zu müssen und zogen dazu Kräfte aus Deutschland an uns heran, die sich zum großen Teil ganz ausgezeichnet be¬ währt haben. Einen gänzlich unvermuteten Schlag, den uns das Fallissement unseres aus Vaters Zeiten über¬ kommenen Wiener Bankhauses Kendler L Co. ver¬ setzte, überwanden wir rascher, als wir im ersten Augen¬ blick befürchtet hatten. Nach außen hin genossen wir immer höhere Achtung, verstanden es auch, uns viel selbstbewußter durchzusetzen, als dies unserem Vater bei seiner übergroßen Bescheidenheit je möglich gewesen war. Das Verträum zu uns wuchs immer mehr und mehr, große Kredite wurden uns angeboten, doch im¬ mer noch nur selten von uns benützt. Wir werteten un¬ ter den ersten Häusern des Platzes, standen auf festen Füßen und sahen auch da unserm Weg frei. 142 Toni Ich ging einmal in einer warmen Sommernacht spät nach Hause. Es muß nach einem Theaterabend ge¬ wesen sein. Beim Caffe Fabris kam von der Seite her ein Hund aus mich zu. Er tat sehr bekannt und erfreut und wedelte mich heiter an. „Servus", sagte ich zu ihm, wie man unter Studenten zu sagen pflegt. Er ging ohne weiteres mit. Wäre er ein Mensch ge¬ wesen, so hätte er mich gewiß unter den Arm genom¬ men. Ein anderer Hund wäre zur Seite oder hinterher gegangen. Er zog vor mir dahin, nicht ohne sich ge¬ legentlich liebevoll nach mir umzusehen, als habe er die Absicht, mich zu adoptieren. Er war mittelgroß, eher klein, recht mager und struppig. Schön war er nicht. Über die Rasse wurde ich mit mir nicht einig. Den kurzen, geringelten Schwanz trug er zur Seite geneigt. So schnurstracks er ging, hatte es infolge des¬ sen den Anschein, als bewege er sich in Hyperbeln. Vor meinem Haustor angelangt, sagte ich ihm be¬ dauernd, meine Mutter sei prinzipiell gegen alle Hun¬ de, er möge entschuldigen, aber eintreten dürfe er nicht. Er schien nicht im mindesten beleidigt, und als das Tor aufging, huschte er als erster hinein. Im Garten war noch Licht, da saß meine Schwester und las. Alle an¬ deren schliefen schon. „O, die Schwester", dachte er und begrüßte sie mit achtungsvoller Ergebenheit. 143 „Schone Geschichte", sagte ich, „was wird Mama sagen?" Wir saßen und beratschlagten. Fortjagen ging nicht mehr an. So ließen wir ihn im Hofe und gedach¬ ten, die Sache vorerst einmal gründlich zu beschlafen. Als ich am anderen Morgen in schweren Sorgen wegen des Kommenden aufwachte, hatte er sich seine Stel¬ lung im Hause schon gemacht. Da er uns nämlich schei¬ den und das Tor zum Hofe vor ihm zufallen sah, hatte er sich erst einem stummen Schmerze hingegeben. Dann hat er erst leise zu jammern und endlich lauter und lauter zu rufen begonnen. Mama, die der Dienstboten wegen immer mit einem offenen Ohre schlief, erwachte und dachte verwundert, wieso es möglich sei, daß vom Hofe herauf Hundegejammer ertöne. Sie erhob sich, ging im leichten Nachtgewand und in ihren niederen, schwarzsamtenen Pantoffeln die Treppe hinab und öff¬ nete das Hoftor, um nachzusehen. „O, die Mama", blitzte es durch seine geängstigte Seele! Es war der Augenblick, der über sein ganzes künftiges Leben entscheiden mußte. Er nützte ihn mit Geist und Verständnis. Er warf sich ihr zu Füßen, die er nach seiner Art mit Liebkosungen zu überdecken be¬ gann. Nun war meine Mama sehr kitzlig, und es war ihr sogar unangenehm, wenn ein Fremder ihre Hand küßte, geschweige denn die Füße. So wandte sie sich, da einige verzweifelte Abwehrversuche nicht glückten, zu eiliger Flucht. Das Hoftor blieb offen, rasch die Treppe hinauf, den Hund immer liebkosend an den Fersen! Beflügelten Schrittes erreichte sie ihr Zimmer. Der Hund nach. Es blieb Mama nichts übrig, als schnell unter die Decke zu schlüpfen. Da setzte er sich vor ihr Bett hin und bat mit den Augen. Jeden ihrer Ver- 144 suche, aufzustehen und ihm die Türe zu weisen, erstickte er mit seinen Liebkosungen im Keime. Jedesmal mu߬ ten ihre Füße sofort unter der Decke verschwinden. So ist es gekommen, daß der Findelhund diese erste Nacht in unserem Hause in Mamas Schlafzimmer zugebracht hat. Und noch mehr! Als sie morgens erwachte, da hatte er es sich auf Papas längst verwaistem Bett nebenan bequem gemacht und begrüßte sie von dort aus als alter Hausfreund und Zimmerkamerad. Das hat Mama so schwer kompromittiert, daß sie schwach wurde und unseren vereinten Bitten nicht widerstand. Der Hund blieb. Wir dachten an einen Namm. Toni erschien uns der richtige. Toni Kugy natürlich. Da ich aber Doktor bin, so schien mir mein akademischer Titel fast eine Provokation zu sein, wenn ich nicht auch ihn promo¬ vierte. Bei offiziellen Gelegenheiten wurde er somit als Doktor Toni vorgestellt. Toni hat rasch eine fabelhafte Karriere gemacht. Er wurde nacheinander Garten-, Hof-, Haus-, Zim¬ merhund, er wurde Wächter und Vertrauter, Freund und Berater, gelegentlich war er Herr und alles. Es öffneten sich ihm alle Türen, er blickte in alle Läden und Kästen. Die Besuche führte er ein. Mit allen war er gut Freund. Ob sie wollte oder nicht, mußte Mama sich seine besondere Anhänglichkeit gefallen las¬ sen. Gerne lagerte er auf dem Saume ihres Kleides, wenn sie saß, und kam jemand, so schien seine Miene zu sagen: „Siehst du, das ist mein Platz. So weit habe ich es gebracht!" Aber auch am schuldigen Respekt ihr gegenüber ließ er es nie fehlen. Lag er auf der Strohmatte am Fuße des Stiegenaufganges, so rückte 10 145 er nur ein klein wenig beiseite, wenn wir anderen hin¬ aufgehen wollten. Kam aber Mama, so stand er voll Ehrfurcht auf, stellte sich zur Seite und blickte ihr stehend nach, bis sie oben verschwunden war. Dann erst legte er sich wieder hin. Das war gewiß ein feines und tadelloses Benehmen, und Mama lächelte ihm gütig zu. Dann begann er des untätigen Lebens überdrüssig zu sein und sich nach einer passenden Beschäftigung um¬ zusehen. Die suchte und fand er im Stall. Nie hat ein Stallhund seinen Stallberuf ernster aufgefaßt, als Toni es tat. Schon beim Putzen und Striegeln früh morgens war er dabei, lief geschäftig auf und ab und hielt die Pferde durch passende Zurufe in Zucht und Ordnung. Zum Einspänner» an den Arbeitskarren be¬ gleitete er sie einzeln hinaus und sah zu, daß sie sich ordentlich zur Deichsel stellten. Wenn dann Christian, der alte Kutscher, um 7 Uhr morgens zur Arbeit fuhr, sprang er freudig bellend voraus und verkündete durch alle hallenden Gassen, daß der beste und vornehmste aller Karren herankomme. Unbeschreiblich war seine Würde, wenn er wachen Auges und mit gemessener Feierlichkeit neben dem hoch¬ beladenen Karren einherschritt. Denn da galt es den Pferden und zugleich der kostbaren Ware. Christian war Meister in der Kunst, die Pferde recht weit von einander anzuschirren, daß sie breit und in wohlgenähr¬ ter Behaglichkeit einherzogen. „Wie zwei Kühe", be¬ haupteten die neidischen Zungen. Aber Christian und Toni wußten es besser. Es sah aus wie eine gewaltige, schwerbeladene Fregatte, die direkt von jenseits der Meere dem Hause seine Waren zuführte. Und Toni 146 war der nimmermüde Pilot! Begegnete man ihm da, so lief er nur auf einen Augenblick grüßend herüber und sofort wieder zurück. „Keine Zeit, keine Zeit, du siehst, ich habe Arbeit und Verantwortlichkeit!" Wurde dann abgeladen, so lag er daneben, be¬ obachtete aufmerksam, wie die Waren im Magazin verschwanden, und ruhte mit hängender Zunge von der schweren Mühe aus. Manchmal erhob er sich, lief ins Bureau im ersten Stockwerk hinauf, machte eine kurze Runde, um zu sehen, ob auch da alles in Ordnung sei, und kehrte wieder an seinen Platz zum Karren zurück. In die Wohnung kam er von da an seltener. Vielleicht um uns den penetranten Stallgeruch zu ersparen, der ihm bald anzuhaften begann, und der Mama zur Ver¬ zweiflung brachte, wahrscheinlich aber aus absolutem Zeitmangel. Er war ein sehr selbständiger Charakter. Was man so folgen nennt, das hat er nie gekannt. Er tat seine selbstgewählte Pflicht und wahrte sich im übrigen seine persönliche Freiheit. Er war keine Diener-, sondern eine Herrennatur. Das liebe ich auch an Hunden. Ich wün¬ sche nicht, daß sie mich auf Kommando anwedeln. Kom¬ men sie aber aus freiem Antrieb und bekennen sie mit aufrechtem, stolzem Gruß: „Du bist und bleibst mein lieber, freigewählter Herr, zähle auf mich, deinen ge¬ treuen Vasallen, in Freud und Leid, in Not und Ge¬ fahr", so atmet man in reiner Luft und fühlt sich drei¬ fach beglückt und gesichert. Wahre Liebe und Treue gedeihen nur in der Freiheit. Machten wir Sonntags Ausflüge zu Wagen, so lief er immer nebenher oder als Wegweiser vor den Pferden. Sehr oft ging es da nach Lipiza. Manchmal 147 schwenkte er in die Karstwiesen ab oder sagte einem Hasen nach. Dann kam er wieder zu uns, wenn wir von der Terrasse des lieben Lipizaner Gasthauses auf die schöne, grüne Waldoase hinabblickten. Kam er nicht, so wußten wir, er habe genug von der Landpartie und sei auf eigene Rechnung und Gefahr nach Hause gegangen. Er band sich nicht gerne. Einmal begleitete er mich auf den Slavnik. Als ich von der Kuppe jen¬ seits abzusteigen begann, sah er mich schief an und blieb erstaunt stehen. „Geh' doch mit, Toni", sagte ich zu ihm. Aber in seinen Augen bemerkte ich, daß sein Sinn heimwärts stand. Der Weg ist weit. Um ihn nicht zu verlieren, band ich ihm eine Schnur um den Hals und zog ihn sanft nach. Aber schon nach wenigen Schritten hatte er sie durchgebissen und eilte zurück. Mein Rufen hatte nur zur Folge, daß er den Schweif einzog und noch rascher lief. „Ist mein Herr so ver¬ rückt, so will ich es nicht sein", dachte er offenbar. Und als ich spät abends nach Hause kam, wurde mir erzählt, er sei schon in den ersten Nachmittagsstunden dagewesen. Er begrüßte mich, als ob nichts vorgefal¬ len sei. Auch in den Gassen der Stadt wünschte er manch¬ mal incognito herumzuflanieren. Begegnete ich ihm dabei, so schaute er auf die andere Seite und tat, als sehe er mich nicht. Wäre er ein Mensch gewesen, so hätte er dazu einen Gassenhauer gepfiffen. Aber ge¬ sehen hatte er mich natürlich doch, denn als ich an der Ecke stillstand und ihm nachsah, hatte auch er sich eben nach mir umgeblickt, ehe er an der jenseitigen Ecke verschwunden war. Wenige Minuten darauf konnte er dann nachgejagt kommen, um in ausgelassener Freude 148 ein Wiedersehen zu feiern, als sei es das größte Glück, mir zu begegnen. Ein ausgesprochener Charakter! Einknicken, scherwenzeln, das konnte er nicht. Im Staatsdienst, bei Militär wäre er schwer weitergekom¬ men. Er gehörte auf die Höhen des Lebens, wo Herz und Geist entscheiden und alle gleich sind, die recht¬ schaffen ihre Pflicht erfüllen. So hat er zehn oder zwölf Jahre in unserem Hause gelebt. An allen Geschicken, die es in diesem Zeiträume betroffen haben, an freundlichen und tröstlichen, aber auch an widrigen und traurigen hat er mit der Kraft seines Herzens teilgenommen. Dann legte er sich hin und starb. An Altersschwäche. Im Stalle. Das Leben der Hunde ist leider kurz, viel kürzer, als mancher un¬ nütze Mensch es verdienen würde. Ich besuchte ihn, da er auf seinem Sterbebette lag. Er konnte nicht mehr essen. Doch wedelte er schwach mit dem Schweife und küßte mir leise die Hand. „Nichts zu machen", sagte achselzuckend der Arzt. Christian stand trübe daneben, die Pferde hielten die Köpfe gesenkt, der Stall trauerte. Im Hause war alles still! Toni lag im Sterben! Alles hätte so gerne geholfen! Sein Begräbnis war sehr arm. Einen Stein er¬ hielt er nicht. Aber hier, lieber Toni, alter Freund aus glücklicher Zeit, habe ich dir ein ganz bescheidenes Denk¬ mal gesetzt. Deine einfache, prunklose Seele versteht, daß ich es besser nicht machen kann. Dankbar und treu wedelst du von fernen Gestaden herüber! 149 Johann Sebastian Bach Meine Sehnsucht nach der Orgel war immer grö¬ ßer geworden. Es traf sich gut, daß mein alter Stu¬ diengenosse Dr. Heinrich Medicus Sohn des evan¬ gelischen Pastors in Triest war. So kam ich zur Orgel der evangelischen Kirche. Es war ein schönes, deutsches Werk, damals gewiß das beste in der Stadt, mit gut gewählten Registern im ersten, etwas zusammengewür¬ felten im zweiten Manuale. Doch war da ein sehr fein abgetöntes Salieional achtfuß, das wundersam durch den Kirchenraum schwebte und sich ganz außerordentlich zu leisen Begleitungen eignete. Die Bässe genügten, das volle Werk erbrauste edel und feierlich. Ich war selig, bin aber mit Herzklopfen und etwas zaghaft an das Instrument herangetreten. Lehrer hatte ich keinen, auch anfangs keinen Berater. Die Worte meines Va¬ ters klangen immer noch in mir und gaben mir die Rich¬ tung, sonst war ich auf meine eigene Findigkeit, auf meinen Geschmack, dann aus das Wenige angewiesen, das aus dem Spiele des Lehrers Merk in meiner Er¬ innerung haften geblieben war. Allerdings hatte ich da¬ mals scharf genug aufgepaßt. Ich ließ mir an alte Ballschuhe hohe Absätze machen, übte Spitze — Ab¬ satz, Absatz — Spitze der Fußtechnik mit Heller Be¬ geisterung und befliß mich der allergrößten Genauig¬ keit und Sauberkeit in Manualen und im Pedal, in Finger- und in Fußsatz, ebenso natürlich überall 151 sorgfältig gebundenen Spieles. Das ist dann auch auf mein Klavierspiel übergegangen, so daß man heute noch manchmal meinen könnte, ich spiele Orgel am Klavier. Das freut mich dann immer so. Klavierstaccati auf der Orgel haßte und hasse ich aus dem tiefsten Grunde meiner Seele. Das richtige Phrasieren habe ich aller¬ dings erst viel später gelernt. Musikalische Literatur schöpfte ich aus „Orgel"-, „Handbüchern" und „Prä- ludiensammlungen" anerkannter Verlage. An Bach getraute ich mich noch nicht, ich blickte von ferne ehr- fürchtiglich zu ihm hinüber. Von Dietrich Buxtehude, dem großen Lübecker Organisten, spielte ich nur erst die leichten Choralbearbeitungen der Ausgabe Philipp Spitta, in der ich allerdings ab und zu ein heraus- geschriebenes Pedal vermißte. Es ist ein kluger Grund¬ satz in meinem Leben gewesen, immer alles klein zu beginnen und dann erst, vom Fortschritt und vom Er¬ folg getragen und gedrängt, ins Größere emporzuwach- fen. Bescheiden anfangen und allgemach groß werden, nicht übergroß einsetzen wollen, dann jammervoll zu¬ sammenbrechen müssen! Das gilt wohl auch für den Kampf im wirtschaftlichen Leben. , Bald hatte ich in der Kirche meine bescheidene Be¬ deutung. Ich vertrat den angestellten Organisten, wenn er krank oder sonst verhindert war. Da horchte die Ge¬ meinde auf. Denn ich hatte schon meine besonderen Far¬ ben, war auch nicht von der arm beschränkten und furcht¬ samen Art, die erst lange nach der richtigen Taste su¬ chen muß, ehe der Finger sie niederdrückt. Ich beglei¬ tete den Choralgesang mit richtig angepaßten Registern, spielte zum Anfang des Gottesdienstes ein leicht ver¬ ständliches Präludium, zum Ausgang irgend ein fest- 152 liches Prunkstück, das ich der frommen Gemeinde für den Sonntag mitgeben wollte. Doch niemals etwas ganz Unbedeutendes oder gar wirklich Plattes. Auch wollte ich da immer die Kirchenorgel in ihrem vollen Glanze vorführen. Und noch etwas kam hinzu. Es ge¬ hörte bald zum guten Ton in der evangelischen Gesell¬ schaft, in der ich mich mit aufrichtiger Vorliebe be¬ wegte, daß ich gebeten wurde, zu den Hochzeiten auf¬ zuspielen. So habe ich einen großen Teil der Mit¬ schülerinnen meiner älteren Schwestern und viele mei¬ ner anmutvollen Tänzerinnen, auch manche meiner braven Sängerinnen aus dem „Singverein" „einge¬ orgelt". Ich tat es sehr gerne. Mein Gott, man freute sich ja so sehr, wenn eines dieser lieben, guten Mäd¬ chen, die man von der Schulbank hatte emporwachsen gesehen, „schon" oder „rechtzeitig" oder manchmal auch „endlich" an den Altar trat, und tat alles, mit klingenden und froh jubelnden Registern zum Glanze seines hohen Festes beizutragen. Unmittelbar nach der Hochzeit, bei Darbringung meiner Glückwünsche, pflegte ich die jung angetrauten Frauen zu fragen, was ich ihnen denn zum Schlüsse aufgespielt habe. Sie rieten, lieb und dank¬ bar lächelnd, gewöhnlich auf den „Brautgesang" aus dem Lohengrin. Aber gerade den habe ich niemals ge¬ spielt. Auch Schwester Anna habe ich eingeorgelt, die katholisch und evangelisch getraut wurde. Da stellte ich die gleiche Frage an meinen neuen Schwager Ferdi¬ nand. Er hatte keine Ahnung. Und es war das „Gau¬ deamus igitur" gewesen! Einmal mußte ich eine geplante, sehnlich erwartete Fahrt auf den Suhi Plaz aufgeben, weil mich eine solche unabweisliche Pflicht rief. Und ich hatte mich auf 153 den Tag in den Bergen so gefreut! Aber es war das liebe PfarrerStöchterlein. Da habe ich die Orgel erklingen lassen! Und man wisse nur, wieviel Dank ich geerntet habe dafür. Noch heute sagt mir die still lächelnde Braut von damals, die nun still lächelnde Großmutter ist, wie lieb und brav ich zu ihr gewesen sei. Ihre Toch¬ ter aber ist der seelenvollste Alt, den ich kenne, und singt Schubert, wie ich es mir schöner nicht wünsche. Man höre nur von ihr: „Wohin", „Die Pause", „Der Lindenbaum", „Der graue Kopf", „Der Weg¬ weiser". Sie spricht so schön, auch ihre deutsche Sprache ist Musik. Alles singt und klingt zu Wohllaut, zu einer rührenden Einheit zusammen, das einfach aber wunderfein gebrachte Lied, voll Poesie darüberschwe¬ bend das unvergleichlich gesprochene Wort. Da kommt es vor, daß man eine Zeitlang nicht reden kann, ist so ein Schubertlied zu Ende. Man muß etwas warten, ehe man möglichst trocken zu sagen vermag: „Das haben Sie wirklich gut gemacht!" Zum Schlüsse ver¬ lange ich immer „Das Veilchen", erfahre aber leider, das sei zu schwer, viel zu schwer, überhaupt Mozart! Ich mache ein betrübtes Gesicht, aber schon kommt „ein' junge Schäferin" mit leichtem Schritt und mun- term Sinn daher, daher, die Wiese her und singt. Das dramatische Ende des armen Veilchens berührt mich überaus traurig, trotzdem bin ich froh und zufrieden: ich bin der Begleiter, ich bleibe es, ich will und werde es immer sein. Das ist mit ein Stolz meiner alten Tage! Schwager Emil sagte mir eines Tages, ich solle doch endlich an Bach herantreten, es müsse nun sein. Ich tat es. Man hat meine Art, wie ich in die West- 154 alpen eingezogen bin, über die Ostwand des Monte Rosa, etwas hochgemut gefunden. Nicht minder hoch¬ gemut ist sicherlich mein Einzug in Bachs Orgelmusik gewesen. Ich begann mit der großen Fuge in A moll. Doch war ich ihr noch nicht gewachsen, ich stand ihr etwas fassungslos gegenüber, spielte sie zu rasch, fast etüdenhaft. Die ungemessenen, niemals erschöpf¬ lichen Schätze an Poesie und Romantik, die Bach in seinen Werken niedergelegt hat, erkannte und verstand ich damals noch nicht, sah weniger die wunderbare Schönheit der Architektur als die scholastische Form. Auch versagte meine bescheidene, im Registrieren er¬ worbene Fertigkeit gegenüber einer derartig hochgestell¬ ten Aufgabe. Ich schwankte bei der Wahl der Farben, wo es galt, die eintretenden Stimmen gebührend her¬ vorzuheben, erfaßte noch nicht die richtigen Stellen, wo es notwendig ist, den Senkungen, Hebungen und Steigerungen des unvergleichlich geführten Satzes mit der richtigen Registrierung zu folgen. Trotzdem ist et¬ was wie ein Hauch von ewiger Größe durch den Kir¬ chenraum gezogen, als ich die Fuge nach einer feier¬ lichen Sylvesterandacht zum ersten Male vorsührte. Aber erst nach Jahren, da ich im Orgelspiel erstarkt war und schon mein eigenes Werk besaß, hat sie in ihrer ganzen Größe, in ihrer vollen Pracht und Herr¬ lichkeit, ihren triumphalen Einzug in Triest gehalten. Dazu spielte ich noch andere Sachen von Bach, so die kleine Fuge in Amoll, deren Authentizität man allerdings bezweifelt. Sie wird von einer „Fantasia" vorbereitet und hat ein besonders markantes Thema. Mein Balgtreter war damals unseres alten Gärtners Sohn, der den gleichen Namen trug und darum bei uns 155 immer „der junge Giorgio" hieß. Er arbeitete in mei¬ nen Magazinen, war überall sehr brauchbar und ge¬ wandt, beim Kaffee, beim Ol, bei den Maschinen, half auch im Garten tüchtig mit. Sehr drollig war seine Einstellung zu Bachs Musik. „()ue8lL xe mušica, cüe P2882 per'I rervel", pflegte er zu sagen: „Das ist Mu¬ sik, die durch's Gehirn fährt." Die Themen merkte er sich bald, dann pfiff er sie mit großer Liebe, Ge¬ nauigkeit und Kunst zu seiner Arbeit. Besonders gern und weithin hörbar, wenn er die Bäume beschnitt. Es wird in jenen Zeiten wohl ab und zu ein Musiker an unserem Garten vorübergegangen sein. Wie mag sich der gewundert haben, wenn er da von oben herab, flott und sicher gepfiffen, Bachs Fugenthemen vernahm und, aufblickend, den großen Vogel sah, der mit Baum¬ schere, Axt und Säge hoch im Geäste hing und frohen Mutes flötete und musizierte. Ich bekam Helfer und Berater. Als ich einmal für den Schillerverein Umfrage zu halten hatte, ob sich jemand in der Stadt gut in Harmoniumsachen auskenne, wurde mir ein Carlo Painich genannt. Der wisse es. Er sei im Theater zu finden, wo er eben zu den Faustaufführungen die Theaterorgel spiele. Ich fand nach einigem Suchen, in einem Winkel hinter den Kulissen versteckt, einen überaus bescheidenen, ganz ver¬ schüchterten jungen Mann, der auf meine Fragen so¬ fort treffendsten Bescheid sagte und sich mir mit voller Bereitwilligkeit ganz zur Verfügung stellte. Er kannte mich schon, doch habe ich erst viel später von ihm selbst erfahren, er sei oft, auch in kalten Boranächten des Winters, vor der verschlossenen Pforte der evange¬ lischen Kirche gestanden und habe aufmerksam und sehn- 156 süchtig zugehört, wie ich an den Pedalen übte und dar¬ an meine Fortschritte machte. Gewiß, er kannte alles: Harmonium, Orgel, Bau, Technik, Register, Har¬ monielehre, Kontrapunkt, Bach, Gesang a eapella, Pa- lestrina. Eine ganze Welt von Wissen und Gelehrsam¬ keit strömte mir aus einem begeisterten und hochbegna¬ deten Musikherzen entgegen. Nur eine Orgel hatte er nicht, auf der er hätte spielen können. Ein brauchbares Klavier, eine gute Geige hat man bald. Aber wie schwer kommt man zur Orgel, zur Königin der Instrumente. Da gibt es oft ein langes und banges Antichambrieren! Diesen Painich habe ich hervorgezogen, aus seiner über¬ großen Bescheidenheit, die fast Demut war, ganz or¬ dentlich, buchstäblich hervorgezogen. Sein Name müßte von nun ab auf feder Seite dieses und des folgenden Kapitels stehen. Er ist Schüler Wieselbergers in Triest und Giuseppe Terrabugios in Mailand gewesen. Heute ist er der hochangesehene Domkapellmeister in der alt¬ ehrwürdigen Kathedrale von San Giusto, unbestritten erste und führende Autorität in all unserer „Musiča saera". Kurz darauf erschien ein zweiter funger Mann vor mir, zart und schmal, ein entzückend feiner musikalischer Geist: Federigo Provini. Er kam vom Wiener Konser¬ vatorium, war Organist, daneben Philosoph und Ma¬ thematiker, hatte unter Josef Labor und Vockner stu¬ diert. Auch er noch ohne Orgel, voll Sehnsucht nach einem Instrument. Ich sah für ihn keine Zukunft in Triest und habe ihm ost geraten, er solle fortziehen, nach Deutschland, nach England, dort werde er seine glänzende Laufbahn finden. Meinetwegen möge er als Holzhacker beginnen, sein wundervolles Talent werde 157 sich schon siegreich durchringen. Aber gleich Painich war auch er echter Triestiner, in althergebrachten Gewohn¬ heiten tief verwurzelt. Provini hielten beschränkte Ver¬ hältnisse hier zurück, eine Familie voll rührender Liebe und voll Verständnisses für seine Ideale, das Kaffee¬ haus „Alla Stella Polare", wo er doch tagtäglich etwas sitzen und seinen „Piecolo" lesen mußte. Er wohnte in einer lieben, kleinen „Campagna" am Son¬ nenhange von San Giovanni. Sie lag am Wege, wenn man zum Monte Spaecato emporstieg. Ich erinnere mich, daß dort schon in frühen Zeiten oft Beethoven herausklang, wenn ich den Höhen des Karstes zu oder heimwärts gewendet vorüberging. Er ist erst Organist und Regens Chori im Dom von Capodistria geworden, wirkte dann in gleicher Eigenschaft in der kleinen Kirche Santa Maria del Rosario und als Musiklehrer in Trieft, ist allzu früh, mein Gott, so gar jung noch, gestorben. Gedenke ich jener längstversunkenen Zeiten, so sehe ich im Glorienschein pietätvoller Erinnerung einen milden, lichten Stern aufleuchten, verheißungsvoll über den Horizont wie zu glänzenden Bahnen sich erheben und unversehens und plötzlich erlöschen. So ist Federigo Provinis ob seines Wesens, ob seines idealen Strebens, ob seines traurigen Schicksals gleich rührende Gestalt gekommen und gegangen! Nun begannen die Debatten über Pedaltechnik und Registrieren, die oft bis in die späte Nacht hin¬ ein dauerten. Ich hatte schon meinen festen Stand¬ punkt, bin immer für Glanz und Farbe gewesen. Man dürfe nie vergessen, meinte ich, daß man Or¬ gel spiele und nicht Register. So zog ich fast nie¬ mals, nur in ganz besonderen Ausnahmsfällen, wenn 158 etwa der Charakter eines Themas oder eines Satzes es unbedingt so verlangte, achtfüßige Register allein. Ich wollte stets Orgelklang haben, ließ, wenn auch nur ganz leise und unaufdringlich, fast immer und überall das Helle Licht der Vierfüßer, oft auch noch höherer Pfei¬ fenreihen, hereinscheinen. Man gibt ja auch dem Spiel auf dem Klavier stets die Farbe des eigenen Anschlages. Provini hing nach seiner Schule eher an jener Art, de¬ ren Richtigkeit ich, nicht nach überkommenen und ge¬ lernten Regeln, sondern nach meiner ganz persönlichen Geschmacksrichtung, bestritt, weil ich sie ledern und dürr fand. Er war für vorsichtiges, manchmal sogar fast karg erscheinendes Zurückhalten, auf daß der volle Glanz der Orgel um so sieghafter erstrahle, wenn seiner An¬ sicht nach der richtige Augenblick dafür gekommen war. Painich hielt wohl eher zu meiner Richtung, hätte aber in seiner Herzensgüte am liebsten jedem von uns bei¬ den Recht gegeben. Man kann sich denken, daß ich dar¬ aus außerordentlich viel gelernt habe. Ich neigte mich selbstverständlich immer vor dem überragenden Wis¬ sen meiner beiden Freunde, bin trotzdem von meiner Eigenart nicht mehr abgewichen. In einem bemühte ich mich vor allem, Provini nach Tunlichkeit nahezukom¬ men: in der Kunst des Phrasierens, die aller The¬ matik erst die volle Klarheit gibt. In dieser ist er Mei¬ ster gewesen. Manchmal hospitierte bei uns in Triest der ganz ausgezeichnete Organist von Sant' Antonio in Padova: Oreste Ravanello. Da hätten wir zu un¬ seren Debatten schon ganzer Nächte bedurft. Und schlie߬ lich trat als vierter in unseren Bund Carlo Angelelli, nicht Organist sondern Klavierspieler, ein gar Feiner, der, unbeirrt von allem Wandel der Zeiten, immer 159 wahrhafter Musiker geblieben, nie Virtuose geworden ist, heute noch vorbildlich in Rom wirkt. Heller trat an mich heran, wir veranstalteten in der Kirche Konzerte zu wohltätigen Zwecken, Akademien, auch Liederabende, in denen er die Geige spielte, seine Schülerinnen sangen. Auch der „Singverein" wirkte wiederholt mit, so einmal in der schönen Hymne für eine Sopranstimme mit Chor und Begleitung der Or¬ gel von Mendelssohn, dann in großen Chören von Hän¬ del, aus dem „Judas Makkabäus", dem „Messias" und aus „Israel in Egypten". Besonders stimmungs¬ voll war ein Liederabend der Friederike Mayer. Ich selbst trachtete, das Kirchenwerk in all seinen Farben erglänzen zu lassen, vermied es aber, mit großen Orgel¬ kompositionen konzertierend hervorzutreten, da ich jedem Anschein aus dem Wege zu gehen wünschte, als handle es sich mir um persönliche Erfolge. Die Begleitungen gaben mir befriedigende Beschäftigung genug. Man brachte diesen Veranstaltungen sehr großes Interesse entgegen, die Kirche war jedesmal übervoll, und wir konnten den guten Zwecken, so auch den Kirchenarmen, sehr ansehnliche Ergebnisse zuführen. Wenn man, noch so ideal arbeitend, im Vorder¬ gründe steht, braucht man um Widersacher nicht be¬ sorgt zu sein. Sie kommen von selbst und gerne heran. Einem der Gemeindepresbyter begann es nicht zu pas¬ sen, daß eine Privatperson die Kirchenorgel benütze. Er nahm immer dringender Stellung dagegen. Als es ihm auf geraden Wegen nicht glücken wollte, mich zu ver¬ drängen, denn es hielten starke und einflußreiche Gönner ihre Hände über mich, verschmähte er es nicht, krumme einzuschlagen. Ich war energisch und nahm den Kampf 160 auf. Als ich ihn einmal auf unwahren Ausstreuungen über mein Benehmen in der Kirche ertappte, nagelte ich diese und meinen Gegner vor dem Plenum des Ge¬ meindeausschusses in einer Weise an, daß ihm für einige Zeit wohl Hören und Sehen vergangen sein mag. Aber dadurch schuf ich mir einen erbitterten, persön¬ lichen Feind. Er ließ nicht nach, und da das Presby¬ terium den Frieden in der Gemeinde gewahrt wissen wollte und wohl auch mußte, faßte es, nicht leichten Herzens, den Beschluß, es dürfe von nun an die Orgel nur mehr zu kirchlichen Zwecken benützt werden. Alles stand empört auf meiner Seite, denn ich wurde schon damals wie heute allgemein wirklich auf Händen ge¬ tragen, aber ich war damit, wie man so sagt, einfach „hinausgeschmissen". Lustig ist es gewesen, daß ich in jenen Tagen eben ein amtliches Dankschreiben des Pres¬ byteriums erwartete, weil ich den Kirchenorganisten in einer sehr langwierigen Krankheit oft und oft vertreten hatte, und anstatt eines solchen nun die trockene Ab¬ sage in der Hand hielt. Sofort traten die Herren von der helvetischen Gemeinde an mich heran und boten mir ihre Kirchenorgel an. Es war ein altes, minderwer¬ tiges, knarrendes Werk, auf dem man nur zur Not üben konnte. Trotzdem nahm ich dankbar an. Aber mein Entschluß war gefaßt: ich wollte mir eine eigene Orgel bauen. Meine Mutter war ganz begeistert von meiner „guten Idee". Es galt zunächst, der Platzfrage näher- zutreten. In unserer Wohnung war die Aufstellung natürlich unmöglich, wir hatten keinen genügend gro¬ ßen Raum. Ich dachte erst an den Saal unseres Schil¬ lervereins. Doch protestierten da die Zeitungsleser und die Kartenspieler, die Ruhe und Stille haben wollten, " 161 und noch schärfer war der Verein „Lisino vecclüo" unter uns dagegen, der befürchtete, sein Saal könnte der Resonanzboden für meine Orgel werden. Das war ein großes Glück für mich, im Saal hätte das Werk durch Verstaubung, durch die andauernden Erschütte¬ rungen bei den Tanzunterhaltungen und durch die schar¬ fen Temperaturunterschiede gewiß sehr gelitten. Auch gehört die Orgel nicht in einen Konzertsaal sondern in einen Kirchenraum. Sie ist ein kirchliches, ein heiliges, nicht ein profanes Instrument. Jede Orgel verliert im Konzertsaal. Der Triester Bischof, an den ich mich wandte, hatte für meine Herzenswünsche nicht das aller¬ geringste Verständnis. Er maß mich ganz erstaunt, und ich erhielt einen drolligen Bescheid: gewiß dürfe ich eine Orgel in eine katholische Kirche einbauen, man nehme ein derartiges Geschenk gerne und dankbar an. Aber sie müsse nur kirchlichen, nicht meinen privaten Zwek- ken dienen. Da hätte ich also keinerlei künstlerische Frei¬ heitgehabt. „Gute Idee!", sagte meine Mutter wieder, denn sie konnte auch ironisch sein. Ich versank in schwere Grübeleien und Sorgen, dachte Tag und Nacht nur mehr an eine richtige Lösung. Trat ich in einen großen Raum, und war es selbst ein Restaurations- oder ein Wartesaal, so prüfte ich ihn sofort auf seine akustischen Eignungen, in den Träumen meiner Nächte erschienen mir herrliche Kathedralen mit hochgekuppelten Schif¬ fen, durch welche zu gedämpftem Sonnenlicht feierlicher Orgelklang flutete. Ein lieber Freund rettete mich aus Lieser Not. Er wohne im ehemaligen Mechitharistenkloster auf einer der Triester Höhen, in der Via Giustinelli, nahe an der „Schanze". Der Verwalter des Gebäudes und der 162 darin befindlichen armenisch-katholischen Klosterkirche, Pater Samuel, lasse mir sagen, er würde meinen Wün¬ schen in der liberalsten Weise entgegenkommen. Ich eilte hinauf, und als ich in die Kirche trat, wußte ich sofort: „Hier oder nirgends!" Sie war klein, sehr hoch, von einer breiten Kuppel überwölbt. Ein sehr großes, farbi¬ ges Rundfenster in Stockwerks-, zwei weitere rechteckige Fenster inErdgeschoßhöhe der sonnseitigenFassade ließen Helles Licht herein. Über einigen Stufen der Haupt¬ altar, davor das ewige Licht. Zwei Scitenaltäre, einer davon der heiligen Lucia, der andere der heiligen The¬ rese. Ein leiser Modergeruch. Alles etwas vernach¬ lässigt, doch fein und vornehm, lieb, so still, weltent¬ rückt und heimelig. „Willkommen!", sagte das Kirch¬ lein zu mir. Mein Vertrag mit der Mechitharistenkongregation kam bald und leicht zu stände. Der Erzbischof von Sa¬ lamina „in partibus infidelium", der als Generalabt der Mechitharisten im Wiener Kloster residierte, hat ihn unterschrieben. Die Orgel bleibe mein, so lange ich lebe, ich dürfe sie jeden Tag von zehn Uhr vormittags bis zehn Uhr abends benützen. Konzerte dürfe ich nicht geben, wohl aber meine Freunde in die Kirche laden. Zu den Messen müsse ich selbst spielen oder einen Er¬ satzmann stellen. Nach meinem Tode falle die Orgel ins Eigentum der Kirche. Amen! Dann reiste ich, um Orgelwerke zu sehen und zu hören. Meine beiden Freunde hatten mir zu einigen deutschen und italienischen Fabriken geraten. In Wien entschied ich mich für die Orgelbauer Gebrüder Rieger in Jägerndorf und habe damit einen sehr glücklichen Griff getan. Ich fuhr hin und bestellte das Werk. Die 163 Register wählte ich nach meinen Überzeugungen so, daß jedes der beiden Manuale ein in sich abgeschlossenes System, somit ein volles Werk darstellte. Nur Pfei¬ fen-, keine Zungenregister. Im ersten Manuale eine große, fünfreihige Mixtur, die nach italienischer Art ja nicht schreiend sondern weich und silberig klingen sollte, im zweiten eine zarte, ganz leicht darüberschwe¬ bende Harmonia aetherea. Im ganzen neunzehn Re¬ gister: vier im Pedal, darunter zwei sechzehnfüßige, neun im ersten Manuale, darunter ein sechzehnfüßiges Bourdon, sechs im zweiten. Einige der Register waren „kombiniert". Alle meine Wünsche konnte ich mir na¬ türlich nicht erfüllen. Ich hatte mit einer kleinen Kirche und mit beschränkten Raumverhältnissen, auch mit mei¬ nen nicht überreichen Mitteln zu rechnen, mußte überall Maß und Gleichgewicht einhalten. So war beispiels¬ weise ein von mir sehr geliebtes Register, das sechzehn¬ füßige Prinzipal, im Werk nicht unterzubringen, auch auf eine Viola vierfuß und auf Helle zweifüßige Reihen, die noch mehr Silber herzugebracht hätten, mußte ich nach langem Schwanken verzichten. Alles war genau vorbedacht, bis ins Kleinste durchberaten. Und nun harrte ich, über ein halbes Jahr lang. Sie kam, im November 1894. Ich begleitete den schweren Karrentransport hinauf in die Kirche. Am liebsten hätte ich dabei den Hut in der Hand gehalten. Wie steht alles vor mir, als sei es gestern gewesen. Spät am Abend waren die riesigen Kisten in der Kirche verstaut. Die Stadt zu Füßen erstrahlte in vollem Lichterglanz, auf dem Meere leuchteten, bis weit hin¬ aus, die roten, die grünen, die weißen Feuer. Es schien mir, als sei alles illuminiert. Auch in mir war so viel 164 Licht, solcher Jubel. Ein erreichtes Ziel! Ich wußte nicht recht, bin ich noch von dieser Welt! Dann bekam ich von den Monteuren das Verbot, ich dürfe mich in den nächsten acht Tagen, während des Auf¬ stellens und des Stimmens, nicht in der Kirche blicken lassen. Ich folgte wie ein Schulbub, frug aber immer heimlich den jungen Giorgio, der oben mithalf, wie das Werk klinge. „LI csntL in tutti i colori, el pari» IN tutte le linxue", sagte er mir begeistert: „Es singt in allen Farben, es spricht in allen Zungen!" Die Orgel übertraf alle meine Erwartungen, alle meine Hoffnungen. Wundervoll der gewaltige Baß des sechzehnfüßigen Violons, von seltener Schönheit das waldhornartige große Prinzipal, voll seltsamen, herben, fast fremdartigen Zaubers die scharf streichende, engmen- surierte Viola di Gamba mit den gelben Messing¬ bärten an den Pfeifenlippen, so süß die Flöten, herr¬ lich das Geigenprinzipal des zweiten Manuales, in be¬ strickendem Piano Aeoline achtfuß, Vox eoelestis acht- fuß, Violine vierfuß, morgenfrisch wie die ersten Son¬ nenlichter der Höhen die Harmonia aetherea, voll sieg¬ reichen Jubels die große Mixtur. Das volle Werk von elementarer, überwältigender Kraft, daß das arme Kirchlein in seinen Grundfesten erzitterte, doch nicht grell noch schreiend, sondern würdevoll, edel und weich. Um den Ton vornehm abzudämpfen, war an der Rück¬ seite ein großes Stück feinsten Tuches aufgespannt wor¬ den. Ein schöner Spieltisch aus Eichenholz mit allen technischen Behelfen an Druckknöpfen für Registerwir¬ kungen und Kombinationen, die Orgel selbst zweitür¬ mig aufgebaut, um das große Mittelfenster frei zu las¬ sen, das Holz des Gehäuses dunkelbraun gebeizt, mit 165 Gold ausgelegt, wozu man sich das blanke Silber der Pfeifenprospekte denken muß. Ich war auf meine Orgel glänzend vorbereitet, durch tägliches Vorüben auf dem helvetischen Werk und durch häuslichen Fleiß am Klavier. Sogar in Zermatt hatte ich mir ein Klavier gemietet und übte an den Regen¬ tagen, wenn die Berge verschlossen waren, im Schul¬ hause. Zwei große Orgelkompositionen Bachs waren technisch schon fertig studiert, ich brauchte sie auf meiner Orgel nur mehr fein zu registrieren.Das tatich mit Feuer¬ eifer. Die eine davon die „Toccata und Fuga" in C dur. Jene von gewaltigen Manual- und Pedalpassagen ein¬ geleitet, dann feinverziert, in unvergleichlicher Klang¬ schönheit, Mannigfaltigkeit und Größe fortgeführt bis zum entzückenden A-moll Adagio voll blütenreicher Ro¬ mantik, das Ganze überragt von der Schlußfuge mit dem energischen Thema einer Trompetenfanfare und dem über dem Orgelpunkt auf dem tiefen C herabwogen¬ den, geradezu phänomenal wirkenden Schluß. Die zweite eine der farbigsten und prunkvollsten Orgelschöpfungen Bachs: „Präludium et Fuga pro Organo pleno" in Es dur. Ein hinreißend schönes Präludium, das an die Feinheit Mozarts, noch mehr wohl an den strahlenden Glanz Händels erinnern mag. Drei Fugen darauf in fabelhafter Reihenfolge. Die erste wie aus Stahl ge¬ schmiedet. Ich konnte nicht anders, ich mußte sie durch¬ aus mit vollem Werk spielen, vom Anfang zum Ende. Die zweite gar schwierig zu registrieren, um so schwieriger nach meiner Auffassung der vorhergehenden: man sucht, man horcht, man ändert,ist trotzdem niemals vollkommen befriedigt. Sie führt zur dritten, der Tripelfuge, wohl einem der größten Meisterwerke Bachscher Orgelkunst. 166 Die ließ ich in raschestem Tempo heranbrausen wie ein Ungewitter, das über den vereinigten Themen der drei Fugen zu unerhörter Macht sich steigert. Und so, denke ich, muß es wohl sein. Auch die große Fuge in A moll nahm ich wieder vor. Ich spielte sie nun viel langsamer, in gemessenem Tempo und in möglichster Klarheit. Das Präludium, nach einigem, nicht befriedigendem, Her¬ umkünsteln mit den Registern, durchaus, aus einem Gusse, mit vollem Werk. Das Fugenthema begann ich auf den Prinzipalen, doch farbig, nicht trocken, trat nach den Durchführungen ins obere Werk, sogar in ein wun¬ dervoll wirkendes Pianissimo über. Zur Engführung stieg ich erst mit dem Pedal und mit der linken, gleich darauf auch mit der rechten Hand in die vollen Werke ohne Mixturen herab, ließ aber auch diese sehr bald an geeigneter Stelle aufleuchten und führte so die Fuge in einem Meer von Licht und Farbe, in unbeschreiblicher und geradezu sinnverwirrender Glorie zu Ende. So, jetzt war es gut! Nach meinem Vertrag hatte ich zu den Sonn- und Feiertagsmessen die Orgel zu spielen, was ich mit gro¬ ßer Hingabe und Pünktlichkeit tat. Die Kirche war nur zu diesen dem Publikum offen, sonst immer geschlos¬ sen, was für mich einen ganz außerordentlichen Vorteil bedeutete. Ich war dort wie zu Hause. In den Zeiten meiner Abwesenheit vertrat mich der eine oder der an¬ dere meiner beiden Freunde, für die es stets ein Fest war, wenn sie auf meiner Orgel spielen durften. Ich ließ sie auch sonst möglichst oft dazu. Es befanden sich einige Sängerknaben bei der Kirche, doch fehlte es mir an der nötigen Zeit, um mich mit ihrer Abrichtung und Ausbildung beschäftigen zu können. Es war somit ein 167 ganz ungeschulter Gesang, den ich mir anfangs gefallen lassen mußte. Ich werde noch erzählen, was ich später an seine Stelle gesetzt habe. Die Meßmusik nahm ich aus einem reizenden Band von „Musiea Sacra" aus dem siebzehnten und dem achtzehnten Jahrhundert, den Franz Commer herausgegeben hat, und der außer Kom¬ positionen von Bach und Buxtehude sehr schöne Sachen von Claudio Merulo, Georg Muffat, Johann Pachel¬ bel und anderen alten Meistern enthält, dann aus der „Collectio Musiees Organicae" des großen Ferraren- sers Girolamo Freseobaldi von Fr. L. Haberl. Tat¬ sächlich haben Freseobaldis „Toccate", „Kyrie", „Can- zoni", „Capricci", „Ricereari" viel in meiner Kirche geklungen und meiner Meßmusik Jahre hindurch ihren ganz eigenartigen, altertümlichen, etwas schweren und düsteren Charakter gegeben. Einen großen Schatz an herrlichster Musik fand ich in Spittas erstem Band von Buxtehude, der nebst „Passaeaglio" und zwei „Ciaeonen" seine Präludien, Fugen, Toccaten und Canzonetten bringt. Was sind da für entzückende lyri¬ sche und romantische kleine Sätze zwischen den freien Fugen der phantasieartigen Kompositionen eingestreut, deren tiefer Poesie man nur leise, vorsichtig und mit feinstem Verständnis nahen darf! Wohl schwebte ich damals in allen Himmeln. Meine Berufspflichten vernachlässigte ich nicht im geringsten, im Gegenteil arbeitete ich fleißig, mit voller Kraft, stand tüchtig auf meinem verantwortlichen Posten. Aber die Orgel klang ohne Unterlaß in meinem Herzen. Täg¬ lich hätte ich ihr Blumen schicken mögen. Und kam der Abend, so flog ich hinauf zu ihr, zu ihr, der Hei߬ geliebten. Ich spielte sie Tag für Tag drei Stunden. 168 Die erste galt den Pedalen, die zweite dem Einüben neuer Sachen, die dritte der Wiederholung des alten Repertoirs. Manchmal kam ich sehr müde nach Hause, gewöhnlich erst gegen elf Uhr nachts. Meine Mutter erwartete mich, immer treu und liebevoll besorgt, manchmal im Lehnstuhl eingeschlummert. Und die Schwestern waren da, so lange sie noch im Hause blie¬ ben. Oft auch Freunde, die meine Tageseinteilung kannten und mich sehen wollten. Ein frohes Abend¬ essen, ein gutes Glas Wein nach der Arbeit von heute, dann spät zur Ruhe für den morgigen, nicht minder arbeitsreichen Tag. Ich muß damals von Eisen ge¬ wesen sein, daß ich so viel leisten konnte! Es war offenbar zu schön, ein neuer Widersacher nahte. Ich habe schon erzählt, daß mein Kirchlein in der Mitte des Klosters eingebaut ist. Die beiden Sei¬ tenflügel, früher für die Patres bestimmt, sind zu Woh¬ nungen vermietet. So kommt es, daß sich zu beiden Seiten, von den Wohnungen des ersten Stockwerkes, Fenster in die Kirche öffnen. Es sind die alten Ora¬ torien, von denen die Patres der Messe beigewohnt haben mochten. Dem Mieter der Wohnung zur Rech¬ ten, einem etwas aufgeregten Schiffsarzt, wurde, fast zwei Jahre nach meinem Einzug, der Orgelmusik zu viel. Er stellte mich, und es entwickelte sich ein Zwiegespräch. „Wann werden Sie endlich aufhören, Orgel zu spie¬ len?", seine Frage. „Einige Tage nach meinem Tode", meine Antwort. „Ich bitte Sie, es sofort zu tun." „Das ist unmöglich." „Tun Sie es nicht freiwillig, so werde ich Sie dazu zwingen." 