Brane Senegačnik Die Form als öffnender Schluss Als ich die freundliche Einladung bekam, an einem Symposium über das Problem der Form in der postmodernen Kunst teilzunehmen, das von zwei kunstakademischen Institutionen veranstaltet wird, fühlte ich mich zwar sehr geehrt, war aber trotz aller Freude ein wenig verwundert: über die bildende Kunst weiss ich nämlich traurig wenig, und ich bin weder Philosoph noch Kunstpsychologe. Als klassischer Philologe kann ich zu den Diskussionen über dieses Problem bestenfalls einige spröde geschichtliche Fussnoten beisteuern. „Soll ich dann also die Erfahrungen meiner Auseinandersetzungen mit der literarischen Form als Dichter beschreiben?", fragte ich skeptisch. Die Antwort, ebenso freundlich wie die Einladung, lautete: „Ja." Und deshalb bin ich nun also hier, um als Dichter zu sprechen; natürlich ohne jegliche Befugnisse, über dieses Thema im Namen der Dichter allgemein zu sprechen, sondern einfach nur um zu schildern, was ich vom niedrigen Aussichtsturm meiner individuellen dichterischen Erfahrung aus sehe. Ich werde also von meinem ganz persönlichen autopoetischen Standpunkt aus sprechen, wobei dies nicht zwangsläufig völlig subjektiv sein muss, wie es ja eigentlich überhaupt kein einziger sprachlicher Akt sein kann, da ein solcher nun einmal Ausdruck der jeweils verwendeten Sprache ist (obwohl wiederum in jedem sprachlichen Akt bzw. bei jeder Schöpfung einer Bedeutung die Teilnahme des Subjekts unausweichlich ist1). Meine Vorstellungen von Autopoetik 151 1 Hier stütze ich mich auf die prägnanten Beschreibungen der Rolle des Subjekts beim Reden bzw. der Schöpfung der Bedeutung, wie sie von Manfred Frank entwickelt wurden, insbesondere im Werk Das Sagbare und das Unsagbare, Frankfurt am Main 1990. 152 und auch davon, in welchem Zusammenhang es überhaupt sinnvoll ist, diesen Begriff zu verwenden, sind folgende: Autopoetik ist die Gesamtheit von betont individuellen Vorstellungen davon, wie in einer bestimmten Zeit Poesie zu schreiben ist und warum sie überhaupt zu schreiben ist. Aber auch eine solche betont individuelle Haltung ist stark von der konkreten geistig-historischen Situation abhängig: Erst deren Verständnis ermöglicht die Entdeckung des Sinns der Dichtkunst in der modernen Gesellschaft und der eigenen individuellen Situation in ihr; die Kenntnis darüber, wie die Menschen in einer bestimmten Zeit „ticken" bzw. „tickten" ist dabei unumgänglich: Da der Kunst die Kommunikationsfähigkeit inhärent ist, versucht der Dichter bei der Schaffung seiner Autopoetik, Kommunikationswege für seine spezifische künstlerische Message zu finden oder zu schaffen, wie sie zu einem bestimmten Augenblick des Lebens in einer Gesellschaft möglich sind. Die Auswahl derselben allein ist natürlich schon subjektiv bzw. individuell, und gerade in dieser Auswahl begründet sich das Prinzip der Autopoetik, deren Entstehung und Rechtfertigung die Befürworter für gewöhnlich mit der Unverbindlichkeit und beliebigen Verfügbarkeit der Tradition und mit der gesteigerten Bedeutung der individuellen - um nicht zu sagen: idiosynkratischen - Züge des Individuums erklären. Vielleicht mag mein Beitrag jemandem als eine Art schwer verdauliches Durcheinander personalistischer Ideen, phänomenologischer Erkenntnisse und scholastischer Ansichten erscheinen; ich hoffe aber, dass er zumindest die ein oder andere im Kontext dieses Symposiums brauchbare Information geben kann. Brauchbar könnten meiner Meinung nach insbesondere solche Informationen sein, die zu zeigen vermögen, dass auch die Poesie trotz ihres ehrwürdigen Alters eine zeitgemässe Kunstform ist und dass sogar eine bestimmte (und zwar nicht völlig triviale) Analogie zwischen der Rezeption eines dichterischen Textes und einer so ausgesprochen modernen und bedeutenden Kunstpraxis wie dem Happening besteht. Kurzum, wenn das Schreiben und Lesen von Poesie keine völlig überlebte Kunstform darstellt, kann das Wissen über sie zumindest in gewissem Masse das Bezugsfeld der Theorie der postmodernen Kunst relevant erweitern, innerhalb dessen auch die Diskussion über die Aufhebung und Neubegründung der Form in visuellen Künsten der postmodernen Zeit verläuft. Poesie und bildende Kunst Ist es leichter oder schwerer, von Poesie zu sprechen als von visuellen Medien, die in der schwer definierbaren Sphäre der neuen Kunstpraktiken bestehen? Soweit ich es selbst beurteilen kann: sowohl als auch. Die Poesie ist nämlich eine sehr alte Kunst, und allein schon die Tatsache, dass sie sich erhalten hat, zeugt von ihrer Konservativität. So scheint es zumindest, wenn man die Statik ihrer in Jahrhunderten nur wenig veränderten Grundprinzipien, Mitteln und Strategien mit der schon Schwindel erregenden konzeptualen Dynamik der modernen Kunstpraktiken vergleicht. Wenn jemand von Poesie spricht, wird er stets in gewisssem Masse durch das furchtbare Gewicht der Tradition und durch die Möglichkeit, unwissentlich alte Wahrheiten zu wiederholen und Triviales zu sagen, gehemmt; dennoch ist es auch möglich, dass seine Worte eine überprüfte und relativ dauerhaft relevante Bedeutung haben. In den modernen visuellen Künsten (soweit mir bekannt ist, werden die Grenzen dieses Begriffs in den letzten Jahrzehnten unaufhörlich verschoben) ist die stetige Entstehung neuer Begriffe an neue Formen und Technologien gebunden, die allein schon mit ihren unerforschten kreativen Potenzialen neue Herausforderungen, Fragen, Verlegenheiten bringen und die Möglichkeit einer allgemein und dauerhaft gültigen theoretischen Erörterung irgendwie laufend blockieren. Erleichternd ist andererseits gerade die Tatsache, dass man von einem einzelnen Medium und seinen ästhetischen formalen Potenzialen sprechen kann: Eine solche spezialistische Erörterung kann ganz einfach deshalb interessant und nützlich sein, weil es sich um ein attraktives Medium handelt, obwohl es keine breiteren, „allgemeinen" Implikationen hat. Wenn man von populären Medien oder von der Ästhetik neuer Technologien spricht, kann man wahrscheinlich mit einer wesentlich grösseren Resonanz rechnen als bei der Erörterung einer absterbenden Kunstgattung, wie es - so sagen wohl die Statistiken - die Poesie ist. Ein glücklicher Umstand für die Poesie ist allerdings, dass sie inhärent mit der natürlichen Sprache verbunden ist - und noch mehr: dass sie deren äusserste Möglichkeit ist. Denn nirgendwo anders war die sprachliche Aktivität so lebhaft wie auf dem Gebiet der Poesie: Hier entstanden