Rudolf Neuhäuser Universität Klagenfurt CDU 82.091 LUCIEN TESNBÈRE ALS LITERATURWISSENSCHAFTLER "La thèse de la séparation des études grammaticales et littéraires est périmée... La science ne se laisse pas compartimenter: elle prend son bien partout où elle le trouve. Connaissant de façon approfondie le Slovène, M. Tesnière a admiré, en linguiste, le remarquable développement du Slovène littéraire." (André Vaillant, in: Revue des études slaves, 1931, S. 114) Tesnière kam 1920 nach Ljubljana, um dort als Lektor im Rang eines Professors Französisch zu lehren. Seiner Initiative verdankt das Institut Français in Ljubljana seine Existenz. Tesnière war bis 1924 sein administrativer Leiter, Oton Župančič wurde zum Präsident des Instituts gewählt. Damit kam Tesnière mit dem "Erneuerer des slowenischen Verses", wie er Župančič nannte, in einen engeren Kontakt. Doch galt Tesnières Interesse keineswegs nur ihm. Ende der zwanziger Jahre war Tesnière der erste, der an einer französischen Universität die slowenische Literatur von Trubar über Prešeren bis Župančič lehrte. Anton Ocvirk hat den jungen Maître de conférence 1933 in Straßburg besucht und eine erstaunliche Beschreibung seiner reichhaltigen Sammlung slowenischer Literatur gegeben, - nach Tesnière selbst damals die wohl größte slowenische Bibliothek in Frankreich.1 Dort befanden sich eine vollständige Ausgabe der "Kranjska čbelica", des "Dunajski zvon", des "Ljubljanski zvon", der Zeitschriften "Dom in svet", "Slovan", die Sammelbände der "Slovenska matica" u.a.m. Neben Werken zur Literaturgeschichte, Philologie und slowenischen Geschichte von Prijatelj, Kidrič, Grafenauer und Glaser besaß Tesnière auch Kopitars Grammatik, Ramovš' Studien und die wesentlichsten Ausgaben slowenischer Autoren, so Prešerens Pesmi von 1847, die gesammelten Werke von Levstik, Jurčič, Kersnik, Trdina, Tavčar, Stritar, Mencinger, Jenko, Gregorčič, Medved, Aškerc und natürlich die Vertreter der Moderne wie Kette, Murn, Župančič und Cankar. Zu seinen beliebtesten Autoren zählten Jurčič, Gregorčič und Aškerc. Mencinger nannte er den "französischsten" unter den slowenischen Schriftstellern.2 Die Bedeutung Cankars anerkannte er, gestand aber, daß er ihm innerlich fremd geblieben wäre. Ocvirk hatte die Gelegenheit, bei seinem 1 Tesnieres Bibliothek befindet sich noch heute an der Universität Straßburg! Siehe Anton Ocvirk: "Luden Tesniere in kritika o njegovi knjigi 'Oton Zupančič'." In: Ljubljanski zvon, 1933, S. 552-557,612-617,677-681. 2 Laut Ocvirk: "Zaradi njegove paradoksalnosti, ... je duhovit, rad se šali in je tudi velik racionalist." Op. cit., S. 554. 275 Besuch in Tesnières Studierstube Manuskripte von Übersetzungen aus dem Slowenischen ins Französische zu sehen, darunter Levstiks "Martin Krpan" und Prešerens "Sonetni venec", zahlreiche lyrische Gedichte Prešerens und fast das ganze Poem "Krst pri Savici". Das weitgespannte Interesse Tesnières für die slowenische Literatur äußerte sich in dem Wunsch, eines Tages eine "Anthologie slowenischer Prosa" herauszugeben. Wohl wenige Slawisten des ersten Drittels unseres Jahrhunderts außerhalb Sloweniens konnten sich an Belesenheit und solider Kenntnis der slowenischen Litertur mit Tesnière messen! Doch Tesnières Interesse war nicht nur wissenschaftlich und ästhetisch motiviert. Aus Äußerungen Tesnières selbst, wie auch aus manchen Stellen seiner Monographie über Župančič spricht eine tiefe Zuneigung zur slowenischen Welt, ihrer Kultur und Geschichte. Dies ist in seiner Monographie deutlich zu spüren und übertrug sich auch auf den zeitgenössischen Leser. So schrieb Georges Bergner