169 „Bitte, versuchen Sie es!" Krieg! Am Abend begann ich mein Spiel. Die Fenster des Oratoriums flogen auf, Heller Lichtschein: ein Har¬ monium ertönte. Es wurde nicht gespielt, man tastete und tappte darauf herum, mit falschen Tonleitern, mit schlechten Akkorden und bösen Dissonanzen, man lärmte damit. Geistesgegenwärtig und ruhig spielte ich weiter, als ob nichts wäre. Manchmal zog ich das volle Werk. Da setzte der drüben klug aus, um nachher mit ver¬ doppelter Gewalt wieder hervorzubrechen. Das währte die vollen drei Stunden, ich kam mit heißem Kopfe heim. Ob ich am Abend wieder spielen wolle, ließ er Tags darauf anfragen. „Gewiß!" Die Fenster flogen auf, Heller Lichtschein: Harmo¬ nium und Chor. Es sang die gesamte Familie, Mann, Frau, Kinder, Dienstmädchen, unisono, Skalen auf, Skalen ab, do, re, mi, fa, sol. Ich spielte ruhig, un¬ erschüttert die drei Stunden hindurch. Painich war ge¬ kommen, um sich den Spektakel anzuhören. Er floh sofort, entsetzt. Mein Kopf war ein Kürbis. Am dritten Tag die gleiche Anfrage, die gleiche Ant¬ wort. Am Abend: Heller Lichtschein, Harmonium, Chor, dieser etwas voller besetzt, vielleicht mit einigen stimm¬ kräftigen Gassenbuben verstärkt, und — o genialer Gedanke! — eine Militärtrommel. Sie wirbelte wie zum Angriff. Wo mag mein Gegner diesen fabelhaften Trommler nur aufgetrieben haben! Man hörte es weit hinaus. Die stille Via Giustinelli wurde lebendig, alles staunte: „Der Herr Kugy übt zu Orgel und Trom¬ mel!" Da nützte auch mein volles Werk wenig. Die 170 Trommel drang durch. Es war ein Höllenlärm. Trotz¬ dem wieder drei eiserne Stunden. „Um Gotteswillen", sagte meine Mutter, „er ist verrückt, er wird von sei¬ nem Fenster auf dich herüberschießen!" Ich sah ein wohlüberlegtes, starkes System. Für die nächsten Tage konnte ich mir Flöten und Geigen, Pauken und Trompeten erwarten. Ich mußte auf Ab¬ hilfe sinnen. Mit Prozessieren war nichts zu erreichen, es wäre gar langwierig und auch unsicher gewesen. Selbsthilfe mußte heran. Dazu standen zwei Wege offen. Der eine: ich nehme im Geschäft Urlaub, mache von meinem Recht Gebrauch und spiele von zehn Uhr vormittags bis zehn Uhr abends, alle zwölf Stunden hindurch. Das hätten seine Nerven nicht ausgehalten, er wäre ins Narrenhaus gekommen. Mir hätte es nicht geschadet. Bequemer und eleganter erschien mir der zweite. Einverständlich mit Pater Gregoris, dem da¬ maligen Verwalter der Klosterfiliale, öffnete ich die sonst immer geschlossenen Kirchentore zur Abendandacht. Er saß am Altar, die Kerzen brannten, das in Scharen herbeigeströmte Volk betete. Zwei Polizeiagenten stan¬ den bereit, den Kirchenstörer erst zu verwarnen, dann zu beanstanden. „Gute Idee", hatte Mama dazu ge¬ sagt. Ich wollte ehrlich sein, mein Widersacher war von allem schriftlich in Kenntnis gefetzt. Ein schöner figurierter Choral von Bach zog friedevoll durch die Kirche, Polizei und fromme Gemeinde follten ein fei¬ nes Konzert zu hören bekommen. Die Fenster wurden aufgerissen, gleich darauf wieder zugeschmettert. Mein Feind hatte sofort erkannt, daß seine Position ver¬ loren sei. Es blieb dunkel. Aber aus weiter Ferne, offenbar aus einem entlegenen Zimmer, vernahm ich 171 ein Gebrüll, ähnlich dem eines wilden Tigers in ohn¬ mächtiger Wut. Dann kam eine Frau auf den Chor gestürzt. Ich solle aufhören, um Gotteswillen auf¬ hören, ihr Mann werde verrückt. „Bedaure, sorgen Sie für Ihren Mann. Ich kenne keine Rücksicht für ihn!" Sie flehte immer dringender. Sie bürge dafür, daß sich der «Äandal nicht wiederholen werde. Sie ver¬ spreche es feierlich. Ich solle aufhören, nur für heute, nicht für morgen, aufhören aus Erbarmen für sie! Ich verließ die Orgelbank und hatte von nun an meine Ruhe. Er vermietete seine Wohnung anderweitig und zog aus. Polizei und Volk sind damals allerdings ohne Konzert abgezogen. Nach zehn oder fünfzehn Jah¬ ren sandte er einen gemeinsamen Freund zu mir mit der Botschaft: er habe damals gefehlt, er schäme sich und bitte mich, ihm zu verzeihen. Ich antwortete ab¬ weisend: er solle sich weiterschämen bis zum Jüngsten Tag. Dies ist der einzige Fall in meinem Leben gewesen, daß ich eine erlittene Unbill nicht verziehen habe. Nun kamen die großen Bachfugen heran, eine nach der anderen. Die ungeheure Toccata et Fuga in F dur, jene über brausenden Orgelpunkten fast pastoral be¬ ginnend, in überwältigender Majestät fortschreitend und abschließend, diese auf ein festgeschlossenes, dunk¬ les Thema gestellt, dessen in unerschöpflicher Mannig¬ faltigkeit aller kontrapunktistischen Kunst durchgeführte Verarbeitung der in Händelscher Freude und Helle hochaufjubelnde Schluß krönt. In D moll die geradezu phantastische Capriccio-Toccata und die darauf folgende große Vollfuge mit der charakteristischen Presto-Schluß- kadenz und dem zum „Molto Adagio" verlangsamten 172 grandiosen Ausklang, die alle Virtuosen der Welt aus dem Klavier heraushämmern möchten und dabei doch nur den Beweis liefern, daß sie an jenen seligen Haus¬ knecht von derHölderichsmühle in der Gewalt der Bässe nicht im entferntesten heranreichen. Die raschbeschwing¬ te, große D dur Fuge, die an die Pedaltechnik höchste Anforderungen stellt. Präludium und Fuge in A dur, jenes leichtflüssig in schönen, figurierten Harmonien, diese mit dem froh singenden, so maiengrünen, so be¬ glückenden und freudebringenden Thema, daß Provini sie die „Frühlingsfuge" nannte. In H moll das Prä¬ ludium mit der im Verlaufe der Durchführungen drei¬ mal, in Tonika, Dominante und Tonika, vorkommen¬ den, himmlischen Schlußfigur, die Fuge darauf mit dem ehern einherschreitenden Thema und dem Meister¬ schluß auf dem dreifachen Kontrapunkt, die Bach zum ewigen Gedächtnis hingestellt zu haben scheint, wie er eine simple Tonleiter zu wirklich magischer Wirkung emporzuheben verstand. Und die „Passacaglia", dieses Wunder an Schönheit und Größe aller Bachschen Or¬ gelmusik! Sie war für Painich, Provini und mich Ge¬ genstand von Polemiken ohne Ende. Denn Provini spielte sie, seinen Vorbildern nach, variationenmäßig, in sehr mannigfaltig gefärbter, bald stärkerer, bald leiserer Registrierung, ging sogar bei der einen der Va¬ riationen ganz unvermittelt auf ausschließlichen, leisen Flötenchor zurück, ich vollkommen geschlossen und ein¬ heitlich, indem ich sie mit romantisch anklingendem, dunklem, leisem Werk begann, dann in langsamem aber stetigem crescendo bis zum vollen Orgelglanz empor¬ steigerte, ohne je in der Klangkraft zurückzuweichen. Sie schien mir dadurch geradezu ins Überirdische zu 173 wachsen. Bei der Fuge, die sich mit haarscharf logischer, geradezu zwingender Notwendigkeit aus den himmel¬ hoch emporgeführten Steigerungen des Passacaglia¬ satzes ergibt, setzte ich alles an Macht, Farbe und Klangschönheit ein, was mein Instrument herzugeben vermochte, auf daß sie als Krone des gewaltigen Orgel¬ werkes in der ihr gebührenden, königlichen Pracht und Herrlichkeit aufstrahle. Und weiter und weiter Fuge auf Fuge, dazwischen die frommen, sanften Choral¬ bearbeitungen, -Vorspiele und -Variationen, die figu¬ rierten Choräle ohne Zahl, zu denen meine Orgel tat¬ sächlich „in allen Farben sang, in allen Zungen redete." Sehr gerne spielte ich auch das wunderschöne Konzert in Dmoll von Wilhelm Friedemann Bach mit dem schönen „Largo e Spiccato" des Mittelsatzes, die Or¬ gelkonzerte von Georg Friedrich Händel, besonders je¬ nes in A dur mit der majestätischen „Ouvertüre" und dem anmutenden Dudelsackmotiv im glänzenden Alle- gro-Finale. Auch mein herzlieber Freund Eusebius Mandiczewsky trug sein Scherflein bei. Er sandte mir im Manuskript sechs reizende Bearbeitungen von Cho¬ rälen Bachs. Darunter wohl die schönste zum Choral „Komm' süßer Tod." Eine fein erfundene Figuration setzt jedesmal im Augenblick ein, da der Choral stille steht. Diesen spielte ich auf dem Oberwerk mit Aeoline, Vox coelestis achtfuß, Violine vierfuß, die Figuration auf der Viola di Gamba des Rückpositivs, daß sie wie ein vornehmer, fremder Gast durch den Kirchenraum schwebte, und alles ihr verwundertund ehrfürchtig nach¬ blickte. Dazu mit angekoppeltem zweitem Manual Sub¬ baß sechzehnfuß im Pedal in weiten, leisen Schwingun¬ gen. Das klang! 174 Zwei Balgtreter dienten mir damals abwechselnd: „Angelo del Oio" und „Toni del Lasse". Es waren brave Arbeiter aus meinen Magazinen. Toni war der musikalischere. Er folgte meinem Spiel mit großer Aufmerksamkeit, paßte genau auf und übte Kritik. 8ior 6iulio, Is ga ksto ckue sl>2gli", fand er manchmal in ernstem Ton zu sagen: //Heute, Herr Ju¬ lius, haben Sie zwei Fehler gemacht!" Nun, das ist nicht zu viel in drei Stunden Musizierens nach der schweren, verantwortlichen, oft aufregenden und auf¬ reibenden Arbeit des Tages. Ich kann nicht, noch darf ich es sagen, daß ich auf der Orgel ein großer Meister geworden bin. Aber die unbeschreibliche Stimmung in meinem Kirchlein ist mir zu Hilfe gekommen. Sie hob mein bescheidenes Spiel zu einer Höhe, daß man meinen konnte, einen solchen vor sich zu haben. Man muß es nur wissen, wie das war. Es klopft am Kirchentor. Ein Gast verlangt Ein¬ laß. Mit meiner Berglaterne steige ich hinunter und öffne. Wenige Worte, er tritt ein. Kirchenluft schlägt ihm entgegen, etwas Weihrauch-, etwas Modergeruch. Der Kirchenraum ist dunkel, vor dem Altar schwebt rot die Ampel mit dem ewigen Licht. Kein Laut. Alles kirchenstill. Gottes Friede überall. Halb in mystische Schatten gehüllt, schwach von meinen vier Kerzen be¬ leuchtet, über dem Chor die Orgel. In mattem Silber, in dunklem Braun und Gold. So reich, so Prunkhaft, und doch so einfach und nobel. Er versinkt stumm und etwas benommen in einem Kirchenstuhl, ich steige hin¬ auf. Ein leiser figurierter Choral von Bach, so fromm und herzergreifend, eine düstere Toccata von Frescobaldi oder eine der entzückend feinen Orgelphantasien von 175 Buxtehude, zum Schluß eine der großen Fugen von Bach oder seine Passacaglia, emporwachsend zu unge¬ heuren Höhen. Der Orgelton sammelt sich oben in der Kuppel, wird herabreflektiert, spricht zum Hörer unten bald ganz zart, wie ein Hauch, bald mit allen elemen¬ taren Stimmen eines niedergehenden Hochgewitters. Das volle Werk von atembeklemmender Gewalt. Ich steige mit meiner Laterne wieder hinab und finde mei¬ nen Gast ganz zusammengesunken in seinem Kirchen¬ stuhl, vollkommen überwältigt, zerbrochen. Ich geleit« ihn zum Tor, er taumelt hinaus, die Via Giustinelli entlang, die große Armenierstiege hinab, kommt erst unten in der Stadt zur Besinnung und verkündet in allen Straßen mein Lob. Da ist es wohl leicht, be¬ rühmt zu werden, das kann ein jeder! Und noch etwas kam dazu. Man sah immer den tiefen Ernst, die Ehr¬ furcht vor dem königlichen Instrument, wenn ich mich an die Orgel setzte. Ich habe auf ihr gespielt, niemals mit ihr und mit ihren Registern. Nie hätte ich es über mich gebracht, die großen Orgelkompositionen irgend¬ wie zu zerreißen, um meine Fertigkeit im Registrieren nachzuweisen. Ich hielt sie strenge geschlossen, verzich¬ tete, wenn es so geboten war, auf jeden sich darbieten¬ den Effekt. Ich war der demütige Diener der Musik. Die meisten der Virtuosen von heute wollen Herren sein und Könige. Einer kühner und genialer als der an¬ dere. Oder es meint einer, er müsse dem Publikum bil¬ lige Konzessionen machen, um verstanden und gepriesen zu werden, übersieht dabei, daß es gar nicht nötig ist, zu diesem herabzusteigen, weil es vielmehr seinerseits so gerne, so willig, in so Heller Begeisterung zum wahren Künstler emporkommt, wenn es seinen Ernst erkennt 176 und das heilige Feuer, das in ihm brennt. Ist es nicht traurig, wenn man ansehnliche, hochgewachsene Män¬ ner an das gewaltige Instrument treten sieht, die mit den Registern, mit Staecati, mit unhörbaren Piani, mit gesuchten, ganz überraschenden, oft theatralischen Klangeffekten ihr neckisches oder bravouröses Spiel treiben, vielleicht gar, um ihr vielseitiges Können zu zeigen, für die Orgel arrangierte Sachen oder unbe¬ deutende moderne Sentimentalitäten heranziehen, oder etwa auch Kompositionen alter Meister, die auf dem Clavicembalo Juwelen an Feinheit und Grazie be¬ deuten würden, auf der Orgel nur den Eindruck ma¬ chen, als spiele ein ehrwürdiger Riese unter Hint¬ ansetzung aller gebotenen Haltung und Hoheit mit einem zierlichen, kleinen Rokokopüppchen? Ich hasse das Vir¬ tuosentum wie in der Arbeit, wie in den Bergen, so auch in der Musik. Meister sollen wir zu werden trach¬ ten, nicht Virtuosen. Auch das Leichte mit Meister¬ schaft durchdringen, zur Meisterschaft emporheben. Und das ist manchmal schwer genug! Auch Konzerte gab ich in der Kirche, natürlich nur für geladenes Publikum. Doch waren manchmal hun¬ dert, auch zweihundert Personen da. Die armenischen Patres sahen es gerne. Die Kirche war zu Kaiser Ma¬ ximilians von Mexiko Zeiten von diesem und seinem Gefolge regelmäßig besucht, seither arg vernachlässigt worden. Man freute sich, daß ich nun das vornehme Triester Publikum wieder heraufzog. Daran ließ ich auch Heller mitwirken, mit dem ich in der Kirche viel musizierte, doch insoferne nur selten zu meiner wirk¬ lichen Befriedigung, weil für Orgel und Geige kaum eine Literatur existiert, und ich notgedrungen sehr viel 12 177 aus Klaviernoten spielen mußte. So die Violinsonaten von Bach und Händel, von alten italienischen Meistern. Einmal spielten wir den Canon aus einer der Bach¬ sonaten. Es war eines unserer Glanzstücke, zu seiner herrlichen Geige paßte meine Viola di Gamba sehr reizend und charakteristisch. Nachher kam ein Herr und sagte uns, alles sei sehr schön gewesen, nur schade, daß wir bei dem einen Stück einander immer nachgelaufen seien, ohne je zusammenkommen zu können. Und eigent¬ lich hatte er Recht. Man kann doch gewiß sehr gesund sein und ein hohes Alter erreichen, ohne zu wissen, was ein Canon ist. Am meisten freuten mich aber die Sonn- und Feier¬ tage. Es hatte sich natürlich sehr bald in der Stadt herumgesprochen, daß man oben bei mir den großen Bach höre. Der war in Triest fast gänzlich unbekannt. Gewiß verhielten einige der besseren Lehrer ihre Schü¬ ler zum „Wohltemperierten Klavier", allen voran Eduard Bix, der sogar davon eine gute italienische Aus¬ gabe gemacht hat. Aber am Klavier allein lernt man Bach nicht kennen. Man muß seine Orgelkompositionen und seine großen Instrumental- und Chorwerke hören. Diese letzteren werden wohl nie nach Triest kommen, Bachs Orgelmusik, besonders seine gewaltigen Fugen, habe ich eingeführt und erstmals in Triest gespielt. Ich halte darauf, daß man dies wisse, es ist mein großer Stolz. Nicht alle haben das vergessen. Noch heute kommt ab und zu ein Musiker an mich heran und dankt mir. Er habe als junger Musikeleve seine erste Bach¬ fuge von mir gehört. Jener Eindruck sei ihm nicht mehr aus dem Sinn gekommen. Die Kirche hatte ihr ständiges Publikum, das immer mehr und mehr an- 178 schwoll. Nach der Messe blieb allemal eine kleine Ge¬ meinde zurück, die auch immer größer wurde. Es waren dreißig, bald vierzig und mehr Personen, Damen dar¬ unter, alte Herren, auch musikbegeisterte Jugend: ein gar feiner Wirkungskreis. Ich wartete immer etwas, dann führte ich Orgelkompositionen alter Meister vor, zum Schluß immer eine der ganz großen Fugen von Bach. So habe ich vierzehn Jahre lang auf meiner Orgel gespielt, mit Unterbrechungen nur dann, wenn ich von Triest abwesend war. Jahr für Jahr, Tag für Tag, Abend für Abend meine drei Stunden. Um sieben Uhr abends ging ich hinauf, nach zehn stieg ich nieder. Nie¬ der von meinem lieben Kirchlein im Frühling, wenn süßer Erdgeruch aus allen Gärten strömte, die heim¬ ziehenden Wandervögel hoch in den Lüften riefen; im Sommer, wenn die dampfende Stadt von der Glüh¬ hitze des Tages ruhte; nieder im Winter, wenn die eisige Bora heulte, mit Steigeisen an den Füßen, wenn das Glatteis tückisch, mit grünschillerndem Spiegel über der Armenierstiege, der steilen Via Tigor, über dem Quadernpflaster der menschenleeren, vom rasen¬ den Sturm durchfegten Gassen und Plätze lag. Nie war ich allein. Oft begleiteten mich meine Freunde, die mir zugehört oder mich abgeholt hatten. War keiner von ihnen gekommen, so hatte ich doch immer Gesell¬ schaft genug. Ich war vollgesogen von Bachs Musik. Die Duces und die Comites, die glorreich führenden Fugenthemen und deren starke, treue Genossen, gelehrte Kontrapunkte mit ernstem Antlitz zu ihnen gesellt, schritten mir zur Seite. Fromme Choräle hielten mei¬ nen Sinn umfangen und bewegten meine Seele. Bachs 179 unsterbliche Imitationen und Figurationen, die feinen, frohen Silberstimmen seiner „Divertimenti" zogen beidseits der hallenden Gassen, die ich durchschritt, von Haus zu Haus immergrüne, blütendurchwirkte Ge¬ winde. Düsteren Feuersäulen gleich standen die Orgel¬ punkte am nächtlichen Horizont. Oder es kreuzte von der Seite her ein feierlich und gewichtig einherschreiten¬ der Baßriese in acht- und sechzehn-, gar in zweiund- dreißigfüßigem Gewände meinen Weg, dahinter in gan¬ zen Reihen ein rauschendes Gefolge stolzer, breitfun¬ dierter Akkorde, daß man entblößten Hauptes stille stehen mußte, um den seltsamen Fabelzug vorüberzu¬ lassen, manchmal eine kleinere Gesellschaft, heiter lä¬ chelnd und humorvoll blickend, mit feinen Zierzeichen, Fähnchen und Schwänzchen an den Köpfen, im lang¬ samen Schleifschritt altmodischer Tänze, gar bekannt und vertraut herüberwinkend und grüßend. Glücklich der Mann, der es vermag, sich den Weg zu den Höhen seiner Ideale immer freizuhalten, ihn niemals zu verlieren. Unbeirrt von allen Wechselfällen und Schlägen des Schicksals, von aller harten Be¬ drängnis des Lebens. Es ist schwer, mir ist es nicht immer möglich gewesen, aber man soll es können. So arm und klein er sein, so bescheiden und demütig er bleiben mag, wird er sich immer, und sei es auf den Ruinen der Vergangenheit, seine eigene Via trium- phalis bauen können. Ich hatte eine solche, man hat es gesehen. Von ihrem letzten Bogen leuchtet in Flam¬ menschrift ein ewiger Name zu mir herüber, herein in den stillen Frieden meiner alten Tage: Johann Se¬ bastian Bach! 180 Pierluigi da Palestrina Ich war noch ein ganz junger Knabe, hatte erst drei Geschwister, als unser Vater zu Weihnachten 1,867 der Mutter ein reich gebundenes „Album deutscher Kunst und Dichtung" schenkte. Es enthielt eine Sammlung schöner Gedichte, Lieder und Balladen unserer lieben, alten Dichter. Da waren Schiller und Goethe ver¬ treten, Uhland, Geibel, Lenau, Platen, Rückert, Mö- rike und weiter eine lange Reihe von Namen, die un¬ serem Herzen teuer sind. Feine Holzschnitte dazu nach Originalzeichnungen bekannter Künstler. Herausgegeben war das Werk von Friedrich Bodenstedt bei der G. Grote'schen Verlagsbuchhandlung in Berlin, 1867. Das Widmungsblatt — „Unserer lieben Mutter aus Dankbarkeit und Verehrung" — war vom Vater ge¬ schrieben und unterschrieben. Aber auch Bruder Paul und ich durften unsere Unterschriften höchsteigenhändig dazusetzen. Es war mir sehr feierlich zu Mute, als ich es tat. Trotzdem versah ich das runde s in meinem Na¬ men mit einem froh geschwungenen Schweiferl, das mir ausnehmend gefiel, und von dem ich annahm, daß es auch auf andere seinen Eindruck nicht verfehlen werd«. Maria und Anna waren noch nicht so weit, ihre Namen wurden vom Vater hinzugefügt. Was waren in diesem Buche für schöne Sachen: „Das Erkennen" von Jo¬ hann Nepomuk Vogl, „Die letzten Zehn" von Julius Mosen, „Gesicht des Reisenden" von Freiligrath, 181 „Der Liebe Dauer" des gleichen Dichters, „Das Blatt im Buche" von Anastasius Grün, „Des Sängers Fluch" von Uhland, „Der Postillon" von Lenau. Bil¬ der dazu, die sich mir tief und unvergeßlich ins Herz gegraben haben. Wohl hatten Vater und Mutter uns oft und viel Goethe und besonders Schiller vorgelesen oder uns selbst vorlesen lassen, aber jenes Buch hat uns Knaben doch erstmals aufgezeigt, welchen uner¬ meßlichen Schatz an Poesie wir neben unseren alten Klassikern und Dichterfürsten noch besitzen. Und so hat es schon aus diesem Grunde für meinen Entwicklungs¬ gang gewiß keine geringere Bedeutung gehabt als jenes unscheinbare Büchlein aus Otto Spamers Verlag, von dem ich in meinem „Bergfrühling" erzähle, das den Beginn meines Bergempfindens mit seligem Klingen erfüllte. Meine Mutter hatte sofort ihr Lieblingsgedicht ge¬ funden. Sie saß oft mit heißen Tränen in den Augen darüber. Es begann: „Die Lichtlein flimmern am Weihnachtsbaum", war von Karl Enslin, erzählte die rührende, arme Geschichte eines kranken Kindleins, das am Weihnachtsabend stirbt. Ein ergreifendes Bild da¬ zu. Mich haben zwei jener Gedichte tief erfaßt. Das eine von Feodor Loewe „Die Alpenrose", dessen letzte Strophe also lautet: „O selig der, dem wohlgeborgen Im oft durchfrosteten Gemüt, Hoch über allen Erdensorgen So eine süße Blume blüht." Was war es, das daraus zum neunjährigen Knaben so innig, so wundersam sprach, daß er immer wieder 182 zu diesen vier Versen zurückkehren mußte? Was hat in ihm jene Stimmungen ausgelöst, die ihn nicht aus ihrem Banne ließen, und die ich heute nicht mehr im stände wäre zu malen? Soll es eine leise, noch ganz unklare Vorahnung gewesen sein jener Wunderblume meines Herzens Seabiosa Trenta, die, zum lichten Symbol verklärt, so treu und fest verankert, so wohl¬ geborgen „im oft durchfrosteten Gemüt", hoch über allen Erdensorgen mir heute noch verheißend und er¬ füllend blüht? ' Das zweite Gedicht hieß „Palestrina" und war von W. Rauschenbusch. Ein düsteres Bild dazu von Os¬ wald Achenbach in Düsseldorf. Klostermauern, hohe, alte Häuser im Hintergründe, links vorne der Eingang zu einer ehrwürdigen Kathedrale. Viel Volk auf dem Platze im Vordergründe, eine kleine Schar von Fra- telli della Misericordia in ihren langen Kutten, darob sie heute noch in Rom „Saeconi" genannt werden, mit den charakteristischen, so seltsam geheimnisvoll an¬ mutenden Kapuzen, brennende Kerzen in den Händen. Alles so ernst, so phantastisch. Immer wieder sah ich es an. Palestrina! Soll mir auch dieses Bild er¬ schienen sein damals, als ich in Sehnsuchtsnächten von meiner Orgel träumte und überall Kathedralen sah? Ich glaube es fast, kann es aber mit Bestimmtheit nicht sagen. Gedicht und Bild bezogen sich lediglich auf das Städtchen Palestrina, das alte Praeneste. Der Name hat sich mir damals mit ganz eigentümlichem Zauber ins Herz gesenkt. Wie eingebrannt ist er da verblieben. Ein sonstiger Inhalt war noch nicht da. Der hat erst viel später den Namen und das Bild er¬ füllt. Wie ich älter wurde, etwas mehr zu wissen, noch 183 mehr zu ahnen begann, — die genaue Zeit kann ich nicht mehr bestimmen, es ist ja auch ganz allgemach und nicht plötzlich gekommen —, da erhob sich mir über den Horizont ferner Jahrhunderte gleich einer in mystischem Glanz erstrahlenden Sonne, riesengroß, hoheitsvoll, unsterblich, die Gestalt des begnadeten Sohnes jenes Städtchens, des göttlichen Meisters des Cinquecento, des „Musieae Prineeps": Pierluigi da Palestrina. Der Gesang meiner Kirchenbuben konnte mich nicht befriedigen. Er war roh und ungelenk. Wenn ich von meiner hohen Meßmusik zu ihren gar einfachen Kir¬ chenliedern zurückpräludierte, kam ich mir vor, als säße ich an der Orgel irgend einer bescheidenen Dorfkirche, deren Sänger wohl viel Überzeugung und Frömmigkeit aber keinerlei Kunstleistung aufzubringen und herzu¬ geben vermögen. Ich sann auf Abhilfe. Meine Schwe¬ ster Maria hatte sich zu einem großen, schönen Sopran entwickelt, war Meisterin des Rezitativ- und des Arien¬ gesanges geworden. Meine Cousine Alma Panfili be¬ saß eine entzückend reine, überaus anmutende Flöten¬ stimme, ein junger, leider gar früh verstorbener Freund von mir einen Bariton von weichem, blühendem Klang. Ich begann mit den Psalmen von Benedetto Marcello. Aber so fein und wohllautend diese durch mein Kirch¬ lein zogen, konnte ich sie doch nicht gut zur Messe sin¬ gen lassen. Ich mußte einen wichtigen Schritt weiter tun, zu wirklichem Meßgesang übergehen. Da zog ich Painich heran, meinen gelehrten, vielwissenden und be¬ geisterten Kirchenmusikmann. Wir beschlossen die Grün¬ dung eines Kirchenchores. Meinen Grundsätzen gemäß begann ich klein: zwölf oder vierzehn Sänger, Frauen-, nicht Knaben-, und Männerstimmen. Bei meiner sehr 184 ausgebreiteten Bekanntschaft in der Stadt hatte ich leichte und gute Auswahl genug, die Sache kam sehr rasch zu stände. Ich konnte sehr schone Stimmen und tüch¬ tige Musiker vereinigen. Zu den Proben kamen wir im Haus Panfili zusammen, wo mehr Räume zur Ver¬ fügung standen als bei mir, das auch zentraler lag. Ich sang im Tenor mit, hatte dazu die Gesamtleitung über, Painich dirigierte, Provini war als Organist in Aus¬ sicht genommen. Vorwärts! Es erschien uns zu gewagt, gleich mit Palestrina zu beginnen. Wir wählten als Anfang die „Missa Ter¬ tia" von Michael Haller für zwei Stimmen, Sopran und Alt, mit Begleitung -er Orgel. Das war unsere erste gesungene Messe, einfach und fromm. Dann zogen wir Feiertagskleider an und traten an Palestrina her¬ an. An seinen wundervollen Psalm voll Sehnsucht, Klage undHeimatweh: „SuperFluminaBabylonis". Vierstimmig in H moll mit dem auf der Dominante in Fisdur schwebenden, nach phrygischer Tonart ver¬ klingenden Schluß, daß eine unendliche Leere, ein un¬ beschreibliches Gefühl der Trauer und des Schmerzes im Hörer zurückbleibt. Da ist Palestrina, der stets in Mystizismus, in überirdischen Höhen Wandelnde, zu menschlichem Jammer herabgestiegen. Überall sieht man in der Technik seine Meisterhand, aber melodische un¬ harmonische Führung sind beschreibend, ungemein dra¬ matisch. Sein Genius hat es wohl herausgefühlt, daß dieser Gegenstand es so erfordere. Das Ganze zu un¬ geheuren Höhen emporgehoben, unerreichbar in seiner Art und mustergültig für alle Zeiten. Kann man seines verlorenen Vaterlandes mit blutigeren Tränen ge¬ denken? 185 Und das Jahr darauf Palestrinas Messe „Aeterna Christi Munera". Painich hat sie wohl ob ihrer Kürze und Natürlichkeit gewählt, ob ihres Wohlklanges und der reichen Abwechslung, die sie bietet. Dann gewiß auch darum, weil ihr ruhig dahinfließendes Motiv sich ganz außerordentlich zu kontrapunktistischer Verwer¬ tung eignet, zu Imitationen, zu gehäuften Engführun- gen, wovon der große Meister in reichster Fülle Ge¬ brauch gemacht hat. In nie alternder Iugendfrische schreitet sie einher. Die Tonart ist modus hypojonicus transpositus. Halb Triest war in Bewegung, als der Tag ihrer ersten Aufführung herankam. Das Kirch¬ lein war schon lange vor Beginn vollkommen über¬ füllt, die Oratorienfenster über und über besetzt, die Leute standen dichtgedrängt noch im Gange, in der Sa¬ kristei, auf der ganzen Treppe zur Via Giustinelli em¬ por. Diese selbst voll eleganter Karossen. Der ganze hohe Stadtteil, in dem die Kirche steht, in Erwar¬ tung und Aufregung. Meine lieben Patres strahlten vor Freude. Don Giusto Buttignoni, heute Monsi¬ gnore, Pfarrer der Kathedrale von Sankt Just, zele¬ brierte. Mir oben auf dem Chore pochte das Herz! Das Glockenzeichen. Die Orgel braust auf. Weihrauch¬ wolken steigen empor, weich und schön der liturgische Gesang des Priesters: und unsere erste Palestrinamesse zieht ruhig, fromm und rein, in meisterlich einfachen Linien, herzerhebend, herzbeglückend, wie ein klares, lich¬ tes Wunder durch den atemlos lauschenden Raum. Kyrie Eleison! Christe Eleison! Kyrie Eleison! Mein Gott, ist das ein stolzer Tag für mich gewesen! Es war nicht nur unsere, es war überhaupt die erste Pale¬ strinamesse in Triest. Die gesamte Presse der Stadt 186 begrüßte meine Unternehmung in geradezu enthusia¬ stischer Weise. Voran der gelehrte, musikbegeisterte Kritiker des damaligen Blattes „Indipendente", Dr. Giangiaeomo Manzutto, der Berufenste von allen. Ich verstärkte meinen Chor, die Räume bei Panfili wurden etwas eng: Palestrinas entzückend schöne, fünf¬ stimmige Iubelhymne „O bests et Zlorio^a IHnitas" mit geteiltem Sopran und des spanischen Priesters Tommaso Ludovico da Viktoria himmlische Motette „Duo 8erapbiin clamsbant »Iler aci alterum: 8anc- tus, 8anctus, 8snctusl" Diese ist im Original für vierstimmigen Männerchor geschrieben, in B dur, doch kann sie auch von vier Frauenstimmen gesungen wer¬ den, in welchem Falle in As dur. Ich wählte das Letz¬ tere, da meine Frauenstimmen viel schöner waren. Das ist jene Motette, die in der mir unvergeßlichen, winter¬ lichen Gipfelstunde auf dem so schwer errungenen Mon- tasch mit Engelszungen zu mir gesprochen hat. „ klena est omnis terra Zloria ejus!" Wir probten einmal in der Woche, nur kurz vor den Aufführungen mehrmals, und da wir spät im Herbst begannen und früh im Sommer abschlossen, konnten wir alljährlich nicht mehr als eine Messe und eine be¬ schränkte Anzahl von Motetten, Hymnen und sonstigen Kirchengesängen zu stände bringen. Alles natürlich, bis auf ganz vereinzelte Ausnahmen, a capella. Ich zog immer neue, gute Elemente an den Chor heran, unsere Privaträume reichten bald nicht mehr aus. Da stellte mir der Bürgermeister der Stadt Triest auf meine Bitte drei Säle des Mädchenlyzeums und zwei Kla¬ viere zur Verfügung. Es lag darin, von aller Erleich¬ terung und Bequemlichkeit für uns abgesehen, gewiß 18? auch eine mir sehr wertvolle Anerkennung meiner musi¬ kalischen Bestrebungen. Ich taufte meinen Hauschor „Coro Palestriniano", „Paleftrinachor", um ihn mit einer bestimmten Mission in das musikalische Leben Triests hineinzustellen. Doch änderte sich dadurch sonst nichts an der Sache selbst und am Verhältnis des Chores zu mir. Das nötige Notenmaterial stellte nach wie vor ausschließlich ich zur Verfügung, wie auch ich allein die zur Aufführung kommenden Werke bestimmte, dies natürlich immer im vollen Einverständnis mit mei¬ nem Chorleiter. Wir arbeiteten in geradezu idealer Weise zusammen. Er gab seine tiefbegründete Gelehr¬ samkeit und seine ganz außerordentliche musikalische Tüchtigkeit, und wo er mit seinem schüchternen, überaus bescheidenen und manchmal fast etwas schwankenden Wesen nicht recht durchkam, da half ich mit meinem großen persönlichen Einfluß und notfalls mit meiner eisernen Energie aus, wenn es galt, neue Wege zu bahnen und Schwierigkeiten aller Art zu überwinden. Man hatte zum Ernst unserer Absichten und unserer Führung volles Vertrauen und rechnete es sich zur Ehre an, wurde man aufgefordert, unserer Vereini¬ gung beizutreten. Hörte ich von einer schönen Stimme und von der nötigen Musikalität dazu, so zog ich aus: „auf Vogelfang", wie meine Freunde sich ausdrückten. Besonderer Künste bedurfte es dazu nicht. Gewöhnlich hüpfte mir das liebe, zu fangende Vögelein gar zutrau¬ lich und froh von selbst auf den ausgestreckten Finger. So sangen im Chor schließlich vierzig Personen. Wenn alle wirklich singen, wie es bei uns der Fall war, so genügt dies vollkommen selbst für die allergrößten Auf¬ gaben der alten Zeit. Painich dirigierte nach den ernsten 188 Traditionen der Sixtinischen Kapelle in Rom. Die Taktstriche hatten zu verschwinden, es gab da kein Zäh¬ len von eins bis vier. Nur der Wert der Note galt und der Rhythmus, der die Textesphrase regierte. Das Atmen war nur an der richtigen Stelle gestattet. Der Wortlaut klar und ausdrucksvoll zu deklamieren. Nach festesten Grundsätzen und mit großer Entschiedenheit sah er darauf, daß ja kein Wort einen unrichtigen Ton¬ fall erhielt, und vermied somit sehr konsequent jedes musikalische Betonen einer sprachlich und deklamatorisch unbetonten Silbe. Sehr oft, und dies ganz besonders in den bewegteren Stellen, wurde jede einzelne Stimme, ohne Rücksicht auf den Gang der übrigen, in einem ihr gebührenden, eigenen Rhythmus geführt. Vorerst wollte ich noch andere große Meister der alten Zeit kennen lernen. Wir studierten also die schöne, polyphone, vierstimmige Messe „Laudate Dominum" in mixolydischer Tonart von Orlando di Lasso, das Jahr darauf die gleichfalls vierstimmige „Missa Quarti Toni" in hypophrygischer Tonart von Tommaso Ludo-- vieo da Vittoria, der „unter allen römischen Zeit¬ genossen Palestrinas im Geistesadel diesem am näch¬ sten stand". Und der gelehrte Herausgeber des großen Sammelwerkes „Thesaurus Coneentuum Seleetissi- morum", in dem wir diese Messe fanden, Kanonikus Dr. Karl Proške in Regensburg, führt in seiner Vor¬ rede dazu weiter aus: „Jede Note verrät den Meister, der in frommer Beschaulichkeit dem Heiligtum diente. Arbeit und Gebet, Genie und Demut durchdringen sich in diesem Meisterwerke zur vollendeten Harmonie." Als Dritte endlich die „Missa Brevis" in versetzter jonischer Tonart von Andrea Gabrieli, dem Alteren 189 der Gabrieli, dem vielbewunderten Organisten von San Marco, dem Fürsten der Venezianer Schule des Cinquecento, den man vor allen Venezianern den „Pa- lestrina Venedigs" genannt hat. Berühmt ob seiner unvergleichlichen Kunst, in herrlichen Tonmassen zu bil¬ den, in der Pracht seiner vielstimmigen, reich und man¬ nigfach gegliederten und mit einander verbundenen, in glühenden Farben gemalten, zum höchsten Glanz empor¬ gehobenen Chöre an den Prunk der stolzen Meeres¬ königin gemahnend. Es ist Palestrina mit Raphael, Andrea Gabrieli mit Tizian verglichen worden, und dieses letztere Bild erscheint mir besonders zutreffend. Alle drei Messen erfaßten uns und unser Publikum in hohem Grade, ohne aber neben dem großen Römer einen wirklich ganz nachhaltigen und unverlöschlichen Eindruck in uns zurücklassen zu können. Es gibt nur einen Palestrina! Wir kehrten zu ihm zurück und blieben ihm nun treu. Seine vierstimmige „Missa Brevis" in versetz¬ ter jonischer Tonart beschäftigte uns zuerst. Wie ist sie fromm und heiter, blühend in unverwelklicher Schön¬ heit. Wie schön schon die Melodie, die das „Kyrie Eleison" trägt, wie wundervoll das reich gezierte, leuch¬ tend geführte „Sanctus"! Aber die Krone des Gan¬ zen ist wohl das fünfstimmige, zweite „Agnus Dei" mit dem Canon in gleicher Tonlage im geteilten So¬ pran. Da ist es so, als säßen auf zwei weißen, im blauen Äther feierlich dahinsegelnden Wolken lichte Scha¬ ren von Seraphim im Heiligenschein, und ihr himm¬ lischer Zwiegesang steige, verklärten Tones ineinander verschlungen, in paradiesischer Reine empor zu Gottes strahlendem Thron. Man denkt an die Frömmigkeit 190 der Gemälde Giottos oder an die ergreifende Mystik der goldgründigen Schöpfungen Fra Beato Angelieos. Und wärest du noch so mühselig und beladen, noch so ge¬ drückt und geschlagen und gebrochen, dieser Sang wird dir den Frieden der Seele wiedergeben, danach dein Herz aus trüben Erdentagen sich sehnt. „Dona nobis pacem!" Diese Messe ist zeitlich am längsten, viele Jahre hin¬ durch, mit uns gegangen. Wir wiederholten sie gleich gerne immer wieder. Manchmal nahmen wir nur ein¬ zelne Teile aus anderen Messen und fügten sie der „Brevis" ein. Wir fühlten uns stark. Eine hohe und schwierige Aufgabe winkte, wir traten entschlossen an sie heran: Palestrinas „Assumpta est Maria in coelum", sechs¬ stimmig, Sopran und Tenor geteilt. Ihre Tonart ist die mixolydische. Sie ist ob ihrer Hoheit, ihrer Anmut und Begeisterung viel gepriesen und mit Raphaels Six¬ tinischer Madonna verglichen worden. Da schwebe der Genius Palestrinas im reinsten Äther. In den ersten Zeiten meiner Orgellaufbahn war mir ein Klavieraus¬ zug davon in die Hand gekommen. Ich versuchte, dar¬ aus auf der Orgel zu spielen, erkannte aber natürlich bald, daß sich Palestrina in Akkorden nicht darstellen lasse. So war schon damals ein Sehnen in mir wach geworden, der wahren „Assumpta" ins fromme Ant¬ litz zu schauen. Der Name tat ein Übriges. Welch ein Poet ist Palestrina gewesen. Wie sprechen die phanta¬ sievollen Namen an, die er seinen Messen zu geben wußte. Sie eröffnen eine ganze Welt von Stimmung, von Spannung und Erwartung! Ob ihrer technischen Schwierigkeiten ist diese Messe nur sehr selten auf- 191 geführt worden. Für Italien kann man es wohl an den Fingern beider Hände abzählen. Vorher hatte sie lange in den Archiven geschlafen. Der durchgehends ge- teilte Sopran, das berühmte „Crueifixus" im „Cre¬ do" für geteilten Sopran und geteilten Alt stellen an die liturgisch vorgeschriebenen Sängerknaben zu große Anforderungen. Mit unseren wunderschönen, erprob¬ ten, von sicherer Musikalität getragenen Frauenstim¬ men wollten und durften wir es wagen. Unser Versuch gelang in glücklichster Weise, wir hatten einen vollen Sieg. Die „Assumpta est" zog in strahlender Herrlichkeit durch unser Kirchlein. Niemals ist es so hell und so freudig darin gewesen wie in jenen Tagen. Die „Assumpta" ist ja so voll Licht, die zwei Sopran- und die beiden Tenorgruppen sorgen dafür, daß sie in einem eigenen, inneren, geradezu magischen Glanz, wie aus ihr selbst tief innewohnender Kraft, nur so aufleuchte. Keine andere Messe ist so mit mir durch mein Leben geschritten und mir so tief eingeprägt geblieben. Schon dieses „Kyrie!" Der erste Tenor setzt ein, von den Sopranen unmittelbar gefolgt, und er hat sein zur entzückenden Melodie emporgehobenes Motiv noch nicht beendet, als schon der zweite Tenor in nicht minder schönem und melodiösem Aufschwung und Ab¬ gesang antwortet. Es ist ein Wechselgesang ohneglei¬ chen. Wie oft denke ich an ihn zurück. Noch höre ich, bewegten Herzens, von drüben, wo der zweite Tenor stand, die feine Knabenstimme Provinis, der diesen in Heller Begeisterung klar und sicher führte. Ich höre im Verlaufe der Messe in leisen Akkorden das Mysterium des „Incarnatus est" im „Credo" und die heiligen Wunder des „Crueifixus" für vier Frauen- 192 stimmen, des hochgestimmten, zarten, nur von den bei¬ den Sopranen, dem Alt und dem ersten Tenor ge¬ tragenen „Benedictus", das zum unbeschreiblichen Ju¬ bel des Vollchores im „Hosanna in exeelsis" führt. Am häufigsten aber bin ich an das „Sanctus" erinnert worden. Und dieses Geschichtchen ist so lieb, daß ich es sehr gerne erzähle. „Sanctus, Sanctus", steigen unmittelbar nacheinander die beiden Soprane empor, und sofort antwortet der erste Tenor mit der kontra- punktistisch verwerteten, abwärts bewegten Umkehrung des Hauptmotivs: Quinte, Terz, Sekunde zur Tonika herab. Es ist ein seliger Sang für sich, schon bringt ihn auch der zweite Tenor aus der Fülle seines Herzens, ehe der Text weiterschreitet: „Sanctus, Sanctus!" Und, o reizendes, kleines Wunder! Dieser Sang der Tenors ist nichts anderes als der Jauchzer der lom¬ bardischen Hochtäler. Auch dieser klingt in dm höchsten, überschlagenen Tönen: Quinte, Terz, Sekunde zur To¬ nika herab. Man kennt ja den Jauchzer unserer Almen. Er wirkt in der Entfernung wie eine grell aufsteigende Rakete, und vielen hat er schon als Freudenbotschaft in den Bergen ins alpine Herz geklungen. Aber musikalisch ist er sehr unschön, man fährt arg zusammen, steht man nahe. Oft artet er zu einem ganz entsetzlichen Gekreische aus, und da kommt es wohl auch vor, daß man den froh aufjauchzenden und so glücklichen Urheber und Unglücks¬ mann möglichst weit anderswohin wünschen möchte. Als ich einstens vom Monte della Disgrazia nach Chiesa abstieg, hörte ich jenen Sanetusjauchzer Palestrinas zum ersten Mal. Ich schritt durch ein schönes, tief ein¬ geschnittenes Hochtal, die Nachmittagssonne schien hell herein und vergoldete alle Hänge. Da schallten die In- 1Z 193 belrufe der Sennen und der Sennerinnen, der Mähder, der schwer tragenden Frauen, der spielenden Kinder von Berg zu Berg, von Alm zu Alm, von Hochwiese zu Hochwiese so fein und so rein über Tal und Tiefe, als Gruß, als Antwort, herüber, hinüber, daß man manch¬ mal nicht recht wußte, sind es klingende Sonnenstrah¬ len oder Jauchzer der Älpler. Alle Lüfte waren davon erfüllt, wie von ferner, leiser, melodischer Bergmusik. Und dann hörte ich den gleichen Sang, vom Lys und vom Rosa absteigend, im Tale von Gressoney und so weiter, immerfort. Wie oft bin ich in den Westalpen in diesem Sanctusjubel auf- und abgestiegen! Und noch ein liebes, kleines Wunderspiel. Als ich Schuberts schö¬ nes, frohes „Lied im Grünen" zum ersten Mal be¬ gleitete, das zu frühlingsfrischen Worten von Friedrich Reil den Zauber „des Grünen" preist, da fand ich jenen Sang unverändert auch hier. Mit dem oft wie¬ derholten Refrain „Im Grünen, im Grünen" senkt er sich aus leichtbeschwingtem Fluß zutraulich herab. Mein Gott, wie dieses Lied fröhlich jubelt und jauchzt! Und hat der Sänger ausgejubelt und bleibt der be¬ scheidene Klavierbegleiter mit seinen fünf Schlußtakten allein zurück, so fühlt auch er das Bedürfnis eines kleinen Privatjauchzers, und flugs führt er ihn schon — von Quinte zu Terz, Sekund und Tonika —, fein und zufrieden beschließend, auf leisen Tasten herab! Als wir aus den lichten Hallen der „Assumpta eöt Maria" traten, was stand da als nächste Aufgabe vor uns, hoch und stolz, gleich einer breitgetürmten, schim¬ mernden, romanischen Burg von gewaltig überragen¬ der Größe und Majestät? Palestrinas unerreichtes Meisterwerk, seine „Missa Papae Marcelli". In ge- 1S4 mischter jonisch-mixolydischer Tonart, sechsstimmig, Sopran und Alt geschlossen, Tenor und Baß geteilt. Das gibt ihr den breit und tief fundamentierten, ern¬ sten, dunklen Charakter. Wer hat nicht von ihr ge¬ hört? Alle Welt ist von ihrem Ruhme erfüllt, in allen Mufikbüchern prangt sie an erster Stelle, dreieinhalb Jahrhunderte haben ihre anmutvollen und hochpoeti¬ schen Legenden über sie gesponnen. Sogar die moderne Bühne hat sich einer von diesen in einer außerordentlich kunstvollen Oper bemächtigt, deren musikalisches Ver¬ ständnis mir persönlich allerdings leider gänzlich ver¬ schlossen geblieben ist.Aber dieSzene,in der dieEngel des Himmels in das Arbeitszimmer Palestrinas niederstei¬ gen und ihm die Motive zur„PapaeMareelli" singen, ist voll ergreifenden Zaubers, dem gewiß niemand im Publikum sich entziehen kann. Ich schäme mich nicht zu sagen, daß mir dabei jedesmal die heißen Tränen in die Augen kommen. Schon sie allein würde das so überaus verdienstvolle Werk des deutschen Meisters nie sterben lassen. Ich werde die Probe nicht vergessen, da nach be¬ endetem Studium der einzelnen Stimmen der Voll¬ chor in unserem Schulsaal zusammentrat und zum ersten Mal das „Kyrie" sang. Heilige Schauer rieselten an mir herab. Tenor und — sofort eine halbe Note dar¬ auf — Sopran beginnen enggeführt in der Domi¬ nante mixolydischer Tonart mit dem Hauptthema. Es schwingt sich in entzückender Klarheit und Schönheit aus dem C zur Quarte empor, senkt sich dann in der Tonleiter, wie in einer kostbaren Perlenreihe, zum F herab. Und am Ende dieses ersten „Kyrie" der durch vier Takte gehaltene, ruhevolle Orgelpunkt des So- 195 prans auf dem B, mit dem die anderen fünf Stim¬ men, erst in reicher aber dunkler Bewegung unbeirrt weiterschreitend, nach gewaltigem und erschütterndem Abgesang zum großen Schlußakkord sich vereinen! Staunend und bewundernd horchte ich dann auf, wie Palestrina das „Gloria" und das „Credo" empor¬ wachsen läßt, bergeshoch, gleichsam bis auf die höchsten Gipfel. Wie nach den in fortgesetzten, immer wieder, in Stimme nach Stimme herandrängenden Engfüh- rungen auf den Worten: „Lt viwm veniuri 53eculi" das ungeheure, von wirklich elementarer Kraft getra¬ gene „Amen" des „Credo" einherzieht. Ein „Amen" von derartiger Macht und Gewalt, daß aller Herz¬ schlag stockt und aller Atem stillesteht! Vier Stimmen — Sopran, Alt und die beiden Bässe — rauschen berg¬ ab, erster und zweiter Tenor ihnen entgegen, bergauf, alles in prachtvollen, fabelhaft kühnen und starken Eng- führungen. Das ist nicht mehr Giotto, es ist nicht Ra¬ phael, nicht Fra Beato Angelico. Es ist Genius vom Genius Michelangelos. Es ist der großartigste aller existierenden Schlüsse aller Kirchenmusik aller Zeiten und nicht nur in der Kunst des Satzes und der tech¬ nischen Durchführung sondern ebenso auch in seiner hin¬ reißenden Klanggröße und -Fülle, in seiner monumen¬ talen, wahrhaft überwältigenden Wirkung der Gipfel¬ punkt aller Palestrinianischen Glorie! Monsignore Ca- simiri, der berühmte Führer des Sixtinischen Chores, verlangsamt dieses „Amen" um über das Doppelte. Er kann es sich bei den reichen Goldminen an wunder¬ vollem Stimmenmaterial, die ihm zur Verfügung stehen, leicht leisten. Hat man je in Chören derartige Männerstimmen gehört, die bei aller Schönheit manch- 196 mal fast wirklichen Blasebälgen gleichen, derartige Te¬ nors, die im Falsett mit dem Alt zu gehen vermögen, derartige Bässe, denen der längste Atem, jede noch so breit genommene Phrase ein Spiel ist? Allerdings ent¬ geht Casimiri durch diese allgemeine Verlangsamung des Tempos fast etwas vom großen Schlußeffekt eines rallentando in den vier Takten des allerletzten „Amen". Trotzdem hat sein „Credo" auf mich wie eine Offen¬ barung gewirkt, als er es mit seinem vereinigten Six¬ tinischen Chore in unserer Kathedrale zu San Giusto vorführte. Vollendeteres in Palestrinagesang kann ich mir nicht verstellen. Painich nahm nach strengeren Traditionen das Amen- tempo eher etwas beschleunigt, bis gegen die Schlu߬ kadenz des letzten „Amen" hin, die er zurückhielt und ganz breit und feierlich ausklingen ließ. Wir hatten das Studium der „Papae Marcelli" noch nicht beendet, als plötzlich ein Blitz aus heiterem Himmel niederfuhr. Offenbar waren Neider an der Arbeit gewesen. Es behagte einigen der anderen Kirchen nicht, daß ich durch meine gesungenen Messen das vor¬ nehmste Publikum der Stadt zu den Mechitharisten hinaufzog. Ich habe schon angedeutet, daß nach unseren liturgischen Vorschriften Frauengesang in den katho¬ lischen Kirchen nicht gestattet ist. Sopran und Alt müs¬ sen von Knabenstimmen gesungen werden. Unsere Art war alle diese Jahre hindurch nur geduldet worden. Eines Tages ließ mir der Bischof sagen, er könne es länger nicht zulassen, der Frauengesang in meiner Kir¬ che müsse unterbleiben: „dlulier tsceat in ecclesis"! Das traf mich sehr hart. Ich nahm Audienz und machte meine Vorstellungen, stieß aber auf das berühmte „non 19? possumus" I Konnte nur erreichen, daß mir gestattet wurde, die in Vorbereitung befindliche „Papae Mar- celli" einmalig in meiner Kirche aufzuführen. Auch an offene Rebellion hatte ich gedacht. Wir hingen ja vom Erzbischof der Mechitharistenkongregation in Wien ab. Aber dieser wünschte den Frieden und gab den Be¬ scheid, er müsse sich den bei uns geltenden Vorschriften unterwerfen. Der Tag der Aufführung kam heran. Ich umgab sie mit allem Festesglanz, dessen ich fähig war. Über¬ all Blumen, der Orgelchor war ein blühender Rosen¬ garten. Durch mein Kirchlein zog nie gehörte Pracht! Mein Herz blutete, aber es war trotzdem einer der grö߬ ten Feiertage meines Lebens. Dann war ich mit meinem Chor endgültig ausgesperrt. Es war natürlich nicht möglich, daß es bei dieser einmaligen Aufführung verbleibe. Ich sah mich um. Die Leitung eines gesellig-künstlerischen Vereines der Stadt, des „Cireolo Artistico", ließ mich wissen, daß mir sein Saal für ein seinen Mitgliedern und dazu geladenen Gästen gebotenes Konzert offen flehe. Ich nahm an, erhielt aber einen neuen Beweis dafür, daß Palestrina nicht in den Konzertsaal sondern nur in die Kirche gehöre. Weihrauchwolken müssen emporstei¬ gen, die Altarkerzen brennen, die Priester ihr heiliges Hochamt halten und das Evangelium verkünden, die frommen Scharen des Volkes vor dem lieben Gott auf den Knien liegen und zu ihm beten. Konzertsäle und Abendtoiletten, Sesselreihen und sensationslüsterne Ge¬ sichter vertragen Palestrinas heilige Gesänge nicht. Nicht Bravorufe, nicht Händeklatschen, nicht brausende Hervorrufe, noch dankbare Verneigungen des Chor- 198 dirigente«: keinerlei weltlichen, eitlen Firlefanz! Trotz aller unbeschreiblichen Begeisterung, die an jenem Abende Palestrinas größte Messe empfing, konnte ich nicht befriedigt sein. Da vernahm ich, der Erzbischof von Görz nehme es mit den liturgischen Vorschriften nicht so genau. In den Pfarren seiner ausgebreiteten Diözese, in Görz selbst, sängen Frauen. Die herrliche Basilika von Aquileja stand in diesem Augenblick vor meinen Augen. Sie gehörte dazu. Eine kurze Verstän¬ digung mit Painich, und schon flog ich hin. Zu ihrem ehrwürdigen Erzpriefter, Leiter und Pfarrer, Mon¬ signore Sambueco. Er könne an einem der nächsten Sonntage die „Missa Papae Marcelli" haben, wenn er wolle. Und ob er wollte! Mit beiden Händen, mit Heller Begeisterung griff er zu! Ein Rundschreiben erging an meinen Chor. „Am nächsten Sonntag um 5 Uhr 20 Minuten früh fährt unser Zug. Um fünf Uhr bitte ich alle in die Bahnhof¬ shalle. Ich verlasse mich darauf, daß niemand mich im Stich lassen werde." Alles erschien. Die Herren mit kleineren und größeren, einige auch mit beunruhigend stärksten Verspätungen und mit schwer verschlafenen Ge¬ sichtern, die Damen ganz pünktlich, frisch und rosig, fein frisiert. Dazu eine Helle Schar von Vätern und Müttern, von Verwandten und musikbegeistertem An¬ hang. Ich denke hundertfünfzig oder zweihundert Per¬ sonen im ganzen. In der Station Villa Vieentina warteten Viersitzer und Einspänner für die Alten, Lei¬ terwägen für uns Junge. Es war der 20. Mai 1900. Ein herrlicher Frühlingstag. Strahlende, warme Sonne, ein feiner Duft über den fernen Bergen, froh und heiter prangend das schöne Gartenland Friauls. 