durch die Jahrhunderte komplexeste Sprachformen (ein Meer an mit metrischen Schemen markierten Sprachrhythmen, komplizierte Tropen, verblüffende Verdichtungen des Ausdrucks, erleuchtende Anakoluthe, Gedankensprünge). Gerade weil der ursprüngliche Impuls für die Entstehung dieser Sprachformen keine „äussere" Ordnung der normativen Poetik, Metrik oder Rhetorik war, sondern die lebhafte Beziehung des Menschen zur Wirklichkeit (die nie erschöpfend und abschliessend sprachlich fixiert werden kann), konnten diese Elemente der poetischen Sprache auch in anderen Genres bzw. anderen Bereichen der Kommunikation verwendet werden.2 (Es ist kein Zufall, dass die Griechen z. 2 Am Rande sei Folgendes hinzugefügt: Wir wissen zwar, dass normative Poetiken bzw. Systeme poetischer Konventionen einen sehr grossen Einfluss auf das dichterische Schaffen 153 154 B. auch den Ursprung der Redekunst, die nicht nur ein Benutzer des rhetorischen Arsenals par excellence, sondern auch seine Hauptquelle war, in Homer sahen). Und da die Menschen, wenn sie solche im umfassenden Sinne des Wortes bleiben möchten, nicht ohne natürliche Sprache, nicht ohne Entdeckung der Grenzen der eigenen Fähigkeiten und Identität bestehen können, die Poesie wohl so unsterblich, oder es besteht zumindest stets die Möglichkeit ihrer Wiedergeburt. In einem Punkt aber ist die Poesie, wenn man es sich recht überlegt, überraschend modern. Ihre Rezeption ist nämlich stets auch ein Ereignis, ein Happening, und zwar in zweierlei Bedeutung: Der Vortrag von Gedichten bei einer Lesung, auch wenn sie (wie es oft der Fall ist) in einer noch so „kammerartigen" Atmosphäre stattfindet, kann verbinden und eine momentane Gemeinschaft schaffen, die sich als Gefühl einer intimen, geheimen Verbundenheit erhalten kann. Aber auch sonst ist jedes wirkliche, intime Lesen von Poesie jedesmal zumindest ein wenig anders und entfaltet eine ganz eigene Dynamik und Kraft: Bei der Poesie - hierbei habe ich insbesondere die Lyrik (oder zumindest den lyrischen Aspekt der Poesie) im Sinn - geht es nämlich nicht darum, sie zu „kennen", sie als einen Gebrauchswert aufzubewahren; vielmehr erleben wir ein und dasselbe Gedicht immer von neuem, in immer neuen, unvorhergesehenen Leseabenteuern. Wenn wir von der Grösse der hohen Poesie - der klassischen oder der zeitgenössischen - sprechen, muss der Leser eine relativ grosse Anstrengung in den Rezeptionsakt investieren, wenn er das Gedicht adäquat konkretisieren möchte bzw. wenn es in einer authentischen - dies bedeutet: sehr komplexen - sekundären Existenz aufleben soll. Das Lesen, zu der die in der Geschichte hatten, doch bedeutet dies natürlich nicht, dass sie eine ursprüngliche Tatsache sind: Tiefgründig betrachtet sind sie nur Rationalisierungen (und in gewissem Masse auch Reduzierungen) des „ursprünglichen Materials", sprachlich-kreativer Initiativen, die aus dem lebendigen Verhältnis des Menschen zur Realität hervorgehen. Und gerade deshalb konnten sie sich durch die Geschichte hindurch intensiv verändern. Doch dürfte man in solchen Systemen meiner Meinung nach nicht etwas ausschliesslich „Negatives", einen die Kreativität begrenzenden Faktor sehen. In gewissem Masse gilt sogar das Gegenteil: Wenn z. B. antike Dichter bestimmte dichterische Fertigkeiten (genauer gesagt: die individuelle Anwendung bestimmter sprachlicher Regeln) erlernen mussten, verlangte dies von ihnen nicht zuletzt auch, dass sie ein Verhältnis zur Realität herstellen, das von der Anwendung dichterischer Mittel impliziert wird (also genau bestimmter, insbesondere komplexer Sprachregeln). Und wie auch immer die dichterische Sprache (und das mit ihr verbundene Verhältnis zur Realität) konventionalisiert wurde, stellte sie dennoch eine Abweichung vom routinisierten Verhältnis zur Realität dar, wie es - zumindest in überwiegendem Masse - in der üblichen, brauchbarkeitsorientierten (nicht selbstbezogenen) funktionalen Umgangssprache zum Vorschein kommt. (insbesondere lyrische) Poesie einlädt, ist nämlich ein interesseloses Ausstrecken zu jemand anderem hin, das zugleich ein Austrecken zu sich selbst ist; ein lebendiger Beweis für Bubers „dynamische Zweiheit, die das Menschenwesen ist: hier das Gebende und hier das Empfangende, hier die angreifende und hier die abwehrende Kraft, hier das nachforschende und hier das erwidernde Element, und immer beides in einem, einander ergänzend in wechselseitigem Gegenspiel, das den Menschen erst ausmacht."3 Das Lesen ist also in gleichem Masse wie das Erkennen des anderen auch das Erkennen seiner selbst am gleichen Text: ein Erkennen, das - indem es durch den Text, durch das Sprachgewebe, durch die Welle unendlicher archi-ecriture, durch ein unübersichtliches Meer an historischen und potenziellen Bedeutungen hin zum anderen gleitet - sich über sie erhebend die „grosse Welt" des Lesers und des Autors enthüllt,4 deren zweite, echtere Wirklichkeit, in der sie beide inmitten der ewig offenen Möglichkeiten voreinander und vor der Welt stehen. Wirkliches Lesen ist ein tief erotisches Verhältnis: ein unaufschiebbarer Wunsch nach dem anderen, der sich trotz magmatischer Leidenschaftlichkeit nicht in meiner Gewalt gegen den Autor erfüllt, sondern darin, dass ich zulasse, dass er mich führt, dass er mich in sich hineinlässt, wo ich sein Wesen untersuche und dabei unbekannte Formen und Wurzeln meiner selbst ertaste. 155 Die Relevanz der literaturtheoretischen Erörterung der dichterischen Form und deren Voraussetzung Eine Fülle an allgemeinen Theorien ist manchmal ein Zeichen von Ohnmacht. Nie spricht man so viel wie in Zeiten, in denen nichts Wertvolles geschaffen wird, was Bestand hätte", schrieb Maurice Nédoncelle.5 Dies war vor nunmehr vierzig Jahren; für manchen klingen solche Worte irrelevant oder gar trivial in einer Zeit, in der gerade die Dialektik von Theorie und Praxis, ihre gegenseitige Kritik und Kontrastbeleuchtung sowie das in unzähligen Nuancen realisierte fruchtbare Zusammenspiel des Schaffens und seiner Reflexion besonders charakteristisch für die Kunst sind. Aber ich spreche von der Poesie, und überdies bin ich klassischer Philologe von Beruf, weshalb Sie verstehen werden, dass die Zeit für mich in einem anderen Tempo verläuft. Obwohl die dichterische und wissenschaftliche Sprache schon in alten Zeiten 3 M. Buber, Das Problem des Menschen, Heidelberg 1982, S. 169. 4 Vgl. E. Neumann, Der schöpferische Mensch, Frankfurt am Main 1995, S. 61-103. 