in der Wochenzeitung L'Alsace française vom 14. Juni 1931, daß Tesnières Buch es dem französischen Leser ermöglichte, aus Župančič' Gedichten "die Schönheiten der slowenischen Seele" kennenzulernen. Tesnière beschreibt mit Einfühlungsgabe und Liebe die Landschaft, in der Župančič zur Welt kam (Vinica in der Weißkrain). Er spricht von "l'atmosphère du rêve" und der Reinheit des dort gesprochenen Slowenisch, - er meint, es sei "plus pur" als anderswo (dies bezieht sich, wie Tesnière anmerkt, auf die Abwesenheit deutscher und italienischer Entlehnungen). In der Atmosphäre dieser Landschaft sieht Tesnière auch den Ursprung der Sensibilität des künftigen Dichters. Selbstverständlich kennt Tesnière die Stadt Ljubljana und ihre nähere und weitere Umgebung.3 Seine Ortskenntnis zeigt sich unter anderem in der Schilderung des Friedhofs, wo Kette und Murn bestattet sind, in den Erläuterungen zu Župančič' Versen "La plaine de Lioubliana" und den dort erwähnten Kirchen, deren topographische Position Tesnière genau schildert. Weitere Anmerkungen betreffen das Schloß im Zentrum der Stadt, die um die Stadt herumführenden Eisenbahnverbindungen, den Triglav und andere topographische Besonderheiten des Landes. All dies verdeutlicht Tesnières exakte Ortskenntnis, die dem Anmerkungsteil des Buches einen fast dokumentarischen Charakter verleiht. In seinen Gesprächen mit Ocvirk bedauerte Tesnière, daß, wie er es formulierte, Slowenien nach dem Ersten Weltkrieg zwischen Italien und Österreich aufgeteilt worden sei und nannte dies ein großes Unrecht. In den Slowenen sieht er "une race jeune" und motiviert damit unter anderem Župančič' frühe Abwendung von der Dekadenz, - der Dekadenz der "alten" mitteleuropäischen Gesellschaften, wie er pointiert meint. Die slowenische Sprache bezeichnet er als "une des plus belles parmi les langues slaves, qui toutes sont belles."4 Für die Slawen insgesamt sah er eine positive Zukunft voraus: "Slovani imajo bodočnost. Po svetovni 3 Tesnieres Anmerkung 1 zum 1. Kapitel der Monographie (S. lf.) zeigt, daß er wohl mehr als einmal einen slowenischen Weinkeller besucht hat und in der Herstellung des Weins bewandert ist! 4 Oton Joupantchitch, S. 77 und 359. 276 vojni so dobili možnost za svjež in ploden razmah, kar se zdi velike važnosti."5 In der Monographie spricht Tesnière mitfühlend von der "oppression millénaire de l'Autriche" und der "Dreiteilung" des slowenischen Sprachraumes. Seine Wertung des Plebiszits nach dem Ersten Weltkrieg ist prononciert proslowenisch im Sinne der großslowenischen Vorstellungen der damaligen Zeit. Er sieht im Plebiszit einen Erfolg der Germanisierungspolitik und die Sanktion "par le droit" der "violence et injustice des siècles passés".6 Tesnières bedeutendster und bleibender Beitrag zur slowenischen Literaturgeschichte ist die bereits mehrfach erwähnte Monographie über Župančič, die 1931 in Paris erschien und, wie der Untertitel vermerkt, Župančič, dem "l'homme et l'œuvre" gewidmet ist.7 Sie ist zugleich Biographie, Werkanalyse und Anthologie. Die Übersetzungen machen mehr als die Hälfte aus (194 Seiten), die kleinere Hälfte (182 Seiten) sind Biographie und Werkanalyse. Der Entschluß, diese Monographie zu verfassen, hängt wohl mit Tesnières Vorlesungen über slowenische Literatur im Studienjahr 1927/28 und der Feier des 50. Geburtstages des Dichters im Januar 1928 zusammen, auf die auch die internationale Anerkennung folgte, als der Dichter im Sommer des Jahres als Ehrengast zur Teilnahme an dem Internationalen PEM-Klub-Kongreß in Oslo eingeladen wurde. Für Tesnière war Župančič der bedeutendste slowenische