199 Die Vögel sangen und jubilierten, im herrlichen Park der Villa Vicentina schlugen zahllose Nachtigallen. In allen Straßengräben blühten die gelben Iris. Drü¬ ben die Farben der schimmernden Lagune. Weit über dem blauen Meer die weißen Gestade Istriens. Wir fuhren, und bald grüßten uns die anderthalb Jahr¬ tausende der ehrwürdigen Basilika mit dem einzel¬ stehenden, hohen, weitschauenden Campanile im ernsten Rahmen dunkler Zypressen. Um zehn Uhr war das Hochamt. Wir standen dichtgedrängt in der Apsis hin¬ ter dem Hochaltar. Der ungeheure, dreischisfige Raum der Basilika war gänzlich gefüllt. Alles Volk war ge¬ kommen, die Bauern, die Fischer, viel Zuzug aus den nahen Städtchen und Dörfern, aus Görz, von den Kampagnen und Villen der reichen Umgebung. Vor uns das fromme, gütige Antlitz des zelebrierenden Erz¬ priesters. „Kyrie Eleison!" Wir konnten sehen, wie dicke Tränen ihm über die Wangen rollten, als Pale- strinas Himmelsgesang, also anhebend, durch die Kir¬ chenschiffe zu schweben begann und mystischen Schrit¬ tes, in ergreifender Feierlichkeit, in Licht getränkt, von Glorie umflossen, in ewiger Schönheit prangend durch die hohen Säulenhallen wandelte. „Qloria in excelgis Den et in terra pax boininikus konae voluntatis"! Zum Schluß der Messe sangen wir Palestrinas sechs¬ stimmig« Motette „Tu es Petrus" mit geteiltem So¬ pran und geteiltem Alt, den gewaltigen Iubelchor voll gläubiger Zuversicht und felsenfesten Vertrauens. „Lt portae inkeri non praevalekunt sckversus esin et tiki clako claves regni coeloruin! Mein Chor hat wundervoll gesungen. Nie werde ich diesen Tag vergessen. Nichts, nichts in meinem Leben kommt dieser Erinnerung gleich! 200 Dann kam der wohlverdiente Risotto.Einherzlieber Freund meines Hauses, berühmt ob seiner Kochkunst, aber auch ob anderer schöner Herzenseigenschaften, hatte sich erbötig gemacht, ihn zu kochen. Mit „Bisi" bitte, und für alle hundertfünfzig oder zweihundert Personen — eine wahre Riesenleistung! Während er im Schwei¬ ße seines Angesichtes in der heißen Küche beschäftigt stand, gingen wir spazieren, und da wir, ganz hungrig zurückgekehrt, wenige Minuten warten mußten, bis er fertig war, schimpften wir weidlich. Denn so muß man sein, will man in diesem Leben weiterkommen: selbst¬ süchtig und undankbar. Er kam endlich, mit Jubel emp¬ fangen, und war so herrlich, daß einige der aufrichtig¬ sten Chorväter mit großer Befriedigung erklärten, er sei der „Missa Papae Marcelli" sogar noch über. Ein bereitgestellter Lagunendampfer führte nach dem Essen die gesamte Gesellschaft durch den Kanal nach der nahen Inselstadt Grado. Wir kamen zurück, als eben die nieder¬ gehende Sonne die Lagunenlandschaft mit den glühend¬ sten Farben bemalte, und so beschloß ein leuchtender, glor- reicherSonnenuntergangunserengrößtenPaleftrinatag. Der Weg in die Kirchen war zurückgefunden, und ich beschritt ihn noch verschiedene Male. So brachten wir einmal unsere „Missa Brevis" in den Dom von Gradišča im Görzischen, das Jahr darauf fuhren wir mit der gleichen Messe auf einem kleinen Küstendamp¬ fer nach dem allen Adriafahrern wohlbekannten, reizen¬ den Seestädtchen Pirano im westlich vorspringenden Winkel des istrianischen Halbinseldreieckes. Da steht der große Dom, bis zum äußersten Horizont sichtbar, hoch auf steilem Felsen über dem weiten, blauen Meer. Wie war die Fahrt dahin schön! Froh webte der erste 201 Frühling über Meer und Land. Die Iulischen Alpen, die Heere der Dolomiten Bellunos und des Cadore grüßten, noch tief im blendenden Schneekleide, aus Sehnsuchtsfernen herüber. Das von malerischen Tor¬ bögen und Mauerzinnen überragte, steil, eng und win¬ kelig angebaute Städtchen prangte im lichten Flaggen¬ schmuck der blühenden Mandel- und Pfirsichbäume, in einem milden und doch so freudigen Rahmen von Weiß und Rot. Es war so recht die Stimmung und die Se¬ ligkeit der Farben zu Palestrinas frühlinghafter, in süßer Anmut blühender „Missa Brevis". Das ganze Städtchen war in Bewegung, man hat uns einen über¬ aus festlichen Empfang bereitet. Nach Aquileja sind wir im ganzen dreimal gekommen. Das letzte Mal mit der stillernsten, geheimnisvollen Messe Palestrinas „De Beata Virgine" in dorischer Tonart. Diese Me߬ ausflüge in die nahen Städte fanden bei meinen Chor¬ mitgliedern sehr großen Anklang. Nach dem Gesänge genoß man in der ungezwungensten und fröhlichsten Weise den Tag, und jeder einzelne trug das zufriedene Gefühl in sich, zu etwas wirklich Großem seinen Teil beigetragen zu haben. So verschiedenartig die Gesell¬ schaftsklassen, auch Sprache und politisches Lager, waren, denen meine Sänger angehörten, herrschte doch immer die vollkommenste und glücklichste Übereinstim¬ mung in gemeinsamer Arbeit und in gemeinsamem Ideal. Alles blickte in gleicher Begeisterung und in gleicher, rückhaltloser Bewunderung und Hingabe em¬ por zum funkelnden Sternenhimmel des Cinquecento. Ich aber fühlte und befand mich in der Lage des Sol¬ daten, der eine Stellung verloren hat und der ohne Unterlaß auf Mittel sinnt, sie wieder zurückzuerobern. 202 Aus diesem Grunde hielt ich es auch für richtig, meinen Chor nach wie vor in Triest hören zu lassen. Natürlich in Konzertsälen, da es in unseren Kirchen nicht möglich war. Dabei überließ ich es der gehörig zubereiteten Presse, ihre trüben Betrachtungen über Palestrinagesang in weltlichen Räumen anzubringen. Das paßte mir. Ich wählte allerdings gewöhnlich pro¬ fane Gesänge, sei es Madrigale, Villanellen oder Mo¬ tetten, aus der Musikliteratur der alten Meister, brachte mitunter aber auch geistliche Texte, dies schon mit Rücksicht auf meinen ganz außerordentlichen Chor¬ dirigenten, den ich der Stadt in seiner vollen Beherr¬ schung der „Musiea Saera" in Erinnerung halten wollte. Von seiner Musikalität erzählt eine uns be¬ kannt gewordene, artige, kleine Geschichte. Er steht mit unserem ersten Klavierkünstler, in Gespräch versunken, in einer engen Gasse. Da rast ein Feuerwehrkarren in vollem Laufe heran und hätte die beiden fast überfah¬ ren. Entsetzt stieben sie auseinander und retten sich, enge eingeschmiegt, noch knapp in die Nische eines Tor¬ bogens. In diesem Augenblick bläst der Trompeter den Feuerruf. Schreckensbleich, mit bebenden Lippen ruft Painich seinem Kollegen zu: „Das B etwas zu tief! Finden Sie nicht auch?" Einer der für Chor wie für Publikum ergreifend¬ sten Gesänge war uns zu senen Zeiten die wunder¬ volle Passionsmotette „Mistis est 3NIM2 nies" von Palestrina. Die neuere, sehr kompetente Forschung stellt zwar deren Authentizität in Frage und schreibt sie einer späteren Epoche zu. Tatsächlich ist der Charakter dieser Motette zum Teil mehr erzählend, zum Teil mehr be¬ schreibend, gleichsam so, als spreche der Evangelist des 203 Oratoriums, und gewiß auch viel dramatischer, als es sonst Palestrinas Art ist. Aber die Technik des Satzes ist ganz Palestrina, der alle Tiefen der Seele aufwüh¬ lende Weckruf des „Lcce2px>ropinHU2lyoi2", das in tränenvoller Trauer hingehauchte „Lt inclinsio capiie emisit spiritum" von seinem mystischen Geiste so er¬ füllt, das Ganze voll so unerhörter, göttlicher Schön¬ heit, daß man unwillkürlich an den höchsten aller Mei¬ ster denken muß. Wie also dem auch sei, ist das „Iri- stis est" nicht nur Palestrinas würdig, es würde auch, die Authentizität vorausgesetzt, zu dem Allerschönsten gehören, das er je geschaffen hat. Es ist für mich das Eindringlichste und Erschütterndste in aller Passions¬ musik, die wir besitzen. Noch heute, nach so vielen Jah¬ ren, stehe ich ganz in seinem Bann und kann es von meiner Palestrinaära glorreichen Angedenkens unmög¬ lich trennen. Mein Chor sang es mustergültig. In einem der Konzerte mußten wir es dreimal wieder¬ holen. In atemloser Stille, in tiefster Rührung lauschte der übervolle Saal. Man konnte die Erregung beobachten, die durch aller Herzen zitterte. Unser schönstes Konzert veranstaltete ich am 14. Mai 1906 im Saale des Musiklyzeums „Giuseppe Tar¬ tini" vor geladenem Publikum. Es ist so glänzend aus¬ gefallen und bedeutet für mich eine so teure Erinne¬ rung, das Programm zeigt so klar unsere musikalischen Bestrebungen, daß ich es hier einfügen möchte. Auch die Texte dazu bringe ich, dies umsomehr, als sich dar¬ unter Perlen alter Dichtkunst befinden. I. 2) krincipe Qesuslcko cki Venosa, k^sckriALle 2 5 voci. „Oiä pi2N8l nel ckolore". 204 k) Oiacomo Oastolcli, I^Ia^rißale s 5 voci. II beli' umore „Viver lieto vo§lio". c) Lalclassare Oonato, Villanella sila I^apolitana 2 4 voci. II. 2) Orario «Zell' ^rpa, ^rietta per 2 soprani. „I4o perso il mio core". k) I^ui§i ^ossi, ^ria per 2 soprani. „Oue labbra di rose". c) Larlo Laprioli, /Via per Z soprani. „Kavicella cb'a bel vento". III. Oiovanni Oabrieli, ^la^riAale a Z voci. ,,^lma cortes' e bella". ^sso). IV. kisrlui^i cla kalestrina, ^lottetto a 4 voci. .^ristis est anima mea". V. Oiovanni Oabrieli, I^lottetto a 12 voci. „^n^elus aci kastores". I. 2) 6ia piansi nel clolore, 14 or Aioisce il mio core, kercbe clice il ben mio ^rdo per te ancor io. ku§§an clunc^ue le noie L'I tristo pianto tlomai si can^i In clolce e lieto canto! 205 k) Viver lieto vo§Iio 8enrs §rsn corcioAlio I.L Is Is! 1°u puoi restar smor Oi SLettsrmi il cor. 8pencli pun^enti strsli, Ove non psion 5rsli ti 8timo o poco k! 6i te prenclo Zioco I-L Ir» la! c) Lki Is OsAlmrcls Oonne vo impsrsre Venite a noi, Lire siaino insestri 6ni, Lire cii sera e cli msttins l^si manckiamo Oi 8onare: kan — ta n — tan — tr» — ri — rr> — ra — ri — rs! II. s) Oo perso il inio core ker V3Z2 Kelta, On ckiaro 8plen6ore Oi volto Zra6ito Rspito ine I K3. Oors 82per cie8io Oov'e'1 cor inio Ors lacci involto. kloirne — cki ine I K2 tolto? k) One Ir»kkrs cli ro8e kan Auerrs 2I mio core 206 L provido smore Oolcerre vi pose. 8'svvien ctie ricisno morte sL6sno, kuZZi, kuAAi mio cor.cLepiü s'sspetts? In czuel IsbLro o§ni riso, sLi, ctr'e ssetts. c) KsvicellL cL's kel vento kresti tecle e lasci il liclo, I>Ion t'alletti in msr inkicio Lei sentier daclzue cl'arxento. III. ^Ims cortes' e Lells, Oeli non voler cL'io muois Oi temenrs e äi nois. Libem il corpo L la I'animL sncells. L se cliscle^ni si^noris si Lsssa, ^Itrui mi cions o lasss, Lire trs psstori korse o trs Likolci Usurö I'kore piü clolci. IV. Mistis est snims mes usc^ue mortem. 8ustinete Iric et virilste mecum, I8lunc vicleLitis turLsm, t)u2e circumciakit me. Vos kuAsm cspietis et eZo vsösm Immolsri pro vokis. Lcce sppiopinc>ust kora Lt klius hominis tracietur In Manus peccatorum. 20? Unebrae kactae sunt Ouin cruciüxissent Jesum Justaei. Lt circa Yoram nonam Lxclamavit Jesus voce maZna: Deus meus ut quist me clereliczuisti? Lt inclinato cspite emisit spiritum. Lxclamaus Jesus voce maZna ait: In IN2NU8 tuas Domine commenclo spiritum ineuin. Lt inclinato capite einisit spiritum. V. ^nAelus a<ä kastores ait: ^nnuncio vokis Zau6ium maZnum, ()ui2 natus est vokis Doclle äalvator muncli. lllallelusali! Oloria in excelsis Deo Li in terra pax lrominibus Lonae voluntatis. Halleluja!»! In den Arien der zweiten Abteilung sangen die bei¬ den strahlendsten Soprane des Chores: Frau Lydia Hermet-Sinieo aus berühmter Triester Musikfamilie, deren Gemahl Guido in mustergültiger Weise den zweiten Tenor führte, und Frau Clori Pitteri-Artelli, deren Dichtergemahl gleichfalls mit den heißesten Sym¬ pathien zu uns stand. Im reizenden Caprioli als dritte im Bunde Frau Ella Sadee-Bergauer, die verkör¬ perte Anmut meines Chores, sanft und zart von An¬ sehen, sicher und stark in idealer Mitarbeit, verläßlich und treu gleich Petrus, dem Felsen, in Palestrinas 208 Motette, so früh dahingeschieden, lichten und verklär¬ ten Andenkens! Der Erfolg war groß. Ich erinnere mich nicht mehr, wie oft wir die übermütige, entzückend feine „Gagliar- da" von Baldassare Donato wiederholen mußten. Vom Ti — ra — ri — ra ihres Schlusses kommt man so leicht nicht los. Mehr als eine der jungen Damen aus dem Publikum wird mit ihm nach Hause getanzt sein! PalestrinaS „Irittis est snima nie»" zog vor den andächtigen Hörern vorüber, die erschütternde Erzäh¬ lung der Kreuzigung Christi, in all ihrer unvergleich¬ lichen Schönheit, zu Tode betrübt. Und zum Schluffe das zwölfstimmige „Angelus" Giovanni Gabrielis,des Neffen und Schülers des alten Andrea, des innigen Freundes aber auch übergewaltigen Nebenbuhlers Jo¬ hann Leo Haßlers, der berühmter Nürnberger Meister und Fuggerscher Organiste war. Gleich seinem Lehrer Andrea liebte es Giovanni, mit Chören zu malen. Das „Angelus" ist für doppelten, sechsstimmigen, gemisch¬ ten Chor geschrieben, wobei jeder der Chöre durch ver¬ schiedenartige Verteilung der Stimmen seine eigene Farbe erhält. Der eine von mehr Männerstimmen, von gehäuften Bässen schwer und dunkel geschattet, der an¬ dere hochgestimmt, von der Helle geteilter Soprane beherrscht. Die Chöre singen erst abwechselnd einander zu, vereinen sich an den gegebenen Stellen zu gro߬ artigen Gesamtwirkungen. Es ist kein leichtes Spiel, vierzig Sänger auf zwölf Stimmen zu verteilen, dies besonders, wenn die Tenor« rar sind. Eine der Tenor¬ stimmen konnte Painich nur mit einem einzigen Sän¬ ger besetzen, und der war ich. ^nZeluz sck psstores ait: 14 209 ^nnuncio vodiš ßauclium ms§num, ()uia natus est vodiš dloäie 8alvator mun6i. Hallelusali! Ich sang aus vollem Herzen und tat, was ich konnte, hatte dabei das stolze Gefühl, als sei ich an diesem Abende die Stütze und der Pfeiler der gesamten vene¬ zianischen Schule des Cinquecento. Als aber das „6lo- ria in excelsis Oeo et in terra PLX doininidus donae vo- luntatis. dlallelusad, dlallelusad!" deS Gesamtchores in unbeschreiblichemIubel aufftrahlte,und ein breiter, hoch¬ aufbewegter Strom von Sonnengold den Saal durch¬ flutete, mag meine bescheidene Stimme im Brausen der gedoppelten Bässe, im samtenen Klang feierlicher Altstimmen, im Glanze aller hochgemuten Tenor- und Soprankehlen wohl unbemerkt und ungehört, rühmlos untergegangen sein. Denn hier hat Gabrielis farbige und glühende Phantasie gleichsam an einer ungeheuren Orgel alle vollen Werke gezogen, darüber er himmlische Mixturen zu einer sinnenverwirrenden Gloriole von blendendem Weltenlicht aufleuchten läßt. Wer hat diese Engelsbotschaft vernommen und ist davon nicht in den tiefsten Tiefen seiner Seele ergriffen worden? Es verstarb unser alter Triester Bischof. Sein Nachfolger, Bischof Nagl, kam aus Rom, von der „Anima", deren Rektor er dort gewesen war. Es ging ihm der Ruf eines energischen und streitbaren Prie¬ sters, aber auch eines hochgebildeten, frei und verständ¬ nisvoll entgegenkommenden, feinen Weltmannes vor¬ aus. Er ist später als Fürsterzbischof und Kardinal nach Wien gekommen, war zu hohem Flug bestimmt, ist aber leider allzufrüh, in der Vollkraft seiner Jahre, 210 gestorben. Ich beschloß, sofort vorzugehen, und nahm Audienz. „Sie werden kein Glück haben", sagte man mir. Aber ich wußte: Jetzt oder nie! Ich brachte mein Anliegen vor. Er zeigte sich zu meinem Erstaunen schon vollkommen informiert. „Nehmen Sie Knaben", sagte er, „wie wir es in Rom, in der „Anima", gemacht haben." „Knaben sind ein großes Durchhaus. Kaum sind sie ausgebildet, so mutieren sie. Ich habe nicht die Zeit noch auch die Mittel, um eine Sängerknabenschule zu halten." „Singen Sie aus religiöser Überzeugung oder aus künstlerischen Motiven?" „Wie mir bekannt ist, einige der Damen und ein Herr aus religiöser Überzeugung. Die Mehrzahl und auch ich mit künstlerischen Absichten", war meine ehrliche Antwort. „Es sind schöne Frauen und Mädchen in Ihrem Chor. Man blickt aus der Kirche hinauf zu ihnen an¬ statt zum Hochaltar. Es werden auch Operngläser mit¬ genommen." „Das war so das erste Mal. Ich habe breite, rote Blenden anbringen lassen. Der Chor ist fetzt un¬ sichtbar." „Sie überreichen den Damen Blumen. Das schafft Ärgernis." „Jede Dame erhält nach der Messe fe nach der Jah¬ reszeit einen Strauß Rosen oder einen Bund weißer Lilien. Jeder Herr eine Rosenknospe ins Knopfloch. Die Blumen verteilen meine jungen Nichten, nicht ich selbst. Bevorzugungen und Auszeichnungen einzelner Damm kommen nicht vor." 211 „Es kommen viele Juden zu Ihren gesungenen Messen." „Gewiß, sie kommen. Ein mir sehr wertes Publi¬ kum. Aber unsere katholische Kirche ist so groß, sie kann alle umfassen. Juden kommen auch in die Sixtina. Und schlechter gehen sie nicht fort, als sie vorher waren, da sie kamen." So sagte ich und begrub in diesem Augenblick schon alle meine Hoff¬ nungen. Die Antwort schien ihm zu gefallen. Er wurde im¬ mer aufmerksamer. „Singen Sie den Palestrina konzertmäßig, das heißt nur die von ihm komponierten Meßteile, ohne den liturgischen Zwischengesang?" „Die Orgel leitet ein. Dann singen wir die Pale- strinamesse ohne jeden Zwischengesang. Zum Ausgang wieder die Orgel." Dann frug er plötzlich: „Sind Sie imstande, auch den liturgisch vorgeschrie¬ benen Zwischengesang im Gregorianischen Choral sin¬ gen zu lassen?" „Gewiß", antwortete ich, und ein neuer Hoffnungs¬ schimmer stieg rosenrot in mir auf, „gewiß, leicht! Meine Herren sind intelligent und willig." „Gut", beschloß er, „ich gebe Ihnen meine Erlaub¬ nis unter dieser Bedingung: Sie singen zur Palestrina- messe allen liturgisch vorgesehenen Gregorianischen Ge¬ sang vom „Introitus" bis zum „Deo Gratias" nach dem „Ite mis83 est". Sie verstehen mich. Ich will meinen Priestern sagen können: Schaut her, so soll eine gesungene Messe sein." Und gütig fügte er hinzu: 212 „Machen Sie Ihre Sache gut, Herr Doktor. Ich werde zur Messe kommen." Ich war in Gnaden entlassen. Als ich dankte, hätte ich ihm gerne die Hand geküßt. Aber eine angeborene, kleine Steifheit in meinem Rückgrat hat mich daran gehindert. Die Stellung war genommen! Und ob wir unsere Sache gut gemacht haben! Wir wählten wieder die „Missa Brevis", „Sanctus" und „AgNUs Dei" aus der.Assumpt- est ^aria", und sangen an zwei Sonntagen nacheinander in der Pfarr¬ kirche zu,,8snt'Antoniovecclüo", da uns mein Kirch¬ lein zu diesem Anlaß doch zu klein erschien. Es war Frühling 1907. Als ich so nach jahrelangem Harren erstmals wieder die Via Cavana zu einer Triesterkirche hinabschritt, muß man meinem Blick und meinem Gang schon angemerkt haben, daß es abermals ein Stückchen Via triumphalis sei. Der ernste, dunkle Rahmen des Gregorianischen Gesanges, den eine ausgewählte, kleine Schar meiner Herren meisterlich vortrug, und aus dem sich Palestrinas Meßteile licht heraushoben, gab dem Ganzen eine noch größere Weih«. Bischof Nagl war anwesend. Mit trockenen Augen ist er gekommen, mit nassen gegangen. Ich danke hier noch einmal seinem Andenken! Man soll nicht glauben, daß die Leitung eines Kir¬ chenchores eine einfache Sache ist. Die Mufik dazu muß ausgegraben werden, es gibt viele Wege zum Kopisten. Auch der „Vogelfang" nimmt Zeit in Anspruch. Da ist es einmal vorgekommen, daß im Alt eine Ver¬ lobungsepidemie ausbrach. Meine allerstrengsten Vor¬ stellungen und Verbote hatten keinerlei Erfolg. Ich ver¬ lor der Reihe nach ausgezeichnete Stimmen. Der Er- 213 satz mußte rasch herbeigeschafft werden. Das Glück war mir günstig, es halfen mir freundliche Zufälle, aber auch Arbeit habe ich dazu gehörig geleistet. Meine lei¬ tende Stelle im Schillerverein hatte ich gleich nach Auf¬ stellung meiner Orgel aufgegeben, um meine Zeit zu¬ sammenzuhalten. Das war mir allerdings sehr leicht gemacht worden. Das Budget für die musikalischen Auslagen wurde mir allzu stark zusammengestrichen. Eine Partei im Verein war Siegerin geblieben, welche schöne Ausstattung der Räume und neue Möbel wünschte, die darum die „Möbelpartei" hieß. Da konnte ich schon aus diesem Grunde gehen, auf daß sich nicht der Niedergang der Musik im Verein an meinen Namen knüpfe. Er ist dann selbst allgemach niedergegangen. Hellers Tod hat ihm einen schweren Verlust zugefügt. Der Krieg ihm schließlich ein un¬ rühmliches Ende bereitet, nachdem er schon lange vor¬ her seine einstige hohe und führende kulturelle Bedeu¬ tung vollständig eingebüßt hatte. Das berufliche Leben stellte an mich immer größere Anforderungen. Schließlich zwang es mir die Wahl auf, ob ich ihm das Orgelspiel opfern wolle oder den Chor. Es war ein Entschluß, mit sehr schwerem Herzen ge¬ faßt. Die Orgel mußte mir verbleiben, da war ich ja auch ganz auf meine eigene Leistungskraft gestellt, den Chor habe ich seit 1908 nicht mehr einberufen. Es sind Versuche gemacht worden, mindestens einen klei¬ neren Teil davon zusammenzuhalten. Aber sie scheiter¬ ten. So willig auch jeder einzelne dem idealen Ziele folgen möchte, so aufrichtig aller Absichten und Wün¬ sche sein mögen, gehört doch immer eine eisenfeste Hand in den Mittelpunkt, die imstande ist, über die vielen, 214 nicht im voraus berechneten, nicht vorausgesehenen, klei¬ nen Hemmungen und Hindernisse des täglichen gesel¬ ligen Lebens hinweg alles herbeizuzwingen und voll¬ besuchte Proben zu erzielen. Geraten diese einmal in Unordnung, so muß bald das Ganze zusammenfallen. So hat meine „Ara Palestriniana" elf oder zwölf Jahre angedauert. Man hat gesehen, wie sie aus sehr bescheidenen Anfängen folgerecht emporgewachsen ist. Wir sind in das Leben hineingestellt und haben unsere Pflichten zu erfüllen. Da herrschen eherne Gesetze, die auch Größeres und Stärkeres zu beugen oder zu bre¬ chen vermögen, als damals in mir stillestehen mußte. Vielleicht habe ich es in der Hast und im Zwange der drängenden Arbeit weniger schwer empfunden. Auch hielt ich ja nach wie vor den Zauberstab noch in der Hand. Wann immer ich ihn wieder erhoben hätte, in jedem Augenblick, wären mir alter Chor und neue Chöre leuchtenden Auges, begeistert zugeflogen gekommen. Aber das Leben schreitet, und so ist aus jenem Stille¬ stehen ein Abschied auf immer geworden. Trotzdem, so denke ich, habe ich allen Grund, dem Schicksal dafür dankbar zu sein, was es mir aus reichem Spenderwil¬ len gegeben hat. Gottfried Keller sagt in seinem „Grünen Heinrich" so anmutvoll, daß das Erlebte zuweilen doch so schön ist wie das Geträumte. Gewiß, es ist so. Dieses Ka¬ pitel, das ich „Pierluigi da Palestrina" überschrieben habe, sei ein neues Beispiel dafür. Es erzählt nach voller, warmer Wirklichkeit den schönsten, den selig¬ sten all meiner erlebten Träume. Er geht weiter, im¬ mer, mit mir. Und an jedem Sonnentage, wenn ich, emporschauend, über weißen Wolkenrändern die blaue 215 Schwelle der Himmelsrämne grüße, träume ich ihn wieder. Da öffnen sich mir in Licht und Glorie alle Pforten des Paradieses, weißbeschwingte Engelsscha- ren schweben feierlich hernieder, und ich höre aus über¬ irdischen Höhen, rein, fromm und heilig, Palestrinas ewige Chöre! 216 Die Berge Man wird vielleicht in diesen Aufzeichnungen nach tiefer schürfenden Betrachtungen über Beziehungen, Verbindungen oder Wechselwirkungen zwischen Musik und Bergen suchen. Wohl vergeblich. Ich glaube, daß diese Beziehungen nur ganz äußerlicher Natur sein kön¬ nen, und daß die beiden verschiedenen Richtungen in mir nur einen gemeinsamen Urquell hatten, den der Poesie und der Romantik, danach meine Seele dür¬ stete. Und dazu natürlich auch den des eigenen Erlebens und seelischen Durchdringens. Da entsprangen sie und darin finden sie ihr Bindeglied. Wohl Habe ich mit un¬ endlicher Hingabe den Stimmen der Natur gelauscht. Wie vieles haben mir in meinem langen Bergleben das Jubilieren der Vögel in den prangenden Frühlings¬ bäumen, der Werberuf des Schildhahnes aus flim¬ mernden Krummholzhöhen, die Alarmsignale der Gem¬ sen, die schrillen Pfiffe der Murmeltiere, das Weben und Rauschen des Bergwaldes, die oft erschütternden Orgelpunkte der Wildbäche in den Gräben und Klam¬ men, das phantastische Rollen des Gewitters, das Don¬ nern von Wasserfall und von Lawine zu erzählen ge¬ habt. Erwachen im Biwak. Erste Morgendämmerung, ein stiller, lichter Streifen im Osten. Wunderherrliche Stimmung der Verheißung und Erwartung überall. Alles schaut, alles lauscht, alles horcht. Ganz leise, 217 gleichsam wie ruckweise, naht der Tag. Es wird Hel¬ ler und Heller, die Sonne geht auf. Sind es ihre mil¬ den, rosigen Morgenstrahlen, ist es Musik? Einige Laute ferne, tief unten im Walde. Was ist es? Ein feines Zirpen in der Wand: wohl ein von einem gol¬ denen Sonnenstrahl eben gewecktes, noch schlaftrun¬ kenes Mauervögelchen? Ein leises Tönen zittert her¬ auf, kaum vernehmbar, wie verloren: eine frühwache, fromme Morgenglocke aus dem Tal. Heilige Berg¬ andacht! Mit der reinen Musik hat dies alles nichts zu schaf¬ fen. So denke ich, daß beispielsweise eine „Alpensym¬ phonie" nichts anderes sein kann, als die Verarbeitung von Motiven, die man aus Len Bergen geholt hat, zu symphonischen Sätzen. Die Musik in den Bergen, auch Iodelruf und Zitherklang, ist etwas ganz Eigenes für sich, und man sollte es sich nicht einfallen lassen, etwa die Macht und Größe der Alpennatur musikalisch darstellen zu wollen. Das ergäbe nur äußerliche, ge¬ suchte und mitunter vielleicht überraschende, trotzdem banal und theatralisch wirkende Effekte. Man kennt ja die Gefahren in aller beschreibenden Musik. Poesie und Romantik haben mich immer geführt, sie waren mein ewiger Jungbrunnen und sind es heute noch in mir, als wäre ich ein junger Knabe. Vergleichungs- punkte zwischen Musik und Bergen haben sich mir sehr oft ergeben, tiefinnere Zusammenhänge nie. Wieder¬ holt bin ich einer Palestrinamesse nähergetreten, weil mich der phantasievolle Name lockte, den der Meister ihr zu geben wußte. Und wie oft hat mich der roman¬ tische Klang seines Namens zu einem Berge gezogen, der mich eine Welt von seelischen Freuden ahnen ließ. 218 Man denke an die eindrucksvollen Namen, welche die Iulischen Bergfürsten tragen, an die wie mit vollem Glockenton rufenden der Dolomiten, an die erzenen, oft monumentalen, die in Ost- und Westalpen alle Völker dm Eisriesen zu geben verstanden, die auf sie nieder- schauen. Poesie und Romantik haben auch mitgeholfen, mich vor allzu starken Abweichungen von der Linie des Schönen, vor Übertreibungen mancher Art zu behüten. Sie sind mit dabei, wenn ich das rein Technische, das Virtuosentum in der Musik ablehne, wie das Vir¬ tuosentum des eitlen Sportes in den Bergen. Sie haben es dazu gebracht, daß mich zuweilen eine still und froh zwischen Alpenblumen aufspringende Quelle köst¬ lichen Wassers beredter und nachhaltiger zu fesseln ver¬ mochte als irgend eine stolze Aiguille von Chamonix, eine in Wundern von Farben blühende Insel von Pa¬ radiesesblumen, von dunkelblauem Enzian, von Feuer¬ lilien oder berauschenden Federnelken, eine in leuchtend gelbem und violettem Primelnflor jubelnde Berghalde irgend eines der vielbewunderten, hochragenden Ka¬ stelle Savoyens oder Les Dauphine vergessen ließ. Denn das alles ist in meinem Leben vorgekommen, sollte auch vielleicht mancher kühne Gipfelstürmer dar¬ ob, verwundert oder nachsichtig lächelnd, den Kopf schüt¬ teln müssen. Für viele meiner Bergtouren danke ich die An¬ regung natürlich der alpinen Literatur. Aber diese war damals nicht so übermäßig groß, wie sie es heute ist. Gar wenig war noch über die Iulischen Alpen geschrie¬ ben worden. Als ich hinzukommen begann, ist ja dort noch so viel Neuland gewesen. Man konnte ab und zu über eine Triglav-, eine Manhartfahrt lesen. Über die 219 Wischberg- und die Kaningruppe hatte Gustav Jäger im „Tourist" veröffentlicht. Da vernahm ich vom alten Bergführer Andreas Wenzl, vulgo Exl, vom rasch be¬ weglichen Thomas Oman, der mir später erstmals die noch unerstiegene Hohe Gamsmutter wies, der dann einmal nach vielen glücklich bestandenen Berggefahren beim Meßministrieren in der Kirche niederfiel, sich die Kniescheibe brach und davon zeitlebens ein steifes Bein und Berginvalidität behielt. An umfassenderen Auf¬ sätzen lagen sonst nur noch im „Jahrbuch des Stei¬ rischen Gebirgsvereines" die reizenden Schilderungen Karl Wurmbs, des späteren Erbauers der Tauern¬ bahn, vor, dann die klassische Arbeit Hermann Finden- eggs über die „Raibler Alpen" in der Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins 1879. Die sagenhafte Gestalt des verwegenen Flitschers An¬ dreas Stergule trat aus jenen an mich heran, des be¬ rüchtigten Wilderers, Wurmbs Begleiters auf den Brether Ialoue und bei den Versuchen auf die Hoch¬ riffe der Weißenbachspitzen, den Lesern meines Berg¬ buches wohlbekannt. Denn im Biwak vor meiner Erst¬ ersteigung des höchsten Turmes ist er ja, nur mir in wachem Traume sichtbar, an meinem spärlichen Lager¬ feuer gesessen und hat wild und höhnisch zu mir her¬ übergeschaut. Und Michael Lernutta, den riesenstarken, den grundehrlichen, habe ich aus den gleichen Blättern kennen gelernt. Dessen zwei Küsse nach dem Ialoue heute noch auf meinen Wangen brennen. Aus Findeneggs Arbeit sprach der kühne und zähe Pfadfinder auf Mon- tasch von Süden, auf Kanin von Norden, gewiß der stärkste und erfolgreichste aller Iulierpioniere früher Zeiten, ein wirklich Großer, der gerne feiner eigenen 220 Kraft vertraute. Das waren drei Aufsätze, die mich Jahre hindurch ganz außerordentlich zu fesseln ver¬ mochten, aus denen ich immer wieder schöpfen konnte. Die schönsten mir bekannten landschaftlichen und Berg¬ schilderungen aus den Iulischen Alpen habe ich aber im heute schon fast gänzlich verschollenen Buche von Gilbert und Churchill „The Dolomite Mountains", 1864, gelesen, von dem ich hier und mehrmals in mei¬ nem Bergbuche schon gesprochen habe, und das ich so gerne aus seiner unverdienten Vergessenheit hervor¬ ziehen möchte. Der Gipfelstürmer findet darinnen aller¬ dings nur wenig Bemerkenswertes, doch wie viel des denk- und dankwürdigen der Bergwanderer und Berg- poet. Wie entzückend schon der liebe, leise Humor, der durch das ganze feingestimmte Buch zieht. Wenn es beispielsweise vor dem Schneewasser warnt, denn trinke man davon zu viel, so stelle sich leicht „I'lüver cksns le venire" ein, wenn es vom ehrlichen Md selbstbe- 1 wußten Flitscher Mitscherlich erzählt, dem „geborenen Anführer von Menschen", oder wenn die Erzähler vor der in die Felswand eingelassenen Gedenktafel eines „wohlgeborenen" und nun gewiß schon längst „wohl- gestorbenen" Herrn nachdenklich stehen. Und noch etwas mutet mich daraus so überaus wohltuend an: die wun¬ dervolle Bescheidenheit der auf klassischer Höhe stehen¬ den Schilderen Die ist uns heute etwas abhanden ge¬ kommen. Aus dem modernen Vorherrschen des Ichs scheinen sich mir gewisse Gefahren für die Erzählung und Fahrtenbeschreibung zu ergeben. Die Feder geht gerne durch. Man hat ab und zu im Lesen der neueren Sachen das bedrückende Gefühl: „Mein Gott, das hätte ich ja nie gekonnt!" Und da heute ein Bergführer 221 nur selten mehr mitgeht, dem man in alten Zeiten gerne Weihrauch streute, so kommt es auch vor, daß dieses liebe Ich, ohne es wohl zu wissen, noch wirklich zu wol¬ len, sich selbst etwas zu viel Zufriedenheit ausspricht und siegestrunkenen Mutes ein kleines Weihrauchwölk¬ chen zu eigener Ehr emporsteigen läßt. So scheint es mir. Doch das sind im Grunde Kleinigkeiten. Die Berge schauen stolz und hehr auch darüber hinweg. Zwei Jahrzehnte hindurch, von den ersten 1880er Jahren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde fast die gesamte deutsche Literatur über die Julischen Alpen von mir allein bestritten. Es waren zum Teil kurze Nachrichten, auch kleinere und größere Aufsätze in der „Österreichischen Botanischen Zeitung" des Dr. Alexander Skofitz, in den „Mitteilungen" und in der „Österreichischen Alpenzeitung", nur dreimal zusammenhängende Arbeiten: 1878 „Aus den Ber¬ gen der Trenta. Touristisches und Botanisches"; 1883 „Die Julischen Alpen. Östlicher Teil. Berge der Tren¬ ta", beide in der „Zeitschrift" des Alpenvereins; 1894 meine Bearbeitung der Julischen Alpen in der „Er¬ schließung der Ostalpen", worin ich zum ersten Male die fast fünfviertel Jahrhunderte umfassende Gesamt¬ geschichte der Ersteigungen des Triglav von Willonitzer und Haequet bis zum Jahre 1894 nach genauem Quel¬ lenstudium in den Werken Altmeisters Haequet und in den Laibacher Archiven zusammengestellt habe. Spä¬ ter ist dann Professor Adolf Gstirner an meine Seite getreten, der schließlich 1900 bis 1907 seine grund¬ legende, alles andere weit überragende Arbeit über den westlichen Teil der Julier in der „Zeitschrift" nieder¬ legte. Sie ist so vortrefflich, daß alle folgende Literatur 222 über die Westfulier auf ihr aufgebaut werden mußte. Soweit die geschriebene Literatur. Aber noch un¬ endlich viel mehr als aus dieser habe ich aus zwei an¬ deren großen, ungeschriebenen Büchern gelernt. Aus dem klassischen, all denen, die eines guten Willens sind, immer weit aufgeschlagenen Zauberbuche der Na¬ tur und dem gleichfalls ungedruckten, aber tief bedeut¬ samen Buche der Romantik, der Phantastik und der Legende der Berge, dem der Überlieferungen von Mund zu Mund, von alters her, von kühnen und unternehmen¬ den Vorfahren herüber auf gläubige Kinder und Kin¬ deskinder, in dem so viel Verborgenes und Geheimes zu finden ist, so viel Sagenhaftes und auch Wahres, dem die Phantasie des Volkes goldene Aureolen auf¬ gesteckt hat. Was geht durch die Blätter dieses Buches für ein wundersames Raunen und Rauschen, wovon allerdings das stolze und selbstzufriedene „Ich", das heute zu den Kletterproblemen der Berge kommt, kaum eine geringste Ahnung hat. Nicht feder gelangt dazu, und es dünkt mir, als würde der Zutritt zu ihm immer verschlossener und schwieriger, fe mehr die neuere Zeit sich vom Träger dieser Traditionen, vom Einheimi¬ schen, vom wissenden Älpler und vom „Führer" der alten Schule entfernt. Ich habe darinnen gelesen in den armen, einsamen Bergweilern der Höhen, wo keine Kirche mehr steht und kein Wirtshaus, in den Unter¬ schlüpfen der Regentage in Almhütten und Heustadeln, am dürftigen Herde von Hirten und Holzern, der Jäger und jener vielfachen verwetterten Gestalten, die ein har¬ tes, schwer durchgekämpstes Bergleben frühzeitig beugt, an den knisternden Lagerfeuern der Hunderte meiner Bi¬ waks, wenn der Abend sank, die Sterne freundlich auf- 223 glänzten und der Schweigsamste zu Zigarre oder Pfeife gesprächig zu werden begann. Ich wäre sonst wohl nicht der Erschließet der Iulier geworden, als der ich heute gelte. Und noch etwas ist mir Antrieb zu mancher Berg¬ fahrt gewesen. Man hat mich von Anbeginn sehr lieb behandelt und in mir den „Hausherrn" der Iulier er¬ blicken wollen. Würde schafft Bürde. Es ist ab und zu die mehr oder weniger eitle Betonung dieser Haus- herrnstellung gewesen, die mich führte: hier bin ich der Herr! Man muß es nur aufrichtig gestehen. Welcher Bergsteiger fühlt sich vollkommen frei vom Wunsche nach Ansehen und nach alpiner Glorie? Arbeit gab es in den Iuliern genug, und feder der großen Berge erstellte mir schöne Aufgaben. Da fand beispielsweise der eine, es führe doch ein großes, be¬ rühmtes und vielbesuchtes Tal bequem zu seinem Fuße, aber der direkte Anstieg daraus zu seinem Gipfel sei noch nicht gefunden. Und er sei doch da! So erstieg ich erstmals den Ialoue aus der Planica durch den steilen Schlot der Nordrinne, die Kaltwasser-Gams- mutter aus dem Kaltwassertal über den herrlichen Plat¬ tenschuß der Nordostseite. Razor und Prisank mein¬ ten, ihre Steil- und Prunkfassade schaue doch nach Nor¬ den, und sie hätten da von allem Anfang schöne Auf¬ stiegsmöglichkeiten eingebaut. Trotzdem gehe alles weit herum und ersteige sie von Süden, „von hinten", auf dem leichtesten Wege, was eines richtigen Bergsteigers ja gar nicht würdig sei. Da nahm ich also beide direkt von Norden. Der Wischberg war der gleichen Mei¬ nung und erklärte sich erst befriedigt, nachdem ich ihm sieben feine, neue Nordwege eröffnet hatte. Als er zum Schlüsse gar noch einen achten erhielt, den Wunder- 224 weg über die seltsame, hochgespannte Brücke der „Göt¬ terbänder", noch dazu aus einem Tal, das gar nicht zu ihm gehört, da strahlte er ordentlich vor Vergnügen und meinte, nun sei es genug, für einen weiteren Weg sei überhaupt kein Platz mehr vorhanden. Die fürchter¬ lichen Nordmauern des Montasch fühlten sich gekränkt, daß die Dognaseite ihren farbigen Kletterweg habe, sie noch keinen. Ich gab ihnen deren drei, Ferdinand Horn schenkte ihnen später einen vierten, gar schönen. Sie hätten gewiß dankbar gelächelt, wäre ihnen dies mög¬ lich gewesen. Aber dazu liegen die Falten im Nordant¬ litz des Montasch doch zu ernst und zu düster. Einige kleinere Berge kamen heran und erklärten, es sei eine wahre Schande, daß sie bisher weder erstiegen noch überhaupt getauft worden seien. So was komme in an¬ deren Berggruppen nicht vor. Einen Namen und einen Erstersteiger müsse jeder anständige Berg haben. Sie seien ja nur um wenige hundert Meter niedriger als die Großen, und niemand könne sagen, daß sie diesen etwa an Schönheit nachstehen. Die Höhe allein mache es auch nicht aus, man müsse auf angeborenen Adel, auf Form, Struktur und Charakter schauen. Ich beeilte mich also, erstieg sie oder ließ sie von meiner unvergleichlichen Jugend der Reihe nach ersteigen, taufte sie vorher mit klingenden Namen, die alle sehr volkstümlich gewor¬ den sind. Man merkt gar nicht, daß es neue, von mir erfundene sind, sie hören sich an, als bestünden sie schon von alters her, so vorsichtig habe ich sie den übrigen an¬ gepaßt. Oder sind: „Kaltwasser-Gamsmutter" für den gewaltigen, östlichen Eckpfeiler des Wischbergmassivs, „Enzianturm" über der „Cianerca", „Spranjeturm" über dem Spranjehochkar, „Drachengrat" am Mon- 15 225 Lasch, „Karnizenturm" über Dogna und Seissera, „Kaltwasserkarspitzen" und „Innominata" in den Wischberggraten, „Campanile degli Orsi" über dem gleichbenannten „Lavinal", „Campanile degli Altari" über der weltentrückten Stätte „Hinter den Altären" nicht wunderschöne Namen, die ihre Träger freuen müs¬ sen, und auf die ich mir etwas einbilden darf? Und dabei so zutreffend und bezeichnend, daß man sich gar nicht mehr irren kann. Es riefen die Bänder. O Bänder der Iulischen Al¬ pen! Wie könnte ich dieses neue Buch niederschreiben, ohne euch daraus noch einmal zu grüßen! „Wir haben deine ersten Lehrer geführt, die Wilderer, auf ihren geheimen Schleichwegen, zu neuen, reicheren Jagdrevie¬ ren. Komm du nun mit uns. Wir leiten dich über den Schauern und den Wundern der Abgründe durch die Glorie der Wände, zu Schluchten, die niemand noch sah, zu Flanken, die niemand noch durchstieg, zu neuen, von Menschenfuß noch nie betretenen Wegen auf die Gipfel, die dort oben leuchten. Wir bieten dir Blu¬ menpolster zur Rast, feine Zauberquellen zur Erquik- kung, sichere Überhänge zur Nacht, Stimmungen, Freu¬ den, Erinnerungen ohne Zahl und ohne Ende. Du wirst den blauen Himmelsherold finden, die Gemsen äsen und spielen sehen. Folge uns. Wir sind der Zugang zu so vielem, danach dein Herz sich sehnt, zum Glück in den Bergen!" Was habe ich in den Iuliern an Bändern überschritten. Wo ich nur konnte, bin ich ihnen gefolgt. Immer waren es für mich festliche Stunden, wenn ich sie betrat, und wo eine Gipfelfahrt über sie hinführte, hatte ich stets das Gefühl, dies sei der eindrucksvollste und fesselndste, der vornehmste Teil des Weges. Wer 226 zählt sie alle! Die Wischbergbänder, die Doppelbalkone des Spranfeturmes, die „Grande Cengia" des Mon- tasch, das Band des Grauens zu seinem Nordturm, die märchenhaften Dognabänder, die zum Riesenbau der „Walhalla" führen, die wie mit Hammer und Meißel herausgearbeiteten Bänder des Kanin, das „Kugyband" am Triglav. Da habe ich erst lange nicht recht verstehen können, warum es wohl meinen Namen trage. Denn ich bin nicht der erste gewesen, der es über¬ schritt. Es war von alters her der kühne Weg der Tren- taner Wildschützen zu den ergiebigen Gemsjagden der Krainerseite. Vom „Flitscher Schnee" zogen sie hin¬ über — „rechts die Wand, die blaue Luft zur Lin¬ ken, unter ihnen die purpurfarbne Tiefe" — und kamen, mit ihrer Beute beladen, darüber zurück. Und fetzt weiß ich es, daher kommt der Name: ich bin der erste Mann gewesen, der ohne Gemsbock auf dem Rücken den luf¬ tigen Gang gemacht hat. Auch „Montaschscharte", „Brdoscharte", die „Götterbänder" habe ich so ge¬ tauft, die man dann als „Cengie degli Dei" gerne in die italienische Nomenklatur herübergenommen hat. Die Grate riefen, mit denen die Götterburgen der Julier sich die Hände reichen, die mit starken Felsen¬ armen die still träumenden Kare umschlossen halten und die Riesenbecken voll ewigen Schnees hoch zum Himmel emporheben. Der lange umworbene Manhartgrat zum Ialoue hin, die feinen „Messergrate" des Poneazuges, darüber der „noble Mann" aufrecht hinschreiten muß, die weißstrahlenden, sagenumwobenen der Trentaberge, die übergewaltigen, zinnengekrönten, die den Wischberg mit dem Montasch verbinden, die giebelauf, giebelab laufende Zackenlinie von der Großen Baba über Monte 227 Kanin bis zum Prestreljenik und weiter zur Lernjala und zum Seekopf über dem Raibler See, die un¬ gezählten Reihen der Grate, die von allen Seiten mit schroffen, bleichen Klippen in die Iulischen Quertäler niederschauen und deren Landschaftsbild zu unerreichter Mannigfaltigkeit und Schönheit erheben. Und die Hochscharten! Erst die leichten, die nur einen Übergang von Tal zu Tal, zu anderen Berggruppen darstellten, die Luknja, die entzückend schöne Bären¬ lahnscharte, dann die schwierigen und schwierigsten, die sich als Probleme gaben. Die düster abweisende Škr¬ bina zwischen Prisank und Razor, die lichten, sonnen¬ durchfluteten, tief und verlockend in den blauen Him¬ mel gezeichneten Spranjescharten, von denen ich so viel zu erzählen hatte und immer noch mehr erzählen könnte und möchte. Es riefen die starken Bergwälder, die Schwebe- und Hängewälder der Trenta über den blauenden Schluch¬ ten, die Urwälder der Komna und der Sieben Seen voll Märchenstimmung und Sagenzauber, die dunklen Grün¬ de der Kerma und der Seissera, die streitbaren Buchen¬ inseln der Flitscherberge. Die smaragdenen Gams- angerln der Höhen, die vielfarbigen Blumenwiesen der Hänge, die froh aufspringenden Iulierquellen, die ver¬ borgenen Standorte seltener Julierpflanzen. Alles lockte, alles rief. Gewiß, ich bin fleißig gewesen, so wie es hier geschrieben steht, fortgesetzt, vier Jahr¬ zehnte hindurch. Aber alles konnte ich allein nicht ma¬ chen. Es ist so vieles, so schönes und großes noch übrig geblieben, daß wohl ein volles Dutzend Heller Jungen aus der herrlichen Bergsteigerschar, die mich heute um¬ gibt, daran hat berühmt werden können. 