5 M. Nédoncelle, Introduction à l'esthétique, Paris 1963, S. 1-2. miteinander verflochten waren, obwohl es in so mancher zeitgenössischen Poetik zu einer Fusion von dichterischen Ansichten und wissenschaftlichen Erkenntnissen kommt, obwohl sich die bedeutenden philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts auf die dichterische Sprache stützten, bin ich dennoch der Meinung, dass der Graben zwischen der diskursiven und der dichterischen Welt aus grundsätzlichen Gründen nie völlig überbrückt werden kann. Vielleicht hat das Nicht-sehen-wollen dieses Grabens breitere Implikationen; vielleicht wurzelt die „Krise" der zeitgenössischen Kunst, von der nicht wenige Denker sprechen, auch im Vergessen dieses Grabens. Natürlich kann auch das Gegenteil stimmen: Vielleicht ist meine Ansicht altmodisch. Allerdings stehe ich mit ihr nicht allein da. In diese Richtung dachten und denken Dichter wie Octavio Paz und Yves Bonnefoy und auch Kunsttheoretiker wie Roman Ingarden, George Steiner und Hans Ulrich Gumbrecht. Jeder von ihnen sieht auf seine Weise eine Kraft in der Kunst, die Präsenz herstellt. Doch mehr dazu später. 156 Die Form ist ein Begriff, der signalisiert, dass wir uns in der Welt der Reflexion befinden; oder vielleicht besser ausgedrückt: ein Begriff, der nur im Gravitationsfeld der Reflexion existieren kann. Die Reflexion wiederum ist ihrem Wesen nach ein Rückblick, ein Austreten aus dem Lebensfluss, und sei dieser auch noch so stark. Natürlich ist sie auch ein Teil von ihm, sogar ein unentbehrlicher Teil; wahrscheinlich gibt es überhaupt sehr wenig Handlungen, die ohne Reflexion unternommen werden; doch je mehr die Reflexion wirklich Reflexion ist, desto stärker ist der Austritt aus dem Fluss der unmittelbaren Lebensnotwendigkeit, den sie verlangt. Gewiss gibt es unzählige Stufen und Formen der Reflexion: Manche erfolgen ganz nebenbei, sozusagen unbemerkt, unbewusst, sie sind entweder so routiniert oder ihrem Zweck und Umfang nach so begrenzt, dass sie fast die Bedeutung eines wahren Blicks zurück, zu sich selbst, verlieren, eines Rückblicks, der das Wesen der Reflexion ist und einen Austritt aus dem Fluss der unmittelbaren Lebensnotwendigkeit voraussetzt. Auch solche „echten" Reflexionen sind wichtig, manchmal in ganz funktionalem Sinn, damit man z. B. eine politische oder eine familiäre, zwischenmenschliche Situation aus der Distanz beurteilen und konkrete Lösungen finden kann, die man in der jeweiligen Umgebung notwendigerweise zum Überleben im engeren Sinn benötigt. Die globale Reflexion enthüllt uns in der Regel etwas über uns selbst, über die Welt, etwas, dessen Funktion wir erst entdecken müssen oder der wir uns erst bewusst werden müssen, um sie funktional reflektieren zu können. Eine solche Reflexion entsteht unter anderen Bedingungen als denen, die wir kennen, wenn wir in den unmittelbaren Lebensfluss einbezogen sind.6 Und was ist dann das Dichten: Ist es Reflexion oder nicht?7 Völlig klar ist, dass das Erschaffen und in so manchem Fall auch das Lesen von Poesie eine Reihe von reflexiven Akten impliziert. Die Griechen hielten die Poesie nicht einfach grundlos für die Tochter der Mnemosyne, der Göttin des Gedächtnisses: Das Gedächtnis - und dies bedeutet natürlich eine Orientierung in die Vergangenheit - ist seit jeher eines der häufigsten Themen und Anregungen für die Entstehung der Poesie. "Animum reflectere', lautet Vergils Phrase (Aeneis 2, 741): "den Gedanken in die Vergangenheit wenden", in eine andere Richtung als die, in die das unerbittliche fatum weist, das uns immer weiter schickt, in die Zukunft, auf den Weg unausweichlicher Handlungen (wenn auch nur mit dem Ziel, den Sinn dieses Weges besser zu erfassen). Und wir alle kennen ja den Ausdruck „reflexive Lyrik", der am klarsten den Zusammenhang zwischen Poesie und Nachdenken zeigt, zwischen Poesie und dem reflexiven Austritt aus dem Lebensfluss. Und dennoch realisiert sich die Poesie am tiefsten in einem verstärkten Selbsterlebnis (das auch ein verstärktes Erlebnis der Welt ist); die wesentliche „Wirkung" der Poesie ist ein gesteigertes Gefühl für die Existenz bzw., wenn ich nochmals dieselbe Metapher benutze, ein Gefühl der äussersten Verstärkung des Lebensflusses. Und dieses Gefühl stellt sich unter den Bedingungen der rein reflexiven Erfassung nicht ein. Deshalb scheint es mir notwendig, dass in der Reflexion des dichterischen Werkes, wenn dieses authentisch und fruchtbar sein soll, eine lebhafte Erinnerung an diese elementare Erfahrung bewahrt wird. Persönlich bin ich davon überzeugt, dass die einzigen wirklich relevanten Erkenntnisse über die Poesie gerade von denjenigen Autoren und Lesern kommen, die in der Lage sind, so zu reflektieren, dass sie dabei nicht den Reichtum der eigenen dichterischen Erlebnisse ersticken und so in ihren theoretischen Texten einen „fühlbaren" Kontakt zu dem herstellen, was eine fundamentale Dimension der Poesie ist (zum Beweis dessen genügt es, das Kapitel über metaphysische Qualitäten in einem so 6 Obwohl Folgendes anzumerken ist: 1.) Natürlich treten wir auch in der Zeit der Reflexion nicht völlig aus dem unmittelbaren Lebensfluss aus, vielmehr reduzieren wir für gewöhnlich die Intensität der Überlebenshandlungen; 2.) Für die globale, philosophische Reflexion ist eine Art „Entelechie" charakteristisch: Normalerweise läuft sie nämlich von selbst in einen erweiterten, vertieften intensivierten Lebensfluss aus; als ob man mit ihr einen Schritt zurück machen würde, um zwei nach vorn machen zu können. 7 Hier lasse ich die Frage beiseite, ob die Beschäftigung mit der Poesie zu den elementaren Überlebenstätigkeiten zählt; natürlich bietet sich von selbst eine verneinende Antwort an, doch in gewissem Sinne könnte man auch bejahend antworten, insofern man sich eine zivilisierte menschliche Existenz nicht ohne Poesie vorstellen kann (durch welche Kapillaren auch immer sie die Gesellschaft speist und sie zu wesentlich mehr als einer biologischen Gemeinschaft macht). 