Dichter nach Prešeren, ein Dichter der von der französischsprachigen Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts beeinflußt war, - Tesnière verweist mehrfach auf Baudelaire, Verlaine, Verhaeren -, der selbst französische Texte ins Slowenische übertrug, die "toute la substance de l'original" aufwiesen, aber, abgesehen von einem 1928 in Prag erschienenen Aufsatz in französischer Sprache in Frankreich selbst noch gänzlich unbekannt war.8 Dabei hatte er selbst für kurze Zeit in Paris gelebt und auch Gedichte zu französischen Themen verfaßt. Tesnière wollte dem abhelfen und ihn einem weiteren französischen Publikum vorstellen. Zu diesem Zweck möchte er die äußere und innere Biographie Župančič', seine "literarische Physiognomie" und seinen Platz in der slowenischen Literaturgeschichte darstellen. Wie Tesnière in seinem Gespräch mit Ocvirk mitteilte, fesselten ihn vor allem folgende Aspekte an dem Dichter: "Pri Župančiču me je predvsem presenetila njegova predmetnost, barvitost, igrivost, melodijoznost, neposrednost, pestra metaforika in figuralnost, v njem sem našel to, kar redko najdete pri francoskih pesnikih, sveže, živo čustvo, odmaknjeno od toge umske 5 A. Ocvirk, op.cit., S. 553. 6 Oton Joupantchitch, S. 175. 7 Lucien Tesnière: Oton Joupantchitch. Poète stovéne. L'homme et l'oeuvre. Paris: Les Belles-lettres, 1931, XIV + 383 S. (Volume 7. Publications de la Faculté des Lettres de Strasbourg. Deuxième série.) 8 Raymond Warnier: "Othon Joupantchitch ou Trente ans de lyrisme Slovène." In: L'Europe centrale, 2me année, no. 20, 18 février, 1928, S. 424-425. 277 špekulacije, moraliziranja, ideje in filozofiranja. V pesmi skoraj da ne prenesem metafizike, abstraktnih razmišljanj, nerazumljive simbolike, ugaja mi prisrčnost, stvarnost, rad imam podobe iz vidnega, telesnega sveta - in v tem je Župančič „9 mojster... Für den anthologischen Teil der Studie ist Tesnière ebenfalls von klar formulierten Kriterien ausgegangen. Die beiden wesentlichsten sind ästhetischer und biographischer Natur: An erster Stelle steht die "innere Schönheit" des Gedichtes, das was direkt den aesthetischen Sinn des Lesers anspricht; an zweiter Stelle steht das individuelle Moment, d.h. das Maß, in dem ein Gedicht als charakteristisch für den Autor gelten kann und Ausdruck seiner Individualität ist. Weiters möchte Tesnière Verse übersetzen, die für den französischen Leser von besonderem Interesse sind, insofern sie einen Bezug zu Frankreich enthalten. Als ein die Auswahl begrenzendes Kriterium nennt Tesnière die nicht immer gegebenen Möglichkeiten einer adäquaten Übersetzung. Darüber hinaus sind für ihn wesentlich Symbol und Ideengehalt, Rhythmus, Reim, Assonanzen und Bilder. Er betont aber, daß er sich als Übersetzer die Freiheit vorbehält, das Schwergewicht seiner Übersetzungen auf jene Strukturelemente zu legen, die im jeweiligen Gedicht von vorrangiger Bedeutung sind unter Vernachlässigung anderer. Nichtsdestoweniger gilt für ihn aber stets als Prinzip, "restant toujours très près de l'original". Im Gespräch mit Ocvirk fügte er dem hinzu, daß er versucht hätte, sich auch eng an den Rhythmus des Originals zu halten, und dafür oft bereit war, auf den Reim zu verzichten. In der Kritik wurden die Übersetzungen mitunter nur mit Einschränkung gelobt. So meinte Ivo Hergešič, einer der wenigen, die darauf eingingen, in der Zeitschrift Obzor vom 8. Januar 1932, daß die lyrische und künstlerische Qualität der Gedichte Župančič' in Tesnières Übersetzung verlorenginge, nur der Inhalt sei gut wiedergegeben. Die ersten fünf Kapitel der Monographie sind dem lyrischen Werk gewidmet