228 Nach der damaligen Art ging ich lange Zeit nur im Sommer in die Berge. Im Winter schienen sie allen verschlossenes Land. Man wartete. Meine erste Wintertour unternahm ich vor langen Jahren, da ich eben erst in das Berufsleben eingetreten war, mit einem der Berge ganz unkundigen Gefährten. Wir gingen nur von Kronau über den Versicsattel in die Trenta. Der späte Aufbruch, tiefliegende Nebel, sehr schlechter Schnee und später einsetzendes Schneetreiben hatten zur Folge, daß wir in die Nacht hineinkamen und vom Wege abirrten. Wir kannten den Bergwinter nicht. Es fiel mir erstmals die etwas phantastisch wirkende Erscheinung auf, als ob die aus dem Schnee ragenden Baumwipfel sich, auf- und abschwingend, bewegten und uns entgegenkämen. Überall sahen wir im Dämmer¬ licht Schatten und Gestalten in Bewegung, und wie wir uns so mühsam emporarbeiteten, hatten wir manch¬ mal dm ernsten Eindruck, als wollten uns Rudel aus¬ gehungerter Wölfe anspringen. Da faßten wir jedesmal den Pickel fester. Es war uns ganz unheimlich zu Mute. Unsere Lage wurde nicht unbedenklich, doch fand ich mich schließlich zu einer Almhütte durch, in die wir einbra¬ chen, und deren halbes Dach wir während der langen, bitterkalten Nacht verheizten. Viele Jahre darauf über¬ schritt ich mit Albert Bois de Chesne die Bärenlahn¬ scharte zur Winterszeit. Es war an einem strahlenden Tage, der uns die volle Pracht und Herrlichkeit der winterlichen Berglandschaft zeigte. Zur ersten winter¬ lichen Hochtour hat mir Antonio Krammer die An¬ regung gegeben. Er bat mich 1895 oder 1896 drin¬ gend, ihm zuliebe eine Winterersteigung des Triglav zu versuchen, die bis dahin noch niemandem geglückt 22S war. Sie gelang wunderschön, ich habe sie, wie alle meine folgenden Wintererfteigungen der großen Iulier- gipfel, in meinem Bergbuche geschildert. Nie wieder habe ich solchen Schnee gefunden wie damals. Von Mojstrana bis zum Triglavgipfel schritten wir wie über Elfenbein. Krammer drang weiter in mich, es folgte der winterliche Ialoue. Die Unternehmung verlief et¬ was abenteuerlich. Sie wäre unserer gesamten Kara¬ wane von fünf Mann bei einem Haar verhängnisvoll geworden. Den Kanin im Winter, auf den er sich so sehr gefreut hatte, erlebte er leider nicht mehr. Wir erstiegen ihn wenige Tage nach seinem frühen Tode. Er war wieder der geistige Urheber dieser Tour ge¬ wesen. Die Erinnerung an dm toten, jungen Freund ging den ganzen Tag mit uns, der dadurch, durch den feierlichen Glanz, der ihn vom Aufgang zum Untergang der Sonne umgab, durch die selige Schönheit, die über die Berglandschaft, den in arktischer Pracht funkeln¬ den Kaningipfel, über die fernsten Fernen einer unver¬ geßlichen, kristallklaren Rundsicht auf Berge, Land und Meer gebreitet lag, zu einem ergreifenden Erinne- rungstag geworden ist. Die Winterersteigung des Pri¬ sank gelang mir erst nach einigen Versuchen, die allzu schlechter und lawinengefährlicher Schnee abbrechen hieß. Am gleichen Tage befand sich mein Freund Bo- laffio auf dem Mont Blanc. Der winterliche Wisch¬ berg erforderte infolge des über knietiefen, weichen Schnees fast übermenschliche Arbeit. Wir benötigten einen ganzen Tag, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, um von Raibl zur Findenegghütte zu gelangm. Im oberen Teil ging es besser. Der Manhart im Win¬ ter fiel uns dagegen ganz leicht. Allerdings war es keine 230 richtige Wintertour, wofür ich die Zeit ganz knapp ziehe: von Mitte Dezember bis Ende Februar. Die Felsen waren zwar übereist, doch lag noch wenig Schnee, der gut trug. Liegt dieser hoch, so kann er sich von den Bändern so überaus steil an die Wände lehnen, daß es dann eines vollkommen sicheren Schneegängers be¬ darf. Die Ersteigung des Montasch im Winter 1905, die erst nach vier bis zum Äußersten geführten Ver¬ suchen gelang, gehört zu meinen gewaltigsten Berg¬ touren überhaupt. Das war vielleicht mein schönster und glücklichster Tag in den Bergen. Den Razor habe ich im Winter nicht versucht. Die horizontale Entfer¬ nung von Kronau aus zu ihm erschien mir zu groß, das Trentatal war zu jenen Zeiten nicht so rasch zu er¬ reichen, wenn man kein eigenes Automobil zur Ver¬ fügung hatte. Am Suhi Plaz wurde ich dreimal zu¬ rückgeschlagen und verlor alle Hoffnung. Der Schnee lag jedesmal so schlecht, daß ich mich, von der Aliaz- hütte ausgehend, zu später Morgenstunde immer noch tief in den unteren Hängen befand, obwohl ich das eine Mal schon um neun Uhr abends aufgebrochen war. Da konnte man ohne Skier an ein rechtzeitiges Durch¬ kommen nicht denken, und höhere Übernachtungsmög¬ lichkeiten existierten nicht. Man muß nun aber in heutiger Zeit, wo alles auf den leichtbeschwingten Skiern durch die Berge gleitet, wohl bedenken, daß wir ohne solche, ja in den selten¬ sten Fällen mit Schneereifen gegangen sind. Was gab man da an Zeit und Kraft, an Geduld und an Zähig¬ keit aus! Mit meinen gut 114 Kilogramm Gewicht sank ich auch da tief ein, wo meine leichteren Freunde und Führer, scheinbar schwerelos, kalt lächelnd hinüber- 231 geschwebt waren. Man stelle sich meinen Seelenzustand vor, wenn dazu Croux sein rauhes „Oepecder vous. Monsieur!" rief, oder alle Anzeichen dafür sprachen, daß wir uns auf vonLawinen bestrichenemTerrain beweg¬ ten. Zur Strecke von Nevea zur Alpe Parte di Mezzo oder Pecol, die ein guter Skifahrer in einer Stunde und auch in kürzerer Zeit zurücklegen kann, benötigten wir wiederholt sechs bis acht Stunden. Welch eine Ar¬ beit und welch ein Verlust an kostbarster Zeit schon bis zu den steileren Schneehalden oder bis zum Felsen¬ einstieg des Montasch! In der Planica, auf dem Wege zum winterlichen Ialoue, schleppte ich einmal ein langes, schweres Brett mit, das ich der Almhütte entnommen hatte, um damit die Schneewehen zu überbrücken. Zum Glück hatte ich immer so viel an Kraftreserven in mir, daß ich zu jeder Zeit, selbst noch in der spätesten und letzten Stunde, nach kurzer Rast imstande war, ein neues Leben beginnen zu können. Der Skibergsteiger von heute gibt auf der Winterfahrt kaum mehr an Zeit und an Kraft aus als auf der Sommertour. Ich hatte natürlich die großen Vorteile der Schnee¬ schuhe erkannt und wollte sie mir zu nutze machen. Aber für mich war es schon zu spät. Ich zählte damals über fünfzig Jahre. Das ist kein ernstes Hindernis, um eine altgewohnte Fertigkeit ungemindert zu erhalten, ein schwer und oft kaum überwindbares, eine neue zu erler¬ nen. Mein lieber Bergjunge Dougan sollte mein Lehrer sein. Ich erklärte ihm bescheiden, kein Kunstläufer noch ein Skivirtuose werden zu wollen, es genüge mir, wenn mich die Schneeschuhe bis in die Talschlüsse, unter die Steilhänge geleiten. Aus seiner Antwort konnte ich schließen, er halte mich im Skilauf zu Hohem und auch 232 Höchstem berufen. Das freute mich aufrichtig und rührte mich zugleich. In Wolfsbach zogen wir los, und ich lag sofort der Länge nach im Schnee. Alsbald sah ich ein, daß von meinen langholzbeschwerten, seltsam verdrehten Füßen her keinerlei Hilfe zu erwarten sei. So wollte ich mich auf meinen linken Arm stützen, der so¬ fort bis zur Achsel in den Schnee fuhr. Das gleiche Schicksal hatte gleich darauf der rechte. Nun unter¬ suchte ich den Luftraum über mir, ob da nicht Griffe angebracht seien, an denen ich mich emporziehen könnte. Ich suchte lange und eifrig, konnte aber keine finden. Dagegen bemerkte ich zu meinem Erstaunen, daß meine ehrliche und überaus anstrengende Arbeit meinen Dou¬ gan in so maßloser Weise aufregte, daß er, anstatt mir in meiner Not beizuspringen, in der Art eines schwer- kranken, von schmerzhaften Krämpfen befallenen Man¬ nes drüben am Zaun lehnen mußte. „Dougan, so hel¬ fen Sie mir doch", rief ich ihm zu. „Ja, sofort, im Augenblick, ich werde kommen, gewiß, ich komme, so¬ bald ich nur kann!" Meine ernste Lage hatte den armen Jungen offenbar so stark angegriffen und geschwächt, er mußte sich erst etwas erholen. Unter uns: es ist ein Ausbruch elementarster Heiterkeit gewesen, der seiner Gesundheit weiter nicht geschadet hat! Als ich endlich wieder auf den Füßen stand, fühlte ich mich totmüde, und wir beschlossen, eine andere Stelle zu suchen, wo der Schnee weniger weich und hoch liege. Aber auch dort fühlte ich sofort wieder das Bedürfnis, mich auf einen Augenblick hinzulegen. Dies geschah so über¬ raschend plötzlich und mit solcher Gewalt, daß ich be¬ fürchtete, ich hätte mir eine ganze Anzahl von Knochen gebrochen. Dougan beruhigte mich: es seien nur sub- 233 jektive Gefühle. Das Aufstehen war diesmal etwas leichter, der neue Fall unmittelbar darauf um so schwe¬ rer. „Noch ein dritter", sagte ich zu mir, „und du bist verloren. Da hast du den schönsten wirklichen Knochen¬ bruch, der dir die Berge auf immer verschließen kann." So ließ ich mir die Skier abschnallen und wankte in gedrücktester Stimmung mit Oitzinger ins Wirtshaus, wo ich mich bald etwas besser zu fühlen begann. Oitzin- ger sagte mir in seiner drastischen Weise einige passende Worte, die so ungefähr das wohlbekannte Sprüchlein vom Hänschen, vom Hans und vom „nimmermehr" wiederspiegelten. Ich verfolgte mit großem Interesse die Weiterent¬ wicklung des Schneeschuhlaufes. Allerdings habe ich in den Iulischen Alpen mehr Schneeschuhenthusiasmus als fertige Skiläufer gesehen. Aber das kann Zufall sein. Einst folgte ich in der winterlichen Wochein einem schmalen Fußsteig, der so tief eingefurcht war, daß zu beiden Seiten fast meterhohe Schneewälle hinliefen. Ganz drüben stand ein Mann, der in tiefes Nachsinnen versunken schien. Als ich ihn erreichte, sah ich, daß er Schneeschuhe anhatte. Er schaute mich prüfend an und frug endlich: „Herr, sind Sie Skiläufer?" „Nein, leider, Sie müssen mich entschuldigen. Ich habe mich verspätet. Warum fragen Sie?" „Ich möchte so gerne umkehren, weiß aber nicht, wie man das macht. Es ist so schmal hier!" „Wissen Sie", sagte ich, „in einer halben Stunde kommt ein Freund von mir auf Schneeschuhen hier vorbei. Der kann es Ihnen zeigen." Wir warteten über eine Stunde. Er notgedrungen, ich aus Höflichkeit und aus Interesse am Skilauf. Der 234 Freund kam sehr langsam und vorsichtig heran, obwohl er in der Stadt Vorträge über den Skilauf hielt. Er schien eher ein Schneeschuhkriecher. Wir trugen ihm die Sache vor. „O, es ist ganz einfach. Sehen Sie, das macht man so:", sagte er selbstbewußt, hob die Spitze des rechten Schneeschuhes hoch empor, daß dieser senkrecht, wie ein kleiner, schlanker Kirchturm, sein Bein wagerecht stan¬ den. „Jetzt aufgepaßt, es kommt die Drehung!" In diesem Augenblick riß ihn die Tücke des Schick¬ sals nieder. Er tat einen entsetzlichen Fall. Der Luft¬ druck war weithin spürbar, er riß auch den anderen mit. In dem nun folgenden Tumult sah ich eine phantastisch vervielfältigte Anzahl von Armen, Beinen, Stöcken, Rädchen, Skispitzen in der Luft umherwirbeln. Als ich mich von dem Orte des Schreckens entfernte, hatte ich die bestimmte Überzeugung, daß beide Herren Hanns hießen. Mit zwei n geschrieben! Gewiß, der richtig aufgefaßte Schneeschuhlaus ist ein ganz großartiger Behelf für den modernen Berg¬ steiger. Die winterlichen Hemmungen und Schwierig¬ keiten sind zu einem großen Teil hinweggeräumt. Jeden¬ falls ist der Anmarsch zum Berge ein ganz anderer, viel leichterer geworden. An die Stelle von oft über¬ menschlicher Mühe und Plage, wie wir sie hatten, ist ein Helles Vergnügen getreten. Der Geschwindigkeits- rausch der Abfahrt ist dann eine allerdings mehr sport¬ liche Sache für sich, er gehört nach meiner Ansicht nicht so sehr zum eigentlichen Bergsteigertum. Ich kenne ihn nicht, aber er wird ohne Zweifel auch seine tief im See¬ lischen des Menschen begründete Berechtigung haben. 235 Auch ein zweiter, ganz herrlicher Behelf ist für mich zu spät gekommen: die Eckenfteineisen. Als ich sie ken¬ nen lernte, war ich schon stark im Absteigen begriffen. Ich hatte den Vorzug, Schüler Oskar Eckensteins selbst sein zu können. Wie gerne denke ich an den Tag zurück, da er uns in -en Seracs des Brenvagletschers im Ge¬ brauch seiner Erfindung unterwies. Große Bergsteiger waren dabei: Günther von Saar und seine liebenswür¬ dige Gattin, Dr. Paul Preuß, Hermann Sattler, Gaßner. Freifrau von Saar und ich waren die be¬ scheidensten im Erfolg, wir sind, wie ich mich zu er¬ innern glaube, nur bis zu 52 Graden im Seraceise gegangen, der Erfinder selbst leistete wirklich Bewun¬ derungswürdiges an Geh- und Standsicherheit, Preuß war ebenso glänzend in der Eistechnik wie in seinen frohen Einfällen und lustigen Witzen. Hätte ich die Eckensteineisen früher gekannt, so wäre ich damit wohl auch gerne auf die Aiguille de Bionassay von Norden gegangen, wo ich früher immer nur den Typus einer unersteiglichen Eisflanke gesehen hatte. Die Firnhänge von unserem Biwak zum Col Claire im Dauphine sind nicht sehr steil, kaum vierziggradig, aber sie waren hart¬ gefroren, und so schlug Croux leichte Stufen, als wir in finsterer Nacht zum Pie Gaspard daran emporstie¬ gen. „Ici, iVionsieurl", rief er mich zuweilen, da er mich nicht sah. Aber ich hatte die Zaubereisen an und bemerkte mit Wonne, daß ich damit machen konnte, was und wie ich es wollte. Was wird auch damit an Kraft und an Zeit erspart. Auf mancher großen Eistour liegt in der Schnelligkeit der Bewegungen der halbe Er¬ folg und vervielfachte Sicherheit. Vergesset derer nicht, die ohne Eckensteineisen die Brenvaflanke des Mont 236 Blanc durchstiegen haben und die Gletscherhänge an der Ostwand des Monte Rosa. Die modernen Behelfe haben den Bergsteiger von heute zu einer hohen Aus¬ gangsbasis emporgehoben. Wie viel tiefer mußten die alten Meister beginnen, um sich zu den Höhen durch¬ zuringen. Wie viel gewaltiger überall ihre Leistung. Ehre ihnen! Man kennt also die Berge nur halb, hat man sie nicht auch im Winter besucht. Aber ich möchte noch wei¬ ter gehen und sagen, daß man sie auch bei jedem Wetter gesehen haben muß, um sie vollkommen zu verstehen. Nicht nur bei schönem, wo sie ihr freundlichstes Sonn¬ tagsgesicht zeigen. Fast möchte ich sagen, daß mir die Berglandschaft besser gefallen will, wenn Wolken dar¬ über hinziehen und da und dorten ihre feierlichen Schat¬ ten werfen. Auch Gilbert und Churchill sprechen gerne und bewundernd von „wolkenverhüllten Höhen", die oft geheimnisvoller anmuten können als vollkommen reine Fernen und in den blauen Äther gezeichnete Pro¬ file. Und manchmal will es mir scheinen, als ob allzu¬ viel hereinflutendes Sonnenlicht und übermäßiger Glanz die Berge herabdrücken und beispielsweise un¬ seren lieben Alpenseen an Farbe, Tiefe, Anmut, Reich¬ tum und Schönheit nicht so sehr zubringen, als eher etwas mindernd Abtrag tun. Die reizvolle Seeland¬ schaft kann dann in blendenden Lichteffekten untergehen. Allerdings muß ich auch hier wieder aufrichtig sein und offen bekennen, daß mir Schlechtwetter als ein sehr unerwünschtes, böses Hindernis, oft als eine schwere Prüfung erschienen ist, so lange ich in den Bergen Un¬ ternehmer und Stürmer war. Erst später, als ich im¬ mer mehr dem Beschaulichen, dem Sinnen und Träu- 237 men in den Bergen zuneigte, begann ich, von ehrgeizigen Plänen ungetrübtes Gefallen daran zu finden, wenn ich etwa halbe oder auch ganze Tage lang in einer Scharte der Iulier sitzen und zusehen mußte, wie die Nebel aus den jenseitigen Tälern und Schluchten in phantastischen Wirbeln emporjagten, immer grauer, immer wilder, ohne Ende, wie aus einem ungeheuren, unerschöpflichen, finsteren Riesenborn. Oder vor einer Schutzhütte, wenn der Südwest mit schwarzen Segeln über die Grate fegte, feuchte Nebelfetzen um alle Wände legte, bis endlich der ganze, stolze Aufbau der Berge hinter einem schweren und hoffnungslosen Wolkenvorhang verschwand. Freilager in einem trockenen Wildbachbett am Fuße der Schutthalden. In später Nacht haben sich unter Donner und Blitz die Schleusen des Him¬ mels geöffnet, zögernd sucht die Morgendämmerung heranzukommen, es regnet noch immer in Strömen. Was verschlägt es uns! Wir sitzen wohlgeborgen unter dem Überhang unseres Blockes und warten ruhig und ergeben. Der Teekocher summt. Da leckt plötzlich von irgendwoher eine kleine Welle zu uns herüber, gleich darauf eine zweite, größere, nach wenigen Minuten springen und schäumen die Wasser des Gießbaches von allen Seiten heran und zwingen uns zu eiliger Flucht. Und weißt du, wie es in den Plattenschüssen und dm Kaminreihen einer steilen Gipfelwand wird, wmn das Hochgewitter über den Berg rast oder gar ein Wolken¬ bruch niedergeht? Schwere, schwarze Wassermassen rau¬ schen plötzlich über die glattgeschliffenen Platten herab, in jedem Kamin brüllt ein zu erschreckender Gewalt an¬ wachsender Wasserfall, Steine poltern, stürzende Fels¬ blöcke krachen. Da siehst du in einem unbeschreiblich 238 furchtbaren Aufruhr, der geeignet ist, eines Mutigen Sinne zu verwirren, den großen Arbeiter und Bildner der Berge, das Wasser, an seinem titanischen Werke. Sei stark und wehre dich deines Lebens! Wer glaubt, den Monte Kanin zu kennen, ohne je ein Gewitter auf ihm erlebt, oder den Mont Blane, ohne mit seinem eisigen, atemraubenden Kammwind gerungen zu haben, wer Matterhorn, Meise oder Grandes Iorasses, ohne zu wissen, welche Schrecken ein Wettersturz in ihren vereisten Klippen bedeutet? Und oft gedenke ich noch des fürchterlichen Dies irae auf der Spitze des Flitscher Grintoue vor bald fünfzig Jahren, da die Blitze un¬ ausgesetzt neben, über, unter Ms einschlugen, und Anton Tozbar Vater seine vielen frommen Kreuze schlug. Einmal überraschte Andreas Komac und mich auf dem Wege von der Baumbachhütte nach Soca ein stun¬ denlang andauernder Regen. Wir wollten nicht naß werden und flüchteten in eine einsame Heuhütte mitten in einer kleinen Wiese. Da verblieben wir einen gan¬ zen Vormittag. Gesprochen wurde nichts, wir hatten uns alles schon längst gesagt. Andreas konnte mit sei¬ nem Schweigen ja Berge versetzen. Wir sahen nur zu, wie Halme und Blumen unter der schwer lastenden Nässe schwankten und sich neigten, sogen den woh¬ ligen Erdgeruch ein, der aus dem dampfenden, grünen Plan sich erhob. Die nahen Socawasser rauschten, die Regentropfen klopften ohne Unterlaß leise auf das Dach, von da und dorten ein leichtes Rieseln und Ras¬ seln der kleinen Muhren, die von den Hängen sich lö¬ sten. Drüben einige Steinwälle nach Karsterart, einige dunkle, triefende Bergeschen. Tief hereinhängende Ne¬ bel. Nicht viel, nicht der Rede wert, wird man wohl 239 sagen? Doch, gar viel für mich: Bergregenzauber, Tren- tazauber bei Regenwetter! Eine Stimme meines Her¬ zens hat jetzt gesprochen. Es sind schlimme, düstere, be¬ wegte Tage zu mir gekommen, da ich in Wehmut und in Sehnsucht des stillen, einförmigen, so ruhevollen Webens jenes Regenvormittages in der Heuhütte der Trenta gedenken mußte. Alles, was die Berge uns schenken, ist Schönheit! Ich habe die Wortkargheit des Andreas erwähnt. Aber er konnte auch reden, und davon können schon die Leute erzählen, die sich seiner Führung anvertraut haben. Da kam einmal der Statthalter von Triest und wollte von Trenta auf den Triglav. Über den Dolecsattel. „Andreas", sagte er im Aufwärtssteigen, mitten im „Skok", „die Julischen Alpen sind ja schrecklich steil!" „Hier ist steil", erklärte Andreas ausführlich, „oben ist Ebene." „Ebene!?", rief der Statthalter hocherfreut. „Wo, wo ist sie?" „Oben!" Man stieg langsam und war schon den halben Tag im steilen Gewände. Auf schlechten Steigen. Immer an schmalen Stellen. An tiefen Abgründen. Ein hei¬ ßer Tag! „Andreas, wo ist endlich diese Ebene?" „Oben!" Der Abend wollte sinken. Die Wände hatten sich zurückgelegt. Es ging über das Plateau der Maria- Theresia-Schutzhütte zu, Schutt auf, Schutt ab, Rand¬ wall auf, Randwall ab. „Andreas", frug der erschöpfte Bergsteiger, „kommt die Ebene nicht bald? Wo ist sie denn?" 240 „Hier!" „Hier? Es ist ja immer so steil, bergauf, bergab. Das ist keine Ebene!" „Ebene is!" entschied Andreas und hatte damit alles gesagt, was in den Iulischen Alpen zu sagen war. Ge¬ gen einen Ausspruch von ihm gab es keinen Instan¬ zenzug. Auch der vorhergehende Statthalter war früher ein¬ mal in die Trenta gekommen. Der war aber nicht „al¬ pin", er blieb von vorneherein in der „Ebene". „Was hat er denn gesagt?", frug ich Andreas, als ich ihn wieder sah. Er wolle den Trentanern helfen, lautete die Ant¬ wort. Er werde im Trentatale eine Holzschnitzereischule begründen. Da werde man viel Geld verdienen. „Ver¬ sprochen is!", fügte er aus eigenem mißtrauisch hinzu. Die Holzschnitzereischule kam nicht, dagegen wurden lei¬ der unmittelbar nach dem Besuch des Statthalters die Vorschriften wegen der Ziegenweide verschärft. An¬ dreas lächelte fein. Der Statthalter sei nur gekommen, „um auszuspionieren!" Ich schreibe diese Erinnerungszeilen im köstlichsten Ruhesitz, den ich kenne, auf der Bank des entzücken¬ den Belvedere, das Albert Bois de Chesne zu höchst in seinem botanischen Trentagarten „Juliana" einge¬ baut hat. Wenige Schritte von mir hängen große Edel¬ weißsterne ohne Zahl an den Felsen, drüben steht mit schwarzgelben Blütenkugeln das seltsame Trifolium ba- dium, Schreb. von der Zelenica des Triglav, brennt wie in heißen, gelben Flammen das Beet des Senecio abrotanifolius, L., entfaltet ein reicher Flor alpiner Nelkenarten mit feingeschnittenen Feder-, mit kreis- 16 241 runden Vollblüten eine geradezu berückende Formen- und Farbenpracht, sendet weithin seinen berauschenden Duft. Es war das Trentatal einstens fernes, so schwer erreichbares Traumland. Heute kommen wir in kurz¬ weiliger, fünfstündiger Autofahrt von Triest dahin. Man kann sich die Schönheit nicht vorstellen, die Al¬ berts Iuliergarten auf kleinem Raume vereinigt. Ich werde später noch davon sprechen. Wo man hinblickt, Hunderte von seltenen Alpenpflanzen in voller, freu¬ diger Blüte, in allen Abstufungen von Gelb, Rot, Blau, Violett, in durchsichtigem, in strahlendem, in milchigem Weiß, das Blattkleid dazu vom unscheinbar grauen bis zum leuchtendsten und tiefsten, dunkelsten Grün. Alle fühlen sich wohl und zufrieden, breiten sich aus zu farbig prunkenden Rasen und Büscheln und Sträußen, als befänden sie sich in ihrer ureigensten Heimat. Trentazauber auch hier! Solche Feinarbeit wie in meinen heimatlichen Ber¬ gen, in den Iuliern, die in meine Knabenzeit herein¬ geblickt haben, konnte ich natürlich in den fernen West¬ alpen nicht leisten. Da habe ich doch mehr Gipfelfahrt an Gipfelfahrt gereiht. Und man muß ja froh und dankbar sein, wenn man am Schluffe eines noch so langen Berglebens sagen darf, daß man die Großen und Größten richtig hat kennen gelernt. Ich weiß, was ich möchte. Könnte ich heute oder morgen ein neues Leben beginnen, so würde ich mich gerne der letzten Gruppe zuwenden, in die ich gekommen bin, dem Dau¬ phine. Da würde ich trachten, in ähnlicher Weise die Seele jener wilden Berge zu ergründen, wie ich dies in den Iulischen Alpen versucht habe. Man müßte mir Zeit lassen, und so würde ich hoffen, darüber eine Arbeit 242 zu stände zu bringen, die man schon lesenswert finden könnte. Aber das ist ein eitles Reden. Meine Pilger¬ fahrt durch die Berge ist beendet. Es ist eine andere, eine neue Zeit. Diese Arbeit verbleibe für einen kom¬ menden Mann. Ich habe lange gezögert, ehe ich ins Dauphine ging. Emil Zsigmondy war dort gestorben. Ich bedachte, daß mir dies die Freude an jenen Bergen verwehren werde. Auch fürchtete ich die Meije. Die Folge davon war, daß ich sie fast leicht fand, als ich sie endlich überschritt. Das habe ich schon erzählt. Allerdings befand ich mich damals auf dem Höhepunkt meiner Leistungskraft. Mit den Überschreitungen von Pelvoux, Col du Sele, Barre des Lerins und Meise, die mir meine überaus glückliche erste Woche in den Bergen des Dauphine schenkte, haben mich diese so sehr in ihren Bann gezogen, daß ich ihnen in neun aufeinanderfolgenden Jahren bis zum Schluffe zwei Wochen meiner Ferienzeit widmete. Das ist aller¬ dings nicht viel, und so ist mir auch dort eine Anzahl von selten besuchten Gipfeln versagt geblieben, dar¬ unter die Grande Roche de la Muzelle ob St. Christo¬ phe und die Zackenreihe des Sirac, die mich sehr gelockt hätten. Aber man weiß es ja: so sehr man sich bemüht, bleiben doch in jeder Berggruppe unerfüllte Wünsche und Lücken genug zurück. All unsere Arbeit bleibt im¬ mer nur Stückwerk, wie all unser Wissen und Können. Frägt man mich, welche meine längste Bergtour ge¬ wesen ist, so muß ich sagen: die Barre des LcrinS von Süden nach Norden, an der wir nicht günstige Ver¬ hältnisse und einige Überraschungen fanden. Welche die gefährlichste und gewagteste: nächst den beiden Über¬ schreitungen des Monte Rosa, der Dufourspitze und 243 des Nordends, von Macugnaga nach Zermatt gewiß der Mont Dolent vom Glacier de la Neuvaz. Es ist mir nicht bekannt geworden, Laß diese Lawinenflanken seither wieder durchstiegen worden seien. Besser so! Die Bergfahrt war meinem Freunde Bolaffio „in einem Traume" erschienen. Ich muß wohl dem lieben Gott danken, daß mein lieber, klarblickender Berg- kamerad dem Träumen nicht allzusehr zuneigte, so daß es sich hier eher um einen vereinzelten Fall gehandelt hat. Weitere Träume hätten sonst wohl ganz verzwei¬ felte Resultate ergeben können. Die schwierigste im Eise die Brenvaflanke des Mont Blanc, die damals ohne die allergeringste Auflagerung von milderndem Schnee im härtesten und unbarmherzigsten Eispanzer stand, in den Felsen nächst der gewaltigen Platte der piemontesischen Seite am Col Iorasses der Mont Do¬ lent vom Glacier d'Argentiere in seiner Strecke bis zur Breche de l'Amone und der Montasch der Iulier direkt durch die furchtbaren Kaminreihen von der Forca dei Disteis. Und meine schönste vielleicht meine dritte Mont-Blane-Fahrt, vom Col du Midi, wenn nicht meine von unbeschreiblicher Glorie umgebene Winter¬ ersteigung des Montasch. Mein Bergbuch erzählt ausführlich davon. Froh waren sie alle. Wir sind im¬ mer lachend Lurch die Berge gezogen. Wie waren sie gütig zu mir. Wie überreich haben sie mich beschenkt! Ich neige mich vor ihnen in Dankbarkeit, in frommer Bewunderung und in Demut. Ehre, Lob und Preis ihnen, immerdar! 244 Benjamin Ich war damals Direktor im „Schillerverein" und hatte den großen Sänger Scheidemantel zu einem Kon¬ zert berufen. Gegen Mittag war ich zu ihm gegangen, um ihn zum Speisen zu holen. Aber er gab mir einen Korb, denn er wollte seine Stimme schonen. „Schlimm für dich", dachte ich mir, denn ich wußte, daß meine Mutter einige gute Sachen für ihn vorbereitet hatte. Ärgerlich war ich doch, daß ich so allein zurückkomme. Da sah ich in der Via Belvedere einen schwarzen Ma¬ trosen an der Mauer lehnen, an dessen Brust ein klei¬ ner, trauriger Affe ängstlich hing. Ich frug den Mann, ob er den Affen verkaufen wolle, und er bot ihn mir um vier Gulden an. Ich hatte wieder kein Geld bei mir und mußte warten, bis ein Bekannter vorbeiging. Der lieh mir die vier Gulden, und der Affe war mein. Ich hielt damals sehr auf Eleganz, war wirklich fein bei¬ sammen und trug einen blanken Zylinderhut. Der Kleine krampfte sich fest an meine Brust, und ich schritt vorsichtig und mit aller Sorgfalt die Via San Ana- stasio hinauf. Alle Leute schauten mir nach. Die neu¬ gierigen Nachbaren blickten aus den Fenstern. „Der Herr Kugy hat einen Affen", sagten sie. Zu Hause war man im ersten Augenblick sehr er¬ staunt. Denn alle hatten sich den berühmten Sänger Scheidemantel ganz anders vorgestellt. Aber der Affe hatte in Haltung und Gesicht eine so bodenlose Trau- 245 rigkeit, sein dünnbehaarter, magerer, kleiner Leib war so verwahrlost und, wie uns schien, so mißhandelt und verprügelt, daß sofort alles um ihn versammelt war, um ihn zu pflegen, zu trösten und wenn möglich aufzu¬ heitern. Auch der Bekannte von den geliehenen vier Gulden war nachgekommen, nicht um sein Geld zu holen, sondern um an der „Familienfeier" teilzunehmen. Denn er kannte uns. Meine Mutter war gegenüber diesem winzigen, hilflosen, armen Häuflein von Elend und Un¬ glück gar nicht dazugekommen, prinzipielle Bedenken auszusprechen. Wo es galt, Not zu lindern, Müde zu laben, Trauernde aufzurichten, war sie immer die erste. Der Name des Affen ergab sich sofort von selbst. Benjamin natürlich. Es war ja unser Jüngster. An jenem Tage verblieb er in Trauer versunken und fast ganz teilnahmslos. Mit trübem, hoffnungslosem Blick schaute er still zur Seite. Er war offenbar zu früh von seiner lieben Mama weggekommen. So jung, arm und schwach! Nur einige Maeearoni hat er so nebenbei Md zerstreut gegessen. Dann versank er wieder in sein trau¬ riges Brüten und hielt Herz und Seele verschlossen. Aber in den folgenden Tagen heiterte sich sein Gemüts¬ zustand zu unserer unsagbaren Freude allgemach auf, er wurde zutraulicher und immer possierlicher. So ist doch noch in seine Kindheit ein freundlicherer Strahl gefallen. Eine Zeit lang blieb der Fenstersims sein Quar¬ tier. Da blickte er durch die äußeren Scheiben auf die Gasse und ärgerte sich über die Gassenbuben, denen er drohende oder herausfordernde Grimassen zu machen begann. Oft kam er mit mir in den Garten. Er erklet¬ terte die Bäume und naschte die Maulbeeren, wollte 246 aber nie allem bleiben und lief mir ängstlich nach, wenn ich ins Haus zurückging. Er war mir sehr zugetan. Wirklich zärtlich ist er jedoch niemals zu mir gewesen. Denn das war ihm nicht gegeben. Erschrak er vor et¬ was, so floh er an meine Brust, drückte sich eng an mich und klagte mir vor. Aber auch in solchen Augen¬ blicken der Hilflosigkeit und Schwäche war „ein bissele Falschheit immer dabei". Später wohnte er im Gang, und als er in die Fle- geljahre kam, installierten wir ihn im Hof. Da setzte er sich mit weit ausgespreizten Hinterbeinen so, daß er allen, die zu ihm hinschauten, ostentativ -en Rücken zuwandte, und wie er so tat, als bemerke er uns nicht, und eifrig an irgend einem Spielzeug bastelte oder dar¬ auf loshämmerte, sah er mit seinem schlichten, mi߬ farbigen Rückenhaar aus wie ein armer, in schweres Verdienen versunkener Hofschuster. Denn die Schuster haben alle schlichte, mißfarbene Haare. Als einmal der Rasenplatz im zweiten Garten ge¬ mäht worden war, und wir am Heuhaufen Verstecken und Haschen spielten, da habe ich ihn zum ersten Mal laut lachen gehört. Damals war unser Haus der Ort, wo man das lernen konnte. Ein goldenes Zeitalter lag darüber gebreitet, und durch Zimmer, Gänge und Tor¬ halle klang das Lachen hinaus in Hof und Garten. Vereinigt uns mehr oder minder Silberhaarige noch¬ mals dort, und wir lassen es euch heute noch eben so hell und fröhlich erklingen. Denn es lagert noch reich be¬ messen im Grunde unserer Seele trotz allem, was da vorübergezogen ist. Ja, Gott weiß es, trotz allem! Natürlich, das Äffchen kommt nicht mit Höschen auf die Welt. Aber den Reinen ist immer alles rein ge- 247 wesen. Wie hätte es uns zum Bewußtsein kommen sollen, daß Benjamin, der Flegeljährige, noch keine Hoserln anhatte? Da kam eines Tages eine schon etwas ältliche, sonst aber ewig junge, einschichtige Anverwandte zu uns. Sie war bis in ihre späteste Jugend sehr heiratslustig ge¬ blieben, aber die verschiedentlichsten, noch so geschickt ausgestellten Fangnetze hatten nicht verfangen. Erst sah sie interessevoll und auffallend lange hin, dann ging sie hinauf zu Mama und tuschelte ihr bei verschlossenen Türen und heimlich Verschiedenes ins Ohr. Die Folge davon war, daß ich Mama eifrig mit einem Stück roten Flanells beschäftigt sah. Als ich Tags darauf nach Hause kam, trat mir Benjamin mit einem pran¬ genden roten Flanellunterröckchen angetan entgegen, das von schmaler Taille weit abstand, als sei er eine Ballettänzerin geworden. Ich lachte laut auf, und Ben¬ jamin lachte verständnisvoll laut mit. Dann geriet er in einen Zustand rasender Ausgelassenheit, klatschte mit den flachen Händen auf den Boden, tanzte wie besessen im Hofe herum, schlug Purzelbäume und sprang mit weiten Sätzen auf die Bäume, daß man schnell weg¬ schauen mußte, wollte man ihm nicht unter das flie¬ gende Röckchen sehen. Ich aber sagte zu Mama, dies alles sei nur ein Racheakt der Einschichtigen, weil Ben¬ jamin ihr keinen Heiratsantrag gemacht habe, den sie sicher angenommen hätte. Und das saß, denn es hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Schwestern lachten. „Der Julius trifft's doch immer!", so sagten sie und so sagen sie noch heute. Ungezählt sind die Röck¬ chen, die Mama immer wieder hergestellt hat. Die wichtigsten Stellen aber mußten fast täglich geflickt 248 werden. Ja, da könnte ich noch vieles erzählen, wenn ich wollte und dürfte. Saßen wir des Sonntags alle vereint im Garten, so bekundete Benjamin die Absicht, uns mit seiner Kunst zu unterhalten. Er trat zu einem Kroketpflock, warf sich in die Brust, blickte uns herausfordernd an, schwang sich hinauf und versuchte, auf einem Bein frei und aufrecht oben stehen zu bleiben. Er verlor sofort das Gleichgewicht, flackerte, nach Griffen suchend, mit den Armen und dem zweiten Bein in der Luft herum, und mußte abspringen. Wir lachten ihn aus. Er wurde hitziger und hastiger und hatte immer weniger Glück. Es ergaben sich die drolligsten Posen. Gelang es ihm trotzdem, sich einen kurzen Augenblick im Gleichgewicht zu erhalten, so flog ein unbeschreiblicher Ausdruck des Triumphes über sein Gesicht. Um so rascher folgten sofort darauf Absturz und Niederlage. Wenn unser Lachen ihm zu kränkend wurde, so lief er zu mir her, umarmte mich und klagte mir sein Leid. Dann ging er wieder hin und stellte eifrig seine Serien lebender Bil¬ der und verunglückter Denkmäler posierender großer Männer, die im Staube lagen, ehe sie auf die erwar¬ tungsvolle Menge hätten wirken können. Im Winter, da die Bora heulte, kam er in den warmen Holzkeller. Zuerst beschäftigte er sich tagsüber mit dem Holz. Man vernahm den ganzen Tag, wie er im Keller rumorte. Er schlichtete nach seiner genialen Weise, die Scheite flogen bis an die Decke. Dann wurde es auf einmal still, unheimlich still. Was trieb Benjamin? Er versuchte, in der Mauer zum Nebew- hause ein Loch auszubrechen und war schon ordentlich vorwärtsgekommen, als ich dazukam. Da hing er an 249 der Mauer mit einem Holzscheit in der Hand und schien bereit, sein Unternehmen mit flammendem Schwerte zu verteidigen. Im Nebenhause wohnte ein armes Fräu¬ lein, an dem ein langes, karges Leben freudlos vorüber¬ gegangen war, ohne Bräutigam, ohne Mann. Sie fühlte sich so schutzlos und war ewig in Ängsten. Da¬ mals lachten wir viel über sie, heute weiß ich und er¬ kenne es reuevoll, daß sie der Ärmsten eine gewesen ist. Ihr Zimmer befand sich im ersten Stockwerk, knapp am Holzkeller, denn unser Haus lag höher. Sie hatte das emsige Kratzen, Scharren und Pochen vernommen und kam in Todesschreck herübergelaufen, man solle sie um Gotteswillen retten, Benjamin wolle zu ihr hin¬ über. Jeden Augenblick könne er erscheinen, und dann sei es um sie geschehen. Ich tat, was ich konnte, ver¬ stopfte das Loch, aber Benjamin riß immer wieder alles heraus und arbeitete weiter. Zum Glück war es die Hauptmauer, und die schweren, festgefügten Steine ge¬ boten ihm schließlich Einhalt. Da ließ er von seinem finsteren Plane ab und wandte sich wieder dem Holze zu, nicht ohne gelegentlich drohenden Blickes im Loch nachzuforschen, ob er nicht irgend eine Durchbruchs¬ möglichkeit übersehen habe. Er schlief am Fenster zum Heuboden des Stalles und hatte eine große Pferdedecke erhalten, in die er sich am Abend sorgfältig einwickelte. Wurde es sehr kalt, so stieg ich nach dem Nachtessen hinunter und brachte ihm einen „Plutzer", mit heißem Wasser gefüllt. Den nahm er immer dankbar in Empfang. Er hielt ihn umarmt, zog die Decke über sich, und aus dem Ton der Selbstgespräche, die er dann führte, konnte man ent¬ nehmen, daß er sich behaglich fühle und sehr befriedigt 250 sei. „Benjamin, gib mir den Plutzer", sagte ich dann am Morgen zu ihm. Er saß am Fenster, blickte mich verstockt und mit unstäten Augen an, und wie ich näher trat, hielt er das irdene Gefäß mit beiden Händen über den Steinboden hinaus. War ich ganz nahe, so ließ er es fallen, und der Plutzer zerschellte auf den Fliesen. Da hatte er seine Freude! Das gab einen starken Plut¬ zerkonsum! So wurde Benjamin großjährig, Mann und noch etwas, woran wir nicht gedacht hatten: er wurde ge¬ fährlich. Um Schultern, Nacken und Rücken wallte ihm ein breiter, langhaariger, «isengrauer Mantel. Der Leib blieb schlank. Er war zu einem prachtvollen Man¬ telpavian ausgewachsen. Seine Kraft war außeror¬ dentlich, sein Gebiß das eines Tigers. Die Nachbar¬ schaft wurde unruhig. Nachdem er einmal in die Dach¬ kammer eines Nachbarhauses eingedrungen war und alles, was dort nicht niet- und nagelfest gewesen, aufs Dach getragen hatte, mußte ich mich entschließen, ihm einen Käfig zu bauen. Ich bestimmte dazu eine große Nische des Hühnerhofes, die ich mit einem Dach ver¬ sah und vorne mit starkem Drahtgeflecht sperrte. Da kam Benjamin hinein. Ich ließ ein schönes Hundehaus bauen und stellte es ihm zur Verfügung, er aber traute dem Inneren desselben nicht und installierte sich mit seiner Decke auf dessen Dach. Anfangs fühlte er sich sehr wohl. Sein Lieblingsplatz war ganz vorne am Gitter. Da beobachtete er die Hühner und Tauben und gab ihnen Befehle. Folgten sie nicht, so machte er ihnen entsetzliche Grimassen und bekam Wutanfälle. Damals ist auch die schöne Liebe in seinem Herzen aufgegangen. Sie galt einer schlanken, weißen Henne, die nur am 251 Kopf und am Halse einige schwarze Tupfen hatte. Er ließ sie den ganzen Tag nicht aus den Augen und be¬ wachte jeden ihrer Schritte. Wenn Christian am Mor¬ gen das Hühnerhaus öffnete, hatte er sich schon so ge¬ setzt, daß er sofort sehen konnte, wenn die Liebliche sich zeigte. Näherte sie sich seinem Käfig, so begrüßte er sie mit beifälligem Grunzen. Kam zufällig der Hahn auf sie zu, so tat er ganz verzweifelt und trachtete, ihn mit den schrecklichsten Gebärden und oft mit wahnsinnigem Aufschreien zu verscheuchen. Die gelindeste seiner Dro¬ hungen bedeutete: „Ich drehe dir fünfundzwanzigmal den Kragen um!" Und bei Gott, er wäre bei den fünf¬ undzwanzig Malen nicht stehen geblieben und hätte weiter umgedreht. Denn Temperament hatte er, und in der Eifersucht war er dem Mohren Othello über! Mama besuchte ihn oft. „Wie geht es dir, lieber Benjamin", sagte sie lieb zu ihm und gab ihm Kirschen. Da die Hühner sich näherten, warf sie auch diesen einige zu. Sofort hatte Benjamin, der sich neidvoll verkürzt glaubte, herausgegriffen, und zwickte sie mit Daumen und Zeigefinger so kunstvoll und so heftig in den Arm, daß eine dunkelblaue Stelle entstand und Mama sich aufschreiend und gekränkt zurückzog. „Ein Teufel bist du", sagte sie. Da sie aber in ihrer Herzensgüte bald verziehen hatte und immer wiederkam, so waren ihre Arme fortwährend mit blauen Flecken besät, die nie¬ mand sich hätte erklären können, der Benjamins „Eigen¬ heiten" nicht kannte. Ein entsetzliches Gegacker vom Hühnerhof her schreckte uns eines Tages vom Mittagessen auf. Wir stürzten hinunter. Benjamin hatte seine geliebte Hmne 252 erwischt, hatte ihren Kopf hereingezogen, daß der Hals lang, länger und immer länger wurde, und beschäftigte sich, eifrig schmatzend, damit, die schwarzen Tupfen von Kopf und Hals zu entfernen. Mit schwerer Mühe be¬ freite ich das halb ohnmächtige Opfer, indem ich schlie߬ lich ein Glas voll Wasser über den gewalttätigen Lieb¬ haber schüttete. Eines Tages kam die Gattin eines Freundes zu uns, und wir führten sie natürlich zum Affenkäfig. „Caro", sagte sie zu Benjamin, der sie mit flackernden Augen ansah. Ihre lange, spitze Nase gefiel ihm offenbar nicht, er war die Kugyschen „Patatanasen" gewöhnt. Eine Ausnahme macht die schöne Maria. Die hat die beste. Aber auch unsere haben Liebhaber gefunden. „Ca¬ rino", wiederholte sie zärtlich und streichelte ihn mit dem Fächer. Denn es war Sommer. Und schon hatte er ihn. Er setzte sich damit auf sein Hausdach und be¬ gann, mit geschickten Fingern die Seide zwischen den Rippen wegzureißen. Ganz langsam, schön der Reihe nach. Nach jedem Riß blickte er schadenfroh auf die Dame, die schmerzerfüllt und schwer enttäuscht vor dem Gitter stand. Als alle Seide weggerissen war und nur mehr die armen, nackten Rippen im Scharnier hin¬ gen, griff er bedächtig mit der rechten Hinterhand tief hinein, daß zwischen jedem Finger ein Bündelchen da¬ von lang hervorstand, und vollführte, knapp hinter dem Gitter auf- und abschreitend, frohlockend und roh auf¬ lachend, einen Parademarsch, der boshafteste Befrie¬ digung, herausfordernden Trotz, Triumph, Hohn und schrankenlose Verachtung ausdrückte. So war er! Wir führten die ganz geknickte Dame weg und lachten uns zu Tode. So waren wir! 253 Dann kam die Zeit, da er sich im Käfig nicht mehr wohl fühlte und auszubrechen versuchte. Er hatte wilde Unternehmungen, Racheakte, Raubzüge vor. Unermüd¬ lich rüttelte er am Gitter oder bog mit starken Fingern an den Drähten. Einige Male erscholl der Ruf: „Ben¬ jamin ist los", und La mußte ich meine ganze Kunst und Autorität aufbieten, um den mit aller Kraft Wi¬ derstrebenden in den Käfig zurückzubringen. Aber einige Herzenstöne, die ich in meinen Stimmregistern für ihn hatte, und die ihn offenbar glauben machten, ich fei von seinem Stamme, halfen mir schließlich immer dazu. Vergriffen hat er sich nie an mir. Ich mußte befürch¬ ten, daß der wilde Bursche einmal ein ernstes Unglück anrichten könnte. Namentlich meine Mutter schien mir bedroht, der er von den Kirschen her Rache geschworen zu haben schien, denn er sah sie immer mit einer Miene an, die nichts Gutes verhieß. So entschloß ich mich und schrieb dem Direktor des Schönbrunner Tiergartens, ob er einen gesunden, schön ausgewachsenen Mantelpavian haben wolle. Guter Be¬ handlung war ich ja sicher. Die Antwort kam sofort, bejahend, sehr dankbar, der Affe sei willkommen, er werde gut behütet werden. Es war sehr schwierig, Ben¬ jamin in den Transportkäfig zu bringen. Er wurde immer mißtrauischer. Schließlich gelang es mir durch List. Als ich den Schieber öffnete, um ihm Lebewohl zu sagen, traf mich sein letzter, unvergeßlicher Blick. Er war nicht zornig, aber enttäuscht, fast gedemütigt, vorwurfsvoll. Eine Helle Mannesträne erglänzte in seinem Auge. Er mußte verstanden haben, daß er fort¬ kam. „Das tust du mir, nach allen diesen gemein¬ samen Jahren? Ist das deine berühmte Treue?" 254 Ich sagte ihm, er werde Kaiserlicher Rat werden und es gut haben. Ich malte ihm sein künftiges Schick¬ sal aus. Hochgeehrt, allgemein geachtet und bestaunt, in heiterer, ebenbürtiger Gesellschaft, von jung und alt besucht, werde er dort ein Leben der Ruhe und Zufrie¬ denheit führen. Trotzdem hat jene Träne noch lange auf meiner Seele gebrannt. Ich erfuhr später, es gehe ihm sehr gut, doch sei er mürrisch und verdrossen geworden. Man hatte ihm eine Frau gegeben, aber es scheint eine konventionelle Hei¬ rat ohne Neigung gewesen zu sein, denn Bekannte hat¬ ten gesehen, daß er seine Frau vollkommen ignoriere. Sein Herz war nicht befragt worden. Der Süden wird ihm gefehlt haben, der Glanz des Meeres in den Far¬ ben des Himmels, das lachende Haus und die frohe Umgebung, die in seine Kindheit und in seine Burschen¬ herrlichkeit hineingeschaut hat. Er lebte in Schönbrunn sehr hygienisch, hatte einen guten, warmen Käfig, und anstatt Brunnenwassers bekam er nur kalten Tee zu trinken. Und doch hat ihn nach kurzer Zeit eine rasch verlaufende Lungentuberkulose dahingerafft. Ihn, der allen kalten Borastürmen Triests in vollster Gesund¬ heit getrotzt hatte! So war wieder eine Ära in meinem Leben vorüber¬ gegangen, der eine starke Tierpersönlichkeit ihren Stem¬ pel aufgedrückt hat. Die Ära Benjamin. Führend war er ja nie gewesen, dazu war er zu zer¬ fahren und in seinem Charakter zu impulsiv und zu sprunghaft. Gute Art war bei ihm auch nicht zu lernen. Nicht Bescheidenheit, nicht Geduld, nicht die demutvolle Stille der an Menschenjoch gewöhnten, dienenden und leidenden Kreatur waren in ihm. Was „Bitte", was 255 „Danke schön!" „Her damit", war seine Parole! Aber aus der Erinnerung an seinen Entwicklungsgang, an sein Wirken und Leben hätte sich doch mancher deut¬ liche, praktische Fingerzeig sür uns ableiten lassen, die wir zeitlebens unpraktische Idealisten geblieben sind, wie man energische Lebensführung mit gesundem Egois¬ mus anfassen soll. Es sind Zeiten gekommen, wo ich, unbescheiden und frech fordernd, rücksichtslos und her¬ risch handelnd, wie Benjamin es immer tat, gewiß am besten gefahren wäre. Je weniger ich seinem Beispiel folgte, um so schärfer hat sich die Erinnerung an ihn und an seine Art in mir herausgearbeitet, und um so bedeutsamer erschien mir seine ausschließlich auf das Nehmen eingerichtete, von schwächlichen Rücksichten nie¬ mals angekränkelte, krassesten Egoismus und groteske Selbstherrlichkeit predigende Figur. Vielleicht hat uns das Schicksal Benjamin gesandt, damit wir in letzter Stunde ganz oder teilweise von ihm lernen. Wir aber haben, im rosigsten Idealismus verharrend, alle Blumen, die aus unseren Herzen erblühten, auf seinen Weg gestreut, und suchen noch heute im Erscheinen und Benehmen dieses kecksten aller Realpolitiker, die je unser Haus betreten haben, die von freundlichen Göt¬ tern ihm aufgetragene, wohlgemeinte, wenn auch er¬ folglos gebliebene ideale Mission. 