157 158 exakten und stellenweise nüchternen Werk wie Ingardens „Das Literatische Kunstwerk" zu lesen). Was ist die innere Form? Mit einem ähnlichen Problem sind wir bei der Frage der Form des literarischen Werkes konfrontiert. Mit dem Ausdruck „Form" ziele ich auf das ab, was die Literaturtheorie mit dem Ausdruck „innere Form" bezeichnet: einfach gesagt ist es die spezifische Ausbildung des Stoffes. Einfachheit ist aber nicht immer eine Tugend, und da diese Definition nur wenig mehr als nichts sagt, müssen wir anschliessend versuchen, präziser zu sein: Die innere Form ist eine Anordnung bzw. Verbindung von metrischen, euphonischen, semantischen Elementen sowie von erzählerischen und stilistischen Verfahren, zu denen natürlich auch die verschiedenen Arten und Funktionen der Verwendung von Genre- und Sprachgattungselementen sowie von historischen und fremdsprachigen Elementen zählen; ferner von Kompositionsprinzipien, des Systems der inner- und aussertextuellen Referenzen sowie von motivlichen und thematischen Elementen; und sicher würde eine präzisere theoretische Betrachtung ihre Dimensionen noch weiter ausweiten und detaillierter definieren. Vielleicht kann man sich in der phänomenologischen Sprache um eine Nuance bündiger und doch nicht zu vage ausdrücken: Die innere Form ist die Organisiertheit aller Schichten des literarischen Kunstwerks - der Schichten der sprachlichen Wortlaute, der Schichten der Bedeutungseinheiten, der Schichten der dargestellten Gegenständlichkeiten sowie der Schichten der so genannten schematisierten Sichtweisen.8 Wie dem auch sei, die innere Form ist bei jedem dichterischen Text spezifisch und wird häufig als dessen Identität aufgefasst. Im Sinne eines objektiven wissenschaftlichen Terminus kann dieser Begriff nur schwer bei der Analyse konkreter Werke verwendet werden, weil die Erkennung der inneren Form nicht nur eine ausserordentliche Befähigung, sondern auch ein spezifisches Auffassungsvermögen und eine intuitive Geistesschärfe erfordert, die häufig zu schwer vermittelbaren (fast nicht objektivierbaren) Beobachtungen und Erkenntnissen führen; die innere Form zeigt sich zudem in verschiedenen Lebenssituationen des Lesers auf unterschiedliche Weise und ihr Erscheinungsbild (und damit auch ihre Ergründlichkeit) ist wegen der Abhängigkeit von der grundlegenden Stimmung des Lesers variabel. Die innere Form ist ganz im Wesentlichen diese Verbindung von „niedrigeren", exakter beschreibbaren formalen Elementen. Sie ist dasjenige Element des literarischen Werkes, das 8 Vgl. R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk, Tübingen 1972, S. 26. sich - phänomenologisch ausgedrückt - erst in der konkretisierten Existenz des literarischen Werkes zeigt. Wenn man versucht sie zu erklären, indem man sie auf „niedrigere", exakter beschreibbare Formen zerlegt, verliert sie sich. Bei ihr ist es ähnlich - um einen althergebrachten Vergleich zu verwenden - wie mit einem Wasserfall: Ein Wasserfall als eine Form des Wassers „ist", solange er fällt, solange er „lebt"; er kann weder angehalten noch zerlegt werden. Man kann ihn zwar einfrieren oder fotografieren, doch dabei ändert man ihn entweder wesentlich oder man verliert seine transzendentale reale „Präsenz". Nur solange er fällt, kann man das kleine Wunder seiner Existenz, : der Tatsache, dass er ein und derselbe bleibt und von den unentwegten Veränderungen seines aufgeschäumten, sprühenden Wassers lebt, erfahren. Die „Wirkung" des Gedichtes ist analog zur Wirkung der Metapher, wie sie der amerikanische analytische Philosoph Donald Davidson beschreibt, nur dass sie natürlich komplexer ist, da die Wirkung der Metapher nur eines (wenn auch vielleicht das „königliche", stärkste) der Elemente der Wirkungsökonomie des Gedichtes ist. Seiner Ansicht nach unterscheidet sich die Metapher von den üblichsten Ausdrücken nicht nach der Bedeutung, sondern nach dem speziellen Gebrauch,9 weshalb sie „keine Mitteilung trägt und keinen (kognitiven) Inhalt oder Bedeutung hat (ausser ihrer wortwörtlichen Bedeutung),10 vielmehr weist sie den Leser darauf hin, drängt ihn, etwas zu bemerken: Indem er eine wortwörtliche Behauptung ausspricht, flüstert er ihm eine bestimmte Einsicht ein oder inspiriert ihn zu einer solchen. Kurzum - hier greift Davidson zu Hera-klits Erklärung über das Orakel von Delphi - er macht Anspielungen. Doch er fügt an: Die Schlüsselfrage ist, worauf er anspielt. „In der Tat hat das, worauf uns eine Metapher hinweist, keine Grenzen", fährt er fort, „und vieles von dem, was zu bemerken wir herausgefordert sind, ist seinem Charakter nach nicht propositional. Wenn wir zu sagen versuchen, was eine Metapher „bedeutet", stellen wir bald fest, dass das, was wir erwähnen möchten, kein Ende hat."11 Was wir vom metaphorischen Licht beleuchtet bemerken, ist seinem Charakter nach im Allgemeinen nicht propositional.12 159 9 D. Davidson, Kaj pomenijo metafore (Was Metaphern bedeuten), in: "Kaj je metafora?" (Red. B. Kante), Ljubljana 1998, S. 205 10 Ibidem, S. 207. 11 Ibidem, S. 209. 12 Ibidem. 160 Die Enthüllung unpropositionaler und unbegrenzbarer Inhalte durch völlig konkrete Inhalte und formale Verfahren ist meiner dichterischen Ansicht nach die authentischste Spezifik der dichterischen Sprache oder, scholastisch gesagt: Die Eröffnung derartiger Einsichten ist das ultimum de potentia des dichterischen Textes. Erst die Aktualisierung dieses Potenzials schafft die dichterische Identität des Textes.13 Ihre „Wirkung" ist nicht die Abschaffung, sondern der Durchbruch, die Relativisierung, des alltäglichen oder des empirischen Horizonts und zugleich die „Authentisierung" des Horizonts der menschlichen Realität (vielleicht könnte man in der geschichtlichen Wirklichkeit eigentlich von einer unaufhörlichen „Re-Authentisierung" sprechen, die zu jeder Zeit, mit jedem Gedicht von neuem geschieht). Es ist die Eröffnung der Wirklichkeit in ihren transzendenten, fundamentalen oder, wenn jemandem dieser Ausdruck besser gefallen mag, fundament-losen Dimensionen. Ich habe keine „Restauration" eines geordneten und übersichtlichen, klar bestimmten Menschenbildes im Sinn, das eine horizontale (historisch-empirisch bestimmbare Existenz) und eine horizontale (Offenheit hin zur Transzendenz) Dimension hat; das Gedicht bedeutet für mich keine Evokation bereits bekannter, genau projektierter Gefühle von Transzendenz mit einem umfangreichen Apparat von dichterischen Mitteln; was ein Gedicht verursacht, ist ähnlich einem (momentanen und stets andersartigen) Gefühl, dass der Himmel nicht nur über uns, sondern auch unter unseren Füssen ist, dass er - als Ungewissheit und Traum, als Atem der Verstorbenen und der noch nicht Geborenen - aus jeder Sache atmet; dass zusammen mit uns alles in eine fürchterlich attraktive Offenheit hinein hängt; es ist eine Hymne an die empirisch-historische Welt und zugleich eine Threnodie über ihre Sinnlosigkeit. Ein Moment, in dem sich das Leben durch ein Ge- 13 Ich bin mir