256 Meine letzte E r s t e r s t e i g u n g Ebenbürtig dem Vert Montasio im Osten steht im Norden des Iöf ein großer, breiter Turm. Gstirner erwähnt ihn als unbenannt und unerstiegen. Ich nenne ihn „Nordturm des Montasch" (Torre Nord delMon- Lasio). Seine Höhe ist 2673 Meter, der Vert Mon¬ tasio ist um 19 Meter niedriger. Der Vert Montasio ist schon früh erstiegen worden. An seiner Südflanke ziehen steile Rasenflecke und be¬ grünte Bänder hoch empor. Er steht an der zugäng¬ lichsten Seite des Massivs, wo die ersten Versuche auf den Iöf erfolgten. So fiel er naturgemäß vor diesem. Der Nordturm steht an der unwegsamsten Seite, steil und schmal hinausgebaut, hochragend über den un¬ geheueren Abgründen der Dogna und der Seissera. Man hat sich da viel später herangewagt. Der Dogna- und der Seisseraweg führen unter seinem Fuße vorbei, aber wer da emporsteigt, der hat schon einen langen Weg hinter und noch anstrengende Arbeit vor sich, und es heißt eilen, will er die Spitze nicht verlieren, wie es den meisten Dognaersteigern bisher ergangen ist. So ist der Nordturm unerstiegen geblieben. Seit eini¬ gen Jahren war er ein Ziel meiner Wünsche. Vom Gipfelgrat des Jos trennt ihn eine tief ein¬ geschnittene, fast immer mit Schnee erfüllte Scharte. Sie ist von der Seissera nicht gut sichtbar und er¬ scheint schmaler, als sie tatsächlich ist, da der Turm 17 257 nördlich etwas vorsteht. Von der Dogna aus sieht man sie sehr deutlich. Der Nordturm steht zu ihrer Linken und gibt dem Berge seinen zweigipfeligen Charakter. Es war mir bald klar geworden, daß die Erreichung dieser Scharte der Schlüssel zur Ersteigung des Nord¬ turms sei. Eine fürchterliche Schlucht stürzt von ihr nach Norden hinab, in der flammend rotes Gestein zu Tage tritt. Ich nenne sie die „Rote Rinne" und die Scharte die „Rote Scharte". Einige Zeit hindurch hatte ich gemeint, daß dort ein Vorstoß möglich sein werde, um einen direk¬ ten Nordanstieg auf den Iof zu finden. Ein kurzer, im losbrechenden Feuer übermächtiger Steinbatterien so¬ fort abgebrochener Versuch hatte mich überzeugt, daß ein solches Unternehmen ganz aussichtslos sei. Dann dachte ich, aus dem großen Westkar der Dognaseite anzugreifen und die Scharte durch das große Schnee¬ couloir zu ersteigen, das bis zu ihr emporzieht. Aber auch dieses sehr steile Couloir ist stark verteidigt, die Steingefahr erschien mir zu groß. So hielt ich es für richtiger, den Zugang zur Scharte in der Höhe der Wände zu suchen. Ich wollte den alten Findeneggweg bis zur Stelle verfolgen, wo er knapp vor der Spitze des ILf den Westgrat erreicht, dann versuchen, jen¬ seits zur Scharte abzusteigen. Wir machten einen ersten Versuch im Spätherbst 1Y0Y. Als wir die Höhe des Westgrates erreicht hat¬ ten, sahen wir, daß der Plan zwar gut und ausführbar sei, daß wir aber mit großem Höhen- und Zeitverlust zu rechnen hatten, wozu der Tag schon zu weit vor¬ geschritten war. Wir hätten die Nacht in den Wänden verbringen müssen und waren für ein hohes Biwcck nicht gerüstet. So überschritten wir nur den Iöf, hiel- 258 ten aber vorher Rast an jener Stelle im Westgrat. Bewundernd und verlangend blickten wir lange zum Turm hinüber, der bald in den jagenden Nebeln ver¬ schwand, bald leuchtend über den Abgründen hervor¬ trat. In und über der Roten Scharte stand ein Brok- kengespenst und schaute unverwandt herüber. Meine Gestalt, riesengroß, im doppelten Regenbogenkreise. Erhob ich meinen Arm, so fuhr er auch drüben drohend empor. An welcher Felsenburg hat man je solch selt¬ same Torwacht gesehen? Den ganzen Winter ist dieses eindrucksvolle Bild in wilder Farbenpracht vor mir gestanden! Damals bekam unser Angriffsplan eine andere Richtung. Wir hatten in die große Schneerinne hin¬ untergeblickt und ungefähr hundert Meter unterhalb der Schartenhöhe einen deutlichen Stellenausgang von Westen her bemerkt. Die Annahme lag nahe, daß da Bänder durch die Nordwestwand hereinziehen und daß deren Beginn oberhalb der „Grotta" zu suchen sei. Dies hätte den kürzesten Zugang zur Scharte ohne Höhenverlust bedeutet. Im Juli 1.9k0 kamen wir wie¬ der. Meine Getreuen, Osvaldo Pesamosea und Anton Oitzinger, erwarteten mich in Nevea. Zweimal schlug uns schlechtes Wetter zurück, aber der 13. Juli brach hell und klar an. Wieder stiegen wir zum Findenegg- weg hinan und zogen über die Bänder der Dognaseite. Warum wird dieser herrliche Weg von unseren Berg¬ steigern so wenig benützt? Muß es immer der markierte Ostweg sein? Vom „Stellenausgang" Findeneggs drangen wir noch Halbwegs zur „Grotta" vor. Dann wandten wir uns in plattigen Felsen steil nach rechts empor. Die 259 große Anstiegsschlucht ließen wir rechts, wir gingen bis unter den großen Turm, der sie nördlich begrenzt. Von dort führen gute Bänder nach links hinaus zum West¬ grat hinüber. Pesamosea war hier voraus. Als er die Gratschneide erreicht hatte, warf er die Arme in die Höhe: das gesuchte Band war gefunden. Wir verfolg¬ ten es klopfenden Herzens, es war ein aufregender Gang. Zuerst leitet es horizontal in die Nordwestwand, dann führt es, etwas absteigend, in die große Platten¬ schlucht hinein, die zum Westkar abstürzt. Wir über¬ schritten sie auf schmalen, verschneiten Stellen über fürchterlichen Abgründen. Jenseits muß man zu einer vorstehenden Rippe wieder hinausqueren. Es ist die schlechteste Stelle. Ganz schmale, grüne Tritte über erbarmungslosen Plattenschüssen. Wir sicherten uns gegenseitig nach Möglichkeit. Pesamosea, der uner¬ schütterliche, eiserne Draufgeher, war voran, Oitzinger, der Warner, letzter. Unablässig mahnte seine Stimme zur Vorsicht. An der Ecke wird es besser, man kann sich an guten Griffen Herumschwingen. Der Nordturm erscheint hoch über uns, die Scharte wird sichtbar, wir sehen den Sieg in unseren Händen. Das Band wird breiter, schließlich leitet es, leicht ansteigend, wie ein blanker, fein bekiester Parkweg zum Schnee der Rinne. Pesamosea hieb eine lange Reihe von Stufen, knapp unterhalb der Schartenhöhe wandten wir uns in die Felsen des Nordturms. Ein horizontales Band führte uns zu einer steilen Rinne, durch die wir die Ersteigung vollenden konnten. Als wir die ersehnte Spitze erreich¬ ten, zog ein Hochgewitter grollend vorüber, schwere Wetterwolken sagten heran. Rasch erbauten wir den Steinmann, und als ich ihm die Spitze aufgesetzt hatte, 260 da begann dieser jüngste Steinmann der Iulischen Al¬ pen fröhlich zu summen. Oitzinger sprang in panischem Schrecken die steilen Felsen hinab. Pesamosea kam neu¬ gierig heran. Der Fall war ihm neu. „Deve essere un' vsetto", „Das muß ein Insekt sein", rief er verwun¬ dert aus und schien danach suchen zu wollen. Aber ich ließ ihm dazu keine Zeit, riß ihn vom unheimlichen Sänger fort und war froh, als wir uns in Oitzingers Überhang drücken konnten, denn unmittelbar darauf brach das Gewitter mit elementarer Gewalt los. Als das Wetter vorbeigezogen war, stiegen wir voll¬ ends zur Scharte ab und zogen über -en schmalen First des hoch und steil angewehtrn Schnees wie über eine Götterbrücke zu den Gipfelfelsen des Iöf hinüber. Dort querten wir auf breitem Bande nach rechts hinaus und erreichten dann über steil« doch unschwierige Schrofen die Stelle im Westgrat, wo wir 1.909 gerastet hatten. Wenige Minuten später standen wir auf der Spitze des Iöf. Sie empfing mich mit ihrem alten Zauber. Rings grüßten aus schimmernden Wolken die schönen, alten Berge, es grüßten die wohlbekannten Täler aus ge¬ waltigen Tiefen. Auf dem Weideplan der Montasch- almen musizierte leise der vielhundertstimmige Glocken¬ chor. Meine Leute schliefen, ich war freudig bewegt und feierte ein stilles Fest der Erinnerung. Aus jeder Falte dieses Berges spricht seine Geschichte zu mir. Vergangene Tage ziehen auf, in seinen Wändm ver¬ lebt, und Gestalten treten heran, die lange schon nicht mehr sind. Ich sehe Hocke an seinen mit eiserner Be¬ harrlichkeit geführten Versuchen, sehe Findenegg, den Mann des kurzen Wortes und der raschen Tat, auf dem 261 Gipfel erscheinen Md seine Schüsse in die Seissera ab¬ feuern, Brazza, den jugendlichen Helden, den Unver¬ gessenen dieser Berge und Täler, Marinelli, der sie für die Wissenschaft in Besitz genommen, sehe die ernsten Gesichter der unvergleichlichen Gemsjäger aus dem Ge¬ schlechte der Löuf, die durch lange Jahre in diesen Wän¬ den Herren waren. Und auch Andreas Komac erscheint, der alte Liebling meines Herzens, mit seinem stillen Lä¬ cheln, wie er mir so oft erschienen ist, wie ein Bote, von den Bergen gesendet. Als vorankletternder Erster hat er den Bann gebrochen, der seit Menschengedenken stolz abweisend, finster, verderbendrohend über den Nord¬ mauern des Montasch gelegen war. Ehre immer seinem Namen! Auch die spätere Zeit hat in ihrer Art den Montasch mit energischer Faust angepackt. Wo wir vor achtund¬ zwanzig Jahren, am 24. August ld02, mit dem Ein¬ satz unserer ganzen Kraft um den direkten Nordanstieg gerungen haben, wurde bald darauf ein Felsensteig her¬ aufgeführt, dessen großartige und überaus kühne An¬ lage ich aufrichtig anerkennen mußte, obwohl ich per¬ sönlich nie ein Freund künstlicher Felsensteige gewesen bin. Dreihundertdreiundsechzig Meter Drahtseil, un¬ gezählte Eisenstifte und in den Fels gemeißelte Stu¬ fen, Tafeln und Markierung wiesen und erleichterten da den Weg. Der Reiz der erstklassigen Felsentour war damit der direkten Nordwandroute genommen. Trotz¬ dem durfte sie auch so nicht unterschätzt werden. Krieg, Nachkrieg und neueste Zeit sind seither über die Berge gezogen. Der „Steig" verfällt und verlischt immer mehr und mehr, niemand denkt an seine Erneuerung. Die Drahtseile sind verschwunden. Einige kleine, lük- 262 kenhafte Reihen von Lawinen und von Steinschlägen verbogener Eisenstifte, die gehauenen Stufen sind noch verblieben. Auch diese letzten Spuren sollen und wer¬ den die Bergjahrhunderte Hinwegwaschen, Hinwegnagen, hinweghämmern. Der direkte Nordweg wird wieder das sein, was er war. Die Berge überdauern alles Menschenwerk, und alle Unbill, die man ihnen antut, schütteln sie ab! Unsere Jugend, die gerne nach Neuem ausschaut, soll sich nur immer noch der großartigsten Flanke des Montasch zuwenden, seiner Westflanke, der Dogna- seite. Wurde auch die Forea dei Disteis wiederholt überschritten, der Montasch selbst über die Clapadorie- wände erstmals schon erstiegen, so liegt dort doch immer noch gar viel jungfräuliches Terrain. Im großen Fel¬ senzirkus der Clapadorie und besonders in ihrem inner¬ sten, weltentrückten Winkel sind noch große und dank¬ bare Probleme verborgen. Dort liegen die letzten Ge¬ heimnisse dieses gewaltigen Berges. Was zählt ein Dutzend oder noch weniger an bescheidenen, verborge¬ nen Biwakspuren Mutiger in der ungeheueren Größe jener Hochgebirgswelt! Sie ist wild, ungezähmt, schreck¬ haft geblieben, wie sie es war. Gehet hin und schauet! Möge der König von Seissera und Dogna allen so groß und so schön erscheinen, wie er mir seit den Tagen der Jugend, da ich zum ersten Mal die lieben Morgen¬ lichter in seinen glorreichen Wänden spielen sah, immer erschienen ist bis auf den heutigen Tag! 263 Arbeit und Sorgen In diesen Zeiten der Höhepunkte meines Berglebens und meiner Musik hat auch meine berufliche Arbeit einen sehr großen Aufschwung genommen. Meines Bruders und meine Bemühungen hatten unser Ge¬ schäftshaus zu großer Blüte gebracht. Ich kann wohl sagen, daß ich vom frühen Morgen bis zur späten Nacht jedes Tages keine Minute unbenützt verstreichen ließ. Nur so ist es auch möglich gewesen, daß ich eine der¬ artige Riesenarbeit, wie ich sie auf meine Schultern ge¬ nommen hatte, ohne Oberflächlichkeiten, ohne Schwan¬ kungen noch Unterlassungen da oder dort zu bewältigen vermochte. Geselligkeit und „Gesellschaft" machte ich nur dann mit, wenn es unumgänglich notwendig war. Kaffee- und Gasthäuser kannte ich natürlich nicht. In keinem Augenblick verlor ich meine verschiedentlichen hohen und ernsten Ziele aus den Augen. Hält man seine Zeit so zusammen, wie ich es tat, so kann man innerhalb eines ganzen Tages und einer halben Nacht dazu schon ganz ansehnliche Leistungen zustande bringen. Trotz eines immer heftiger andringenden Wettbe¬ werbes südlicher und nordischer Häfen, trotz aller gewiß gefahrdrohenden Bemühungen der überseeischen Pro- duktionsländer, über unsere Köpfe hinweg den Weg zu unseren Abnehmern zu finden, war Triest damals doch immer noch der notwendige, von sehr vielfachen geographischen und ökonomischen Einflüssen vorgeschrie- 265 bene Stapelplatz für ein großes, wohlhabendes, viel Ware verbrauchendes Hinterland geblieben. Ich habe schon erzählt, daß unser Haus ein „Triester Kommis¬ sionsgeschäft" alten Stiles gewesen ist, welches dreier¬ lei große Gruppen des Triester Warenhandels zu pfle¬ gen hatte. Der an sich sehr richtige Gedanke, die Kräfte nicht zu sehr zu zersplittern und sich darum mit voller Kraft einer einzigen dieser drei Gruppen zu widmen, hatte immer mehr und mehr die „Spezialisierung" der Triester Häuser auf Kaffee oder auf Ole oder auf Südfrüchte allein, unter Ausschluß der anderen Grup¬ pen, zur Folge. Wir begegneten dieser gewiß nicht zu unterschätzen¬ den Richtung damit, daß wir uns gleichfalls in feder der drei Gruppen „spezialisierten", eine jede von ihnen so intensiv bearbeiteten, als stelle sie unser eigentliches Arbeits- und Hauptgebiet dar, und so, vom altherge¬ brachten Rufe unserer Firma wirksam unterstützt, über¬ all erfolgreich der Konkurrenz der „Spezialhäuser" be¬ gegnen konnten. Man bedenke aber die Summe an Mehr¬ arbeit, die aus diesem Ausbau unseres Hauses in mo¬ dernem Sinne erstand. Man bedenke auch den Um¬ fang an Warenkenntnissen, die dazu nötig sind. Als wir das Geschäft übernahmen, war darinnen ein ein¬ ziger Reisender tätig, der die Kundschaft in den Alpen¬ ländern besuchte. Unter den Firmen, die unser Haus im Inland vertraten, dort die Geschäfte verhandelten und abschlossen, befanden sich allerdings auch solche, die zwei, drei und noch mehr Reisende ständig beschäftigten. So fehlte es nie an genügenden Aufträgen und an zu¬ friedenstellender Arbeit. Aber auch da zwang uns bald die Weiterentwicklung des modernen kaufmännischen 266 Arbeitens zu entschiedenen Schritten nach vorwärts. Die Kundschaft wollte besucht werden. Wir hatten bald zwei, dann drei, schließlich fünf und auch sechs eigene Reisende unterwegs. Da denke man an die Re¬ giespesen für Gehälter und für Reiseaufwand! Wir liebten es nicht, fremde, noch so erfahrene Reisende heranzuziehen, sondern zogen es vor, uns solche selbst aus uns dazu geeignet erscheinenden, jungen Kräften unseres Hauses herauszubildrn, die wir dann mit vol¬ lem Vertrauen und ganz in unserem Sinne als Ver¬ mittler unserer Art und unserer Traditionen zur Kund¬ schaft entsenden konnten. Mein Bruder ist nie gereist. Er war dazu nicht geeignet und wünschte es auch nicht. Ich selbst konnte sehr schwer abkommen, trotzdem habe ich eine Anzahl von Reisen unternommen, um unsere Abnehmer persönlich kennen zu lernen. So kam ich wiederholt in die Alpen-, in die jetzigen jugoslavischen Länder, wo wir eine altangestammte, überaus anhäng¬ liche und treue Kundschaft besaßen. Eine große Reise durch ganz Ungarn und Siebenbürgen ist allerdings mehr ein Triumphzug als eine Geschäftsreise gewesen. Da habe ich gesehen und erfahren, was die sprüchwört- liche Gastfreundschaft der Ungarn bedeutet. Einzelne entzückend liebe Episoden aus dieser Reise werde ich wohl nie vergessen. Nie beispielsweise die in Felsen gehauenen, großen Weinkeller von Miskolcz und die frohen Zechabende vor ihrem Eingangstor, noch die wein- und speisekorbschweren Ausfahrten im schönen Siebenbürgerland! Gewiß nie auch die Donaufahrt hinab durch die Kasanengen nach Orsova, zum „Eiser¬ nen Tor", zur merkwürdigen Insel Ada Kaleh. Auch meine geschäftlichen Erfolge sind dabei außerordentlich 267 große gewesen. Alles wollte den Chef des großen, alten Triester Patrizierhauses ehren, überall hatte man schon Geschäfte und Aufträge aufgesammelt, die dann meine Gastgeschenke bedeuteten. Es ist klar, daß diese fortgesetzten, starken Impulse, die wir unseren Geschäften gaben, und der unausgesetzt steigende Umsatz an die Kapitalskraft des Hauses immer höhere Anforderungen stellten. Nur zu einem kleinen Teil erhielten wir gegen unsere Warenfakturen Wech¬ selakzepte, die wir weiter verwerten konnten, in der Re¬ gel wanderten die Forderungen „in offener Rechnung" in die Bücher. Die Laufzeit war mit vier Monaten be¬ dungen, doch wurden daraus gewöhnlich fünf und auch sechs, selbst noch mehr, ehe die Fakturenbeträge wieder einliefen. Allerdings gab es auch einen guten Prozent¬ satz von Kassazahlern. Dagegen besorgten wir unsere Einkäufe viele Jahre hindurch in sämtlichen Waren¬ gattungen, später nach den Triester Gepflogenheiten durchgehends in Ölen und in Südfrüchten gegen sofor¬ tige Barbezahlung. Zu diesem Zwecke hatte also immer ein sehr ansehnlicher Kassenbestand zur freien Ver¬ fügung zu stehen. Es war notwendig, stets beweglich und „flüssig" zu sein. Dazu reichten die vereinigten, eigenen Mittel bald nicht mehr aus, es mußten fremde Gelder in Anspruch genommen werden. Das war uns leicht. Wir genossen allgemein einen unbeschränkten Kredit, die Banken eröffneten uns ohne weiteres jene Blancokredite, derer wir im Rahmen unserer Ge- schäftsgebahrung bedurften, man verkaufte uns, wo wir es wünschten, gerne auf Zeit. Unser Ansehen war immer mehr und mehr gestiegen, der Aufschwung unseres Hau¬ ses ja offensichtlich. 268 Wir waren kein „billiges" Haus. Ich meine damit, daß wir nicht billig waren um jeden Preis oder gar auf Kosten der Ware. Wir arbeiteten mit guten, nutzbrin¬ genden Preisen. Dagegen wußte unsere Kundschaft auch genau, was sie von uns zu erwarten hatte und erhielt. Ihr Vertrauen zu uns war unbegrenzt. In wenigen Häusern kam es so oft vor wie bei uns, daß man uns bei¬ spielsweise schrieb: „Herr Kugy, wir brauchen das und jenes, Sie wissen schon was und wie, bitte, senden Sie es uns." Das waren die berühmten „Vertrauensauf¬ träge", ohne Muster, ohne vorherige Preisanfrage, die uns tagtäglich zukamen. Ohne viel nachzuschlagen, hatte ich diesen Bedarf sehr genau gegenwärtig und irrte mich nicht. Ihn sorg¬ sam und gewissenhaft zu erfassen, hatte mir mein Vater oft empfohlen. Richtige Bedienung und richtiger Ein¬ kauf hängen natürlich innig zusammen. Nicht Speku¬ lationen, nicht Wetten und Wagen, sondern wohlge¬ ordnete Pflege der Kundschaft, Rücksicht und Ver¬ ständnis für ihre Bedürfnisse bilden die sicheren Grund¬ lagen für das Blühen und Gedeihen eines festgefügten und aufrechten Hauses. Ein solches kann viele Wech¬ selfälle in der wirtschaftlichen Weiterentwicklung über¬ dauern und für Reihen von Jahrzehnten und auch für Jahrhunderte lebensstark bleiben. Unser Beamtenstand war auf ungefähr dreißig Mann angewachsen. Es war bald nicht mehr möglich, daß einer allein alles überwache und besorge. Mein Bruder und ich teilten uns darin. Er übernahm die laufenden Bureausachen, die Kassenaufsicht, die finan¬ zielle Gebahrung, hatte schon mit den täglich hinaus¬ gehenden Fakturen und den lästigen Zollverrechnungen 269 genug zu tun. Ich stellte mich als braver Soldat in das Vordertreffen, in die Warenbewegung. Einkauf und Verkauf, Empfang der Agenten und Platzsensale, Zuteilung der Waren an die Kundschaft, Speisung und Informierung von Reisenden und Agenturen, Be¬ sprechung des täglichen Einlaufes mit den Beamten waren mein Feld. In wichtigeren Dingen berieten wir uns. Ein sehr verläßlicher Prokuraführer stand uns treu zur Seite. Die tägliche Börse besuchten wir beide, in den letzten Jahren auch noch ein führender Beamter von uns für die Südfrüchte. So war ich also stark in der Front, den Rücken wußte ich mir gut gedeckt. Ich hatte manchmal atemlose Arbeit auf mir. Doch führte ich bloß, ließ mich von keinerlei materieller Ar¬ beit ablenken, schrieb nie Briefe, außer zu später Nacht¬ stunde, wenn es notwendig war. All das war sonst Sache der Beamten. Die Zahl der Kunden, die wir ständig zu bedienen hatten, dürfte sechstausend betragen haben. Eines drängte das andere. Schon das Unter¬ schreiben meiner Korrespondenzen am Abend nahm volle zwei Stunden in Anspruch. So sind arbeitsreiche Jahre vorbeigezogen. Kleinere Sorgen, größere Sorgen, da und dort Verluste, ab und zu sehr schmerzhafte dar¬ unter, an zahlungsunfähig gewordener Kundschaft, wohl auch an der Ware bei rückläufigen Preisbewegun¬ gen. Dagegen Verdienst bei steigenden Märkten und der Nutzen aus geschicktem Einkauf und aus vorteil¬ haftem Absatz und Verkauf. Leid und Freud auch hier! Da fiel es mir eines Tages unliebsam auf, daß seit einiger Zeit unsere sonst immer vorhandenen Barmittel nicht mehr so leicht flüßig wurden, wie ich es früher gewöhnt war. Ich mußte im Einkauf vorsichtiger und 270 gelegentlich zurückhaltender werden. Es stimmte mir nicht, und ich ging der Sache nach. Meinen Bruder hatte ein schwerer Vermögensverlust getroffen. Die Deckung dazu war ohne mein Wissen unseren Bar¬ beständen entnommen worden. Mehr als die Hälfte seines Kapitales war verloren. Nicht aus Geschäften oder aus unglücklichen Privatspekulationen, sondern in¬ folge übergroßer Güte, die schon in Schwäche ausge¬ artet war. Das traf mich vollkommen unvorbereitet. Wie hätte ich an so etwas nur denken können! Es war ja nicht das Geld an sich, ich bin nie daran ge¬ hangen. Aber es ist Vorbedingung, Mittel und Not¬ wendigkeit zu aller freien Bewegung im Leben und ganz besonders in der Arbeit. Ein Kaufmann ohne eigene starke Fundierung ist ein Unglücksmann. Da bin ich lieber ein Holzknecht im Hochwalde, der am Samstag sich wäscht, um am Sonntag zu Tal zu gehen. Ich selbst wurde in meiner finanziellen Kraft davon nicht im geringsten berührt, wohl aber natürlich unser Haus. Wir arbeiteten, wie man eben gesehen hat, nicht nur mit unserem eigenen, sondern auch stark mit fremdem Kapital. Ich sah ganz plötzlich und unerwartet ein zu großes Mißverhältnis zwischen jenem und den im Ver¬ trauen darauf in Anspruch genommenen Krediten. Denn jeder aufrechte Kaufmann bemißt erst gewissen¬ haft seine eigene Stärke und die Kraft und Sicher¬ heit seiner Grundlagen, ehe er zu seinen Geschäften fremdes Geld heranzieht. Das sind ernste, zarte und heikle Dinge, in denen die kaufmännische Ehrenhaftig¬ keit allein bestimmend regiert. Da darf kein Makel sein. Eher sterben, als leichtfertig oder gar unehrlich auch nur erscheinen. Ich war wie mitten ins Herz ge- 271 schlagen. Das sollte meine Rückendeckung gewesen sein? Wohl dürste ich damals vielleicht etwas übertrieben haben. Aber das Verantwortlichkeitsgefühl ist in mir immer außerordentlich groß gewesen. Noch schlimmer! Die Sache schien ruchbar geworden zu sein, noch ehe ich selbst sie erfuhr. In -er stets be¬ reiten Nachrede der Leute gab man ihr vielleicht auch eine größere Tragweite, als ihr in Wirklichkeit zukam. Ich glaubte zu bemerken, daß wir beobachtet wurden. Mein persönlicher Ruf und mein Name wirkten ge¬ wiß nach wie vor stark, aber das Vertrauen zu meinem Bruder schien mir in der peinlichsten Weise in Frage gestellt. Ein Kaufmann darf nie in dm Mund der Leute kommen. Ich mußte mir Lenken, das Haus stehe und falle mit mir. Denn nun das Schlimmste! Mein Entsetzen ist so groß gewesen, daß es mich im tiefsten Inneren erschütterte und in meiner Kraft zu lähmm begann. Mit wirklich übermenschlicher Anstrengung trachtete ich, nach außen hin stark und sicher zu er¬ scheinen. Dazu mußte alles vor der alten Mutter ängst¬ lich verborgen werden, und hatte ich meinen Bruder zu beruhigen, der nun erst sah, was er angestellt hatte. Er machte sich die bittersten Vorwürfe, auch nicht fo sehr wegen des verlorenen Geldes, sondern weil er mich in solch schwerer Bekümmernis sah. In der Sache selbst urteilte er, immer von seinem unverrückbaren und felsenfesten Vertrauen auf uns und auf unser Haus getragen, allerdings weit weniger pessimistisch als ich. Es war rührend zu sehen, wie er, selbst so tröst- und hilfsbedürftig, alles tat, um auch in mir die Schwere meiner Auffassung nach Möglichkeit zu lindern. In senen Stunden haben sich mir Berge und Musik ver- 272 schlossen. Jeder Ton tat mir weh. Es fiel mir aufs Herz, daß vielleicht alles vermieden worden wäre, hätte ich mich weniger meinen eigenen idealen Freuden und mehr und aufmerksamer den Angelegenheiten meines Bruders gewidmet. Ich wurde nervenkrank. In mei¬ ner Not ging ich zu einem Nervenarzt und traf es gut. Es war ein braver, ein weiser Mann. Er sah die Bärenkraft in mir, aber ich sei erschreckt und auch über¬ müdet. Ich werde viel leiden müssen, doch zweifle er nicht am gutm Ende. Er werde mich eher zum Schein eine Kur durchmachen lassen, aber zur vollen Heilung könne ich mich nur aus eigener Mitarbeit durchringen. In jeder Stunde, in jeder Minute müsse ich mit aller Kraft trachten, mich zur alten Höhe zu erheben. Er wisse, ich sei ein Bergsteiger. „Gehen Sie möglichst viel in die Berge", schloß er, „nicht zu anstrengenden und gewagten Fahrten, die noch mehr an Ihrer Ner¬ venkraft zehren würden. Gehen Sie in die Natur, in die Berge, als zu Ihren alten Freunden. Die werdm Sie gesund machen!" Ich tat es. Aber es war mir nicht leicht. Herz und Sinn waren und blieben verschlossen. Es war in mir immer etwas wie ein großes Erschrecken. Meine Ju¬ gend begleitete mich, ich war nie allein. Allen voran mein treuer Dougan immer um mich und mit mir. Der ist auch so ein liebes Gottesgeschenk, ich werde noch von ihm sprechen. Die Bahnzüge gingen damals günstig. Wir fuhren an jedem Samstag Abend, waren lange vor der Morgendämmerung in den nahen Stationen der Iulier, zur Nacht wieder zurück in der Stadt. Viele meiner Wocheinerfahrtrn des Winters und des Som¬ mers, die in meinem Bergbuche erzählt sind, fallen in l» 273 jene Zeit. Die Woche über arbeitete ich so gut und so viel ich nur konnte. Waren mir Unterbrechungen not¬ wendig, so machte ich, von meinen Grübeleien ver¬ folgt, kurze Spaziergänge längs der Kaianlagen des Freihafengebietes, wo die Arbeit rastlos rasselte und hämmerte, lärmte und brauste, und kehrte dann wieder trübe zu meinen Pflichten zurück. Es dauerte lange, sehr lange, ehe etwas Ruhe und Besserung in mir ein- kehrten. Über ein Jahr. Ganz allgemach, ganz lang¬ sam und leise, mir selbst nicht bewußt, begann mein Ge¬ müt, sich zu erheben, und mein Lebensmut wieder zu er¬ starken. In den Hochwäldern des Peröiuc, an den Hän¬ gen des Triglav, auf den blumendurchwirkten Matten seiner Almen, in den stillen Rasten an der Seite mei¬ ner hingebenden, jungen Freunde, im Frieden verbor¬ gener Hütten, in der ewigen Pracht des Aufgangs und des Untergangs der Sonne. An Stelle der Grübe¬ leien traten wieder Hoffnungen und Pläne für die Zu¬ kunft. Ich hatte mich täglich beim Arzt einzufinden. Da traf ich im Vorzimmer regelmäßig einige mir von früher her bekannte Trauergestalten, die gleich mir in Behandlung standen und mir gerne des langen und breiten über ihr Befinden vorzuklagen Pflegten, als seien sie die einzigen Kranken auf Gottes weiter Erde. Eines Tages stellte ich meine Besuche beim Arzte aus eigenem, plötzlichem Entschlüsse ein. „Ich will diese Iammerkerle nicht mehr sehen", dachte ich mir. Das bedeutete die Genesung, obwohl ich sie mir selbst nicht zugestehen wollte, es offenbar auch noch nicht konnte. Habe ich nicht allen Grund, die Berge zu segnen? Das Leben blieb ernst. Die geschäftliche Lage Triests wurde schwieriger, es stellten sich Krisen ein. Die all- 274 gemeinen, wirtschaftlichen Verhältnisse spitzten sich im¬ mer drohender zu, die Kundschaft wurde unsicherer. Die Regieauslagen wuchsen ohne Unterlaß, man mußte im¬ mer mehr arbeiten und von Jahr zu Jahr vorsichtiger sein. Trotz aller Umsicht mehrten sich die Verluste aus gewährten Krediten. Unsere liebe Mutter war alt und gebrechlich geworden, mit meinem Bruder ging es, wenn auch langsam, so doch stetig und unaufhaltsam bergab. Es haben sich bei ihm leise und allgemach erst kleine, fast übersehbare, dann ernstere Wahnvorstellungen einge¬ stellt, die sein späteres, trauriges Untergehen in weitläu¬ figen ärztlichen Behandlungen und inSanatorien immer deutlicher ankündigten. Meine gesamte Kraft mußte der Arbeit und dem Lebens- und Schicksalsgang in meiner Familie zugewendet bleiben. Zur Musik in der alten Art fand ich nicht mehr zurück. Damals ist mir mein Orgelspiel endgültig entwunden worden. Mein liebes, schönes Werk in der Mechitharistenkirche blieb zwar na¬ türlich immer noch mein, wie es heute noch mein Eigen¬ tum ist. Aber es harrte von da ab und harrt heute noch vergeblich auf meine Rückkehr. Mein liebes, schönes Werk und das stille, heimelige Kirchlein einer fernen, glücklichen Zeit! Aus unserer Via Croeiera in der Stadt waren wir mit unserer gesamten Arbeit schon längst in das Freigebiet übergesiedelt. Es dürfte 1906 gewesen sein, als wir einen ganzen vierstöckigen „Block" im neu¬ erbauten, großen Speicher 4 im Freihafen mieteten, in dessen erstem Stockwerk das Bureau in der zufrie¬ denstellendsten Weise untergebracht werden konnte. Dort vereinigten wir alle unsere Waren bis auf die Ole, deren Bearbeitung im Freihafengebiet der Zoll- 275 fragen wegen untunlich ist, und die wir darum in ein passendes Magazin der Via Miramar verlegten. Dies alles bedeutete in jeder Hinsicht einen großen Fort¬ schritt. Wir kamen aus eng und ungenügend gewor¬ denen in geradezu glänzende Räume. Daß der Umzug eines großen Hauses keine einfache Sache ist, wird man verstehen. Mein überkonservativer, am alten allzu stark hängender Bruder, für den der Umzug trotz all seiner Vorteile ein großer Schmerz war, erklärte, er wolle und könne ihn nicht mitmachen, der Abschied von den altgewohnten Räumen würde ihn zu sehr angreisen. So fuhr er nach Wien und überließ alles weitere mir. Ich werde es schon machen, meinte er mit ruhiger Über¬ zeugung. Es wurde ein heißer aber großer Tag! Unsere Bureau- und die Magazinsarbeit durfte höchstens einen Tag stocken, mußte dann ungehindert weiterlaufen. Wir hatten alles so wunderschön und genau von lan¬ ger Hand vorbereitet, und ich konnte mich auf die Mit¬ arbeit meines Beamtenstabes so verlassen, daß tatsächlich der eine Tag für den gesamten Umzug, für die Über¬ führung aller Riesenmengen an Waren, allen Inven¬ tars, des Bureaus, der Bücher, aller Schreibvorräte, der Archive, ausreichte. Ich stand auf meinem Posten vom frühesten Morgen zum spätesten Abend, ununter¬ brochen, ging über Mittag nicht nach Hause. Als ich es nach beendeter Aufgabe gegen zehn Uhr nachts, sehr ermüdet, aber stolz auf unsere Leistung, tat, brauste Händels Riesenchor aus dem „Israel" in mir auf: „Aber mit seinem Volke Zog er dahin gleich wie ein Hirt. Er führte sie aus 276 Mit Silber und Gold, Führte das ganze Heer Aus Egypten Auf einen Tag. Das ganze Heer führt' er aus, Das ganze Heer aus Egypten Auf einen Tag!" Meine Mutter kam mir glückwünschend entgegen. Sie umarmte und küßte mich und machte mir ein gro¬ ßes und rührendes Fest. Dann ging ich zur verdienten Ruhe. „Das ganze Heer: auf einen Tag!" 277 Krieg und Nachkrieg Mein Bergbuch Es wurde einsam um mich, das Haus, das mein Bruder und ich inzwischen angekaust hatten, immer lee¬ rer. Die Schwestern waren alle sehr glücklich ver¬ heiratet. Der Tag kam, da unsere gute Mutter uns verließ. Sie war 75 Jahre alt geworden, eine schwere Lungenentzündung hat sie von uns genommen. Eine Hilfe war nicht möglich. Vielleicht, so sagten wir uns, ist sie rechtzeitig gestorben. Wir neigten uns er¬ geben. Wie sie groß gewesen war im Leben, so war sie groß auch im Sterben. Ihre wundervolle, starke Per¬ sönlichkeit hatte bis zum letzten Augenblick das Haus gefüllt, ihre warme Liebe und Treue unser Leben. Nie¬ mand hat je die Schwelle unseres Tores überschritten und unsere Wohnräume betreten, ohne von dem un¬ beschreiblichen Zauber ergriffen worden zu sein, der von ihr ausströmte. Auf einen jeden, und war es der Ge¬ ringsten einer, entfiel ein reicher Anteil aus dem un¬ erschöpflichen Born ihrer Güte und ein goldener Strahl aus ihrem großen, immer hilfsbereiten, alles verstehen¬ den Herzen. Nie werde ich die Stunden vergessen, da ich, müdegedrückt von der Arbeit des Tages, nach Hause kam und mich von ihrer rührenden Fürsorge festlich empfangen sah. Ihr Tod bedeutete den letzten schweren Schlag für meinen armen, kranken Bruder. Er hat da- 279 mit allen Halt verloren. Bal- darauf begann seine Lei¬ denszeit in den Sanatorien. Es kam der Zroße Krieg. Über Nacht verschlossen sich uns die Meere. Aller direkte Import stand mit einem Schlage still. Offen blieben uns bis auf weiteres das neutrale Italien, die Schweiz und die nordischen Häfen auf dem Landwege. Alle Kredite wurden ge¬ kündigt. Wir waren solid fundiert, die Rückzahlungen wurden uns nicht allzuschwer, so eindrucksvoll diese Kündigungen auch im ersten Augenblick wirkten. Denn auch unsererseits hörte das leidige Kreditieren nun¬ mehr vollständig auf, und der gesamte kaufmännische Verkehr bewegte sich vom Augenblick der Kriegserklä¬ rungen an auf der neugeschaffenen Grundlage der Vor¬ ausbezahlung und der sofort darauf erfolgenden, ord¬ nungsmäßigen Ablieferung der Ware. Wir benützten diese Lage der Dinge, um auch unsere von früher her ausstehenden Forderungen nach Tunlichkeit rasch her¬ einzuziehen. So wurde man im Handumdrehen in einer Weise „flüssig" und „liquid", wie man es sich vor Monatsfrist gewiß niemals hätte träumen lassen. Wir standen mit vollen Lagern da, konnten diese in der schon angedeuteten Weise immer noch, wenn auch unter gewis¬ sen und wachsenden Schwierigkeiten, ergänzen, und es entwickelte sich ein großes und gewinnbringendes Ge¬ schäft. Jeder Kaufmann trachtete, den kommenden Er¬ eignissen mit gefüllten Lagern gegenüberzustehen. Und der Ruf unseres Hauses kam uns da stark zu statten, da der inländische Kaufmann sich selbstverständlich den Mann genau besehen mußte, dem er seine oft sehr nam¬ haften Vorauszahlungen unbesorgt anvertrauen konnte. Natürlich blieben auch schwere Verluste nicht aus. So 280 bei Kunden, welche die Sachlage in unredlicher Absicht auszunützen trachteten, oder die nicht vorhergesehene Umstände und Überraschungen wirtschaftlicher oder auch kriegerischer Natur zu Fall brachten. Im allgemeinen war dieses erste Kriegsjahr ganz außerordentlich be¬ wegt und in vieler Hinsicht sehr lehrreich. Es war gut, daß ich vollkommen erstarkt auf meinem Platze stand und allen vielfachen Anforderungen der neuen und gänz¬ lich ungewohnten Arbeitsweise mit meiner alten Tat¬ kraft und mit ruhiger Sicherheit begegnen konnte. Im Augenblick, da Italien in den Krieg eintrat, änderte sich die Sachlage vom Grunde aus. Alle Nach¬ schaffung an Ware hörte sofort auf, es sei denn, daß man solche aus schwächeren Händen des Platzes aufzu¬ kaufen vermochte. Die Lager erschöpften sich rasch durch Einkäufe der Kundschaft oder durch Konsignationen ins Hinterland. Als Importhaus konnte man die Hände in den Schoß legen. Ich hätte können „Kriegsgewin¬ ner" werden, mit Ware meiner altgewohnten oder fremder Gattungen herumschachern und spekulieren. Das lag mir nicht, dazu war ich zu stolz. Wer dieses Buch bis hierher gelesen hat, wird wissen, was ich tat. Ich meldete mich trotz meiner siebenundfünfzig Jahre kriegsfreiwillig zum alpinen Dienst und ging als „Al¬ piner Referent" in die Front der Westjulier. Mein Bruder befand sich arbeitsunfähig in einem Wiener Sanatorium, die Leitung und Verwaltung des Hauses übertrug ich vertrauensvoll meinem bewährten Pro¬ kuraführer Karl Haag. Ich verblieb im Dienst vom 29. Juni 1915 bis zum 2. Juli 1918. Man erwarte nicht von mir, daß ich hier meine Kriegserlebnisse schil¬ dern werde. Die Absicht, ein Kriegsheldentum für mich 281 in Anspruch zu nehmen, liegt mir ferne. Ich habe nur meine Pflicht erfüllt. Kein aufrechter Mann, sondern ein Schwächling und Feigling, wer sein Vaterland in der Not nicht verteidigt! Auch weiß ich, daß ich nach der heutigen, fast schon allgemeinen Einstellung und Abklärung nur wenigen damit eine Freude machen wür¬ de. Vor allem aber habe ich Pflichten der Rücksicht und des Taktes zu beobachten. Ich bin heute italienischer Vollbürger, lebe ruhig und zufrieden in Italien. Das ist mein zweites Vaterland geworden. Man hat im Verlaufe meiner Erzählungen gesehen, wie viele ide¬ ale Richtungen mich schon vorher mit ihm verbanden. Das alte Österreich, das ich in all seiner Glorie und mit all seinen uns wohlbekannten Fehlern und Ge¬ brechen nach altüberkommenen Traditionen und aus heißem Herzen geliebt habe, ist versunken. Versunken auf immer. Die Geschichte hat gesprochen, und ihr eher¬ ner Tritt ist darüber hinweggegangen. Ich neige mich vor ihrem Wahrspruch. Aber das soll man wissen, daß ich, ohne zu zögern, Gut und Blut, Gesundheit und Leben in den Dienst des untergehenden Vaterlandes gestellt habe. Und daß ich aushielt, stark und treu, bis es sterbend niederbrach, gleich den totwunden, er¬ zenen Löwen vom Predil und von Malborgeth. Und auch wissen, daß ich nicht in „Hinteren Kommanden", sondern alle drei Jahre hindurch ohne die geringste Un¬ terbrechung in der Front stand. - Nur eines möchte ich erwähnen, weil es zu meiner rein alpinen Arbeit gehört. Schon im ersten Kriegs¬ winter 1,y1Sbis1916 zählten in den Nachbarbrigaden zur Rechten und zur Linken die Lawinentoten nach vie¬ len Hunderten, insgesamt nahe an die tausend Mann. 282 In unserer Gebirgsbrigade hätte man diese an den Fin¬ gern einer Hand abzählen können, wäre nicht an einem ganz außerordentlich lawinengefährlichen Oktobertage 1915 am Wischberg eine Bewegung vorgekommen, der wir alpinen Männer niemals hätten zustimmen können. Acht junge Leben sind damals von der Neuschneelawine durch die gesamte Nordostschlucht hinabgerissen wor¬ den. Trotz allem ein gewiß sehr bemerkenswertes Resul¬ tat, das aber allerdings nicht allein mein Verdienst war. Es hat daran die wundervolle, kleine Schar der Berg¬ steiger mitgearbeitet, die unter meiner Leitung im Dien¬ ste stand. Das ist eine der wenigen, dauernden Genug¬ tuungen, die ich aus dem Kriege heimgebracht habe. Und die zweite, daß ich diese ganze Schar von Hellen Jungen, die in unvergleichlicher Hingabe an meiner Seite arbeitete, gesund und wohlbehalten ihren harren¬ den Müttern zurückstellen konnte, obwohl sieben da¬ von die Goldene Tapferkeitsmedaille sich erworben hat¬ ten. Keiner hat gefehlt. So bin ich viel gesegnet worden. Und noch etwas verdanke ich dem Kriege: mein Berg¬ buch. Schon Jahre vorher hatten meine Freunde mir nahegelegt, es doch niederzuschreiben. Doch wäre ich nie dazu gekommen, so lange ich leitender Chef meines Hauses blieb. Man hat ja gesehen, wie meine Tage und ein guter Teil meiner Nächte mit Arbeit überfüllt waren. Ohne den Krieg wäre es gewiß ungeschrieben geblieben. Meine Freunde setzten nun mit ihrem Drän¬ gen neuerdings ein, und eines Tages, vor Weihnach¬ ten 1916, begann ich es. Ohne einen rechten Plan. Ich hatte damals in Tarvis Quartier. Doch ist es nur zum kleineren Teil am Schreibtisch entstanden. Ich schrieb 283 es auf losen Blättern in den Hochstellungen, nach al¬ pinen Patrouillenunternehmungen, auf Spaziergängen der dienstfreien Zeit, während der Rasten im Freien oder in Bauernhäusern, sehr oft in unmittelbarer Be¬ rührung mit der Natur und im Angesicht der Berge, manchmal nach glücklich überstandenen, großen Gefah¬ ren. Das letzte Kapitel „In den Voralpen" während des Vormarsches nach Caporetto und in den Winter¬ quartieren von Villabruna und von Fonzaso bei Fel- tre. Ich hatte viele Zweifel, ob es auch lesenswert sein werde. Da ich gesuchten und prunkvollen Titeln sehr abgeneigt bin, nannte ich es einfach: „Aus dem Leben eines Bergsteigers". Ein ganz aufmerksamer Leser wird bemerken, daß mich wiederholt musikalische Einflüsse geleitet haben, wenn ich es auch nirgends ausdrücklich sage oder sonst¬ wie unterstreiche. Es war die Musik an manchen Stel¬ len meine Helferin und meine Mitarbeiterin. So ver¬ dankt die Schilderung des ersten der beiden Biwaks auf Seite "l43 der zweiten bis fünften Auflage ihre Entstehung einem mittelalterlichen geistlichen Liede, das, in starken Tonen beginnend, in stetem diminuendo, schließlich ganz, ganz leise verhaucht. Der Ganzschluß zum Kapitel „In Eis und Schnee", nach dem ich schon einige Zeit ohne mich befriedigenden Erfolg gesucht hatte, kam von selbst, ganz klar und fertig, an mich heran, als ich einen guten Geiger zum Violinkonzert von Max Bruch begleitete. Nach dem Schlüsse des zwei¬ ten Satzes. Ich bat, von seiner Innigkeit ergriffen, um seine Wiederholung und schrieb dann sofort den ganzen Absatz genau so nieder, wie er heute im Buche steht. Wenn ich Seite 298 beim Monte Leone sage: 284 „Ein Lobgesang von unbeschreiblicher Herrlichkeit stieg von Tälern und Höhen zum Himmel empor!" — wer denkt da nicht an Mendelssohns „Lobgesang" voll hin¬ reißenden Schwunges und heiligen Jubels: „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!" Dunkle Nachtmusik ertönt am Schlüsse der Schilderung des Persiuc, des über Urwäldern thronenden, in finsterer Urherrlichkeit träumenden, zu bösen Streichen und Tücken geneigten Rübezahlberges der Wochein, im Kapitel „Die Vor¬ alpen". Ein traurigsüßes Kärntnerlied begleitet mich, wie ich durch den reichen Alpengarten des Lerna Prst zu seinem milden Gipfel emporsteige. Und hinter dem gewaltigen Montasch geht die Sonne nieder unter Pauken- und Trompetenschall. Wie durch mein Leben, so zieht auch durch mein Buch, in himmlischer Höhe über allen Tälern und Ber¬ gen und Gipfeln, das funkelnde Dreigestirn: Bach, Beethoven, Palestrina. Einer der gewaltigen Orgel¬ punkte des alten Johann Sebastian zog durch meine Seele, als ich die Worte über den Grundton in der Trenta auf Seiten 91 und 92 schrieb. „Duo 8era- plnm clamakant alter acl alterum: 8snctu8, 8anctu8 8anctu8l" - „Zwei Seraphim riefen einander zu, einer zum anderen: Heilig, heilig, heilig!" So singt eine Hymne aus alter, glorreicher, palestrinianischee Zeit. In der unvergeßlichen Gipfelstunde auf dem win¬ terlichen Montasch, Seiten 197 und 198, habe ich Palestrinas Engelschöre singen gehört. Und ihre Ge¬ sänge waren so heilig und so hehr, daß keine festlichste Musik auf dieser schönen, festlichen Erde ihnen je nahe¬ zukommen vermag. Wer kennt nicht Beethovens herr¬ liches, ehernes geistliches Lied: „Die Ehre Gottes"? 285 „Die Himmel rühmen des Ewigen Stärke!" In tie¬ fer Andacht und in unbeschreiblichem Jubel ist es in mir gewesen, als ich auf dem Gipfel des winterlichen Triglav stand, Seite 69. Wie würde ich es wünschen, daß all diese Musik auch dem Leser also erklinge, wie sie mich damals umgab, als ich das Buch im Auftrag der Berge schrieb! Ich kam aus dem Kriege zurück als Sechziger. Als müder Mann. Hatte übersehen, daß ich kein junger Knabe mehr, sondern ein alter Herr war. Unverwundet zwar, aber mit Schäden an meinem Körper, die mich auf immer berginvalid machten. Eine dienstliche, rasche Ersteigung des Flitscher Grintouc über die morschen Wände seiner Trentaseite ist meine letzte Hochtour ge¬ wesen. Das Geschäft fand ich, wie nicht anders zu er¬ warten, vollständig eingeschlafen. Einige der Beamten waren einberufen worden, einige gestorben. Einer klei¬ nen Anzahl war, in der schonendsten Form natürlich, gekündigt worden, andere hatten sich freiwillig ein neues Unterkommen gesucht und gefunden, wo sie sich zu be¬ währen und festzusetzen hofften, oder sich sonstwie ver¬ laufen. Prokuraführer und erster Magazineur standen allein auf ihrem Posten. Die Magazine vollkommen leer. Wir hatten sie in fortdauernder Zuversicht auf ein baldiges Kriegsende nicht aufgegeben, sondern für eine erhoffte bessere Zukunft, für ein neues Aufleben der Arbeit festgehalten. Wer hätte je derartig katastro¬ phale Umwälzungen vorausgesehen!? Sehr schwer la¬ stende Regieauslagen und sonstiger Verbrauch waren so die drei Jahre hindurch weitergelaufen und hatten am Kapital gezehrt, da ihnen nicht der geringste Ver¬ dienst gegenüberstand. Ein ödes und trauriges Bild 286 des Verfalles! Der Umsturz kam. Alle gebrachten Opfer sind vergeblich gewesen. Schwere Vermögens¬ verluste folgten. Die heimischen Wertpapiere waren in beängstigender Weise gesunken, die für die Kriegs¬ anleihen teils freiwillig, teils unter Druck gezeichneten Kapitalien gänzlich verloren. Die Barbestände in Kro¬ nen wurden erst mit vierzig, dann noch mit weiteren zwanzig Prozent in Lire ausbezahlt. Alle im Hinter¬ lande noch ausstehenden Warenforderungen aus frühe¬ ren Jahren konnte man als uneinbringlich betrachten. Ich stand auf den Trümmern einstiger Wohlhabenheit. Die Arbeit, die sich alsbald zu entwickeln begann, und in die notgedrungen auch wir einlenken mußten, war eine gänzlich ungewohnte, moralisch und kaufmännisch höchst unbefriedigende. Ein Jagen und Haschen nach Geschäften in den verschiedentlichsten Artikelgruppen, die wir zum Teil nicht kannten. Kamen sie zu stände, so geschah dies außerhalb aller altgewohnten Konti¬ nuität. Sie waren lediglich der Raschheit und Geschick¬ lichkeit im gegebenen Augenblick, wenn nicht gar dem reinen Zufall zu verdanken. Oft kam ich mir vor wie ein Schuljunge, der mit dem Schmetterlingsnetz auf der Wiese steht und auf die vorbeiflatternden Schmet¬ terlinge wartet, dann losläuft. Ein gehaschter Schmet¬ terling bedeutete ein gemachtes Geschäft. Patriarcha¬ lische Zusammengehörigkeit von Kundschaft und Haus, Anhänglichkeit, Treue, Vertrauen gab es nicht mehr. Wir waren Könige gewesen und „Schnorrer" ge¬ worden. Mein kaufmännischer Stolz wurde tief ge¬ beugt. Mein Bruder wurde wieder heimgebracht, als ge¬ brochener Mann. Es war eine gar arme, traurige 287 Heimkehr. Als er nicht lange darauf, nach ungefähr Jahresfrist, plötzlich verstarb, habe ich in tiefster Weh¬ mut und weinenden Herzens edelsten Sinn und gren¬ zenlose Güte, aber auch ein vergeudetes und verlorenes Leben zu Grabe getragen. Trotzdem wäre ich nicht ge¬ recht mit ihm, wollte ich ihm an dieser Stelle nicht letztmals danken. Es sind so viele gemeinsame, glück¬ liche, arbeitsfrohe Jahre gewesen, da er tüchtig, ver¬ läßlich und treu an meiner Seite stand. Wir haben so viel Arbeit und Erfolg, so viel Schaffen und Sor¬ gen, so viel Freud und Leid in Familien-, Berufs¬ und idealem Leben in brüderlichster Eintracht mit ein¬ ander geteilt. Und ich darf und werde es nie vergessen, daß er sehr oft meine Stütze, meine Zuversicht und mein Halt gewesen ist, wenn ich etwa Schwierigkeiten und Schicksalsschlägen gegenüber zu verzagen und, wie es wiederholt vorgekommen ist, mein Selbstvertrauen zu verlieren begann. Da hat er mich mit seiner uner¬ schütterlichen, felsenfesten Meinung von mir und von meinem Können, mit seiner zu geradezu schwärmerischen Höhen emporgestiegenen Einschätzung meines Strebens und meiner Kräfte wieder klar, sicher, selbstbewußt an meinen Platz zurückgestellt. Niemand hat je so stark an mich geglaubt wie er! Alles, was ich über ihn er¬ zählte, soll gewiß weder Vorwurf noch gar Anklage sein. Ich habe es sehr ungerne, erst nach langem Über¬ legen getan. Aber es mußte gesagt sein, weil es die Wahrheit ist, ohne welche manches in der Erzählung meines Lebens nicht richtig verstanden werden könnte. Er war grundehrlicher Natur, von manchmal rück¬ sichtsloser, immer jedoch gutgemeinter und beispiel¬ gebender Aufrichtigkeit. Im Bekennen Md Betonen 2S8 seiner Überzeugungen von großem Mut und von oft fabelhafter Kraft. Da war kein geringstes Stäubchen, kein Hauch von Falsch. Wann und von wo immer man seinen Charakter besah, ist er blank und rein geblieben vom Anfang bis zum Ende. Er hat immer nur das Gute gewollt, das Glück blieb ihm versagt. Gewiß in seiner Art ein Leben, wenn auch ein verfahrenes und verfehltes, aus dem man viel lernen kann. Auch sein Andenken ist mir heilig! Es war etwas viel auf einmal über meine enttäuschte und ermüdete Seele gekommen. Bald stand ich ohne Hoffnung und ohne Lichtblick da. Mein Lebensmut war gebrochen. Ich verlernte das Lachen, wurde arbeits¬ unfähig und wieder gemütskrank. Hilfe ward mir von meinen Schwestern. Ich fuhr zu ihnen nach Wien. Ein Psychiater von Weltruf, der meiner Familie befreun¬ det war, nahm sich mit rührender Sorgfalt meiner an. Ich müsse viel Geduld haben. Die Heilung werde kom¬ men, er zweifle nicht daran. Doch nicht heute, noch morgen, noch bald. Auch nicht „von vorne", klar und deutlich vorauszusehen, wie sonst wohl bei Krankheiten, mit entschiedenem und siegendem Genesungsschritt, son¬ dern unvermutet, von ungefähr, irgendwie „von der Seite her". So ist es gewesen. Was mich nach fast zwei schweren Jahren allgemach wieder dem Leben zu¬ rückgab, war die Sorge und der Kampf um mein Berg¬ buch. Man hatte mir gesagt, daß es einen Wert habe. Ich versuchte, es in den Druck zu bringen. Der erste Verleger ging zu Grunde. Es war damals die böse Zeit. Der zweite zog sich zurück, da es ihm an Kapital mangelte. Der dritte geriet in Konkurs, gerade im Augenblick, da der Druck bei R. Kiesel in Salzburg 19 289 eben fertiggestellt worden war. Das Buch schien ver¬ loren. Ich tat, was ich konnte, danke es aber dem vier¬ ten, meinem jetzigen Verleger Rudolf Rother in Mün¬ chen, daß er es schließlich mit großer Umsicht rettete und 1925 glücklich herausbrachte. Als es erschien, wurde ich vollkommen gesund. Da das Buch für mich ein Ge¬ schenk der Berge bedeutet, so sind wieder sie es gewesen, an deren starker und gütiger Hand ich zum zweiten Male aus langer, schwerer Pein zum Lichte des Lebens emporstieg. Als ich nach Triest zurückkam, verkaufte ich unser Familienhaus. Dann zog ich mich auf dringenden Rat meiner Familie und meiner Freunde von den Geschäf¬ ten zurück. Ein Hafen ohne Hinterland erschien allen und so auch mir ein zu unsicheres und gefährliches Ar¬ beitsfeld. Wie fast der gesamte Welthandel, so hatte auch der unsere neue Wege eingeschlagen und neue For¬ men angenommen. Es bedurfte dazu einer anderen, einer neuen Einstellung, die mir sehr schwer gefallen, wenn nicht ganz unmöglich gewesen wäre. Die Mög¬ lichkeit einer Arbeit in meiner altgewohnten Art war für immer versunken. Und ich näherte mich einer Zeit, da ich eines dritten, eines letzten Anklopfens gewärtig sein muß. Beide Entschlüsse fielen mir nicht allzu¬ schwer. Ich hatte die ruhige Überzeugung, daß ich da¬ mit aus der eben geschilderten Sachlage die selbstver¬ ständlichen und notwendig gewordenen Folgerungen zog. Blicke ich heute zurück, so weiß ich, daß es so gut und richtig gewesen ist. Vor meinen Vater werde ich dereinst mit freier Stirne und ruhigen Herzens hin¬ treten können. Ich glaube, meine Pflicht in Ehren ge¬ tan zu haben. 290 Das Familienhaus ist in den Besitz frommer, spa¬ nischer Patres übergegangen. Die haben auf dem Grunde ein reizendes, kleines Kirchlein errichtet, das mit feinen, hochgestimmten Glocken zur Andacht ruft. Läuten sie, so höre ich meine ferne Jugendzeit froh er¬ klingen. Das ist sehr lieb! Und etwas Reizendes hat sich da ereignet: Toni, Muz, das Turteltäubchen, von denen ich erzählte, und vorher schon Manndl, das Eich¬ kätzchen, die Steinhühner, die beiden zahmen Möwen, haben wir schlicht und ohne jeden Prunk im Schat¬ ten unserer Gartenbäume begraben. Auch die kleine Schar der Marmotten, von der ich setzt noch erzählen werde, hat hier ihr Grab gefunden. Nur Benjamin, der in Schönbrunn endete, ist nicht da. Er wurde aus¬ gestopft und steht heute noch mit herrischer Gebärde in einem prunkvollen Glaskasten des naturhistorischen Museums in Wien. So sind meine einstigen Haus¬ genossen nun in einer Kirche begraben, wie die alten Bischöfe und Kirchenfürsten. Und aus geweihter Erde blicken sie, wenn es auch nur arme und einfältige Tiere gewesen sind, ehrfürchtiglich und vertrauend empor zu unseres allumfassenden, allgütigen und allbarmher¬ zigen Gottes erhabenem und strahlendem Thron. Aus dem Lärmen und Hasten der täglichen Erwerbs¬ arbeit trat ich nun in ein stilles, bescheidenes Privat¬ leben zurück. Doch blieb ich natürlich in Triest. Ich liebe die schöne Stadt, die lichte Triester Sonne, den Triester Himmel und das weite, blaue Meer. Nir¬ gends sonst könnte ich eine wirkliche Heimat finden. Der Karst ist da, und die Iulier stehen nahe. Es ist die Stadt meiner Jugend, meines Arbeitens und Wirkens. Tausend Erinnerungen halten mich da fest. Da will ich 291 sein, wie seit den fernen Zeiten meiner ersten Kindheit, wenn unsere Sonne in Feuerfarben untergeht, weit drüben jenseits des Meeres. Die Sonne aller Tage bis zur Sonne meines letzten. 292 Mo 1 tele Am Col de la Seigne hatte ich mich vonHelbronner getrennt. Oben war Schneetreiben. Tiefer unten brach die Sonne durch, und die Vallee Blanche war von einem so blendenden und flimmernden Licht erfüllt, daß man kaum die Augen offen halten konnte. Die weißen Montblanc-Gipfel grüßten aus gewaltigen Höhen. Als ich einen Augenblick in der oberen Alpe verweilte, sagte mir Croux, einer der Sennen habe so¬ eben ein junges Murmeltier gefangen. Ich sah es an und wußte sofort, was mir bisher gefehlt hatte. Ein Mur¬ meltier hatte mir gefehlt! Ich erstand es um einen Franken und eilte mit meinem Schatz nach Cour- mayeur hinab. Meine Touren waren beendet, ich trat sofort die Heimreise an. Wo ein kleiner Aufenthalt war, stieg ich aus und holte „fines herbes" für meine Marmotte. Ich war sehr glücklich. „Wissen Sie", sagte ich zu meinen Mitreisenden, „ich reise nämlich nicht so allein, wie ich aussehe." „Mit wem reisen Sie denn?", frugen sie höflich. „Mit meiner Marmotte", sagte ich stolz, „dort ist sie in der Schachtel." „Könnte man sie sehen?" „O gewiß", und bereitwillig schloß ich Fenster und Türe des Coupes und öffnete zärtlich die Schachtel. Da saß sie und schaute still. Wer sonst hat ein so schö¬ nes, sanftes, ruhiges, reines Auge? So fein mandel- 293 förmig geschnitten, das Weiße ins Bläuliche schim¬ mernd, sammetbraun die milden, großen Augensterne, im Ausdruck nur Güte, Geduld, Vertrauen, naive Un¬ verdorbenheit? Man suche nicht, ich weiß es, nur die Marmotte hat es. „O wie lieb", sagten die Mitreisenden. Ja, gar so lieb! O du liebe Marmotte! Ich lehnte mich in die Coupekissen zurück, meiner Marmotte sicher. Die Stille der savoyischen Täler zog durch mein Herz. Dann faßte ich einen kühnen Plan. Ich wollte ein Marmotten- unternehmer werden. Ich wollte noch mehr Marmotten sammeln und sie dann in den Iulischen Alpen aussetzen. Die Stelle wußte ich schon. Im Kaltwassergraben, wo in den roten Alpenrosen mein Schlafplatz liegt. Dort ist Wasser, feines Gras, Kompositenflora, Blockwerk, Geröll, Schutt, weiche Erde. Für Schutz vor Nach¬ stellungen werde ich schon sorgen. Ich spreche mit dem König von Sachsen, dem Iagdherrn in Seissera und Kaltwassergraben. Schwere Strafen für jeden Zu¬ widerhandelnden! Kein Pardon für den, der sich an einer Marmotte vergreift! Ich werde es ihm schon zei¬ gen! Dann komme ich auf Besuch. Schon von weitem schauen Korspitze und Kaltwasser Gamsmutter ganz vergnügt drein, denn es ist so liebe Gesellschaft zu ihren Füßen. Da pfeift es grell auf, daß es in den Wänden hallt, und dort wieder. Die Marmottenkolonisten haben mich bemerkt, sie sind auf die Blöcke gehuscht, machen ihre Männchen und Verbeugungen, und einer schwingt eine rote Fahne. Dann setze ich mich, sie kommen zu mir, und wir spielen Savoyen. Nur das weiß ich nicht, ob ich diese Marmotte, das „Mottele" nämlich in der Schachtel, auch mit aussetzen werde. Ob ich mich von 294 ihm je werde trennen können? Ob ich es nicht ganz bei mir behalten solle? Ich werde halt sehen. Vielleicht kann ich es später hinbringen, wenn alles gesichert und das Iulische Marmottenparadies fertig ist. So rasselte ich mit dem Eilzug durch die lombardische Ebene und lächelte glückselig. Die Leute merkten es ordentlich, daß ich nicht allein sei. Unser Hühner- und Taubenhaus im Hofe hat drei kleine ebenerdige Zimmerchen. Das mittlere richtete ich für Mottele her. Ich baute ihm auf einer Plattform von Brettern aus einer umgestürzten, mit einem Ein¬ gang versehenen Holzkiste, aus Karststeinen und Wur¬ zelholz einen Unterschlupf, stellte ihm viel Heu zur Ver¬ fügung, und es machte sich sofort daran, seine Woh¬ nung ordentlich auszupolstern. Für gutes Essen war gesorgt: Äpfel, Brot, Polenta, Kohl, Kraut, Spinat, gelbe Rüben, rote Rüben. Am liebsten aber hatte es Radiccio. Und zwar je kräftiger und bitterer, um so besser. Ich ging, da ich Auswahl und Einkauf doch un¬ möglich der Köchin überlassen wollte, jeden Tag nach dem Börsenbesuch auf den Roten-Brücken-Platz, wo ich bald sehr bekannt wurde. „Vien ei 8ior ckel ra- ckiccio", sagten die Verkäuferinnen. Manchmal, wenn Radiccio fehlte, schwatzten sie mir Salatina, Rucola oder sonst was Süßes auf, aber Mottele war dann jedesmal sehr enttäuscht, denn das schmeckte ihm nicht. Sehr gerne nahm es aus dem Garten Wegerich, Löwen¬ zahn und Malve. Auch Blätter vom Maulbeerbaum liebte es sehr. Wasser trank es nie, das schüttete es im¬ mer aus. So wurde es dick und fett. Wie eine Walze wurde es, und ich hatte meine Freude, daß es ihm so gut anschlug. Es war ganz zahm, und fuhr man ihm 295 mit der Han- entgegen, so stellte es sich auf und ver¬ gnügte sich mit einer harmlosen, kleinen Rauferei, die aber nur eine gegenseitige Neckerei war. Die Magd Polonia, die auch wie eine Walze war, spielte mit ihm den ganzen, lieben Tag. So kamen die Sommerferien 1.913 heran, und ich ging zuerst mit Dougan ins Dauphine. Auf der savoy- ischen Alpe Andelys gebot uns das schlechte Wetter einen dreitägigen Aufenthalt. Ich saß auf den Fels¬ blöcken und schaute in die Nebel, Dougan vertrieb sich die Zeit, wie er konnte, spielte mit den Almkindern oder ritt auf dem Almesel. Eines Nachmittags kam er mit blutenden Händen und mit einer wilden, kleinen Mar- motte zurück. Zwischen den Moränenblöcken hatte er sie nach heftiger Gegenwehr gefangen. Die war schon ein kleines Teuferl. Gleich zeigte sie die Zähne und pfauchte und spuckte vor Wut. Sie kam in einen Leinwandsack, und dieser zu oberst in Dougans Rucksack. So machte sie die Ersteigung von Pie und Mont Thabor mit. Im Abstieg vom Pie, der sehr steil ragt, war ich ernstlich besorgt, es könne ihr beim Klettern etwas geschehen, denn da war der Rucksack immer in bedenklicher Lage zwischen Dougans Rücken und den scharfen Klippen. Er mußte eine neue Klettertechnik anwenden und sich immer am Seil sehr stark nach vorne gebeugt halten. Fand das Tierchen, daß es zu stark geschüttelt werde, so protestierte es mit energischen, gellenden Pfiffen. Wir tauften es „Pie Thabor". Es reiste mit Dougan nach Triest. Zwei Wochen später zog ich mit Croux zum Col und Mont Tondu. Auf dem Wege über den Col -e la Seigne, da wir schon auf französischem Boden gegen MouttetS 296 abstiegen, begannen meine Leute plötzlich wie närrisch zu laufen. Ehe ich verstanden hatte, um was es sich handle, standen sie schon mit zwei jungen Marmotten vor mir. Die waren geduldig und ergeben und leisteten keinerlei Widerstand. Ich vertraute sie einem vorüber¬ ziehenden Maultiertreiber an, der sie sorglich bei Ma¬ dame Croux in Courmayeur ablieferte. Als ich dann zurückkam, nahm ich sie nach Triest mit. Da hatte ich schon größere Sorgen. Ich kaufte vierfache Radiccio- ladungen ein. An Winterschlaf dachten die Tierchen nicht, sie standen nur sehr spät auf und gingen sehr früh schlafen. Oft blieben sie nur zur Essenszeit auf. Mitten im Winter kam eine große Kiste aus La Grave. Savoye hatte sich meines Unternehmens erinnert und sandte mir fünf große Marmotten, die er im Bau aus- gegraben hatte. Nun war die Kolonie neun Köpfe stark. Ich sah meinen Traum sich erfüllen. Im August 1914 wollte ich sie aussetzen. Es kamen Wintertage, wo es sehr schwierig wurde, das erwünschte Grünfutter aufzutreiben. Die Markt¬ weiber am Ponte Rosso ergingen sich mir gegenüber in argen Preistreibereien. Das Mittelzimmerchen wur¬ de den Murmeltieren zu enge. Die starken neuen An¬ kömmlinge durchbrachen die Wand zum rechten Eck- zimmerchen und installierten sich dort hinter und in einer mit Sand gefüllten Kiste. Jetzt hätte es schon ganzer Berge von Radiccio bedurft. Auch mußte ich immer mehr Heu liefern. Das transportierten sie mit -em Munde, in den sie sehr geschickt mit den Händen überraschend große Lasten stopften. So polsterten sie alles fein aus. Mottele blieb im eigenen Hause und litt es nicht, daß andere es mit ihm teilten. 297 Als das Frühjahr 1914 herankam, und der Gar¬ ten mit dem ersten Grün bekleidet stand, gab es Re¬ volten. Die Murmeltiere wollten nicht mehr in den Zimmern verbleiben. Sie kratzten, bohrten, scharrten, zernagten und zerbissen Balken und Bretter, ver¬ bogen Drahtgitter, demolierten mit unglaublicher Kraft Wände und Mauern und gelangten trotz aller Siche¬ rungen immer wieder ins Freie. Mottele fand manch¬ mal den Weg zur Küche herauf, am liebsten setzten sie sich aber alle auf die Maulbeerbäume und fraßen die jungen Blätter ab, so weit sie ihnen erreichbar waren. Erst fing ich sie immer wieder zusammen und sperrte sie ein, schließlich überwogen Mitleid und Verständnis für ihren heißen Freiheitswunsch. Da ließ ich ihre Ge¬ fängnistüren sperrangelweit offen und gab ihnen den Garten preis. Ein Fähnlein installierte sich in einer tiefen Mauer¬ nische hinter der eingemauerten oberen Gartentüre. Ein zweites grub sich sein Erdloch neben der alten, morschen Gloriette hart an der Klostermauer unter einem Hol¬ lunderbaum, Mottele und ein Genosse wählten eine Stelle mitten im Rasenplatz. Ein langer Gang führte schräg in den Boden hinein zu ihrem unterirdischen Bau. Das herausgescharrte Erdreich verblieb als Wall vor dem Eingang. Da saßen sie und sonnten sich. Zum Vorteil des ohnehin stark verwilderten Gartens war dies wohl nicht, denn Sträucher und Bäume hatten unter der täglichen, eifrigen Wühlarbeit viel zu leiden, und der grüne Rasenplatz war von den aufgeworfenen kahlen Stellen um den Bau arg verunziert. Aber es lag nun ein ganz eigenartiger Reiz über dem alten Garten! 29S Er war inzwischen sehr einsam geworden, der alte Garten. Aus dem Hause klang kein Lachen mehr, es war nun wirklich klösterlich still. Ich war allein zurück¬ geblieben, und auch mir war das Lachen für eine Zeit lang vergangen. Natürlich nur für damals, nicht für immer, Gott sei Dank. Ich war sehr müde, vielleicht krank. Kam ich unversehens hinunter, so gellten die Pfiffe. Dort huschte ein Tierchen in den Bau, hier sprangen behende Gestalten von den Maulbeerbäumen und flüchteten. Denn bis auf Mottele sind die Tiere scheu geblieben. Setzte ich mich dann hin, so erschienen sie langsam wieder. Es war so drollig, wenn sie sich aufsetzten und mit gestreckten Hälsen vorsichtig und auf¬ merksam zu mir herüberspähten. Mottele aber kam ganz nahe heran. Es setzte sich vor mich hin, richtete sein mil¬ des, weltenfremdes Auge auf mich und schien sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Das tat so wohl, als frage das ferne, stille, zaubervolle Savoyen nach mir. Als habe es einen Boten geschickt mit einer Einladung und einer Mahnung: „Sei stark! Halte dir den Weg frei zu mir, ins Glückesland!" In diesem Jahr setzte ich die Tiere nicht aus. Die Welt erschien mir zu unruhig. Ich konnte den Ent¬ schluß nicht formen. Das war der Fehler. Daran ist alles gescheitert. Der August brachte den großen Krieg. Im November verschwanden die Marmotten zum Winterschlaf und tiefes Schweigen lag über dem Gar¬ ten. Schliefen sie oder starben sie? Oft stand ich vor MotteleS Bau. Warmes Winterquartier oder kaltes Grab? Dann kam der Frühling 19"!5. Der Garten wurde wieder grün. Die Sonne leuchtete golden durch die jungen Blätter. Das grüne Gras stand schon hoch. 299 Einladend der breitblättrige Wegerich, der goldgelb blühende Löwenzahn, das niederliegende, zu kleinen In¬ seln gescharte Malvenkraut. Über den Marmotten- lagern blieb alles still! Wacht auf, ihr Schläfer! Ostern war da, voll prangende Frühlingszeit. Die rankenden Rosen setzten schon farbige Blütenknospen an. Die Sonne strahlte hell und warm, fast schon som¬ merlich. Noch immer nichts! Der Gärtner kam. Ob er die Löcher und Wälle ver- ebnen und Gras säen dürfe. Die Murmeltiere kämen doch nicht wieder. „Nicht anrühren", ordnete ich streng an. „Noch können sie kommen." Aber Hoffnung hatte ich keine mehr. Ich sagte nur so, mich selbst zu be¬ ruhigen. Die Tage vergingen, es kam der 27. April. Ich lag frühmorgens im Bette, im Halbschlaf, noch träumend. Mir wars, als wandelte ich durch eines der funkelnden Almentäler Savoyens. Der Tau blinkte auf den samtgrünen Matten, der Firnenschnee erglänzte, die Morgensonne spielte über den feierlich ragenden, leuchtenden Gipfeln. Von den Moränenhängen schrill¬ ten die Pfiffe der Murmeltiere. Da fuhr ich auf. Das war ja doch kein geträumter, es war ein wirklicher Pfiff! Und gleich darauf wieder und wieder einer! Dann Hundegebell, keifendes Hühnergegacker, zorniges Aufbegehren des Hahnes, wieder schrille Pfiffe in raschester Folge. Ein schwerer Tumult im Hofe. Die Marmotten waren auferftanden! Sie hatten sofort den altgewohnten Weg in den Hühnerhof genommen und dort das versammelte Hühnervolk in heftige Aufregung versetzt. Peter, der Hund, hatte sie entdeckt, verscheucht und verfolgt. Aus der Erde auferstanden! Das ganze 300 Haus jubilierte. Es war ein Freudentag, ein mir un¬ vergeßliches Fest der Auferstehung! Nicht alle waren wiedergekommen. Aber Mottele war da, etwas schlanker allerdings als im Herbst vor¬ her, und seine Hellen Augen sagten: „Siehst du, wie schön ich mich ausgeschlafen habe!" Nun begann ihr frohes Treiben. Das war ein Leben! Der Mai brachte den italienischen Krieg. Im Juni meldete ich mich zum alpinen Dienst. Als ich im Ok¬ tober zurückkam, war mein erster Gang in den Garten. Ich setzte mich auf eine Gartenbank, rief „Mottele" und blickte zum Bau hin. Es erschien nicht, und ich rief wieder und wieder. Da krabbelte es zu meinen Fü¬ ßen. Ja gewiß, Lieb-Mottele war ja schon da! Es krallte sich an meinen Beinkleidern fest und versuchte heraufzuklettern. Ich half ihm, es setzte sich ruhig neben mich auf die Bank und auf mein Knie und nahm das Brot, das ich ihm gebracht hatte. So saßen wir in den folgenden schönen Herbsttagen noch oft beisammen, ein- trächtiglich, schweigend und beschaulich. Nur heftige Be¬ wegungen mußte ich vermeiden. Die vertrug es nicht. In feiner Heimat gibt es solche nicht, da ist alles still, gelassen, feierlich, und alle Bewegung verlauft in ruhi¬ gen, schönen Linien. Mich führte es zurück zu meiner Brigade, und sie gingen nach umständlichen Vorbereitungen neuerlich schlafen. Diesmal auf Nimmerwiedersehen. „Die Mar- motten sind noch nicht gekommen", hieß es vom Früh¬ ling 1.916 an in jedem Brief meiner Hausleute. Oder: „Noch immer sind die Marmotten nicht da", oder: „Von den Marmotten noch nichts zu sehen, werden sie wohl noch kommen?" Und jedesmal sank ein Stück- 301 chen Hoffnung wie ein Stücklein Blau vom Himmel. Dann enthielten die Briefe nichts mehr davon. Und ich frug auch nicht, es tat mir zu weh. Das war fo ganz nach Motteles nobler, verträrun- ter, weltenfremder Art. Nicht qualvoll vor unseren Augen wollte es sterben und unter Wehmutstränen zur Erde bestattet werden. Nur einfach wegbleiben, gewesen sein, der Vergangenheit angehören, nicht wieder auf¬ erstehen. Scheiden nicht in sichtbarem Leid, in auf¬ zuckendem Schmerz, in jäher Gewißheit, es müsse nun sein, sondern in leise, leise versinkender, allmählich ver¬ klingender, still, still verblassender Wiedersehenshoff¬ nung. Es ist nicht von uns gegangen, es ist nicht wieder zu uns gekommen. Und je stärker der Glaube ist, um so frommer naht der Trost. Denn Mottele, könnte man sagen, ist ja vielleicht gar nicht gestorben. Nur anderswo, in einem besseren Lande, unter lichterem Himmel, zu schönerem, glücklicherem Lose und Leben aus der winterschlafenden Erde wiedererstanden! Oft werde ich mich nach deinem Blick sehnen, du mein liebes Mottele, der mir so viel mehr sagte als das Geschwätz von tausend lärmenden Menschen. Es kommt mir manchmal vor, ich sei zu dir zu wenig lieb gewesen, denn das bißchen Radiceio zählt ja nicht. Ich hätte dir vielleicht mehr sein sollen und können. Ich ließ dich ge¬ währen, und das war eigentlich alles, was ich für dich getan habe. Ich möchte dir noch sagen, wie wohl mir deine stille Gesellschaft getan hat, wie trostvoll sie mir war in einer schweren Zeit, die mich wie in eine un¬ heimliche schwarze Wolke eingehüllt hatte. Ich bin dir dafür so vom Herzen dankbar und vergesse es dir nicht. Sollte deine liebe, zutrauliche Seele mir etwas haben 302 sagen wollen, das ich nicht verstand, so entschuldige es mit der bösen Hast des Lebens, die uns Menschenkin¬ dern auferlegt ist, und die uns weiterpeitscht, wenn wir lauschend stillestehen möchten. Kehre ich zurück, so werde ich Baueingang und Wall vom Rasen überwuchert finden. Ein kleiner, grüner Hügel wird jene Stellen bezeichnen. Dort will ich oft stehen, deiner gedenkend, deiner, mein liebes, sanftes Mottele, und meines mit dir versunkenen Traumes vom fröhlichen und seligen Iulischen Marmottenparadiese! 303 Ein Nachwort zu meinem Bergbuch Ich trug schon längere Zeit den Wunsch in mir, zu meinem Bergbuch ein Nachwort zu schreiben. Man wird mich vielleicht erstaunt anblicken. So etwas scheint sonst wohl nicht üblich zu sein. Aber es geschieht gewiß nicht aus Eitelkeit oder aus Selbstüberhebung. Zum herrlichen „Matterhorn" des herrlichen Guido Rey hat ein Unsterblicher das Vorwort geschrieben: Edmondo De Amieis. Wie habe ich allen Grund, mich klein zu fühlen, da ich meinem bescheidenen Buche nun selbst ein Nachwort folgen lasse. Wohl müssen die Be¬ weggründe dazu rein und lauter, der Inhalt sollte fes¬ selnd sein, auf daß man solches entschuldigen könne. Ich habe zu mancher Erzählung, die vielleicht meine Leser interessierte, etwas nachzutragen. Und die Histo¬ rie der Erschließung der Iulischen Alpen möchte ich, wenn auch nur in ganz kurzen Zügen, doch bis zum heu¬ tigen Tag selbst noch weiterführen. Noch einmal möchte ich über die Iulier sprechen. Man habe Geduld und Nachsicht mit mir. Als ich mein Buch schrieb, meinte ich, ein Erinne¬ rungswerk zu schaffen, das vielleicht meinen Familien¬ angehörigen und meinen engeren Freunden eine kleine Freude machen werde. Aber es kam die Kritik. Erst von Freunden, dann von Fremden, von großen alpinen Männern und von berühmten Schriftstellern. Und diese ro 305 Kritik setzte mit so hallenden Tönen ein, wie ich sie nie geahnt, geschweige denn erwartet hätte. Das hat etwas Berauschendes gehabt. Ich hatte das Gefühl, als müsse ich in den Wald gehen, um in Einsamkeit und kühler Stille die alten, leisen Pfade der Bescheidenheit wie¬ derzufinden. Vielleicht wehre ich, verlegen, errötend und ungläubig lächelnd, manchmal etwas ab. Aber wie gerne hört und liest man so gute Worte. Im großen ganzen halte ich still, sehr beglückt, nicht ohne mich manchmal so ungewiß und zweifelnd umzublicken, ob es nicht etwa doch einem anderen Buche und einem anderen Menschen gelte. Ich bin voll Freude und voll Dank¬ barkeit, so herzlich froh und dankbar, und helfe mir noch immer damit, daß ich sage: Die Berge haben mir das Buch so diktiert, ich selbst habe nur niedergeschrie¬ ben, nur nachgeschrieben, was sie, die Starken, die Strahlenden, die Gütigen, mir fünfzig und mehr schöne und glückliche Jahre hindurch zu sagen fanden. Ihnen allein sei Ehre, Lob und Preis! Das Buch ist im Oktober "l925 erschienen. Es began¬ nen Briefe heranzukommen. Erst einzeln, fast zögernd, dann in rascherer Folge, schließlich in Hellen Scharen. Es kam der Dank der Jugend, einer Jugend im wei¬ testen und liebsten Sinne. Der Dank, den mein Vor¬ wort in schüchternem Hoffen herangewünscht hatte. Freundliche und begeisterte Herzen schrieben mir, sie seien mit mir an Orten zusammengetroffen, wo ich nie gewesen war, sie hätten mit mir Gespräche gehabt, die ich nie führte. Alte Freunde vergangener Zeiten tauch¬ ten plötzlich aus fernen Winkeln hervor, die ich selig verstorben gewähnt. Die ihrerseits schrieben, sie hätten mich längst schon tot geglaubt und seien nun so herzlich 306 froh ob meines Lebenszeichens. Alle wollten mir Auf¬ merksamkeiten erweisen, aber vielleicht weiß es noch nie¬ mand, wie sehr mich diese lieben Aufmerksamkeiten freuten. Und mit frohem Erstaunen wurde ich gewahr, daß ich mich auf sonnigen Wegen beginnender Be¬ rühmtheit befinde. Was kamen da für liebe Sachen! Ein Herr von Lützow aus dem Württembergischen, er sei ja dabei¬ gewesen, als man damals vor zwanzig Jahren, 1906, in Maeugnaga die Raketen habe steigen lassen (Seite 295), und sie hätten tatsächlich Grüße und gute Wün¬ sche für mich bedeutet. Ein Herr aus Villach, er kenne genau das Schärtchen, das„Zäunl", amDobratsch, wo der Wind den Hut wieder zurückweht (Seite 27). Das sei sein Lieblingsplätzchen gewesen, wo er oft und oft die ver¬ schiedensten Sachen in den Abgrund werfen wollte, immer habe sie der Windstoß zurückgeschleudert. Der Dobratsch sei für ihn eine Halbtagstour gewesen, und er habe ihn 307 mal erstiegen. Auch habe er den Berg mit Tausenden von Edelweißexemplaren bepflanzt und im Verlaufe von fünfunddreißig Jahren damit schöne Erfolge erzielt. Gewiß danken ihm die Berge heute noch dafür! Die kostbarste Geschichte, die ich erfuhr, ist aber diese: Professor Kerner, der große Botaniker der Wie¬ ner Universität, hat in den ersten 1880er Jahren sei¬ nem damaligen jungen Assistenten fünfzig Gulden mit dem Auftrag übergeben, in die Trenta zu reisen und nicht eher zurückzukommen, bevor er nicht die Seabiosa Trenta gefunden habe. Der junge Assistent scheint aber trotzdem früher zurückgekehrt zu sein, denn sonst wäre er ja nicht der nicht minder berühmte Professor der Bo- 307 tanik an der Wiener Universität, der glorreiche Nach¬ folger auf Kerners Lehrkanzel, geworden, der er heute ist, und würde, sparsam lebend, bergauf, bergab, immer noch suchen. Der Kaltwasserkarspitze über der Saifnitzer Kar- niea habe ich ihre Zukunft ganz falsch vorausgesagt. Sie werde, nachdem sie den Reiz der Jungfräulichkeit verloren, vernachlässigt werden, ihr kleiner Steinmann werde Langweile empfinden (Seite 1,53). Ganz anders ist es gekommen. Man hat sie immer wieder, von allen möglichen, von den schwierigsten Seiten erstiegen — die ausgezeichneten jungen Triester Felskletterer Dr. Ba- siliseo, Dr. Pincherle, Slocovich, Spanyol, Wittine haben daran großen und führenden Anteil —, und auch ihre überaus kühnen, nadelscharf zulaufenden kleineren Vorklippen mußten sich dem begeisterten Ansturm der Jugend beugen. Es gibt in Triest, in Görz, in Pola, in Fiume kaum einen unternehmenden Bergjungen, der sich nicht zuerst an ihr erproben wollte. Ich mag ihnen allen noch so oft größere Ziele weisen, mit dem Auge ihres Herzens blicken sie unausgesetzt und wie gebannt auf die lichten, schlanken Pfeiler ihrer „Vergine" (Jungfrau). Vielleicht weil sie von den Erstersteigern diesen lockenden Namen erhalten hat, der an die strah¬ lende, große Eisschwester weit drüben in der Schweiz erinnert, vielleicht weil ihre Ersteigung kurz, die Klet¬ terei an ihr durchaus sehr steil und schneidig ist. Wer weiß es! Die „Vergine" hat schon so viele junge Berg¬ steiger sehr, sehr glücklich gemacht. Und dies ist vielleicht doch die Hauptsache. Sie bleibe der feine Kletterberg der frohen Jugend, der erste Prüfstein ihres Felsen¬ könnens. 303 In den östlichen Iuliern steht immer der Triglav im Vordergrund allen alpinen Interesses. Er ist der heilige Berg der Slovenen. So ist seine gewaltige Nordwand heute naturgemäß der Tummelplatz ihrer ernst strebenden, sehr gewandten Bergsteigerjugend. Zu den bekannten Aufstiegen wurden Varianten, ein neuer Kletterweg durch die Vratawände zum obersten Teil des „Bambergweges", gegen den „Flitscher Schnee" hin, eröffnet, der „Schwarze Graben" untersucht, die beiden Schenkel des großartigen Felsendreieckes in der Nordflanke, der „Nordostpfeiler" und die „Nordwest¬ kante", in wundervoller Kletterarbeit genommen. Im¬ mer war dabei der Wunsch führend, eine selbständige, neue Nordroute aufzufinden. Dies dürfte manchmal eher nationalen oder sportlichen als rein alpinen Be¬ weggründen entsprungen sein, denn die klassische Nord¬ wandroute ist mit jener Dr. Felix Königs 1906 wohl endgültig festgelegt. Trotzdem handelt es sich um Lei¬ stungen, die mit höchster Anerkennung genannt werden müssen und die sicherlich auch zur Detailkenntnis der Triglavnordwand ganz Außerordentliches beigetragen haben. Mojstrovka über die Nordwand, Rigliea aus dem Martuljekgraben, Prisank vom Mojstrovkapaß über den Westgrat, Suhi Plaz über die Nordwest¬ wand, Veliki Drazki Vrh aus der Kerma über die Nordwand wurden erstiegen. Das sind alles gro߬ zügige, zum Teil sehr ernste Unternehmungen gewesen. Auch die schwierige und mit Mühe auffindbare Horn- route auf den Ialoue zieht sehr an, obwohl die große, steile Nordgasse des Ialoueeouloirs knapp unter ihr viel klarer zur Spitze emporweist. Die Hornroute ist steinsicherer und offenbar mehr nach dem Wunsche und 309 Sinne des Felskletterers. Eine besondere Aufmerk¬ samkeit wenden die slavischen Bergsteiger mit sehr rich¬ tigem Verständnis dem bisher arg vernachlässigten, un¬ vergleichlich schonen Felsenzirkus des Martuljekgrabens zu. Dort lag und liegt noch viel große und lohnende Arbeit. Dort haben sie auch, 1926, ein ganz gewaltiges Problem mit kaum zu übertreffender Zähigkeit und Kühnheit gelöst: die Eroberung der vielbegehrten direk¬ ten Nordwand des Spik, die bisher allen Versuchen tüchtigster Bergsteiger stolz getrotzt hatte. Frau Marko Pibernik-Debelak als Vorankletiererin und Dr. Stanko Tominšek als treuer Fahrtgenosse ohne Furcht und Tadel sind die Helden dieser denkwürdigen Unterneh¬ mung. Man kann darüber im Iuniheft Nr. 1062, 1927, der „Österreichischen Alpenzeitung" nachlesen. So reizend und fast unschuldig dieser Bericht geschrie¬ ben ist, wird sich doch kaum ein Leser desselben eines ge¬ heimen Grauens ob solcher Verwegenheit erwehren können. Es scheint mir, daß man da wirklich bis an die äußersten Grenzen des Möglichen gegangen ist und jene des „Erlaubten" sicherlich überschritten hat. Aber der Erfolg ist so herrlich und so wohlverdient, daß selbst der wohlgesinnteste Warner sich davor betroffen und bewundernd verneigen muß. Die Verwegenheit dieser Unternehmung wird dadurch nicht gemildert, daß sie später, 1927, wiederholt worden ist. In den Westsulkern ist sehr große Neuarbeit ge¬ leistet worden, besonders in der Wischberg- und in der Montaschgruppe. Neue Hütten wurden gebaut, nütz¬ liche und notwendige, vielleicht auch überflüssige. Meine alten, halb in Vergessenheit geratenen Wischbergwege von Ost, Nord und West wurden wieder ausgegraben. 310 Jener durch die Nordostschlucht ist ob seiner wunder¬ schönen, durchaus nicht übermäßig schwierigen Kletterei gewiß der beliebteste geworden. Bis 1930 hat man sich vergeblich angestrengt, den von mir angeregten Ringweg um das gesamte Wisch¬ bergmassiv festzulegen (Seite 126). Es stand schon sehr in Frage, ob dies überhaupt noch gelingen werde, denn der sonst so bänderreiche Wischberg schien diese Möglichkeit doch nicht vorgesehen zu haben. Oder rich¬ tiger: die Bänder sind schon vorhanden, aber sie sind an gewissen Stellen verworfen und unterbrochen, und unüberschreitbare Klüfte und Überhänge klaffen zwi¬ schen dem diesseitigen Ende und der nahen jenseitigen Fortsetzung. Über gewaltigen Abgründen. Comici,Wit- tine, Dougan hatten schon vergeblich „spekuliert" und ohne Erfolg sich eingesetzt. Da kam der verwegene Co- miei 1.930 wieder, und am 1. September gelang ihm mit Mario Cesca der große Wurf. Die Umkreisung wurde von der Nordostschlucht begonnen und endete ebendort. Somit An- und Abstieg durch diese. Sie vollzieht sich mit einigen Schwankungen auf und ab von vielleicht dreißig, einmal an der Ostseite, über der Kaltwasserscharte, von fünfzig Metern abwärts, im¬ mer in der ungefähren Höhe von 2200 Metern. Die eindrucksvollste Stelle befindet sich zwischen Nordost¬ schlucht und Nordostkante des Wischbergs, wo die „Götterbänder", in horizontalen, unbenützbaren Spal¬ ten und Ritzen auslaufend, sich in roten Überhängen verlieren und jenseits, zwanzig Meter tiefer unten, wie¬ der einsetzen. Hier hat sich das kühne Paar abgeseilt und durch die leere Luft hinüberpendeln lassen. Ein aufregender Vorgang! In der düsteren Nordwand des 311 Wischbergs ist das Band viermal unterbrochen, die drei letzten dieser Bruchstellen wurden gleichfalls durch Ab¬ seilen, Hinüberpendeln und Wiederaufklettern zu ihm bewältigt. Jedesmal verengt es sich vor den Unter¬ brechungen so sehr, und es wird vom Überhang so tief überwölbt, daß man kriechend vordringen muß. Hun¬ dert Meter vor der Mosesscharte bricht es abermals in roten Wänden der Westmauer ab, doch konnte die Stelle umklettert werden, was allerdings ob des brü¬ chigen Gesteins sehr schwierig war. Es dürfte damals Comiei noch nicht bekannt ge¬ wesen sein, daß vor ihm ein klassischer Kenner der Wischbergbänder, der heutige Pater Hans Klug, diese sehr heikle Stelle in gleicher Weise bewältigt hat. Ohne Zweifel muß dieser bergbegeisterte und bergfefte Seel¬ sorger in gewissem Sinne als der Vorläufer in der Lo¬ sung der gesamten Ringbandfrage angesehen werden. Im Augusthefte des „Bergsteiger" 1.930 hat er sein über¬ aus umfassendes Wissen von den Bändern des Wisch¬ bergs in einer sehr anmutenden Arbeit niedergelegt. Es vollzieht sich auch in den Bergen nichts sprungweise, sondern alles immer in stetiger Entwickelung. Was Wundervolles unsere herrliche Jugend auch machen möge, fußt sie doch immer, oft unbewußt, auf unseren Schultern. Doch wird dadurch der Glanz ihrer Erfolge sicherlich nicht im mindesten beeinträchtigt. Mir ist von früheren Zeiten her bekannt gewesen, daß hier die flüch¬ tigen Gemsen nicht durchkommen. Die Mosesscharte ist erreicht. Es folgt ein entzük- kender Gang durch die Hellen Südmauern des Wisch¬ bergs, erst über weiche, grüne Gamsangerln, an einer wunderschönen, natürlichen Brücke vorbei, dann, ober- 312 halb des Tunnels im Südwege dahinführend, durch die überaus malerischen, wilden Schluchten des Gams¬ mutterturmes und der Innominata, unter gewaltigen, rotschwarzen Mauern hindurch. Da meint man von ferne immer, das Band werde nun zu Ende sein. Aber immer wieder führt es um Kanten und Ecken, um Säu¬ len und Bollwerke unbeirrt weiter, weiter an die Ost¬ seite des Massivs und zum Beginn der eigentlichen „Götterbänder" der Kaltwasserseite. In der Nord¬ ostschlucht schließt sich -er wunderbare und wunder¬ reiche Zauberring! Die Auffindung dieses „Ringbandweges" reiht sich ebenbürtig meiner Auffindung der „Götterbänder" in den Nordwänden des Gamsmutterzuges an und er¬ gänzt dieselbe in einer Weise, die ich nur in meinen kühnsten Träumen vorausahnen konnte. Sie sagt mir allerdings auch zu meiner nicht kleinen Genugtuung, daß ich nicht bloß mit meiner Phantasie gearbeitet, sondern auch mit einer gewissen Klarheit oder minde¬ stens doch Folgerichtigkeit die Bestimmung und die in ihrer Anordnung zu Tage tretenden Absichten der obe¬ ren Wischbergbänder erkannt habe. In seinem jetzigen Zustande wird dieser Weg nur einer ganz kleinen An¬ zahl Überkühner offen stehen, und gewiß liegt es mir ferne, eine Wiederholung der Umkreisung wünschen oder gar anraten zu wollen. Ganz im Gegenteil möchte ich mich mit hochgehobener Hand, als ernster Warner abwehrend, an ihren Eingang stellen. Man weiß schon zur Genüge, daß ich stets für Einhaltung eines weisen Maßes eingetreten bin, und dabei will und muß ich auch unverrückt verbleiben. Aber welcher Bergsteiger, -em das richtige Herz für die Geheimnisse des Hoch- 313 gebirges in der Brust schlägt, wird sich des Zaubers erwehren können, -er über derartigen Wundern in der Architektonik der Felsenwelt und über der verwegenen Tat der Wagemutigen liegt, die mit wenn auch über¬ großem Einsatz den verhüllenden Schleier erstmals zur Seite schoben? Kaltwasser Gamsmutter, Innominata, Gamsmutterturm, Hohe Gamsmutter, Wischberg, Spranjeturm sind von diesem Ringweg umschlossen. Er mißt mit seinem Bändersystem, wenn ich richtig messe, beinahe fünf Kilometer. Das sind also die Bän¬ der der Iulischen Alpen. Zielbewußt und nach festen, weitschauenden Plänen ziehen sie durch die Wände. Habe ich nicht allen Grund, sie zu preisen? Und habe ich weit gefehlt, als ich den stolzen Namen „Götter- bänder" prägte? Die großartige Gratwanderung vom Wischberg zum Montasch (Seite 201) ist eines der gewaltigsten Pro¬ bleme in den Westjuliern gewesen. Ich hatte vorgeschla¬ gen, sie auf mehrere Tage zu verteilen und die Biwak¬ stellen durch einen Träger mit Proviant, Wasser und Decken versorgen zu lassen. Dies ist heute nicht für jeden eine mögliche oder gar einfache Sache. Aber so hätte ich es gemacht. Wittine und Spanyol haben, vom Wischberg ausgehend, einen energischen Vorstoß ver¬ sucht, indem sie jedesmal am Abend, anstatt zu biwa¬ kieren, nach Nevea ab- und am Morgen wieder zur Grathöhe emporstiegen. Sie wollten sich durchaus an die Gratkante halten. Doch wurde damit zu viel Zeit und Kraft ausgegeben, das Unternehmen schließlich ab¬ gebrochen. Immerhin sind bei diesem Versuche einige noch unberührte Gratstrecken in teilweise sehr schwie¬ riger Arbeit begangen worden. So Las scharfe Grat- 314 stück von der Forea del Palone bis zum östlichen Vor¬ zacken des Modeön del Montasio. Schließlich hat Adolf Deye-München, 1.929, mit tüchtigen, jugendlichen Ge¬ nossen die ganze, weite Strecke an einem Tage durch¬ messen. Da es ein gewitterhafter war, der sie wieder¬ holt zu längerem Verweilen unter Überhänge zwang, ist ihre Raschheit geradezu fabelhaft zu nennen. Die Gratkante selbst wurde allerdings nicht überall ver¬ folgt, vielmehr zu kleineren Teilen auf den Bändern der Südseite umgangen, doch sind sämtliche Spitzen, die aus dem Riesengrate ragen, ohne Ausnahme über¬ schritten worden. Damit kann man dieses Problem als endgültig und einwandfrei gelöst betrachten. An der Lösung der letzten großen Probleme, die ich in den Westjuliern übrig gelassen habe — man kann sich wohl denken, daß es lauter sehr schwierige Sachen sind —, arbeiten Dougan und Hesse (Triest). Sie gehen viel führerlos, oft auch mit dem braven Berg¬ führer Thomas Mikosch (Wolfsbach) oder mit dem Gemsjäger Pezzana aus dem Raccolanatal, einem äußerst kühnen Kletterer. Die tapfere Frau Lea Dou¬ gan ist häufig ihr „Passagier". Wie ein leichtes Vo- gerl nimmt sie, schlank und fein, die ragenden Wände. Meine Freunde nennen mich manchmal den König der Iulischen Alpen. Ich selbst fühle mich allerdings als deren treuester Diener und Untertan. So lange ich lebe, will ich ihre Wunder preisen. Wäre ich der König der Iulier, so müßte Dougan deren Kronprinz heißen. Vladimir Dougan, der treue Mann, der Träger mei¬ ner alten Bergfahne, der einfach, still und bescheiden an meiner Seite durch sein Leben der Arbeit schreitet, den Blick immer auf die Berge gerichtet. Jeder Atem- 315 zug, jeder Herzschlag in ihm bedeuten: Berge! Ihm gleichwertig sein glänzender Kamerad Mert Hesse. Wo sie erscheinen, folgen ihnen aller Augen, aller Vertrauen, aller gute Wünsche. Es ist ein herrliches Paar, die Freude meiner alten Bergtage. Es zieht aus, froh und zielbewußt, schaut, prüft und siegt. In wundervollem Gleichmaß von Kühnheit, Vorsicht und Kraft setzt es meine Erschließungsarbeit in den Iulischen Alpen glor¬ reich fort. Mit Rührung und Stolz folgt ihm mein Herz auf den schwierigen Wegen seiner Erfolge. Und was für Erfolge! Nach ungezählten abgeschlagenen Ver¬ suchen von oben und von unten, nach einer ganzen Reihe guter und schlechter Biwaks haben sie erst, absteigend, die furchtbaren Nordmauern des Monte Cimone be¬ zwungen (Seite 140, Anmerkung 98). Dann meinen unvollendet gebliebenen Nordanftieg auf den Foronon im großen Balitzenhauptkamm bis zur Spitze durch¬ geführt. Auch das nicht auf den ersten Ansturm, erst nach wiederholten, von widrigen Verhältnissen und der Stimme der Vernunft gebotenen Rückzügen. Im August 1927 erkletterten sie erstmals aus der Špranje den gro¬ ßen Zwillingsbruder des Foronon, denModeöndelBu- inz, in sehr schwierigem Ringen über seine plattengepan¬ zerte Nordwand und bekamen dadurch den Schlüssel zu den Geheimnissen der Forca del Val (Seiten 17 9 -180) in die Hände, die sie schließlich, acht Tage darauf, vom Modeönanstieg nach links abbiegend, gleichfalls erst¬ mals überschritten. Bei dieser letzten Tour sind zwei erstklassige jugoslavische Bergsteiger: Dr. Tominšek von der Nordwand des Spik und Josip Lop (Ljubl¬ jana) ihre lieben Kameraden gewesen. Aber all das haben sie in den Schatten