bewusst, dass eine solche Behauptung kulturell bedingt - genauer gesagt: euro-zentrisch - ist. Doch geht es mir hier nur darum, dass in sehr verschiedenen Kulturen auch in Zeiten, in denen keine Kontakte zwischen ihnen bestanden, sprachliche Aktivitäten anzutreffen sind, die man (vom „eurozentrischen" Standpunkt aus betrachtet) unter dem sprachlich-technischen Aspekt als rhetorische (poetische) Figuren und Verfahren und unter dem Aspekt der Wirkung als die Herstellung eines Kontakts mit dem eigenen Selbst beschrieben werden können. Die analogen Dimensionen dieser sprachlichen Aktivitäten in sehr verschiedenen kulturellen und geschichtlichen Kontexten sprechen dafür, dass sie nicht ausschliesslich als Produkt der Spezifik der jeweiligen Umgebung zu verstehen sind; ein Produkt dessen ist höchstens ihre jeweilige konkrete Funktionalisierung und soziale Identität (die natürlich auch zur Aktualisierung des Potenzials der poetischen Kommunikation beiträgt). Die Autonomie des poetischen Textes liegt gerade darin, dass die von ihm evozierte Realität in dem Sinne irreduktibel ist, dass sie - in der Sprache der Psychologie ausgedrückt - der Welt des Selbst bzw. der meta-ontologisch geöffneten Welt gehört, wenn man es von der theologischen Perspektive aus betrachtet. heimnis erhellt: So ist - in einer unendlichen Variabilität von Nuancen, Stufen und Formen - die Wirkung des Gedichtes. Mit einer schwer vergleichbaren Suggestivität hat Gottfried Benn es im Gedicht Ein Wort beschrieben:14 Ein Wort Ein Wort, ein Satz -: aus Chiffren steigen erkanntes Leben, jäher Sinn, die Sonne steht, die Sphären schweigen, und alles ballt sich zu ihm hin. Ein Wort - ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, ein Flammenwurf, ein Sternenstrich -und wieder Dunkel, ungeheuer, im leeren Raum um Welt und Ich. Diese Wirkung ist untrennbar mit der inneren Form verbunden, mit diesem paradoxen und in seiner Zweifellosigkeit entschlüpfenden Geflecht von Tönen und mentalen Bildern. Die Verbindung von Elementen, mit der diese Form hergestellt wird, ist jedesmal in solchem Masse spezifisch, dass sie trotz der erkennbaren Verwandtschaft (oder Analogie) der Wirkungen nicht auf relevante (oder sogar technopoetisch brauchbare) Weise mit allgemeinen Kategorien der poetischen Terminologie beschrieben werden kann. Doch was ist die Ursache für dieses Unvermögen der Theorie? Es ist nicht nur der Zusammenhang zwischen der inneren Form und der „empirisch" beweisbaren Einmaligkeit des Autors und der Situation bei der Entstehung eines einzelnen Gedichtes; und nicht nur die Abhängigkeit des Auftretens der inneren Form von der jeweiligen sekundären Existenz (von der subjektiven Fähigkeit, dem intellektuellen und existenziellen Engagement des Lesers), sondern vor allem die Tatsache, dass mit dem Auftreten der inneren Form der empirischhistorische und der alltägliche Horizont nicht verschwinden, sondern sich zu jenem Horizont des Lebendigen, des Über-Gedanklichen eröffnen, das die Tiefenpsychologie als Welt des Selbst beschreibt und das in der heutigen Theologie als „meta-ontologische Wirklichkeit" bezeichnet wird.15 Just aus 14 Obwohl das Gedicht keinesfalls ausdrücklich von der Ontologie des literarischen Werkes oder der inneren Form spricht, glaube ich, dass es sich um eine metonymische Beschreibung des dichterischen Wortes im Augenblick seiner Epiphanie handelt - sei es seine primäre Erscheinung bei der Entstehung, sei es seine sekundäre Erscheinung bei irgendeiner Aktualisierung seitens des Lesers. 15 Die „Transzendentalität" der dichterischen Wirkung liegt also darin, dass sie mit der menschlichen Erfahrung des Selbst verbunden ist; und dies ist die allgemeine Voraus- 161 diesem Grund ist das Gedicht bei all seiner Idiosynkrasie potenziell für jeden relevant. Ich kann also nichts anderes tun, als einige Beispiele anzuführen, die aber (wie alle anderen Beispiele) keinen Algorithmus dichterischer Operationen enthüllen, sondern die die nie völlig nachvollziehbare Spezifik eines jeden dichterischen Textes und seiner inneren Form illustrieren. 162 Beispiele I Als erstes Beispiel habe ich ein Detail, ein Mikromuster einer dichterischen Form in gigantischer epischer Form gewählt, wie es Vergils Aeneis ist: den Vers 268 aus dem 6. Buch (diese Auswahl suggeriert nebenbei den Gedanken, mit was für einem Reichtum von Formen - und auf wie vielen Ebenen - die innere Form des Gedichts wirken kann; unter anderem muss man sich vor Augen halten, dass es sich um eine epische Dichtung handelt, in der - mehr noch als rhetorische Figuren und Tropen - verschiedenartige „Makro"-Wirkungen besonders bedeutend sind, wie z. B. die Wirkung der Erzählung, der Komposition als Ganzes u. Ä.): Ibant obscuri sola sub nocte per umbram. (Dunkel schritten sie hin in der einsamen Nacht, durch die Schatten der Unterwelt.) Der Vers beschreibt Äneas' und Sibylles Weg in Dis Paters unterirdisches Königreich; in Handbüchern der Rhetorik wird er gern als Beispiel einer En-allage bzw. Vertauschung genannten rhetorischen Figur angeführt, die als inhaltlich unbegründete, rein grammatische Verbindung eines Wortes (gewöhnlich eines Adjektivs) mit einem anderen Wort, nicht mit demjenigen, zu dem es dem Sinn nach gehört, beschrieben wird. Doch eine solche Definition ist nur in einem wirklich ausserordentlich eingeengten Erfassungshorizont gerechtfertigt, in welchem es gar nicht möglich ist, die poetischen Potenziale des Textes zu bemerken, und auch nicht, die Gründe für die Verwendung einer solchen Figur einzusehen; die innere Form des Gedichts kommt hier im oben skizzierten Sinn gar nicht vor. Gerade von der Vertauschung der Attribute ist setzung einer jeden ganzheitlichen Selbsterfahrung, weshalb es sowohl inhaltlich als auch formal jede konkrete, an das Ich gebundene (und damit kulturgeschichtlich, zivilisatorisch und geschlechtlich bestimmte) psychologische Erfahrung übersteigt. Deren „Transzenden-talität" liegt wiederum darin, dass sie potenziell (auch ohne ausdrückliche Absicht des Dichters) die Frage der „meta-ontologischen Wirklichkeit" eröffnet. der poetische „Inhalt" dieses Verses wesentlich abhängig. Äneas und Sibylle sind dunkel, was viel mehr bedeutet als nur, dass sich der Leser sie sich in seiner Vorstellung verdunkelt und schlecht sichtbar ausmalen soll: Jetzt sind sie zu einem untrennbaren Bestandteil der nächtlichen Realität im Gedicht geworden. Und diese Realität, diese Nacht ist einsam: Die menschliche Einsamkeit