gestellt durch ihre erste Über- 316 schreitung der Forea del Palone (Seiten 179—180, Anmerkung 160). Das ist das schönste, das stolzeste Problem in den Iulischen Alpen gewesen. Nach sieben Versuchen! Erst fanden sie, 1924, schon über den letz¬ ten von mir erreichten Stellen, knapp unterhalb der Schartenhöhe, ein von links hereinziehendes, unteres, gewaltig ausgesetztes Band, das offenbar ins Ziel führt. Aber dieses Band ist nur mit Zuhilfenahme künstlicher Mittel zu überschreiten, was nicht nach ihrem Geschmacke war. Denn es sind echte Bergsteiger, aus ehrfürchtiger Schule. So ließen sie die Sache eine Zeit¬ lang ruhen. Dann entdeckten sie, 1927, unermüdlich über fürchterlichen Abgründen suchend, ein oberes, bes¬ seres Band, das etwas oberhalb der Scharte ausmün¬ det. So ist die wundervolle Forea del Palone gefallen! Wie habe ich mich gefreut, als Dougan mir glückstrah¬ lend die Nachricht brachte. Daß Hesse und Niese schon vorher die Forea dei Disteis aus der Clapadorie nach Nevea überschritten haben, ist in meinem Bergbuche erzählt (Seite 189, Anmerkung 179). Zu seinem be¬ sonderen Gebiet hat sich Dougan den westlichen Teil der Montaschgruppe ausgewählt, wo Ciue di Valisetta und Ciastellat über Schluchten von fabelhafter Größe und Wildheit stehen (Seite 202). Da wird er noch manches erkunden und auf rauhen Pfaden viel Berg¬ freude erleben. Meine drei Montaschwege aus der Seissera: Brdo- grat, Nordwestschulter, Mittelgrat, wurden wieder¬ holt. Am häufigsten dieser letzt« (Seiten 184 bis 187), der durch die Steiganlage leider so arg verdorben wor¬ den ist. Mein Gott, daß man solche Felsenherrlichkeit so stören mußte! Aber eines war nicht mit Stiften zu 317 bespicken: die Randkluft beim Einstieg. Die klafft manchmal im Spätsommer so herzhaft auf, daß dann wirkliche Bergsteiger hingehören. Auch der einzigschöne Hornanstieg (Seiten 190 bis 192) wurde, 1927 und später, noch mehrere Male gemacht. Auf meiner Va¬ riante, von der Montaschscharte aus. Die begeisterte kleine Schar junger Italiener, der dies zuerst gelang, war davon ganz entzückt. Besonders von den kristall¬ klaren, kleinen, tiefen Wasserbassins in der letzten, schwierigen Steilschlucht, die, eingestreut wie blaue Edel¬ steine, in dieser großartigen, weißstrahlenden Felsen¬ einsamkeit mild erglänzen. Zu meinem sehr schwierigen Anstieg von der Forca bei Disteis (Seite 193) wurde, 1927, eine leichter« Variante gefunden. Sie dürfte wohl mit dem Weg des alten Piussi aus längst ver¬ gangener Zeit identisch sein. Piussi nannte ihn: „per lis Napis." Eine der für mich verblüffendsten klettertechnischen Leistungen in den Julischen Alpen ist aber doch die Er¬ reichung der „Götterbänder" direkt aus der Saifnitzer Karniea. Beidseits des Kleinspitz, der „Innominata", fahren zwei wilde, enge, schwarze Schluchten fast senk¬ recht nordwärts zur Tiefe. Man sieht sie deutlich von Wolfsbach. Zwischen den Schluchten schwingt sich ein schmaler Felspfeiler, leicht westwärts geneigt, schwin¬ delnd steil empor. Hoch oben schlingt sich das „Götter¬ band" um seine Stirne. In ihrer Mitte der sperrende Block, knapp darüber der blanke Schneeschild und das schlanke Gipfeldreieck der Innominata. Über diesen Pfeiler haben Comici und Razza (Triest) nach eigenen Plänen fein und sicher ihre überaus kühne Route ge¬ legt. Ein mißlungener Versuch. Das zweitemal, am 318 17. August 1927, erreichten sie das „Götterband" zur Rechten des Blockes, verfolgten es, erstiegen den Wisch¬ berg und kamen noch am Abend durch die Nordost- schlucht nach Wolfsbach herab. Eine Meisterleistung! Forea Vandul Schon Hermann Findenegg erwähnt 1879 das furchtbare Felsentor, das sich zwischen Zabus und Monte Cimone gegen das Dognatal öffnet. „Nun scheint eine Wand nach Westen hin den Weg zu sperren. Rechts davon bietet sich ein Schaustück unserer Alpen den Blicken dar, das Höllentor, so nenne ich es, da wir von den Italienern keinen Namen erfragm konnten, und da dieser hier wirklich passend erscheint. Zwei fast genau senkrechte Felswände von tausend Fuß Höhe bil¬ den ein weites Tor; wie die Pforte eines Riesen¬ tempels, von der das krönende Gewölbe schon gestürzt, erscheint der wilde Bau. Tritt man an die Schwelle, die überhängend abbricht, so blickt das Auge in eine grause Schlucht, die jäh zum Dognagraben abfällt. So müßte der Eingang zur Hölle aussehen. Am Rückweg rollten wir hier Steine ab, was an diesem Ort wohl erlaubt schien; in mächtigen Sätzen, mit donnerstarkem Gekrach flogen sie hinab und entschwanden den Blicken; doch lange, lange nachhallendes Rauschen, dem Bran¬ den der Meeresflut ähnlich, kündete uns, wie unendlich tief die Hölle sei." Es gehören gute Nerven dazu, um da frei hinab¬ zuschauen, noch stärkere, um den Plan zu fassen, in die¬ sen Höllenschlund hinabzusteigen. Erste Überschreitung: 319 Hesse, Dougan, Gemsjäger Pezzana. Am 5. August 1.928. Wie immer ohne künstliche Hilfsmittel. Die Kletterei ist sehr schwierig. Eine überaus steile, ganz glatte Platte, die an ihrem unteren Rande knapp über gewaltigen Abgründen gequert werden muß, zwang die Gesellschaft, die Kletterschuhe zurückzulassen und bar¬ füßig zu klettern. Wie ich es vor Bekanntwerden der Kletterschuhe tat. So haftete sie an dieser außerordent¬ lich verantwortungsvollen Stelle sicherer. Als das Gemssteiglein am Fuße des Dognaabsturzes erreicht war, stieg die Gesellschaft auf dem gleichen Wege wie¬ der zu den Kletterschuhen und zur Schartenhöhe empor, dann in die Raeeolana ab, vollführte somit die Über¬ schreitung zweimal am gleichen Tage, erst Richtung Süd-Nord, dann Richtung Nord-Süd. Wenn ich Hesse und Dougan um etwas beneiden darf, so tue ich es um Forca del Palone, Forea del Val und um Forea Van- dul. Denn diese drei wundervollen und höchst eigen¬ artigen Scharten ragten, vom Nimbus der Unüber- windlichkeit umgeben, aus dem Glanze alter, klassischer Iulierzeiten erinnerungsfarbig und in legendärer Be¬ deutung herüber. Kaltwasser-Gam Smutter (2503 m) l. Ersteigung von Norden 's Ein ungeheurer Kamin ist in die scheinbar senkrechte Nordwand eingeschnitten. Seine Höhe wird mit vier¬ hundert Meter angegeben. Darüber schwarze Über¬ hänge. Man sieht alles deutlich von Valbruna (Wolfs- 320 bach) aus. Erst versuchte Emilio Comiei (Triest), dann der Udineser Spinotti mit einem jungen Gefährten. Diese zweite Partie kam hoch im Kamin in die Nacht und in schweren Wettersturz. Ein sehr böses Biwak im Kamin war die Folge, das die Kräfte Spinottis zermürbte. Wohl konnte er am nächsten Morgen mit Einsatz einer bewunderungswürdigen Tüchtigkeit und Tapferkeit seinen Begleiter und sich selbst aus der Wand retten, aber auf den Schneefeldern am Fuße derselben starb er an Erschöpfung. Als dritte Partie versuchte ein erstklassiges slovenisches Bergsteigerpaar. Es kam so hoch wie Spinotti, bis unter die schwarzen Überhänge, die ihm nicht überkletterbar dünkten, geriet gleichfalls in Wettersturz und mußte eine schreckensvolle Nacht im Kamin verbringen. Der ganze Berg habe von den stür¬ zenden Wassern und Steinen gebraust, gewaltige Was¬ serfälle donnerten durch die Riesenkamine herab. Die Bergsteiger waren in sehr großer Gefahr, konnten sich aber am nächsten Tage durch eigene Kraft und Umsicht retten. Und nochmals erschien schließlich der verwegene Comiei, diesmal mit Giordano Bruno Fabian (Triest), und führte am 8. August 1928 die Ersteigung glück¬ lich durch. Sie überwanden die schwarzen, fünfzig Me¬ ter hohen Überhänge von rechts her, stiegen dann durch einen 100-Meter-Kamin zu den „Götterbändern" auf. Kühnere Bergsteiger haben die „Götterbänder" nicht gesehen! Von hier zur Spitze steil, aber leicht und be¬ reits bekannt. Es ist eine überaus großartige, äußerst schwierige Tour gewesen, ein wirklich glorreicher, wohl¬ verdienter Erfolg. 21 321 Monte Limone, Limone del Montasio (2Z8O m) Ihrem ersten Abstieg von der Spitze des Monte Li¬ mone über die in großartigen, senkrechten Pfeilern auf¬ gebaute Nordwand in das Dognatal ließen Hesse, Dou¬ gan und Pezzana, diesmal in Begleitung von Frau Lea Dougan und von Dr. Andreas Pollitzer (Triest), am 30. Oktober 1927 die erste Ersteigung von dieser Seite folgen. Es gelang der Gesellschaft, an einigen Stellen des obersten Teiles leichtere Durchstiege zu finden, doch bleibt dieser Nordweg immer eine ernste, überaus steile und sehr schwierige Unternehmung. Brdoscharte (etwa 2450 m) Von dieser Scharte, die zwischen dem Modeön del Montasio und dem Vert Montasio eingeschnitten ist, führt eine außerordentlich steile Rinne zur Cianerea, nach Nordost, herunter. Die Überschreitung der Scharte galt bei den Einheimischen, auch bei Oitzinger und mir, als unmöglich. Allerdings hatten wir an Sommers¬ zeiten gedacht und nicht in Rechnung gezogen, daß Win¬ ter- und Frühlingsschnee hoch emporreichende Brücken zu schlagen vermag. Auch dürften wir die Steilheit der Rinne etwas überschätzt haben, wie das schon vor¬ kommen kann, wenn man steile Stellen nur von gegen¬ über und nicht auch aus der Flanke prüft. Oitzinger hatte sich einmal auf der Suche nach verlorenen Scha¬ fen in der Rinne hoch emporgewagt. Als er aber zu- 322 rücksteigen wollte, war ihm der Rinnenschnee so unmög¬ lich steil erschienen, daß er es vorzog, nach rechts hin¬ aus die Felsen des Brdogrates zu erklettern. Keine leichte Sache, die ihm, wie er mir wiederholt erzählte, nur nach Anrufung aller Heiligen und mit deren gnä¬ digem Beistand gelungen war. Einige Stellen seien grauenerregend gewesen und hätten ihm einen der¬ artigen Schrecken eingejagt, „daß", wie er sich dra¬ stisch auszudrücken pflegte, „das Fleisch an die Baner nicht mehr halten wollte." Diese Rinne war natürlich etwas für unsere unter¬ nehmende Jugend. Ich riet vergeblich ab, wegen der übergroßen Steingefahr. Doch wurde richtigerweise der Frühsommer, der 10. Juni 1928, zur Tour gewählt. Die Gesellschaft stellte sich, nach vorausgegangener dreimaliger Rekognoszierung durch Riccardo Deffar (Triest), aus diesem, Comici und Ingenieur Giorgio Brunner zusammen. Die Rinne beginnt bei ungefähr 1600 Meter und zieht aus einer breiteren Lawinenschneebasis schmal, fein und schlank in steilster und geradester Linie bis zur Schartenhöhe (2450 Meter) empor. Der in ihrer Sohle noch sehr reichlich liegende, ausgezeichnet be¬ schaffene Schnee ließ die Tour gelingen. Die Schwie¬ rigkeiten waren hinter den hochgespannten Erwartun¬ gen zurückgeblieben und beschränkten sich in der Haupt¬ sache auf einen Schrund und einen vereisten Wand- absatz darüber in halber Höhe der Rinne. Steine sind gerade genügend gekommen. Geschehen ist, Gott sei Dank, nichts. Es wäre gut gewesen, hätte man die Rinne im ersten Morgengrauen angepackt, bevor die Morgensonne auf die Wände fiel. Aus der Brdoscharte 323 erstieg die Gesellschaft den Vert und, den Ostgrat ver¬ folgend, den Iöf selbst. Das ist also auch ein etwas ungewöhnlicher neuer Weg auf den Iöf del Montasio. Im Hochsommer, bei ausgeaperter Rinne, wenn da die ausgewaschenen gelben Platten zutage liegen, wird an diese Tour gar nicht zu denken sein. Gewiß ein glän¬ zender Erfolg entschlossenen und jugendlich verwegenen Anpackens. Ich bin bemüht, soweit es mir zusteht, alle Verwegenheit zu mäßigen. Aber sie ist wunder¬ voll, diese Jugend, in ihrer Kühnheit, ihrer fabelhaften Klettergewandtheit und in ihrer lieben Bescheidenheit! Monte Cimone (2380 m) I. Ersteigung über die direkte Südwand, die sogenannte „Direttissima S" Am 1,5. August 1928. Damit haben Hesse, Dou¬ gan und Pezzana ein würdiges Seitenstück zu ihrer Cimone-Nordersteigung erstellt. Von Saletto im Rac- eolanatal bis zur Spitze wurden zehn Stunden be¬ nötigt. Höhenunterschied 1833 Meter. Die Anstiegs¬ linie ist auf der Karte Lechner, 1:50000, mit dem Graben des Rio del Pliz und mit der Einzeichnung der Punta Ciavalöt gegeben. Der dort angedeutete Steig ist stark verwachsen und kaum mehr auffindbar. Die Tour ist sehr schwierig, besonders kompliziert und ganz außerordentlich ausgesetzt. Das sind natürlich Touren im Dienste der Detailkenntnis der Berge. Einen prak¬ tischen Zweck haben sie nicht. Der Monte Cimone ist ein wirklicher Aussichtsberg — unvergleichlich der Blick 324 von seiner Spitze hinüber auf den gewaltigen Turm¬ bau des Montasch — und hat seine leicht begehbaren Zugänge. Aber in ihrem glänzenden Bergsteigerleben werden Hesse und Dougan ihre Tage schneidigster Fel¬ senarbeit am Monte Cimone und die Fabelromantik ihrer wilden Biwaknächte dazwischen gewißlich nicht missen wollen! Modeön delMontasio (2464 m) I. Ersteigung über die Nordwand Am 26. August 4928. Im Erkennen der Auf¬ stiegsmöglichkeit und im Überwinden gehäufter äußer¬ ster Felsenschwierigkeiten wohl das Meisterstück Hes¬ ses und Dougans. Mit Gemsjäger Pezzana. Einstieg knapp links neben dem Beginn der Brdorinne über einem turmförmigen Felssporn, der sehr schwierig, wie¬ derholt mit doppeltem Steigbaum, genommen wurde. Vom begrünten Kopf des Turmes links durch eine Steilrinne zum ersten großen Band. Die Wand dar¬ über wird von links nach rechts zum zweiten Band um¬ klettert, dieses nach rechts verfolgt, bis sich fünfzig Me¬ ter vor der Rinne ein vertikaler Einriß öffnet. In diesem befinden sich die bösesten Stellen: locker be¬ mooste, äußerst brüchige Felsen. Über dem Einriß das dritte Band, von einer weiteren Felsftufe überhöht. Dann beginnt die Wand, sich zurückzuneigen. Das letzte Stück zum Gipfelgrat und nach rechts zur Spitze ist leicht. Im kleinen Steinmann fand die Gesellschaft eine einzige Gipfelkarte: die meine. Fast ein Viertel¬ jahrhundert hat sie auf meine braven Jungen geharrt. 325 Die wird sich gefreut haben! So einsam ist es noch in den Iulischen Alpen geblieben. Und so hat auf wilder Höhe in feiner Fügung alte Zeit der jungen, neuen die Hand gereicht! Neben meinem Steinmann wurde eine kleine „Steinfrau" gebaut. „Zu zweit wartet es sich leichter", dachten wohl ihre siegreichen Erbauer. Monte Sarte (2324 Meter, Kaningruppe) direkt über den Nordgrat (Dougan mit Pezzana und Frau Lea), die erste winterliche Ersteigung der Kalt - wasser Gamsmutter (2503 Meter) durch Dou¬ gan und Deffar, 27. Februar 1,928, dann in seinem Spezialgebiet, der westlichsten Montafchgruppe, Dou¬ gans Ersteigung des Ciastellat und Les Iöf di Miez dl daneben vervollständigen die Liste neuer Sa¬ chen. Das ist alles zusammen wohl sehr schöne Arbeit. Ich habe nicht gewußt, daß ich so viel zurückgelasseu habe, aber es freut mich für die liebe Jugend. Auch steckt sich diese, wie man sieht, hell und bergfroh, im¬ mer schwierigere Ziele. Des sehr Ernsten und Roman¬ haften ist die obige Chronik nicht bar. Auch Comieis Erkletterung der Nordostkante der Kaltwasser Gamsmutter, 4929, dann seine Ersterstei¬ gungen des Campanile degli Orsi und des Campanile degli Altari, gleichfalls 4929, in den „Balitzenwän- den", Deyes Erfolge, 4929, an der Nordostkante der Hohen Gamsmutter, am Drachengrat und am Nord¬ turm des Montasch, dessen zweite Ersteigung und erste Überschreitung ihm von der Nordwestschulter des Mon¬ tasch aus glückte, Dougans neuer Nordweg auf die Korspitze, 4930, müssen an dieser Stelle in hohen Ehren genannt sein. Das nenne ich systematisches Ar¬ beiten! Und auch mein im Bergbuche (Seite 479) aus- 326 gesprochener Wunsch ist nun erfüllt, die bergsteigende Jugend möge Oitzinger, Pesamosea und mir in die wilde Fabelwelt der „Balitzenwände" folgen. Alle ganz großen Probleme darinnen sind nun gelöst. Aber es ist noch genug des Neuen übrig geblieben, noch über¬ genug, um junge Bergsteigerherzen höher schlagen zu lassen. Man komme, schaue und suche es selbst. Nur das sind wirklich eigene erste Erfolge, die aus mühsam selbsterworbenem Wissen und Erkennen hervorwachsen. Und endlich ist auch das letzte, das ernsteste Frage¬ zeichen gelöscht worden, das ich in den Wänden der Westjulier zurückgelassen habe. Das große Geheim¬ nis der Ersteigungsmöglichkeit des Montasch aus den innersten Winkeln der Clapadorie, der wildesten Iu- lierschlucht, über seine zwischen West- und Südwestgrat abstürzende Westmauer, seine „Hinteren Wände". Ich habe auf Seiten 188 und 189 meines Bergbuches erzählt, wie mir selbst dieser Erfolg versagt geblieben ist. Doch bin ich nie müde geworden, immer und immer wieder auf diese herrliche Aufgabe hinzuweisen. Man weiß es in Bergsteigerkreisen. Riccardo Wittine hat, zäh, tapfer und felsengewandt, dazu den Mann gestellt. Meinm Plänen gemäß nahm er ein erstes Mal mit Spanyol Richtung zum unteren Ende der großen, leicht begrünten, offenen Trichter, die von den Westbändern steil herabhängen. Es mußte mit sehr großer Stein¬ gefahr gerechnet werden. Die jungen Bergsteiger kamen sehr hoch. Aber ein uneinnehmbarer, überhängender, gelber Wandwulst knapp unterhalb der Trichtermün¬ dungen hat sie immer stärker nach links abgedrängt, bis sie schließlich in dm alten Dognaweg Brazzäs, nahe am Belvedere, einlmken mußten. Ich habe schon diesen 327 ersten Versuch sehr hoch eingeschätzt und begann auf das Gelingen zu hoffen. Denn hier irgendwo soll der Sage nach der berühmte, alte Giuseppe Pesamosea mit dem wilden Bergherzen einen abenteuerlichen Abstieg glücklich durchgesetzt haben (Seite 189). Auch ein zwei¬ ter Versuch der gleichen Mannschaft mißlang. Da hat eine ungeheure, märchenhaft wilde Schlucht zwischen himmelhohen Mauern die Beiden mit übermächtigen Felsenklammern gepackt und nach rechts hin bis auf die Forea bei Disteis gezwungen. Schon begann sich ein Ring von Stürmern immer enger zusammenzuschlie¬ ßen, denen das letzte Rätsel des Königs von Dogna im kühnen Sinne lag, Dougan erschaute berggeübtm Blickes von der Spitze des Jöf di Miez die schwache Stelle in der Wand und hielt damit den Schlüssel in seinen starken Händen, ließ aber selbstverständlich den Freund vor. Zum dritten Male setzte Wittine, dies¬ mal mit Dr. Basilisco, an und siegte. Er hat sich seinen schönen Sieg wohl verdient. Seine Anftiegs- route zweigt oberhalb des „Pas ciatif" vom Dogna- weg ab, führt in einer Diagonale über nicht allzuschwie¬ riges Terrain immer nach rechts zu einem letzten, sehr schlechten, grün ausgekleideten, nassen Kamin und durch diesen in die Mündung des großen Trichters der West¬ seite. Man wird vielleicht Varianten und auch direktere Zugänge zum grünen Kamin finden, aber die klassische Route ist nun festgelegt. Ich hatte meine Freude. Denn von allen großen Problemen der Iulischen Alpen ist mir dieses am meisten am Herzen gelegen! Zu den Sieben Seen des Triglav bin ich nicht mehr gekommen. Man wird aus meinem Buche bemerkt ha¬ ben, daß meine Seele an ihnen hängt. Sie liegen hoch 328 und sind weit von mir. Der Anmarsch zu ihnen ist nicht mehr so einfach, wie er es einstens war. Auch bin ich „worden so alt". Ich fürchte, ich sehe sie nicht wieder. Aber in meinen Träumen wandle ich oft zu ihnen em¬ por. Im ersten Morgengrauen ersteige ich den Komar- carand, durchschreite dann die Aconithalden unterhalb -er weißen Felsen der Bjela Skala, halte Rast unter den alten, breiten Wetterfichten, den Rücken am Stamm, von den tief zu Boden niederhängenden Ästen wohl und sicher geborgen, wie in einer dämmerigen, heimeligen Hütte. Wie es einstens war, da ich die Sea- biosa Trenta suchte. Dann liege ich an den einsamen Seegestaden und höre der wundervollen Stille zu, die über der Landschaft liegt. So ungeheuer wirkt diese Stille, daß man manchmal meint, als springe plötzlich ein gewaltiges Tosen und Dröhnen auf. Man horcht, unsicher und erschreckt. Aber es ist nur das Pulsieren und Drängen und Pochen des eigenen Herzblutes. Und dieses feine Klingen und Singen, das jetzt durch die Lüfte zieht? Was ist es? O, irgend eine Sage, ein Wunsch, ein Lied aus längst versunkener alter Zeit! Wie ist es so schön dort oben! Wenn der Frühling auf die Berge steigt, hallen auch die Täler der Iulischen Alpen alle von den stürzenden und vorstürmenden Schmelzwassern. Aber gegen den Sommer zu werden sie stiller und stiller. Einige ganz still. Wie lautlos und feierlich liegen sie dann La. So die wundervoll heimliche, fichtendunkle Kerma, die vom strahlenden Szepter -es Ialoue beherrschte, ein¬ same Planica. Die Wasser haben sich tief unter den weißflimmernden Schuttströmen der Torrentebelten vergraben. Vrata, Pisenca, Kaltwassergraben, Seis- 329 seratal ziehen unter dem weichen Flüstern und Raunen ihrer emsig talabeilenden Gewässer durch die starke Zeit des Hochsommers und die glühende Farbenpracht des Herbstes. Durch die in ewig junger Schönheit pran¬ gende Wochein gleiten in immer reicher Fülle, singend und musizierend, die zur kristallhellen Savica vereinig¬ ten, felsgeborenen Triglavwasser. Durch das Trenta- tal aber unter den West- und Südmauern der Iulier braust jahraus, jahrein, aus ungezählten Bergjahr- hunderten herüber, von bald auf-, bald abschwellenden Fabelregistern getragen, hinreißend, tief erschütternd und wundersam beglückend, der alte, urgewaltige Or- gelton. Wie aus der sehnenden Erwartung meiner Frühlingszeit, so horcht mein Herz heute noch, unter dem Winterschnee, dahin! Sei noch einmal gegrüßt, bergumschlossenes Trentatal! Seid gegrüßt, stolze, wei¬ ße Burgen im Kreise, mit den Namen von rauhem Klange zwar, doch von mächtigem, altem Adel! Sei gegrüßt, grüner, rauschender Isonzo! Die Leser meines Buches werden sich erinnern, daß die Scabiosa Trenta nichts anderes ist als eine alpin angepaßte Form der Scabiosa leueantha. Im Hause Bois de Chesne ist in einer glücklichen Stunde der feine Gedanke aufgeblitzt, ob es nicht möglich sein könnte, durch Anpflanzung der Scabiosa leueantha im Tal der Trenta die Scabiosa Trenta wiedererstehen zu las¬ sen. Der Weg dazu schien uns klar gegeben. Schon sind Tausende von Samen der leueantha, auch mühe¬ voll aus dem Karstboden von Duino ausgegrabene Wurzelexemplare, in die Trenta gebracht und dort ein¬ gepflanzt worden. Die große Mutter Natur wird uns mit ihren wunderbar gefügten Gesetzen der „Anpas- 330 sung" dabei helfen. Aber noch viel mehr! Hand in Hand damit geht ein entzückend schöner Plan Albert Bois de Chesnes mit entschiedenen Schritten seiner Verwirklichung entgegen. Er hat bei Santa Maria im oberen Trentatal, nahe dem „Hause -er weichen Herzen", nach allen wohlerwogenen Erfahrungen der Beobachtung und nach allen Regeln der Wissenschaft einen großangelegten botanischen Alpengarten begrün¬ det, der die gesamte Flora der Iulischen Alpen ver¬ einigen soll. Was die Alten nicht mehr fertig bringen, das sollen und werden die lieben, gleichgesinnten und gleichgestimmten Jungen im Hause zu Ende führen. Aber Albert arbeitet schon daran mit der ihm eigenen jugendlichen Tatkraft, die immer zum Erfolg führen muß. Es wird wohl noch zwei oder drei Jahre währen, aber dann wird es eine blühende Herrlichkeit sein, ein Schaustück, ein neuer Ruhm für die Iulier. Die farbig schimmernden Hochgrate des Prisank, die machtvollen Giebel der Velika Dnina, die gezinnten Mauern der Lipa Špica blicken herein. Der Blick schweift talauf und weit talab. Ragende Wände, goldgrün leuchtende Bergmatten, Hochwälder, Riesenpolstern gleich über das steile Gelände gelegt, daß sie tief in die blauenden Schluchten herniederhängen.Es ist, als habe die ganze, ergreifende Schönheit der Trenta sich hier vereinigt, um dem Alpengarten eine würdige Fassung zu geben. Mögen immer gute Sterne über ihm walten! Und so wirst du, du lang gesuchte, heiß ersehnte liebe Wunderblume meines Herzens, aus den Träumen meiner Sehnsucht, aus der Kraft meines Vertrauens, aus dem geheimnisvollen Dunkel deines einstigen Wer¬ dens, Blühens und Vergehens wiedererstanden, am 331 späten Abend meines Lebens doch noch zu mir kommen. Still und bescheiden, zierlich und glatt die Lichtgestalt, silberschimmernd der feine Spitzenkelch, das leuchtend weiße Blütenkleid mit goldenen Staubkölbchen durch¬ stickt, von einem leisen Hauch des Fremdartigen und Märchenhaften umflossen, von einer milde erstrahlen¬ den, aus Poesie, Sage und Romantik zart gewobenen Gloriole verklärt, so wirst du, Prinzeßchen aus dem lieben Zauberland, in deiner neuen Königsburg hoch über dem rauschenden, jungen Isonzo mir entgegen¬ blicken. In beglückender Wirklichkeit. Scabiosa Tren¬ tal Mein Glaube an dich ist nie gestorben, so unerreich¬ bar du schienst. Meine Treue zu dir hat nie gewankt, so weltentrückt du warst. Mein ganzes Leben hindurch habe ich zu dir hin gespäht, gelauscht und gesorgt. All die Liebe, all die Treue lohnen mir jetzt die großen, schö¬ nen, gütigen, ewigen Berge. Nun erwarte ich dich. Viel Zeit ist mir nicht mehr bemessen. Komm bald! Man kann lange Zeiten, ganze Lebensabschnitte hin¬ durch, anderen Iuliertälern zuneigen, der Vrata, der Planiea, der Seissera. Schließlich wird man immer wieder von der Schönheit der Trenta gefangen genom¬ men werden. Ihr gebührt unter allen die Palme. Es ist ja auch kein Quertal, wie jene, es ist ein groß und tief ausgeprägtes Längstal, so stark bogenförmig ge¬ krümmt auch sein oberer Verlauf ist, „wie das krumme Ende eines Schäferstabes." Die furchtbaren Felsen- und Schuttwüsteneien um Soca, die tiefernste, wilde Bergpracht des obersten Isonzolaufes sind wohl einzig in ihrer Eigenart. Das kann man nicht schildern, man muß es gesehen und erlebt haben. Ich wüßte nicht, wo¬ her ich Vergleiche dazu heranziehen könnte. 332 Ähnlich wie im Trentatal wirken die Wasser in der farbigdüsteren Raeeolana. Groß und stark aufsprin¬ gend aus nie erschlossenen, nie ergründbaren Felsen- unterwelten, erzählen sie dem Wissenden von den Rät¬ seln und Geheimnissen des sagenumwobenen, in tiefer Abgeschlossenheit und Einsamkeit harrenden Kanin. Im Dognatal tritt alle Anmut, alles Leben, alle Kraft der Wasser zurück vor der in traumhafter und fast un¬ faßbarer Größe und Macht aufragenden Gestalt des Montasch. Man kann da nicht zur Erde niederblicken, nicht in deren Rinnen, Kanäle und Schluchten. Man schaut nur hinauf zu seinen überirdisch wirkenden, in lichter Glorie erstrahlenden, sieghaft triumphierenden, jubelnden Höhen! Und doch: was hätte die großartige Clapadorieschlucht, wohl die wildeste der Iulier, nicht alles zu erzählen! Die heißen Sommermonate bringe ich in Wolfs¬ bach zu, dem jetzigen Valbruna. Oitzinger hat mir in seinem neuaufgebauten Hause ein reizendes „Kugy- zimmer" zur Verfügung gestellt und schaute, so lange er lebte, scharf darauf, daß ich es beziehe. Er war noch so fabelhaft jung geblieben. Wer hätte daran denken können, daß ich ihn überleben werde. Froh und stark besorgte er seinen wohlhabenden Bauernhof, doch führte er nicht mehr. Wir lachten viel zusammen, zum Spaß und zum Ernst. So soll man es machen, lachend durch dieses lachende Leben gehen. Wenn dies auch manchmal recht schwer sein kann. Einmal mehr war er dem Tode ganz nahe gewesen, als er von seinem Stier schwer Verwundet wurde. Aber der gütige Zufall hat es damals gefügt, daß ich mit Dougan und Hesse ge¬ rade zur gleichen Stunde bei ihm ankam. So haben 333 wir dm tapferen Kameraden fein wieder heraus¬ gerissen. Jenseits des Montasch wohnte in Piani des Raeeo- lanatales Osvaldo Pesamosca. Er war von uns dreien der jüngste, trug aber seine Jahre am schwersten. Er hat das härteste, trübste und ärmste Leben gehabt. Auch er ist nicht mehr. Wie warm und hell leuchtete mir die Treue dieser beiden Männer. Sie war mir ein großes Gut. Sie blüht immer noch und wird weiterblühen auf ihrem Grabe, wenn wir alle schon lange gestorben sind. Denn solche Treue kann nicht sterben! Wolfsbach, einstens so einsam, ist nun im Sommer von Gästen stark bevölkert. Die reichgegliederte Götter¬ burg des Wischbergs ist der Hochaltar, zu dem da alles emporschaut. Hundertfältige Stimmungen und Far¬ ben, nie gleich, immer wechselnd, ziehen vom Morgen bis zum Abend über seine hoch und feierlich ragenden Dome. Er gibt dem großen Landschaftsbilde Wolfsbachs ewige Ruhe und Schönheit. Wie überaus fesselnd ist dieser Anblick, wenn Neuschnee gefallen ist, und die feinge¬ zogenen Linien der Wischbergbänder leuchtend zum Vor¬ schein kommen. Siehst du irgendwo in den Gründen der Seissera eine kleine Rauchsäule aufsteigen, so wisse, daß es mein Feuerlein ist. Kein Biwakfeuer, an dem man eiserne Pläne schmiedet, nur ein bescheidenes Er- innerungsfeuer freundlicher Rückschau. Es sind die Jahre vergangen, es vergehen deren immer mehr. Stand ich einstens auf den wilden Gipfeln, so habe ich immer sehnsuchtsvoll hinabgeblickt, zum Frieden des Tales. War ich unten, so litt es mich da nicht, es zog mich übermächtig wieder empor. Nun mir die hohen Berge gesperrt sind, und ich nur mehr aus der rührenden Jn- 334 nigkeit des Tales auf die leuchtenden Wände blicke, habe ich die Ruhe gefunden und das volle Gleichgewicht. Es sind in mir nicht Wünsche, heiße Pläne, Zweifel, un¬ gewisse Hoffnungen und Erwartungen, nur Zufrieden¬ heit und Dankbarkeit. Mein liebster Spaziergang führt mich eine kleine Wegstunde seisseraeinwärts zudenOitzingerwiesen. Sie schmiegen sich, goldgrün funkelnd, um den Fuß schö¬ ner, walddunkler Vorberge und leiten zur breit und offen daliegenden, viel verheißenden Pforte in die Za- praha. Bleiche, kühne Pfeiler und Zinnen darüber und im Hintergründe. Dort liegen Wunder und Geheim¬ nisse. Wie „ein' feste Burg" ragt glorreich der Wisch¬ berg. Die Götterbänder flattern hoch durch die Gams¬ mutterwände. In schönen, starken Formen stehen die Waldbäume am Wiesenrand. Knapp neben dem Oitzin- gerhäuschen rieselt eine feine Quelle. Der Luschari blickt herüber. Wenn sein Kirchlein ruft, zieht ein frommes Wehen durch die Lüfte. Die Wiesenblumen läuten, es läuten die alten Zeiten mit goldenen und silberhellen Glocken. Hier bin ich in der verwegensten und gefahr¬ vollsten Nacht meines Lebens, vom 1. auf den 2. Juli 1.915, vorsichtig hindurchgezogen. Hier ist es auch ge¬ wesen, wo Oitzinger 1919 sein aufregendes nächtliches Feuergefecht mit unbekannt gebliebenen Räubern zu bestehen hatte, die ihm sein Vieh nehmen wollten. Über 200 Kugeln hat der unerschrockene Mann in jener denk¬ würdigen, stockdunklen Nacht, einer gegen zwei, aus dem glühenden Rohr seines Gewehres verschickt. Noch trägt die Hütte die Spuren der von drüben einschlagen¬ den Geschosse. Die starken Söhne waren damals noch ferne. Bis auf eine leichte Verwundung der braven 335 Frau Oitzinger ist, wie durch ein Wunder, alles glück¬ lich abgelaufen. Kein gewaltigerer Blick auf die Nordmauern des Montasch als von diesen Wiesen aus. In voller Größe und Herrlichkeit steht dieser mächtigste der Iulier da. Seit ich ihn nicht mehr angreife, droht er mir nicht mehr. Eine milde Hoheit, ein warmer Erinnerungsglanz hat sich über sein furchtbares Felsenantlitz gelegt. So blickt er mich jetzt an, der Montasch. Rechts hinter seinen ungeheuren, drachengezähnten Graten geht die Sonne nieder. In märchenhaftem Prunk. In Rot und in Gold. In oft unglaublichen Farbensteigerungen. Über das königliche Iulierhaupt schießen Lichtströme und Strahlengarben so riesenhoch empor, daß das halbe Firmament weithin seine Herrscherglorie verkündet. Es schallen Pauken und Trompeten! Der Abend sinkt nie¬ der. Ich verlösche still mein Lagerfeuer und kehre lang¬ sam in den Frieden Wolfsbachs zurück. Ist das dann nicht auch ein Tag gewesen, der zu meinen großen zählt? Man sieht, noch stehe ich, aufrecht im Licht, mitten im alpinen Leben. Ich weiß, daß ich hier nicht über¬ flüssig bin. Ich habe meine Mission und erfülle sie. Darin sehe ich die vornehmste Aufgabe des alten Berg¬ steigers. Ich kann raten und helfen, ich habe eine Tra¬ dition zu überliefern. Mit unvergleichlicher Anhäng¬ lichkeit und Liebe umgibt mich eine starke, ideal gesinnte Jugend, die mir vertraut. Sie geht ihre leuchtenden Wege, sie zieht aus und kommt zurück immer mit einem frohen Lächeln auf den Lippen. Lichte Schutzengel ge¬ leiten sie. Auszug und Rückkehr sind meine Feste. Und das sage ich euch: die Berge werden immer schöner. Wie meinen sie es gut! Immer noch schenken 336 sie mir. Noch haben sie ihre Güte zu mir nicht aus¬ geschöpft. Nie werde ich ihnen genug gedankt haben. Sie gießen von ihrem Zauber und von ihrem himm¬ lischen Glanze über alle meine Wege. Wer kann da an ein Abschiednehmen denken? Zurückgewendet, mit weit ausgebreiteten Armen schaue ich hin zu ihrer Pracht und Herrlichkeit. Ich lasse sie nicht, sie segnen mich denn! 22 337 - Der Alpengarten „Juliana" im Trentatal Von der landschaftlichen Schönheit des Iulischen Alpengartens, den Albert Bois de Chesne vor nun drei Jahren im Trentatal anzulegen begonnen hat, spricht das „Nachwort" zu meinem Bergbuche. Ich trachtete dort, die geradezu entzückende Art zu schildern, wie sich dieser Iuliergarten seiner großen Umgebung einfügt, wie Tal und Berge der Trenta von allen Sei¬ ten hereinblicken und von ihrem Zauber und ihrer Stimmung über die Stätte breiten, an der die ge¬ samte Flora der Iulischen Alpen sich vereinigen soll. Bis heute sind da schon über 950 Arten vertreten, es ist vorauszusehen, daß bis zum Ende dieses Jah¬ res nur mehr verschwindend kleine Lücken übrig ge¬ blieben sein werden. Er umfaßt die Flora der östlichen und der westlichen Iulier, der Friauler-, Karster- und Krainer-Voralpen. Der Garten liegt 30 bis 40 Meter über Santa Maria auf einem eingefriedeten Areal von 3000 Qua¬ dratmetern. Die Einfriedung war notwendig wegen der zahlreichen in der Trenta weidenden Schafe. Ein reizend angelegtes Steiglein führt von der Fahrstraße über einen Wiesenhang zum Eingang. Man tritt in ein kleines, sanft ansteigendes Tälchen, das von Fich¬ ten, Lärchen und mannigfachen Laubbaumarten locker bestanden ist. Verstreut umherliegende große Blöcke 339 und zutage tretende natürliche Felsbänke haben die An¬ lage sehr gefördert. Sie wurden geschickt und glücklich benützt. Von einer bergseits ganz nahe niedergehenden Felsschlucht, in der ein kleiner Wasserfall herab¬ springt, ist in sehr praktischer Weise eine Rohr- und Holzrinnenleitung herübergelegt und in mehreren Ar¬ men durch die Anlage geführt. Da und dort stehen gro¬ ße, aus gewaltigen Lärchenstämmen gearbeitete Tröge, die das Rinnensystem speist. So kann man beispiels¬ weise einen kleinen Felsabsatz ständig vom Wasser überrieselt halten, damit Phyteuma comosum und die heikle Pinguicula sich dort wohl und zu Hause fühlen. Ein anderer großer Felsblock ist schon wunderschön von Aurikeln übersponnen. Schattige kleine Waldwinkel beherbergen die Bergwaldflora, ein feucht gehaltener, dunkler Platz nahe dabei die Farnkräuter. Die An¬ ordnung der Pflanzen geschah somit natürlich nicht nach Familien und Arten, sondern nach den feder einzelnen Pflanze eigentümlichen Bedürfnissen und Anforderun¬ gen. Auf den richtigen Standplatz, auf passende Erde oder Sandmischung, auf die gebotene Verteilung von Licht und Schatten, von Trockenheit und Feuchte, von Wärme und Kühle wird immer verständnisvoll der größte Wert gelegt. So gedeiht auch alles prächtig, und es ist in diesen drei Jahren kaum ein Fehlversuch vorgekommen. Zwei größer angelegte Schuttplätze be¬ herbergen die den Iulischen Alpen eigentümliche, rei¬ zende Geröllflora; eine mit von zu höchst herabgehol¬ tem, ganz kurzem Alpenrasen ausgekleidete, besonnte Stelle wird jenen Pflanzen geboten sein, welche solchen Standortes bedürfen. Alle Gäste sollen und werden zufrieden sein! 340 Durch die gesamte Anlage führen zwangslos gewun¬ dene Steiglein empor, schließlich zu einem wunder¬ schönen Rast- und Aussichtsplätzchen mit Tisch und Bän¬ ken, von dem man auf die Trentaberge und ins Tal zu Füßen schaut. Das Rauschen des Isonzo tönt über¬ all herauf. Unsere Pfingstfahrt 1929 hat diesem Alpengarten gegolten, doch habe ich ihn schon vorher und auch nach¬ her oft besucht. Schon die Anreise von Triest dahin ist so wunderschön. Das ganze Isonzotal ist ja ein großes, lebensvolles Schaustück. Der Isonzo, der so ruhig und tief eingebettet dahinfließt, hält in seinen Farben immer Überraschungen bereit. Diesmal war er milchigweiß. Dann erscheinen oberhalb Ternova plötz¬ lich die hohen, ernsten Giebel des Kanin, der gewaltige Pluznafall, der höchste und mächtigste Wasserfall der Iulischen Alpen, zu dem sich die Wasser des Kanin¬ stockes vereinigen, schwebt frei und majestätisch herab. Es erscheinen die bleichen, stillen Grate über dem Bau- Zicatal, die fürchterlichen Wände des Flitscher Grin- touc Soca zu, die ganz eigenartigen Klammen des Ison¬ zo, zum Schlüsse die funkelnden Bergreihen gegen die Wochein und die herrlichen Randwälle der Trenta, aus denen die hohen Iuliergipfel sich über die Wolken er¬ hoben. Am entzückendsten wohl das maienjunge Grün der Buchenwälder, die zu höchst vom steilen Hange gleich festlich ausgelegten Teppichen und lenzfrohen Wimpeln goldflimmernd herniederzuwehen schienen! Im Garten standen viele der Pflanzen in voller Blüte. So die Scrophularia vernalis L., gelbblühend über lichtgrünem Blattkleide, der feingegliederte Ra- nuneulus platanifolius L., die reizend gelbe, stille Viola 341 biflora L., das entzückend blaue Vergißmeinnichtauge des Eritrichium nanum Schrad., die weiße Androsace villosa L.; über einem dunkelgrünen Teppich von Se- necio abrotanifolius L. das Linum Iulicum Hay. mit azur- und lilablauer Blüte und gelbem Nagel; die zarte Veroniea aphylla L., die niederliegende Valeriana su- pina Ard., die prunkhafte Paeonia eorallina Retz., die tiefgebauten, blauen Glocken der Gentiana ClusiiPeer. L Song, und die für uns Iuliermänner altehrwürdige Gentiana terglouensis Haequets; in leuchtendem Gelb das Alyssum ovirense Kern, von den höchsten Geröll¬ halden des Prifank, in tiefem, sattem Grün Seopolia earnioliea Iaeq. mit braunen, Hladnikiana Biatzovsky mit gelben Blüten, fein und vornehm Anemone nar- cissiflora L., dann die vielbegehrte Medieago Pironae Vis., das seltene Botrychium lunaria Sw. Besonders gerne haftet das Auge auf der Pracht der knapp nebeneinander liegenden Beete der violettm Pri¬ meln: earnioliea Iaeq., farinosa L., longiflora All., darauf die frühlingsgelben: veris L., Columnae Ten., elatior Schreb. freundlich niederschauen. Wunderschön blühte die Wulfenia earinthiaea Iaeq., die allerdings nicht den Iulischen angehört, aber in einem Alpengarten doch nicht fehlen darf. Mit begreiflichem Interesse nähere ich mich den be¬ sonnten Beeten, auf denen die Seabiosa leueantha Schrad. steht. Man weiß aus meinem „Nachwort", was ich mir davon erwarte: die Wiederauferstehung der Seabiosa Trenta Haeq. Aber die Anpassung ist noch nicht vollzogen, der Habitus ist noch immer „leu¬ eantha". Nur kleiner sind die Pflanzen geworden, als sie um Duino sind, was vielleicht einen Anfang bedeu- 342 ten könnte. Sie haben im Vorjahre sehr spät geblüht, die Vegetationszeit ist in der Trenta zu kurz, so daß die Samen nicht zur Reife gelangen können. Vielleicht liegt in diesem Umstande die Erklärung dafür, daß Seabiosa Trenta aussterben mußte. Die im Garten stehenden Pflanzen sind alle aus Samen von Duino her gezogen. Die „rariora" und „rarissima" sind mit bezug auf das Florengebiet gemeint, das der Garten umfaßt. Von den vielen vorhandenen möchte ich nur einige nen¬ nen: Asplenium fissum Kit., Cypripedium ealeeolus L., Centaurea heleniifolia (Gren. L Godr.) Fritsch, die man früher Rhapontieum nannte, Daphne Bla- gayana Freyer, Arabis seopoliana Boiß., Campanula Zoysii Wulf., Alyssum Wulfenianum Bernh., He- racleum siifolium (Seop.) Rchb., Crepis terglouensis (Haeq.) Kem., Dianthus Sternbergii Sieb., Thlaspi eepaefolium (Wulfen) Koch, Falearia pastinacifolia Rchb., Peucedanum raiblense (Koch), Paradisia Li- liastrum Bert., Geranium argenteum L., Iris Cen- gialti var. vochinensis Paulin, Spiraea decumbens Koch, Viola pinnata L., Viola Zoysii Wulf., Hlad- nikia golaka (Haeq.) Rchb., Molopospermum pelopon- nesiaeum (L.) Koch, Struthiopteris germanica Willd., Draba dubia Sut., Bupleumm longifoliumL.,Minu- artia rupestris (Scop.) Schinz et Thell, Athyrium alpestre (Hoppe) Rylands, Anemone baldensis L., Ce- rastium lanigerum Clem., Saxifraga Burseriana L., Caltha alpestris Sch. N. K., Genista holopetala Fleischm., Ranunculus Seguieri Vill., Saxifraga te- nella Wulf., Trifolium norieum Wulf., Valeriana supina Ard., Veroniea bonarota L., Heracleum Pol- 343 linianum Bert., Minuartia aretioides (Somm.) Schm; et Thell, Memn athamanticum Iaeq., Pri¬ mula Wulfeniana Schott, Potentilla micrantha Ram. Für mich, der ich wohl alle klassischen Standorte der Iulierpflanzen so gut kenne, hat es einen hohen Reiz, durch den Garten zu schreiten. Es ist mir da, als wandle ich noch einmal die grünen Hoffnungspfade meiner Ju¬ gendzeit. Denn alle haben sie von ihrem schönsten Schmuck herübergesandt und von ihrem Reichtum ge¬ geben: der Bogatin des goldenen Hortes, die altbe¬ rühmte Alpe Duple, die weltenfernen Süd- und West- kare des Triglav, die Sieben Seen, die weißen Geröll¬ halden des Prisank, die wilden Klippen des Ialouc, der mattengrüne Matajur, der blumenreiche Lerna Prst, die Paradieseswiesen von Valbruna, der weit¬ schauende Krn, die warmen, roten Wände des Ru- deci Rob. Die Zaubergärten der Rojenice sind schon lange verschwunden. Die düstere Zlatorogsage erzählt uns, wie das kam. Aber hier ist nun ein neuer Zaubergarten erstanden, in Heller Gegenwart! Sein Hüter ist nicht der weiße, goldgehörnte Gemsbock, seine Hüter und Mehrer sind zielbewußte, starke, edelfühlende Men¬ schen. Liebe zur Sache, gutes Wollen, Arbeit und Wis¬ sen wirken schön zusammen. Ein neues Motiv erklingt in der rauschenden Schönheitssymphonie der Trenta. Gewiß, auch diesen neuen Alpengarten im Reiche des Triglav über dem jungen Isonzo werden die gütigen weißen Frauen der Sage milde segnend durchschreiten, und er wird blühen und gedeihen, farbenbunt und präch¬ tig gleich den Zaubergärten von einst! 344 Zwei Gedenktafeln Der Treue Anton Oitzinger -f. Am 13. Juni 1928 ist in Wolfsbach, dem heutigen Valbruna, der Bergführer Anton Oitzinger gestorben. Er war gewiß einer der glänzendsten Führer der Iuli- schen Alpen. Nach dem herrlichen Falken der Trentaner Berge, Andreas Komac, ging Oitzinger fast immer mit mir. Viele Seiten meines Bergbuches sprechen von ihm. So auch das „Nachwort" zu meinem Bergbuch. Meine Leser werden sich daraus an seinen Frohsinn und an seine drastische Ausdrucksweise erinnern. Er wurzelte noch in der klassischen Zeit und ist einer der großen Pioniere der Iulier geworden. Mit ihrer Erschließungsgefchichte und mit meinem Anteil daran wird sein Name für immer verknüpft bleiben. An vielen großen Erstersteigungen hat er führend und siegend teilgenommen. Stark und kühn war er an meiner Seite in den Tagen der Ersteigung des Montasch auf dem direkten Nordwege und aus der Forea dei Disteis, des Wischbergs von Nordost und von Nord, des Montasch- Nordturms, des Spranje-, des Karnizenturms, der Cime Gambon aus der Špranje, der Korspitze und der Kaltwasser Gamsmutter aus dem Kaltwassertal, des Montasch, des Wischbergs, -es Prisank, des Ka- 345 mn im Winter, an vielen anderen großen, unverge߬ lichen, ost auch sehr abenteuerlichen Tagen, die mir das Bergglück geschenkt hat. Die damals so ernst waren und heute lächelnd mir nachschauen. Auf seinem Grabe blüht eine seltene, eine der edel¬ sten und leuchtendsten Blumen: die Treue. So viel ich in meinem Leben von Liebe und Treue umgeben war, Oitzinger steht ganz vorne unter meinen Allergetreue¬ sten. Für mich hätte er ohne Worte sein Leben gegeben. Bei einem Haar hat er es einmal getan. Und nie werde ich ihm für dies alles genug gedankt haben. Er neigte, besonders in den späteren Jahren, auf unseren Bergfahrten eher der Rolle des „Warners" zu. Gegenüber dem Ernst und den Gefahren der Berge, die er kannte wie nicht bald ein zweiter, der Neuartig¬ keit und manchmal auch Kühnheit meiner Pläne und dem Ungestüm der „Stürmer" meiner jeweiligen Ka¬ rawane, des wilden Ioze Komae, des ehernen Osvaldo Pesamosca. Seine Mahnworte waren in tiefer Berg¬ weisheit begründet. Kam man aber an die entscheiden¬ den Stellen, so ging er trotzdem gewöhnlich als erster zum Angriff vor. Seine hohe, leichte, wunderbar bieg¬ same Gestalt, seine ganz außerordentliche Klettertüch¬ tigkeit beriefen ihn dazu, sein heißes Temperament riß ihn dazu fort. Er konnte nicht anders. Wundervoll wirkte dann immer sein unverwüstlicher, froher Humor während der Gipfelrasten, in den Schutzhütten, in un¬ seren häufigen Biwaks, in guten wie in bösen. Da mußte man ihn sehen. Da konnte er ins Große wachsen, da war er der echte, unerreichbare, einzige Oitzinger! Unter meinen Begleitführern war er sicherlich der tem¬ peramentvollste. 