erfüllt die Weiten der Nacht, die nicht mehr nur unbewohnte Landschaften, Räume ausserhalb des Menschen sind, sondern in den Schatten derselben Vereinsamung eingetaucht sind, die der Mensch - der quasiphänomenale und reale, die beiden literarischen Gestalten und der Leser - in seinem Innersten erfährt.. Eine tiefere Wirkung dieser Enallage ist eine Integration der dichterischen Wirklichkeit, ein Fühlen ihrer wirklichen Präsenz, ein Gefühl, mit dem die Tür zur Welt des Selbst geöffnet wird. II Auch das zweite Beispiel, das ich ausgewählt habe, ist aus der Antike: Es ist noch älter, jedoch mehr in sich abgeschlossen (obwohl es sich auch hier um 163 ein Fragment handelt), da es zur Welt der Lyrik gehört. Es handelt sich um Sapphos Lied vom Mond (Diehl, Frg. 4): Alle Sterne rings bei dem schönen Monde, sie verbergen alle ihr strahlend Antlitz, wenn der helle Vollmond sein Licht lässt scheinen über die Erde (Übersetzung: Max Treu, Sappho, München 1958, S. 25.) Das Gedicht kann als fast realistische Beschreibung des Vollmondaufgangs gelesen werden: Die Bilder sind erfassbar, alles ist so, wie es dem Beobachter bei normaler Wahrnehmung erscheint: Die Helle des Mondes überstrahlt den Schein der Sterne und ergiesst sich auf die Erde. Und dies ist sehr wichtig. Doch wird im Gedicht auch diskret eine Figur, eine Personifizierung verwendet, die den realistischen Eindruck nicht übertönt, sondern ihn auf raffinierte Weise umwandelt: Die Sterne haben glänzende Gesichter, die sie, wie geblendet vom starken Schein des Vollmondes, im Nu verbergen - aus Verblüffung, Verwirrung, Neid, Demut? Nichts davon wird ausgesprochen, doch in der sich überfliessenden Fülle von Eindrücken scheint alles möglich. Die Helle des Mondes überströmt die Erde und den Himmel, doch aus dem Hintergrund, wie zwischen winzigen Fingerchen, dringen blässliche, zittrige Strahlen von Sternengesichtern durch. Das Bild einer hellen Nacht, die wir nicht beobachten, sondern in der wir - auf unaussprechliche Weise - sind. Bei diesen Beispielen antiker Poesie stellt sich die Frage nach der Rolle der euphonischen Elemente (vom Metrum bis zu den Klangfiguren), die - wie wir wissen - ein äusserst wichtiger Bestandteil von Kunstwerken waren. Dies ist besonders wichtig, weil Poesie in der Antike meist laut unter Musikbegleitung vorgetragen wurde: Nicht nur die Onomatopöie und die Metren, die bestimmte Inhalte erkennbar signalisierten (z. B. die anapästischen Kampfmärsche), sondern die gesamte rhythmische Bewegung des Gedichtes nach metrischen Mustern, einschliesslich der funktionalen Transgressionen, spielte eine unentbehrliche Rolle bei der Schaffung der quasiphänomenalen Welt des Gedichtes und seiner Bedeutung, bei der Verflechtung von Physischem und Mentalem: Klängen, Gedanken und Bildern. Natürlich kann eine korrekt ausgeführte metrische Struktur (aber auch die Ausbildung anderer Elemente des literarischen Werkes) bei Werken mit sehr unterschiedlicher innerer Form auch mit sehr unterschiedlichem künstlerischem Wert festgestellt werden, wie problematisch auch immer dieser Be-164 griff ist. Obwohl wiederholbare technopoetische Verfahren sehr bedeutend für das Verständnis der inneren Form sind und eine grosse Rolle bei ihrer Entstehung spielen, geht diese dennoch nicht in Gänze aus ihnen hervor. Im Gegenteil: Die Auswahl der Gestaltungsverfahren ist vital abhängig von der für den Autor spezifischen Anschauung der Wirklichkeit, die Impulse und (häufig sehr ungewisse) Leitlinien für die Gestaltung des Gedichtes in sich trägt. Diese Anschauung kann im Prozess der Entstehung des Gedichtes freilich auch variieren - und das eben gerade wegen des Experimentierens mit verschiedenen technopoetischen Verfahren.16 Die verbleibenden zwei Beispiele sind aus einer ganz anderen geschichtlichen Epoche entnommen; es handelt sich um zwei der meiner Meinung nach hervorragendsten Autopoetiken des 20. Jahrhunderts, die aber nicht unterschiedlicher sein könnten: auf der einen Seite die - bedingt gesagt -Postmoderne des hispanoamerikanischen Dichters Octavio Paz, auf der anderen Seite der hohe Modernismus des deutsch schreibenden jüdischen Dichters Paul Celan (Antschel). 16 Das Verhältnis zwischen der vorangehend „erschauten" Wirklichkeit bzw. der Erscheinung des Kunstwerks und dem Gestaltungsprozess wird von E. Neumann (Anm. Zit., S. 198) gut illustriert, indem er Mozarts Worte anführt (dieser spricht natürlich vom Musikkunstwerk , doch gelten seine Worte im Grunde auch für die Poesie): „So kann z. B. die Symphonie, wie Mozart sagte, in allen ihren Besonderheiten und Verbindungen simultan im zeitlosen Moment der Konzeption bestehen, um sich erst danach im Laufe der Zeit im Raum als Aufeinanderfolge des Flusses von Notenbildern in graphischen Symbolen zu entfalten." III Octavio Paz schrieb, dass die Poesie ein Sprühregen mentaler Bilder sei. Diese Metapher beschreibt gerade seine eigene Poetik ideal: Ganz besonders erkennbar ist ein solches poetisches Prinzip in seinen langen Gedichten (obwohl es nicht nur für ihn allein charakteristisch) wie z. B. Sonnenstein, Nachtstück von San Ildefonso oder Hymne zwischen Ruinen oder Erzählung über zwei Gärten oder - auf seine ganz eigene Art und Weise auch - das Poem Weiss. Sturzbäche von Wörtern und Bildern, gegenseitige Verwandlungen von Sachen in surrealistischem Tempo, gegenseitige Spiegelung urzeitlicher Mythen und nackter körperlicher Leidenschaften, stossartige Dialektik von Gedanken und Sinnen, plötzliche Sprünge zwischen Ephemerem und Transhistorischem, zwischen dem fühlbarsten, vergänglichsten menschlichen Alltäglichen und dem Kosmischen: Ein uneindämmbarer, paradoxer, ekstatischer Bedeutungs-dynamismus in einem sonnigen Fortissimo schafft unikate Formen, die nicht nur Gedichtsformen sind, sondern auch dynamische, offene Realitäten des Lebens: ^5 Wahrheit ist das jenseits von Daten jenseits von Namen, was die Geschichte missachtet: jeder Tag der namenlose Puls aller, der Puls eines jeden - einmalig jeder Tag gleich allen Tagen. (Nachtstück von San Ildefonso 3) IV Celans Poesie vermittelt dieselbe Wirklichkeit aus einer völlig anderen Perspektive und auf völlig entgegengesetzte Weise: mit nach aussen seltenen, äusserst kargen Bildern oder nahezu ohne sie (wahrscheinlich ist es überflüssig anzumerken, dass diese eilig angefertigte Skizze der inneren Form bei einem so umfangreich, reichhaltig und kontrovers interpretierten Werk wie dem von Celan nur ein vorsichtig zurückhaltender subjektiver Versuch ist). Ein Asketismus des äusseren Umfangs. Ein Asketismus der Diktion, der an den strukturellen Fundamenten der Sprache nagt. Eine scharfe Knappheit des Ausdrucks, die mit beharrlicher Souveränität die Kontexte jeglicher sprachlicher, kultureller und sogar zivilisatorischer Konventionen auswischt. Stets am Rande des Buchstabens, am Rande des Schweigens, am Rande der unberührten und unerreichbaren Weisse des Seins. Doch die verkahlten Worte strahlen wunderbar nach innen: Ungeahnte Bedeutungsadern erstrecken sich glänzend in die Tiefen der dichterischen, religiösen und persönlichen Erfahrungstraditionen. Dekonstruktion ist im selben Moment auch schon Rekonstruktion. Klangreste und Bedeutungssplitter, verstreute Silben zerstossener Wörter und zerschlagene Satzfrakturen werden zu verblüffendsten Halbbildern und halbtraumhaften Trugbildern zusammengeklebt und wieder zerspalten, wobei sie mit transzendentem Glanz in die undenkbare Präsenz des einzig Wirklichen zerfallen. Hierin besteht die Aura von Celans dichterischer Form. Die reife Sprache seiner bis zum Äussersten individualisierten hochmodernistischen Poetik ist z. B. im Gedicht Fadensonnen zu hören:17 Fadensonnen über der grauschwarzen Ödnis. Ein baum- 166 hoher Gedanke greift sich den Lichtton: es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen. Was bloss sind Fadensonnen? Ist dies vielleicht nicht eine chirurgisch präzise realistische Beschreibung eines Bildes, wie es in den Augen entsteht, die vom heftigen Einbruch eines plötzlichen Lichtes auf einem Kontrasthintergrund ganz benommen sind? Um ein Bild, das sich sowohl nach innen als auch nach aussen zersetzt und vervielfacht? In dem sich Äusseres und Inneres in einem unerkennbaren Einssein vermischen? Oder liegt eine verwüstete historische Landschaft vor uns, die in Schutt und Asche liegende Welt nach dem Holocaust, wo durch den unheilschwangeren Rauch zerfallende, vervielfältigte fadige Sonnenkugeln zu sehen sind? Vielleicht sind dies die Ruinen einer natürlichen Landschaft nach einer atomaren Katastrophe, wie sie das Bewusstsein erkennt, das ganz langsam aus einer völligen Lethargie erwacht? Oder sind die Fadensonnen glühende Reste alter Zivilisationen, die noch nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs scheinen, obwohl wie auf abgenutzten Textilien auch auf ihnen einzelne Fäden auszutreten beginnen, Fäden individueller Schicksale und Schöpfungen, aus denen sie gewoben sind? Was, wenn dies das plötzlich 17 Aus der Sammlung Atemwende; Charles Taylor reiht sie unter diejenigen modernistischen Gedichte ein, die "seem to be aimed at reaching the edge of a farther epiphany , beyond all the negations", vgl. C. Taylor, Sources of the Self, Cambridge 1989, S. 486. erkannte frappante „Organischsein" der Sonne ist, deren glühende „PflanzenFasern" in zahllose Sonnenduplikate nach allen Seiten wachsen? Der baum-hohe Gedanke ist weder ein Baum noch ein Gedanke; im Grunde gibt es keinen Baum und keinen Gedanken mehr, sondern nur deren un-zertrennbare Einheit. Ein abgeschriebener Mensch ist plötzlich erschienen, dieser Wirklichkeit beigemengt wie das Salz dem Meerwasser. Diese Wirklichkeit greift nun nach dem Lichtton, der von jenen unergründlichen Sonnen sprüht; ist dies ein Greifen aus Verzweiflung? Oder stimmt sie sich nur nach ihm ein, passt sie ihre Existenz dem Lichtton an, öffnet sie sie nach oben? Oder stellt sie sich ihn wie eine Frequenz ein18, wie einen Radiosender, aus dem wieder Lieder zu ihr kommen? Und diese Lieder, Lieder jenseits der Menschen - was sind sie? Sind es Hymnen, mit denen die Sprache sich selbst preist? Sind es Psalmen zu Ehren einer menschenlosen Welt? Doch wer würde sie dann singen, wer hören? Und schliesslich: Wer sind die Menschen, jenseits welcher sie gesungen werden sollen? Historische Menschen, die in den Kataklysmen des 20. Jahrhunderts zugrunde gegangen sind? Die am „Gitter der Sprache" hängen geblieben sind? Sind dies Menschen, die kein Leben-neben-dem-Leben kennen, keine absolute Identität des Gedichtes und der Existenz? Keine Antwort. Die Antwort kommt von selbst. Sie kommt mit dem Schweigen. In einem gläsernen Pianissimo: Lumineszenz des in die Nacht geöffneten Lebens. In welchem Sinn ist die Form ein Schluss? Warum also nenne ich die Form einen „eröffnenden Schluss"? Was ist, in scholastischer Sprache gesagt, eine conclusio, quae aperit - ein Schluss, der öffnet? In welchem Sinn öffnet er sich? Gehen wir der Reihe nach: Aus welchen Gründen habe ich das Wort „Schluss" gewählt?19 Die Form erleben wir nämlich als Element, als „etwas", was vielleicht eher aus der innigen gegenseitigen Durchdringung der Elemente des literarischen Werkes entsteht, als ihm von aussen auferlegt zu sein; auf jeden Fall als ein schwer erkennbares Element, das wir dennoch als „etwas" erleben, was die 18 Eine solche Erklärung folgt der Interpretation in der englischen Übersetzung von M. Hamburger in Poems of Paul Celan, New York 1988, S. 226. 19 In der slowenischen Sprache bezeichnet dieses Wort mehreres; sehr geeignet zur Bezeichnung der Form in der Poesie scheint es mir vor allem wegen der folgenden drei Bedeutungen: 1.) Element, das Glieder zusammenschliesst; 2.) Ort, wo sich Glieder beweglich verbinden; und sogar 3.) Ende. 167 168 Gesamtheit des literarischen Werkes verbindet (ungeachtet der Schwierigkeit, die seine ontologische Definition mit sich bringt). Die Form ist ein Ort: ein Ort der Begegnung von Sinnlichem und Geistigem: des Klangs und der Bedeutung, des Rhythmus und des Sinns, der Phantasie und des Gedankens. Ein Ort, wo sich einzelne Elemente des dichterischen Werkes „beweglich verbinden", also so verbinden, dass sie voll existieren und koexistieren können: dass sie jene Synergie schaffen, welche die wahre Ursache des künstlerischen Erlebnisses ist. Eine solche Wirkung erreicht ein gelungenes und vollendetes Gedicht. Eine gesonderte Frage ist, wann ein Dichter ein Werk für gelungen bzw. formal vollendet hält. Der kroatische Schriftsteller Miroslav Krleža schrieb, dass jedes literarische Werk potenziell noch unvollendet ist, solange der Autor die Möglichkeit hat, nach ihm zu greifen und es zu ändern. Und doch ist dies für uns nicht wesentlich: Die formale Gelungenheit ist eine gradmässige Eigenschaft und kann von verschiedenen Gesichtspunkten aus beurteilt werden. Man kann sich vorstellen (und auch dokumentieren), dass ein Dichter in verschiedenen Abschnitten seines Lebens