346 Aus seinem an Arbeit und eindrucksvollen Wechsel¬ fällen, an Gefahren, Abenteuern, Berg-, Wasser-, Feuers- und Kriegsnot, auch an anderen Schrecknissen wohl überreichen Leben könnte man den Inhalt zu einem ganzen, spannenden Roman schöpfen. Ungemein fes¬ selnd dieser Inhalt, nicht minder fesselnd die bestimmte, selbstverständliche Art, wie der aufrechte, unerschrok- kene, immer frohgemute Mann durch sein so bewegtes Leben geschritten ist. Ich, dem Oitzingers Wege klar vorliegen, wäre berufen, diesen Roman zu schreiben. Vielleicht kommt es noch einmal dazu. Heute nur diese wenigen Worte zu seinem Bilde und zu seinem Andenken. Der Grundzug seines Charakters waren hohe An¬ ständigkeit, Herzensgüte, Großzügigkeit und Noblesse. Als Bauer war er überaus tüchtig, von strengstem Fleiß und sparsam. So ist er aus schwierigen Anfängen sehr wohlhabend geworden. Er war ganz aufrichtig und wahrhaft. In allen Schwierigkeiten des Lebens hat er sich wacker und rein gehalten. Immer hilfsbereit dem Schwächeren gegenüber, gegen Widersacher, die ja Neid und Mißgunst für jeden Aufwärtssteigenden so gerne bereithalten, streitbar, schneidig und scharf. Er hat ein Alter von 67 Jahren erreicht, war aber noch unglaublich jugendlich geblieben. Ich hatte immer gedacht, er werde mich weit überleben. Eine mit furcht¬ barer Gewalt aufgetretene Blinddarm- und Bauchfell¬ entzündung hat ihn, den nichts brechen zu können schien, plötzlich, innerhalb zweier Tage, niedergeworfen. „Ruft den Dr. Kugy, er wirdmich retten!", sagte er zu den Sei¬ nen, als er sich des Ernstes seines Zustandes bewußt wurde. Aber es war zu spät, man konnte mir nur mehr den schon eingetretenen Tod telegraphisch melden. 347 Niemand wird ihn vergessen, der je mit ihm ge¬ gangen ist. Ging er vorüber, dunkel das Auge, das Antlitz, die Gestalt, frei der Gang, lang der Schritt, hell sein Sinn und hell sein Mut, so blieb man stehen und sah ihm nach. Man wußte sofort: das ist jemand! Es war in seinem Blick, in seiner Art und in seinem Wesen ein gewisses Etwas, das mich an den Adler ge¬ mahnte. Mochte er mit der vollendeten Sicherheit und Eleganz des Meisters in den Wänden klettern, von schmalem Bande nach dem richtigen Durchstieg spähen, mochte er mit Sense und Axt oder mit dem Ochsen¬ gespann zur Arbeit ziehen oder auch nur leichten, federn¬ den Schrittes aus Haus oder Stall treten. So sehe ich ihn nun immer, meinen braven, treuen Bergkameraden, meinen lieben Freund so vieler glücklicher und auch schlimmer Jahre. Als schwebe über Gipfeln und Tal und Dorf seiner Heimat, wie losgelöst von Erdenarbeit und Erdenschwere, feierlich still in klarer, leuchten¬ der Höhe der Adler der Berge mit ruhigen, gleichen Schwingen! Osvaldo Pesamosca'f. Nun muß ich auch diesem ehernen Manne den Nach¬ ruf schreiben. Gleich dem lebensfrohen Oitzinger schrei¬ tet auch Pesamosea, der ernste, dunkle Friauler, der nicht lachen konnte, durch viele Seiten meines Berg¬ buches. Er war in Piani zu Hause, im Raecolanatal. Sein Haus ist immer halbfertig geblieben, er saß nicht wie Oitzinger in fest begründeter, warmer Wohlhabenheit. Die Raccolana und ihre Bewohner sind sehr arm. Das 348 Tal ist von den Wildwassern verwüstet. Es ist auch karg an Sonne. Die übermächtigen Schatten des Ka¬ nin weichen zu spät am Tage und senken sich zu früh nieder. Getreide reift dort nicht. Nur spärliche, schmale Kartoffeläcker hängen, von Mauern gestützt, am stei¬ len Gelände, das Heu holen die Mädchen und die Frauen auf schlechten und oft gefährlichen Steigen hoch von den sähen Berghalden. Den Männern ist es ver¬ sagt, auf Anwesen seßhaft zu sein. Sie haben daheim nicht Arbeit noch Verdienst. Sie müssen wandern und wandern, um den Lebensunterhalt für ihre Familien zu verdienen. So ist auch Pesamosca gewandert und gewandert, sein ganzes Leben lang. Wiederholt in die Fremde, nach Deutschland, nach Österreich, nach Ru¬ mänien, und, blieb er im Lande, Tag für Tag dem be¬ scheidensten Erwerbe nach talaus, talein, bergauf, berg¬ ab, tiefernst, schweigsam, das dunkle Angesicht oft von der Sorge gezeichnet, ein Ahasver der Berge, rast- und ruhelos! Ich lernte ihn kennen, als er das erste Mal aus den rumänischen Wäldern heimkehrte. Da zeigte er mir im Auftrage Giuseppe Piussis die Stellen, wo sich die kühnen Gemsjäger der Raeeolana von der Nordwest¬ schulter des Montasch an langen Seilen in die Seissera hinabgelassen hatten, um erlegte Gemsen heraufzu¬ holen, die dort hinabgestürzt waren: die „viackei cacci- Ltori itLllLni",den „Nordwestschulterweg". Der Mann gefiel mir sehr, und ich wollte ihn gleich an mich her¬ anziehen. Aber seines Bleibens war damals noch nicht, er wanderte zum zweiten Male nach Rumänien aus, wo er wieder jahrelang verblieb. Als er endgültig zu¬ rückkam, wurde er mit Oitzinger einer meiner ständigen 349 Begleitführer in den Iuliern. Über meine Veranlas¬ sung erhielt er von der „Societa Alpina Friulana" das italienische Führerpatent. Er hat mein Vertrauen mit einer Dankbarkeit, mit einer Anhänglichkeit und einer Liebe gelohnt, die schon in das Schwärmerische übergriffen. Treu und lauter wie Gold, eisern in Ausdauer und Kraft, so hart¬ gehämmert vom schweren Leben und doch so weich und unschuldig geblieben im Herzen, hat er sich mit einer geradezu wundervollen Begeisterung und Hingabe in meine Dienste gestellt. Nach seinen Familientraditionen in der freien Gemsjagd ausgewachsen, kannte er genau seine Berge und war überaus reich an Erfahrung. Was ihn mir aber ganz besonders wertvoll machte, war seine Zugehörigkeit zum talberühmten Familienstamme der Löuf (von lupo --- Wolf), waren vor allem die Überlieferungen nach seinem Vater Pietro Antonio und nach seinem Onkel Giuseppe, die er mir vermit¬ telte. Beide gewaltige Gemsjäger, Giuseppe heute noch der sagenhaft gewordene Bergheld der Raeeolana. Um sich der Militärdienstpflicht zu entziehen, hatte er sich in die Hochregionen des Montasch, des Wischbergs und des Kanin geflüchtet und hat dort sieben lange Jahre ein¬ sam und verborgen gelebt. Ferne von Behausungen und Menschen, in vergessenen Almhütten, unter Überhän¬ gen, im Freien. Ost von den Gendarmen gesucht und verfolgt, viel in Schwierigkeiten, Not und Gefahr, immer bedroht, kümmerlich lebend von der Jagd und von dem Wenigen, das man ihm heimlich zutragen konnte. Aber Herr und Meister ist er so in jenen Ber¬ gen geworden. Osvaldo muß als Knabe ein sehr auf¬ merksamer Zuhörer gewesen sein, wenn Vater und On- 350 kel von den Geheimnissen ihrer Berge sprachen, und gar manches, was er mir wiedererzählte, haben wir dann in verwegene und oft wunderschön geglückte Unterneh¬ mungen umgesetzt. Auch die „Götterbänder" hätte ich beispielsweise vielleicht niemals so zielbewußt gesucht, wäre Osvaldo nicht eine dunkle Andeutung seines On¬ kels in Erinnerung geblieben, die auf das Vorhanden¬ sein eines derartigen Schleich- und Fabelweges in den gewaltigen Nordmauern des Wischbergs schließen ließ. Für uns, die wir im Banne der Iulischen Alpen aufgewachsen sind, lag auf dem Stamme der Auf ein ganz eigenartiger, romantischer Zauber. Wie paßten diese Männer in das stille Reich des Kanin. So schien auch Osvaldo aus den Klüften des geheimnisvollen Berges hervorgewachsen. Hätten die Auf Wappen und Zeichen geführt, es müßte darinnen stehen ein mahnen¬ der Finger auf geschlossenem Munde. Pesamosea ist auf ungezählten Bergfahrten mein Begleiter gewesen, auch im Winter. Ungezählt sind auch die Biwaknächte, da er mein Lagerfeuer und mei¬ nen Schlaf behütete. Keine Mühe war ihm zu groß, kein Weg zu weit, kein Hang zu steil, galt es, mir einen Trunk frischen Wassers zu verschaffen. Er war ein star¬ ker Helfer und Mitarbeiter in der Erschließung der westlichen Iulier. In deren italienischem Teil war er weitaus der berühmteste und gesuchteste Bergführer. Zu unseren größten gemeinsamen Tagen gehören die Erstersteigungen des Nordturms des Montasch, des Montasch aus der Forea dei Disteis, des Špranje- turmes aus der Špranje, der Kaltwasser Gamsmutter aus dem Kaltwassertal. In meinem Auftrage hat er auch mit Vladimir Dougan erstmals die „Götter- 351 bänder" begangen. Er war glänzend als Kletterer, von vornehmer und unfehlbarer Sicherheit, vielleicht am bewunderungswürdigsten, wenn er in seinen friaulischen Searpetti bedächtig aber unwiderstehlich die glatten, steilen Platten der Iulier nahm. Er ist früh alt geworden. Da gemahnte feine hohe, breitschulterige, knorrige Gestalt an den verwitterten Stamm der Berglärche, die zu höchst am Hange steht. So fest ist er auch immer im Fels verwurzelt gewesen. Der böse Winter 1929 hat den 66sährigen Mann gefällt. In den Fieberphantasien der allerletzten Tage wähnte er sich beständig auf großer Bergfahrt mit uns. Es warm offenbar die glücklichsten und stolzesten Stun¬ den seines Lebens, die da noch einmal am Sterbmdm vorüberzogen. Das ganze Tal hat ihn bei seiner Beerdi¬ gung geehrt, von allen Bergdörfern war man in Scharen gekommen. Wer Edelweißblüten im Hause hatte, brachte sie mit und legte sie in seinen Sarg oder auf sein Grab. Das war ganz mit Edelweiß bedeckt. Wie viele meiner Getreuen sind schon dahingegan¬ gen. Croux, der große Eismann des Montblane, Tor¬ bar, der unglückliche Bärentöter, Andreas, der herr¬ liche Falke der Trenta, Oitzinger, der Adler von Val- bruna, nun Osvaldo, der starke Bergwolf der Raeco- lana. Alle waren sie große Jäger, „Gamsen" und „Hahnen" standen ihnen im Sinn. Nun sind sie drü¬ ben in den ewigen Iagdgefilden. Da pirschen sie und treiben und sagen. Ihre Bergfeuer lodern unter den Überhängen des Himmels, aus Licht und Glorie er¬ schallen Oitzingers Helle Jodler und der rauhe Berg¬ ruf Osvaldos. Und sie erwarten mich. Gewiß, auch ich werde kommen. „Doch heut und morgen noch nicht!" 352 Abgesang Ich Hause nun in einer lieben, kleinen Wohnung in der ehemaligen Via Miramar, dem heutigen Viale Regina Elena. In einem der einfachen Zimmer steht ein Klavier, ein alter Ehrbar. Auf dem übe und spiele ich täglich meine zwei Stunden, zwischen den kleinen literarischen Arbeiten, die mich beschäftigen. Ich bin erst 1925, nach meiner völligen Genesung, zum Klavier zurückgekehrt. Es waren gar viele, bewegte Jahre vernachlässigter Technik zu überbrücken. Da ich in meinem Leben so viel musiziert habe, ist mir dies nicht schwer geworden. Der liebe Schubert nahm mich zuerst an der Hand und führte mich, froh singend, ein. Ich danke ihm oft, fast täglich. Denn er ist mit freund¬ lichem Lächeln bei mir fitzen geblieben und sorgt immer noch dafür, daß Klangfreude und Wohllaut mich um¬ geben. Ich bin kein Vielspieler und beherrsche kein großes Repertoire. Wenn ich ein neues Musikstück wähle, so muß es immer eines sein, das mich dann lange in sei¬ nem Bann zu halten vermag. Sei es das eine Mal Bachs „Chromatische Fantasie und Fuge", das andere Mal wunderfeine, kleine Sachen alter italienischer Meister, etwa von Respighi gesetzt, eine Beethovensche Sonate oder etwas aus Schuberts entzückenden Kla¬ vierkompositionen. Lange ist dessen nachgelassene B dur Sonate mit mir gegangen. Da spiele ich den ersten Satz, rz 353 als sänge der liebe Schubert aus seinem Grabe, den zweiten in tiefster Versunkenheit und Trauer, daß der Schluß wie hinter einem Tränenschleier ganz still und leise verhallt, das Scherzo in übersprudelnder, wirbeln¬ der Ausgelassenheit, das Finale, als tanze die ganze, frohe Jugend über alle Wiesen, durch alle Wälder. Ich bin kein brillanter Spieler, meine Technik ist nicht gar groß, obwohl ich mir gewissenhaft viel Mühe gebe. Aber eine sehr nachsichtige, junge Dame sagte kürzlich von meinem Spiel: „Wie sonderbar, kaum legt Dr. Kugy seine Eispickelpratzen auf die Tasten, und schon fängt das Klavier an, von selbst zu singen!" Sollte dies richtig sein, so würde es für mich eine sehr große Genugtuung und Freude bedeuten. Denn ich lege viel mehr Wert auf geschlossenen Vortrag und auf feines Singen auf dem Instrument als auf die hals- brechendste und verblüffendste Geläufigkeit. Den ehe¬ maligen Organisten merkt man meinem gebundenen Spiel an. Ich halte sehr auf Farbe und Klangabstu¬ fung, auf wirkungsvolles Crescendo und Diminuendo, auch auf ein richtiges Forte, mache aber nie Versuche, das Klavier zu zerbrechen. Dann begleite ich viel. Einen schönen, fein musikalischen Tenor und den seelmvollm Alt, von dem ich schon erzählte. Auch sonst ständen mir gutgeschulte,klangvolle Stimmen gerne zur Verfügung, bliebe mir mehr freie Zeit, mich ihnen widmen zu kön¬ nen. Wir singen Beethoven, Mozart, Bach, die alten Italiener, Schumann, Brahms, schöne, stille Sachen von Hugo Wolf: „Das verlassene Mägdlein", „In der Frühe", „Anakreons Grab". Am meisten Freude machen mir meine Sänger mit Schubert. Denn dieser steht, wie gewiß begreiflich, heute meinem Herzen am 354 allernächsten. Von jeder Begleitung, und sei es die technisch allerleichteste, sage ich gerne, sie sei schwierig. Da sang kürzlich mein Alt den „Leiermann" von Schu¬ bert in einer Weise, daß ich mich gar nicht recht ge¬ traute, mit der gewiß einfachen, charakteristischen Be¬ gleitungsfigur einzusetzen. Es schien mir fast, so sorg¬ sam eingestimmt ich sie nahm, als störe ich damit nicht so sehr einen leise geführten, innigen Sang als viel¬ mehr eine ganz Stimmung, ganz Versonnenheit ge¬ wordene, zu sich selbst halb singende, halb sprechende Seele. Ist das ein einfaches und leichtes Problem? Schweigt mein Klavier, so ist es in meiner Woh¬ nung sehr still. Fast wie bei einem Mönch in seiner Zelle. Ich glaube, man merkt gar nicht, daß jemand da wohnt. Das frohe Lachen konnte ich natürlich aus dem alten Hause nicht herübernehmen. Man kann doch nicht laut lachen, wenn man allein ist. Trotzdem ist es mir, als ziehe immer ein stilles Lächeln durch meine bescheidenen Räum«. Man könnte also wohl sagen, es ist da sehr gemütlich. Auch Farbe ist genügend vorhanden, nicht bloß von den Bergaquarellen, die an meinen Wän¬ den hängen. Und ich höre so viel, wenn ich lausche. Stimmen des Lebens, längst versunkene, alte Laute, Stimmen der Natur, ewig junge, sonnenhelle, morgen¬ frische. Ich sehe auch so unglaublich viel. Es ist ein Kommen und Gehen ohne Ende an Bildern, an Ge¬ sichten und Erscheinungen und an freundlichen Gestal¬ ten. Darum gehe ich auch so spät zur Ruhe. Lange nach Mitternacht. Es fällt mir in diesen Stunden so vieles ein, das Beste, wie mir vorkommen will, vorausgesetzt, daß ich von „Bestem" reden darf. Es kommen die „guten Ideen". Ich war ein berühmter Zigarrenraucher 355 und dm heute ein noch berühmterer Pfeifenraucher. Die schönen Vauenpfeifen dazu hole ich mir auf mei¬ nen Vortragsreisen in Deutschland. Schaue ich vom Tische auf, daran ich sitze, so schwebt darüber eine große, weiße Rauchwolke. Sie zieht manchmal leise dahin oder kreist ruhig und ganz feierlich zu meinen Häupten. Ge¬ wöhnlich aber liegt sie vollkommen still. Eine Wolke, die wirklich sehenswürdig werden kann. Besonders wenn man sie im großen Wandspiegel sieht. Da wächst sie ins Gewaltige und Phantastische. „Morgennebel", denke ich mir, und suche und finde die schönen, funkeln¬ den Gipfel der Höhen über ihr. Kurzweil genug, die in mein nächtliches Sinnen und Arbeiten freundlich hereinblickt! Auf meiner Orgel spiele ich nicht mehr. Es halten mich verschiedene Gründe davon ab. Der schwerwiegend¬ ste und vor allen anderen entscheidende darunter ist ein künstlerischer: die sichere Überzeugung, daß ich es zu meiner alten Fertigkeit nicht wieder bringen könnte, wollte ich auch alles einsetzen, was heute noch in meinen Kräften steht. Bachs „Passacaglia" und seine gewal¬ tigen Orgelfugen sind meinen heutigen technischen Mög¬ lichkeiten, nicht allerdings meinem fast täglichen Rück¬ erinnern, Wiedererleben im Geiste, Wünschen und Seh¬ nen, auf immer verschlossen. Doch ist es mir, als ziehe ich, wie es einem alten, ausgedienten Organisten ge¬ ziemt, noch immerfort je nach den wechselnden Stim¬ mungen und Farben -es Tages die mir dazu passend erscheinenden Register. Und zu mancher der Erinnerun¬ gen, die aus der Historie meines Lebens in mannig¬ fachem, sei es still beschaulichem, sei es lebendig ge¬ führtem Satze zu mir herüberklingen, spiele ich im 356 Geiste die dazu gehörigen, bald leise und geruhsam ge¬ haltenen, bald auch dramatisch bewegten, manchmal in tiefster Seele nachzitternden Pedale. Ich komme viel und gerne in musikalische Häuser der Stadt. Das interessanteste darunter ist jenes des außer¬ ordentlich kunstsinnigen Ehepaares Hermet-Sinico, dessen ich anläßlich meines Palestrinachores schon Er¬ wähnung getan habe. Es vereinigt elf oder zwölf der musikalischesten und erlesensten Einzelstimmen aller Gattungen zu einem unvergleichlichen Ganzen. Doch singt man da nur selten Chöre. Gewöhnlich wird aus den Teilnehmern die erforderliche Anzahl von Sängern zu mehr- und vielstimmigen Sätzen aus Werken, sei es Oratorien, Messen, Opern, großer Meister aus- gewählt und zusammengestellt. Was habe ich da für herrliche Sachen gehört, stets alles in der künstlerische¬ sten Vollendung! „Kyrie", „Offertorium", „Lacry- mosa", „Lux aeterna" aus dem hochdramatischen Re¬ quiem von Verdi, „Recordare", „Lacrymosa", „Tuba mirum" aus dem heiligen von Mozart; die „Liebes¬ walzer" von Brahms, den vierstimmigen Frauensatz aus Verdis „Falstaff", reizende, vierstimmige „Ma¬ drigale" des Engländers Purcel; fünf-, sechs- und siebenstimmige Gesänge aus Mozarts „Cosi fan Lut¬ te", „Figaros Hochzeit", „Don Juan", aus Rossinis „Cenerentola" und „Italiana in Algeri", aus Bizets „Carmen"; ein Quartett und ein geradezu entzücken¬ des Septett aus Cagnonis vergessener Oper „Don Bucefalo"; kostbare Sachen aus Bachs „Hoher Mes¬ se", aus Beethovens „Fidelio", Pedrottis „Tutti in maschera", Wolf-Ferraris „Quattro Rusteghi", aus Wagners „Meistersinger" und gar vieles andere. Auch 357 Schumanns liebenswürdige, feinromantische Kantate: „Der Rose Pilgerfahrt" wurde vorgeführt. Frau Hermet-Sinieo besitzt einen silberhellen, auf das Fein¬ ste ausgebildeten Sopran, vor allem aber einen vor¬ nehmen, auf klassischer Höhe stehenden Vortragsstil, Guido Hermet ist ein geistvoller „Buffo" von fein¬ stem Geschmack und oft hinreißender Komik. Er ist der ideale Führer seiner „Compagnia Canora", die ihm mit Begeisterung folgt. Sein reizender Takt überbrückt mit Leichtigkeit die kleinen Schwierigkeiten, die einem derartigen Unternehmen naturgemäß anhaften könnm, seine umfassende Literaturkenntnis schafft immer Neues und Interessantes, oft Überraschendes herbei. Im Auf¬ stellen seiner Programme ist er ebenso unermüdlich wie erfolgreich. Wie in meinem Palestrinachor unser fetziger Domkapellmeister Carlo Painich, so ist in dieser Ver¬ einigung unser erster Klaviermeister Eusebio Curellich musikalischer Leiter. Es sind mustergültige Darbietun¬ gen, die aber auf geladene Privatkreise beschränkt blei¬ ben, nur ganz ausnahmsweise einmal zu wohltätigem Zwecke vor das große Publikum kommen. Ich verbringe in diesem genialen Kreise eines frohen, mir herzlich zu¬ getanen Künstlervölkchens viele ganz einzigartige und überaus genußreiche Abende. Man wird sicherlich etwas Ähnliches in derartiger Vollendung so leicht nicht finden. Konzerte besuche ich sehr selten und nur dann, wenn ich ganz sicher bin, Musik und nicht Virtuosentum zu hören. „Klaviertigern" gehe ich aus dem Wege. Dies dehne ich auch auf Orchesterkonzerte aus. Ich wünsche keine „Eroiea", in welcher der Dirigent die „Haupt¬ person" ist. Diese „Ichmenschen", Seiltänzer, Akro- 35S baten und sonstigen Gaukler in der Musik mag ich im¬ mer weniger. Auch Häuser, in denen sich ein Grammo¬ phon oder nach -er neuesten Epidemie gar ein Radio¬ apparat befindet, betrete ich nur mit äußerster Vor¬ sicht. Denn sehr oft hat sich der Hausherr in die Über¬ zeugung hineingewiegt, er selbst sei der begnadete Er¬ finder -er Wunderunternehmung. Da wird er nicht müde, deren Geheimnisse zu erklären, deren Leistungs¬ kraft zu preisen und mit gehäuften Beispielen zu er¬ weisen, daß der eigentliche Zweck des Besuches gewöhn¬ lich vollkommen in den Hintergrund gerät und schlie߬ lich in unerwünschtem und endlosem Hallen, Tönen und Schnarren schnöde untergeht. Der Radiobesitzer ist noch mehr zu fürchten als der Wagnerianer, dem doch nur selten und ganz ausnahmsweise die Möglichkeit zur Verfügung steht, seine unbändige Begeisterung in Töne oder oft nur „Nebengeräusche" umzusetzen. Das wäre, könnte man vielleicht sagen, die sportliche Auffassung und Auswertung der Musik. Wie schön und erquickend der Verkehr in einem vornehmen, geselligen Kreise, wo in freundlichen Herzen die Liebe zur wahren Musik be¬ scheiden und heilig blüht! Ich habe es wohl gut, denn mir stehen deren mehrere weit offen. Nichts Heiligeres gibt es als einen richtigen Vater und eine richtige Mutter. Die hatte ich. Nicht wahr, man hat es gesehen. Dann habe ich noch drei unver¬ gleichliche Schwestern — die vierte, jüngste, ist so früh von uns gegangen —, jede von ihnen auf einer Höhe, zu der ich täglich in Bewunderung und in Dankbar¬ keit aufblicke. Die mich voll und ganz verstehen, mich viel höher stellen, als ich es je verdient habe, und mich mit ihrer strahlenden Liebe und Treue so umgeben, daß 35S all meine Tage voll Hellen Glanzes sind. Drei pracht¬ volle Schwäger dazu, der eine davon mein wichtigster Berater in allen meinen künstlerischen Fragen. Auch da hat uns ein Edler und Hoher allzufrüh verlassen. Und eine feine Schar von Nichten und von vielverspre¬ chenden Großnichten, alle entzückend lieb und hübsch, dazu gehörende, ausgezeichnete Ehemänner und freund- licheHoffnungen für alle schöneZukunft. LauterMädeln überall. Kein Bub, so weit das Auge blickt. Und dann besitze ich noch einen anderen, großen und seltenen Reich¬ tum: meine Freunde. Es ist ganz unglaublich, was für Freunde ich habe! Als ich einmal von La Berarde über den Col du Clot des Cavales nach dem Refuge de l'Alpe und nach La Grave hinausging, schritt der da¬ malige Bürgermeister von Saint Christophe und be¬ rühmte Führer des Dauphine Jean Baptiste Nodier vor mir einher. Der Bergsteig, dem wir im Angesichte der Meise folgten, war eben fertiggestellt worden. Es fiel mir die außerordentliche Sorgfalt auf, die Rodier ihm zuwandte. Wo ein Stein lag, der nicht hingehörte, da wurde er nie müde, sich zu bücken und ihn zu ent¬ fernen. So sind meine Freunde. Sie schreiten wachsam vor mir einher oder mir zur Seite und ebnen mir alle meine Wege. Kein Steinchen liegt darauf. Sie haben sie alle fortgeräumt. Ist es ein größerer Felsbrocken, so stemmen sie zu zweit oder zu dritt ihre Schultern dagegen, und ich habe freien Weg. Weiß Gott, wie ich mir solche Freunde verdient habe! Aber ich habe sie. Ich sollte vielleicht wohl sagen: „Ja, was wollt und treibt ihr denn mit mir?" Aber es ist klüger, man nimmt es schweigend hin. Es ist sa ein Gottesgeschenk! Auch werden sie grob, wenn ich ihnen danken will. Da 360 ist nichts zu machen. In der Wertschätzung meiner Fa¬ milie und dieser Freunde besitze ich eine letzte „Via triumphalis", wie es leuchtender in meinem Leben keine gab. Ich bewege mich auf ihr in aller Unbefangenheit und Selbstverständlichkeit mit dem ruhigen Gehaben des von einem gütigen Geschick reich beschenkten und verwöhnten Mannes und mache mir darüber weiter keinerlei Sorgen. Von meinen lieben Bergkameraden Dr. Bolaffio und Albert Bois de Chesne habe ich schon in meinem Bergbuche gesprochen. Täte ich es hier wieder, so wür¬ den sie sich ärgern. Aber meinen jungen Freund Vladi¬ mir Dougan möchte ich meinen Lesern hier doch in aller Form vorftellen, den ich in meinem Bergbuche und auch in diesen Blättern schon wiederholt genannt habe. Der Lerna Prst der Vorjulischen ist sehr oft in Sommers- wie in Winterszeiten mein Sonntagsziel gewesen. Ich erzählte dies in meinem Bergbuche. Als ich an einem trüben Wintersonntage des Jahres 1909 allein von Podbrdo aus zu ihm emporstieg, lag so hoher und so schlechter Neuschnee, daß ich oft bis über die Knie ein¬ sank und bald recht müde wurde. An der Baumgrenze begann ich nachzudenken, wem ich eigentlich eine Freude mache, wenn ich die Tour fortsetzte. Sobald diese Über¬ legung auftritt, ist man geneigt umzukehren, und das tat ich bald darauf. Da begegnete ich im Absteigen einem schönen Jungen, der ein schmuckes, braunsam¬ tenes Bergkleid trug und sich eifrig in meinen tiefen Spuren emporarbeitete. „Guten Morgen", sagte ich, „wohin?" „Auf den Lerna Prst, Herr Doktor!" Er kannte mich. Wie er mir später gestand, war er mir nachgestiegen, um in meine Nähe zu kommen. Ich lud 361 ihn ein, mit mir abzusteigen. Aber er war dafür nicht zu haben. Gewiß: er wollte es mir „zeigen". Als auf¬ rechter Bergsteiger trieb ich mich dann bis zum Abend in den Wirtshäusern der Wochein herum, es war schon Nacht, als er herankam. Erschöpft, durchnäßt, aber strahlend ob seines Erfolges. Er hatte den Gipfel in der Tasche, und seine Absicht war erreicht. Damals zählte er siebzehn Jahre. Ich begann, ihn erst in die Karawanken und in die Iulischen mitzunehmen, dann ging er mit mir ins Dauphine, wo er meinen biederen Savoye und die Gaspard mit seiner Sicherheit und seiner fabelhaften Raschheit geradezu verblüffte. Das war er also. Er ist dann an meiner Seite geblieben und durch mein Leben mit mir gegangen, immer mit mir, wie und wann er nur konnte, immer treu wie Gold. Im Kriege war er mein „Bergführer". Da haben wir manchen großen Tag miteinander geteilt. Er kennt mich so gut, daß er jeden leisesten Schatten auf meiner Stirne zu deuten, meine Wünsche und Gedanken zu erraten vermag. Ich sagte nichts — und schon hatte er die schwersten Stücke aus meinem Rucksack genom¬ men und in seinem eigenen verstaut. Als ich berg¬ invalid wurde, hat er in meinem Sinne die systema¬ tische Erschließung der Iulier fortgeführt. Das habe ich schon erzählt. Die meisten der großen Probleme, die ich zurücklassen mußte, darunter sehr stolze, hat er ge¬ löst. Sein glänzender, ihm ebenbürtiger Genosse war dabei Albert Hesse, der gleichfalls meinem Herzen sehr nahe steht. Sie schliefen und schlafen mit Vorliebe, sehr viel, im Freien. Wie ich. Ich war ein großer Künst¬ ler im Anmachen -er Biwakfeuer, sie treffen es noch besser. Beide gehören nun der Erschließungsgeschichte 362 -er Iulischen Alpen an. Kommt Dougan zurück und berichtet mir, so habe ich die Empfindung, ich sei mit dabei gewesen und habe alles miterlebt. Er bringt mir die Morgenfrische der Höhen mit und die Glorie der Berge. Er ist ein Stück von mir. Gleich gut im Fels, im Schnee, im Eis. Vorsichtig, wie ich es war. Als mein junger Freund Dr. Andreas Pollitzer 1929 seine Kau¬ kasusexpedition ausrüstete, fiel seine Wahl auf ihn als Tourengenossen. So hat Dougan auch meinen alten Traum erfüllt und den Elbrus erstiegen. Allein, nach einem abenteuerlichen, kalten Biwak im Eise auf 5300 Meter, im wütendsten Schneesturm. Es sei grimmig kalt gewesen, erzählte er mir. Viel kälter, als es sich für einen Berg schicke, der einstmals Feuer gespien hat. Aber so ist es in dieser Welt: gar mancher vergißt, was er einstens wünschte, wollte und tat, und beugt seine alten Feuerideale vor den kühlen Notwendigkeiten einer neuen Zeit! Damit hat Dougan mein höchstes Biwak um 1300 Meter „geschlagen". „Es könnten auch einige Meter weniger sein", meinte er bescheiden, als ich ihm dies vorhielt. Ohne Elbrus wollte er nicht vor mich treten. „Kommen Sie mir nicht ohne Elbrus zurück", hatte ich ihm beim Abschied gesagt. Den Be¬ weis dafür hat er wohlweislich mitgenommen: des gro¬ ßen Vittorio Sella Gipfelkarte, die er nach langem Suchen fand. Er brauchte sie natürlich nicht für mich, wohl aber für andere. Sella selbst war hocherfreut, sie wiederzusehen. Noch etwas hat mich aus seiner Er¬ zählung so gut unterhalten. Des atemraubenden Or- kanes wegen stieg er das letzte Stück oberhalb des Sat¬ tels nach rückwärts schreitend hinan. Er stieg und stieg und stieg und dachte dabei, „nun müsse er ja nach aller 363 Berechnung doch schon bald im Himmelreich sein" — aber der Gipfel war noch nicht da! Auch die Suche nach dem höchsten Punkte im Kraterwall muß auf¬ regend genug gewesen sein, auf dem er die Reste zweier schwarzer Pfähle wußte, die von einem russischen Er¬ steiger, Professor Frolow, dort oben eingerammt wor¬ den waren. Endlich entdeckte er sie nach vielem, eilen¬ dem Bergab und Bergauf im Nebel und im wirbeln¬ den Schnee. Ich würde nun gerne von Dougans Lehrer sein be¬ scheidener Schüler werden und sofort antreten. Aber einige Dinge hindern mich daran, besonders, wie man weiß, einige Jährchen zu viel, die ich nicht gut verschen¬ ken, noch gar vorteilhaft verkaufen kann. So werde ich also wohl noch eine Zeitlang untätig zusehen müssen, wie weit der liebe Junge es noch bringt und um wie viel „Nasenlängen" er seinen alten Lehrer etwa noch zu schlagen gedenkt. Und der Elbrus ist nun doch noch in dieses Buch gekommen. Es gehört zu den großen Klugheiten dieses Lebens, daß man nie glauben soll, alles selber machen zu müssen. Man lasse auch andere vor und für sich die Arbeit leisten! Ich habe in diesem meinem Sang von der Freun- destreue einige Namen genannt. Wollte ich alle aus¬ zählen, die sich freundlich bemühen, meine Tage froh und glücklich zu machen, so müßte ich mich entschließen, ein kleines Adreßbuch herauszugeben. Es gehört in ge¬ wissem Sinne auch die gesamte, glänzende Triester Bergsteigerjugend hierher, die in die Iulischen Alpen geht. Ich bin ihr Berater und, wo es sein muß, ihr Warner und Mahner. Auch wirke ich dahin, daß in meiner Umgebung weniger von den Schwierigkeits- 364 graben der Berge gesprochen werbe als von ihrer Schönheit. Dafür gibt sie sich mir in unvergleichlicher Anhänglichkeit und mit einem Vertrauen, das nicht überboten werden kann. So kann ich wohl sagen, daß ich noch immer im Mittelpunkt aller alpinen Arbeit in den Iuliern stehe. Denn auch die in deren östlichem Teil tüchtig und zielbewußt arbeitenden jugoslavischen Bergsteiger, ebenso jene aus fremden Ländern, halten fest und treu zu mir. Es geschieht in diesen Bergen kaum etwas, wovon ich nicht genau unterrichtet wäre. Ich erfahre Pläne wie Erfolge. Vor fast sechzig, fünf¬ zig und noch vor vierzig Jahren war ich in den Iuliern fast allein. Heute freuen sich ihrer Bergsteiger ohne Zahl. Es sind feine Namen darunter, deren Träger Großes geleistet haben. Nenne ich neben Dougan und Hesse Emilio Comici, Riccardo Deffar, Riccardo Wittine, Dr. Basiliseo, Giorgio Brunner, Dr. Pier Paolo Luzzatto, Piero Slocovich, Orsini, Fabian, For- ni, Cesca auf italienischer, Marco Pibernik-Debelak, Paula Jesih, Edo Deržaj, Lop, Dr. Tominšek auf jugoslawischer, Ferdinand Horn, Dr. Prusik, Roman Szalay, Dr. Paul Kaltenegger, als den ausgezeich¬ neten Bearbeiter der Iulischen Alpen im neuesten „Hoch- turist", auf österreichischer, Adolf Deye auf reichsdeut¬ scher Seite, so habe ich nur die kühnsten oder sonst er¬ folgreichsten hervorgehoben, ohne im entferntesten er¬ schöpfend gewesen zu sein. Ihnen allen und allen Nach¬ folgenden ein „Bergheil" aus vollem Herzen! Geschäft und Firma habe ich meinem langjährigen Mitarbeiter und Prokuraführer Karl Haag überlas¬ sen, diese mit einem Zusatze, welcher dieNachfolgschast betont. Er war "l886 in mein Haus eingetreten. Ich 365 behielt mir nur meinen alten Sitzplatz im Bureau vor, ohne sonst irgendwie an Arbeit, Leitung oder Erfolg teilzunehmen. Ein täglicher Gang führt mich auf kurze Zeit dahin. Es ist weniger die Macht der Gewohnheit, die mich dazu veranlaßt, als der Wunsch, immer noch etwas kaufmännische Luft zu atmen und die Verbin¬ dung mit dem geschäftlichen Leben Triests nicht ganz» zu verlieren, für den Fall mich irgendein Geschick doch noch einmal, in letzter Stunde, zur Arbeit zurückzwin¬ gen sollte. Treten geschäftliche Dinge an mich heran, so fühle ich mich etwas unbehaglich und beunruhigt. Offenbar bin ich auch da nicht mehr ganz „von Lieser Welt". Aber der freundliche Leser weiß es nun schon: flugs lege ich sie auf die geduldigen Schultern dieses oder jenes zur raschen Lösung am besten geeigneten, wil¬ ligen Freundes und bin wieder froh und frei. Ab und zu reise ich zu meinen alpinen Vorträgen. Ich bin wiederholt nach Deutschland und nach Öster¬ reich gekommen, war in der Schweiz, in der Tschecho- Slovakei, in Iugoslavien, in Holland. Dazu bin ich leicht und gerne zu haben, es macht mir Freude. Ich er¬ zähle nicht von eigenen alpinen „Leistungen", von Gro߬ taten, von Heldentaten in den Bergen und glaube, ebensowenig ein großer Redner zu sein, als ich je ein Bergakrobat gewesen bin. Ich bringe Bergstimmun¬ gen, Bergpoesie, auch etwas Berghumor im Rahmen großer Fahrten und wirke, so ich mich richtig beurteile, vom freundlichen Wohlwollen meiner Zuhörer getra¬ gen, als ein kleiner, bescheidener Bergpoet. Vor allem aber wünsche ich, ein Apostel für die Iulischen Alpen zu sein, und wo ich hinkomme, verkünde ich aus tiefem, begeistertem Herzen ihr Lob. Meine Vorträge sind et- 366 was lang, weil ich dazu sehr viel Bilder zeige, doch strengen sie mich weniger an als die frohen Kneipen nachher, die sich oft in Hellen, starken Crescendi von Mosel- und Rheinwein vollziehen. Auch die dunkelregi¬ strierten Fortissimi von Rotspon in gewissen norddeut¬ schen Städten verlangen einen ganzen Mann. Mein Gott, man tut, was man kann, vielleicht manchmal etwas mehr, als man sollte. „Wir wollen doch einmal Danzig ansehen", meinte mein reizender Gastgeber in einer Rotsponpause. Wir gingen, und ich freute mich über die schönen, Prunkhaften Freitreppen, die von den Häusern in die breiten Gassen herabsteigen. Da hielt er plötzlich an und frug mich mit einer gewissen Feierlichkeit: „Verspüren Sie in diesem Augenblick nicht eine kleine menschliche Schwäche?" „Ja", sagte ich ahnungsvoll, „ich verspüre in diesem Augenblick wirklich eine kleine menschliche Schwäche". „Das haben Sie im richtigen Moment gesagt", be¬ merkte er väterlich, „denn hier ist der Lachs". Er trat bescheiden zurück, daß die Aussicht auf Haus und Auf¬ schrift frei wurde. Wir stiegen in das winzige erste Stockwerk hinauf, machten uns schlank und setzten uns an eines der reizenden Barocktischchen. Da ich dm Mai so liebe, nahm ich zuerst „Convallaria maialis", später „Crampampuli", „Danziger Goldwasser" und ande¬ res. Aber so wirklich unvergessen ist mir doch „Conval- laria maialis" geblieben. Dann fanden wir, es sei ge¬ nug erlebt, und kehrten heim, wo „Feuchte Gans" mit Rotspon unser harrte. Ja, das war wirklich ein schöner Vortrag, in Danzig! In Krefeld war der Vortrag um sechs Uhr abends. Vorher war ich zum reichen Mittagstisch eines über- 367 aus gastfreundlichen Junggesellen geladen, weitere drei Herren dazu, die mir gleichfalls Junggesellen dünkten. Wir begannen mit Hasenbraten, und ich bemerkte so¬ fort den Ernst meiner Lage. Man wollte mich, dem drohenden Vortrag zum Trotz, unter den Tisch trinken. Aber der wohlinformierte Leser weiß schon, daß ich etwas vertrage. Um sechs Uhr stand ich vollkommen klar und fix in Saal und Vortrag, während Haus¬ herr und einer der Gastkollegen etwas Planetenhaften, die beiden anderen Herren gar kometenartigen Bewegun¬ gen zuneigten. Denn sie schienen einen langen, recht hinderlichen Lichtschweif hinter sich herzuziehen und ver¬ schwanden nach kurzem, etwas nebelhaftem und my¬ stischem Aufleuchten im Saale, wohl von den uner- forschlichen Gesetzen ihrer Bahnen in unendliche Fabel¬ weiten entführt oder sonstwie vom Weltenraum ver¬ schluckt, ohne die allergeringste Spur zu hinterlassen. Wo mögen sie jetzt wohl sein? Ganz entzückend war meine Aufnahme in Laibach. Schon an der jugoslavischen Grenze wurde ich von einer Deputation beider alpinen Vereine Sloveniens feier¬ lich empfangen, an den beiden Vortragsabenden, die im großen Saale des Hotels „Union" vor je gut 1600 Zuhörern stattfanden, mit Blumen überschüttet. „Blu¬ menregen" von der Galerie, gutgezielte „Kopfschüsse" von Seite der lieben alpinen Mädchen und Jungen. Reizende Damen lösten sich vom Publikum ab und brachten mir Arme voll Blütensträußen auf das Po¬ dium: Rosen, Nelken, Flieder, Narzissen. Dies wie¬ derholte sich im kleinen Städtchen Maribor, wo sogar in der Zwischenpause ein begeisterter Chor von Stu¬ dentinnen und Studenten unter Leitung eines geift- 368 lichen Herrn schöne Hymnen auf die Berge sang. Man denke, wie das wirkte! Die Herren in Iugoslavien sagten mir, dies sei der Dank für die Art, wie ich in meinem Bergbuche von ihren Bergen und von ihrm Männern spreche. Ich gedenke dankbar meines warmen Publikums in Frankfurt am Main, in Freiburg im Breisgau, in Karlsruhe, Darmstadt, Würzburg, Augsburg, Nürnberg, im Schwabenland, des poetischen Abendes in Passau, des lieben Pforzheims mit der vornehmen Gestalt Adolf Witzenmanns und der feinen, künstle¬ rischen Einstimmung, die über dem Sautersaal -es Hellen Goldschmiedsstädtchens lag, der Vorträge im stolzen Königsberg, der erlesenen Versammlung hoch¬ alpiner Männer im schönen, ernsten Saale der Sektion Uto in Zürich. Des Glanzes im Künstlerhaussaal in Dresden, der mir unvergeßlichen Abende in Chemnitz, in Leipzig, in den lieben sächsischen und thüringischen Städtchen, deren Namen mir von Baumbachs Zeiten herüber so anmutend und vertraut anklingen. Der rührenden Herzlichkeit in Wien, in Graz und in Kla¬ genfurt, der in Bergandacht lauschenden alpinen Ge¬ meinden Niederösterreichs und der Obersteiermark. Be¬ sonders wertvoll war und ist mir immer in den alten, deutschen Universitätsstädten, so in Halle an der Saale, in Jena, Heidelberg, Göttingen, Münster, in Frei¬ burg im Breisgau, daß ich da immer in der „Aula maxima" oder sonst in einem großen Hörsaale der Uni¬ versität spreche, wo der altehrwürdige Raum und die Anwesenheit des jeweiligen Rector magnifieus dem Abende einen besonderen, akademischen Festescharakter verleihen. Vivat Aeademia! Es werden wohl bei zwei- 36S hundert Vorträge sein, die ich in diesen letzten vier oder fünf Jahren gehalten habe. Es bedeutet mir einen guten und harmonischen Ausklang, wenn die vielen steilen und steilsten Linien, welche die Berge in mein Leben gezeichnet haben, nun durch die vielfachen und weiten Eisenbahnfahrten in einer großen und geruh¬ samen Horizontalen auslaufen. Will's Gott, so soll diese immer noch etwas länger werden. Meine Sommermonate verbringe ich immer noch in Wolfsbach, dem jetzigen Valbruna, an der breit ge¬ öffneten Eingangspforte zur Seissera. Da arbeite ich, und bin ich dessen müde, so mache ich Spaziergänge zu meinen auf den Feldern beschäftigten Bauern oder sitze still auf der Bank vor dem Oitzingerhause, in dem ich wohne. Auch dieses Buch habe ich in Wolfsbach be¬ gonnen und dort zu Ende geschrieben. Zwischen Kirche und Kriegsstraße liegt ein schönes Stücklein Wiesen¬ land, das ich ob seiner sanften, grünen Wellen und ob des stillen Friedens, den es atmet, „Savoyen" nenne. Dort schreite ich gerne durch das im warmen Sonnen¬ schein leise knisternde Gras und freue mich der farbigen Pracht der Blumen. Es blühen rote und auch weiße Zentaureen, schlanke Spierstauden, flammende Licht- nelken, bunte Geranien, wohlriechende Gymnadenien, die schwarzblaue Ackelei, der ragende Talstern, gelbes Labkraut, farbige Lippenblütler, auch seltener die gol¬ dene Bergarnika, ab und zu eine verschwiegene, heim¬ lich sinnende Orchis ustulata. Stolze, breitblättrige Umbelliferen stehen hoch und aufrecht da und verkün¬ den aus großen, weißen Schirmen weithin, daß sie zu Hause sind und gerne Besuch empfangen. Denn sie sind einem guten Tratsch nicht abgeneigt und über- 370 Haupt etwas oberflächlichen und hohlen Wesens, wie Schaft und Stiele es ja auch genugsam bezeugen. Ich freue mich des Großen wie des Kleinen, nehme alles froh und dankbar hin. Meine Ausflüge in die Berge werden immer bescheidener. Der Luschari scheint mir schon etwas steil. Die Schwierigkeitsskala, mit der ich messe, verschiebt sich von Jahr zu Jahr, immer mehr. Es wird den heutigen Anhängern der modernsten und schärfsten Tonart geradeso ergehen. Für jeden von uns kommt die Zeit, wo das Leichte schwierig, das Schwierige „überaus schwierig" und schließlich Leichtes wie Schwieriges unmöglich wird. Ich bewege mich nun schon mitten in einem beschaulichen „Adagio". Auch das ist schön, und das Leben immer noch anziehend und lebenswert. Aber die gewaltige Špranje zieht mich all¬ jährlich unwiderstehlich an. Ich bin klug und fahre da immer mit dem Ochsenkarren Oitzingers bis zur „Deut¬ schen Alm", was wohl drollig aussehen muß, denn die Leute bleiben stehen und blicken mir verwundert nach. Doch habe ich in meinem Leben schon drolligere Sachen gemacht. Ein Fichtenbaum bezeichnet meinen Rastplatz im unteren, großen Kar, eine offene Feuerstelle davor. Wie ist die Schau -ort groß. Manchmal geht die Sonne hinter dem Montasch so glorreich nieder, daß ich an Palestrina denken muß. Nun glaube ich, aus meiner Arbeit, aus meiner Musik und aus -en Bergen meines Lebens alles erzählt zu haben, was mir erzählenswert schien. Es ist nicht viel, so fürchte ich, und sollte nach Inhalt und Form wohl auch bedeutender und fesselnder sein. Gewiß sind weit erzählenswertere Leben gelebt worden, ohne daß darüber auch nur eine einzige Zeile geschrieben worden 371 wäre. Gar ost ist es mir während des Niederschreibens dieser Erinnerungen etwas beängstigend auf das Herz gefallen, daß einem derartigen Unternehmen bei aller ehrlichsten Absicht immer etwas Unbescheidenheit, wenn nicht gar Selbstüberhebung anhaftet. Man habe Nach¬ sicht. Ich hatte vielleicht nur zu sagen, daß Arbeit, Musik und Berge eine Trias darstellen, mit der es sich gut leben läßt. Ein mir wohlgesinnter Leser wird sicher¬ lich auf mancher Seite dieses Buches einen gutgemein¬ ten, kleinen Hymnus auf die Arbeit gefunden haben. Denn ich hoffe doch, mein ganzes Leben in ihrem Zei¬ chen geführt zu haben. Ich fühle mich nur wohl, wenn ich ihren Atem verspüre. Sei es auch nicht mehr der heiße Atem der harten, herrischen und zwingenden des Berufes, sondern nur mehr der mildere und weichere einer selbstgewählten, auf idealen und freien Wegen einherschreitenden. Ehrliche Arbeit ist es immer, und ich kann nur dann zufrieden sein, wenn ihr Adel über sedem meiner Tage liegt. 6ies sine lines. Ein Leben, das mich zwingen würde, meine Hände vollends in den Schoß zu legen, wäre nicht für mich. Man hat es gesehen, daß ich manchmal — selten, Gott sei Dank, und nur vorübergehend — zur Arbeits¬ einstellung verurteilt war. Das sind meine schlimmsten Zeiten gewesen. Es bedurfte dann nicht des Brausens einer ganzen, schwer arbeitenden Stadt und nicht des Rasselns eines atemlos hastenden, von Rauch und Lärm erfüllten Hafens: das ferne, feine Klingen eines Eisen¬ stabes, darauf irgend ein kleiner, fleißiger Spengler in einem vergessenen Hinterhofe seinen Hammer im Takte niederfallen ließ, genügte schon, meine müde, wunde Seele aufhorchen zu lassen, ward ihr zum schar- 372 fen Weckruf, zur Mahnung und zum Vorwurf. „Ar¬ beite!", rief jeder Schlag, und sie schämte sich Lief. Je ernster und schwieriger die Arbeit gewesen ist, von der ich kam, um so festlicher empfingen mich immer die Berge, um so feierlicher erklang mir alle Musik. Ar¬ beit sei der feste Grund und Boden, aus dem wir uns, gestählt, sicher, stark und froh, zu den Hohen unserer Ideale erheben. Blicke ich zurück auf mein Leben, so dünkt es mir, als schaue ich von einer erreichten, ruhigen Höhe hinab auf einen farbig blühenden Garten. Viel warmes Glück ist mir beschicken gewesen, viel Schönheit, viel reine Freude. Auch manches schwere Leid, das aber leise und allgemach im lindernden Duft der Ferne verschwimmt. Wo dunkle Irrgänge vorkamen, da hat sie ein freund¬ liches Walten in das sanfte Licht der Versöhnung und des Friedens ausmünden lassen. Wo Ungeduld, un¬ erfüllbares Wünschen und Enttäuschung, hat es für einen stillen und sicheren Hafen der Ergebung gesorgt. Aus Blüten und Farben tönt allenthalben leise Mu¬ sik. Die Wege meines Lebens sind von ihr erfüllt. Nun stehe ich in seinem Abgesänge. Ganz kenne ich ihn noch nicht. Allmählich und leise sinkt er herab. Aber so viel ist sicher, daß es kein heldenhafter wird, keiner nach Händels gewaltiger Art. Ein solcher gebührt mei¬ nem bescheidenen Lebensgang nicht. Auch Bach, Beet¬ hoven oder Palestrina werden nicht anklingen. Dürfte ich nach meinen Wünschen frei wählen, so würde mir am besten einer von Schuberts Liederinnigkeit für mich gefallen. Kein trauriger jedoch. Nein, einer, der dank¬ bar zurückblickt und kampf- und wunschlos sich fügt. Er soll gleichsam wie aus ausgeglichenem und heiterem 373 Herzen kommen, zufrieden sein, von seligem Gedenken erfüllt, von milder Abendsonne hell, freundlich ver¬ klingen und ruhevoll. Ein Heimgesang, mit dem man gerne nach Hause geht. Ein solcher sei zum Beschlüsse mir gnädig beschieden. 374 Anmerkung der Verlages: Das in diesem Buche mehrfach erwähnte „Bergbuch" ist gleichfalls beim Bergverlag Rudolf Rother, München, erschienen: Dr.JuliuS Kugy,AuS dem Leben eines Bergsteigers Z. Auflage, ZöO Seilen, Lexikongröße, mil S4 Kunstdrucktafeln. In Leinen mit farbigem Schutzumschlag RM l ö.—