unterschiedlich weit entwickelte und ausgestaltete Kriterien hat, die sowohl von seiner Ausbildung, seiner intellektuellen und psychologischen Entwicklung wie auch vom veränderlichen Einfluss der gesellschaftlichen Umstände abhängig sind. Ein Gedicht beginnt und endet: und die Tatsache, dass es einen Anfang und ein Ende hat, gehört zu ihrer Form. Wenn die Form verschiedenste Elemente des Gedichtes verbindet, wenn sie das Geschehen auf verschiedenen Ebenen (auf der klanglichen, bedeutungsmässigen, ideellen) harmonisiert, muss sie ihm auch Grenzen setzen. Doch ist das Leben des Gedichtes nur dann erfüllt, wenn es dem Leser noch etwas mehr gibt: wenn es ihn auf etwas ausserhalb seiner selbst Liegendes verweist. Dabei habe ich nicht das ästhetische Prinzip des Non-finito im Sinn, das vor allem in der bildenden Kunst bekannt ist, wonach die gewollte semantische Unvollständigkeit des Kunstwerkes die Phantasie des Betrachters anregt. Hier bewegen wir uns auf einer anderen Ebene. Die Funktion einer (gelungenen) Form ist auch eine Anregung zur Unterbrechung des Lesens und zum Übergang. Übergang wohin? Hier möchte ich auf den suggestiven Aufsatz des französischen Dichters, Essayisten und Übersetzers Yves Bonnefoy mit dem Titel Lever les yeux de son livre hinweisen.20 Als für die heutige Zeit verhängnisvollen Irrtum beschreibt Bonnefoy die theoretisch verfochtene völlige Vertiefung des 20 Der Text wurde erstmals im Frühjahr 1988 in Nouvelle Revue de Psychanalyse veröffentlicht, die englische Übersetzung erschien im Critical Inquiry 16 (1990), S. 794-806. Lesers in den Text, in seine intra- und intertextuellen Beziehungen auf allen Ebenen. Dieser Haltung mag wohl ein Gedicht in Mallarme'scher Manier entsprechen, ein Gedicht, das - wie Alain Badiou sagt - eine Operation und ein Ereignis ist, in welches man sich einlassen, sich ihm endlos überlassen und sich schliesslich in ihm auflösen muss.21 Paradoxerweise bedeutet aber gerade diese übermässige Aufmerksamkeit für das Gedicht den Tod seines Poetischseins. Deshalb ist es von Zeit zu Zeit nötig, die Augen vom Text aufzuheben und in die Wirklichkeit zu schauen, in die Welt zurückzukehren. Doch erst die Vollendung, Geschlossenheit, „Endgültigkeit" der Form - könnte man seine Überlegungen fortsetzen, ohne seinen Geist zu verraten - vermag uns wirklich und legitimerweise dazu anzuregen. Da aber das Gedicht in gewissem Sinne immer eine kollektive Schöpfung des Dichters und des Lesers ist, kann nichts ohne die Mitwirkung des Letzteren geschehen. Eine vollendete Form kann für den Leser ein Absprungbrett für einen Sprung in die Wirklichkeit jenseits des Textes bedeuten: Von ihr aus kann er weiter in die Welt springen als ohne sie. Über diese Welt jenseits des Textes, die eigentlich das Ziel ist, auf das die synergetischen Wirkungen der dichterischen Form weisen, äussert sich Bon-nefoy lakonisch und doch verständlich: Dies ist die Welt der Anwesenheit, die Welt des Einen, die uns nur für kurze Augenblicke gegeben ist, die Welt der Wirklichkeit, in der die Existenz des Menschen nicht verspielt, sondern tragisch ist. (Interessant ist, wie H. U. Gumbrecht von einem ähnlichen Austritt aus einer hermeneutisch konstruierten Welt träumt und einen völlig anderen, paradoxen Weg vorschlägt: In der Ausgangslage des Menschen von heute, der durch die Distanz von den „Dingen dieser Welt" wesentlich bestimmt ist, soll dies durch das Fehlen eines Zentrums, durch die Entfremdung von der Realität, ad absurdum gesteigert werden, was den Wunsch nach einer Rückkehr in sie erzeugen könnte22). Es scheint, dass es für George Steiner zwei Schlüsselmerkmale dieser Welt gibt: unübertreffbare Andersartigkeit und Transzendenz.23 Nur in dieser Welt ist la otra voz, jene andere Stimme hörbar, von der Octavio Paz in einem seiner Essays (veröffentlicht 1989) sagt, dass es die Stimme sei, die von dieser und jener Welt komme, die Stimme des Menschen, die in jedem 169 21 A. Badiou, Mali priročnik o inestetiki (Kleines Handbuch zur In-Ästhetik), Ljubljana 2004, S. 47. 22 H. U. Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt am Main 2004. 23 Hierbei habe ich nicht nur bestimmte Erklärungen des Autors im Sinn, sondern die häufig implizite Voraussetzung seiner Gedanken, z. B. G. Steiner, Resnične prisotnosti (Real Presences), Ljubljana 2003, passim. 170 Menschen schlummere, die tausend Jahre alte Stimme, die unser Altersgenosse sei und die noch nicht geboren worden sei: die unser Grossvater, Bruder und Urenkel sei. Alle Dichter, sagt er, hörten diese andere Stimme in langen und kurzen Momenten; wegen ihr habe sich die Poesie stets der aussergeschichtlichen Welt in allen ihren Erscheinungsformen geöffnet. "Ich spiele nicht auf die religiöse andere Welt an; ich spreche von der Betrachtung der anderen Seite der Wirklichkeit."24 Doch die religiöse und dichterische Sprache sind schliesslich nur zwei (nicht unbedingt) unterschiedliche Artikulationen der Weltbetrachtung, die uns stets von neuem mit Erstaunen erfüllt. Äusserst suggestiv und psychologisch präzise hat Erich Neumann diese „Welt" mit dem Ausdruck einheitliche Wirklichkeit beschrieben: Auf jeden Fall erscheint uns etwas als lebendige Wahrheit, als in einem unformulierbaren Sinne richtig, als ein „Das ist es", von dem wir, wenn wir dafür offen sind, in einer nicht beschreibbaren Weise ergriffen werden. Und dies geschieht im Angesicht der Schönheit der Natur nicht anders als vor einer primitiven Maske, einer griechischen Säule, einem Bild Leonardos oder einer Toccata Bachs. Dieses Geschehen der Schönheit ist ebenso sehr ein Zu-sich-selber-Kommen des Menschen wie ein Zur-Welt-Gelangen, ebenso sehr ein Stück Verwirklichung und Integration der menschlichen Ganzheit wie ein Stück Integration der Einheitswirklichkeit. Etwas in uns ebenso wie etwas in der Welt erscheint uns als wohl gestaltet, geformt, zentriert, bewegt und sinnerfüllt, und gleichzeitig gehört das eine zum anderen und erweist sich als gegründet auf jenem Dritten, das wir „Einheitswirklichkeit" nennen."25 Die innere Form ist das in Worten gefasste Wogen dieser Welt, in dem die Rückseite der Wirklichkeit und der Dinge -sowohl jener um uns herum als auch jener in unseren Köpfen - aufgedeckt wird und diese zu dem werden, was sie in Wahrheit sind: „sichtbar und unergründlich" (Odiseas Elitis), unser alltägliches Schicksal und zugleich eine unerschöpfliche Quelle von Fragen. 24 O. Paz, Anm. Zit. S. 126-128. 25 E. Neumann, Anm. Zit., S. 97-98.