und folgen einem chronologischen Aufbau. Tesnière zeichnet den Werdegang des Dichters in stetem Rückbezug auf die parallel verlaufende Evolution seines dichterischen Schaffens. Weitere vier Kapitel sind einzelnen Genren gewidmet, - dem Drama, dem unvollendeten epischen Versuch lerala, der Kinderlyrik und den Übersetzungen Župančič'. Das zehnte Kapitel behandelt Župančič' Stil. Ein kurzes Schlußkapitel zieht ein Resûmée der Studie, dann folgen bibliographische Anmerkungen. Eine Besonderheit der Studie, die von fast allen Rezensenten hervorgehoben wurde, ist Tesnières spezifische Sicht des Schaffens Župančič' als eines in sich gegliederten Ganzen, das von bestimmten Leitmotiven, vor allem psychologischer Natur, bestimmt ist. Tesnière möchte, wie er sagt, den "Faden der Ariadne" finden, der sich durch jeden Gedichtband und jedes Werk zieht. Dieser rote Faden ist für ihn 9 A. Ocvirk, op.cit., S. 553f. 278 letztlich in der inneren Entwicklung des Dichters begründet. So formuliert er konsequent in der Einleitung seines Buches seine Absicht als "retrouver les principaux linéaments de son évolution psychologique" (S. XIII).10 Damit begründet Tesnière auch seine Methode, Biographie und Textanalyse eng miteinander zu verknüpfen. Letztere impliziert im Sinne einer "explication de texte" aus phänomenologischer Sicht eine Analyse des dichterischen Werkes "en quelque sorte par en dedans", d.h. von innen heraus. Diesem Zweck dient unter anderem der anthologische Teil übersetzter Gedichte, der den einzelnen Kapiteln beigefügt ist und auf den sich der Autor mit Vorliebe beruft. Der "Gesamtcharakter", der "point de vue architectonique", wie er auch sagt (S. XIV), sei ein Grundprinzip der Lyrik Župančič'. In diesem Sinne möchte Tesnière in der Analyse der einzelnen Lyrikbände, jeweils das herausstellen, was er "le centre même de la conception de Joupantchitch" (S. 179) nennt. Dahinter steht nach Tesnière die schöpferische Selbstverwirklichung des Dichters, der in seinen Versen sein innerstes Wesen auszudrücken versteht, woraus eben die Struktur der einzelnen Zyklen bzw. die Gesamtstruktur eines jeden Bandes organisch erwächst. Mit der ihm eigenen Bescheidenheit verweist Tesnière auf Fran Albrecht und Arturo Cronia, die schon 1928 in ihren Župančič-Studien auf diese Besonderheit im Schaffen des Dichters hingewiesen hätten. Zusammenfassend können wir sagen, daß Tesnière zwei Zugänge zum Schaffen des Dichters kennt: Der eine entspricht einer phänomenologischen und psychologisch akzentuierten "explication de texte", der andere fußt auf dem chronologisch und biographisch vorgehenden Bemühen, die psychologische Evolution des Dichters im Hinblick auf die Spannung zwischen persönlichem Erleben, literarischem Kontext und der Verwurzelung in seiner slowenischen Heimat und ihrem Volkstum zu deuten. Aus der Absicht, Župančič vor allem als slowenischen Nationaldichter darzustellen, entspringt auch Tesnières Bemühen, das Gewicht der nichtslowenischen Einflüsse eher gering anzusetzen. So meint er mit Verweis auf Izidor und Ivan Cankar, daß Župančič' Interesse für die zeitgenössische deutsche, französische und skandinavische Dichtung "n'a jemais été vraiment sincère" (S. XIII). Allerdings betont er, daß die Frage der Einflüsse fremdsprachiger Literaturen "komplexer Natur" sei und verweist selbst verdienstvollerweise immer wieder auf Texte, zu denen Parallelen bei Župančič zu finden sind. Der Einfluß der "Wiener Neoromantik" ("ce néoromantisme viennois", S. 20) und des bekannten Literatencafés Griensteidl wird von Tesnière mit Verweis auf eine mündliche Mitteilung Župančič' an seinen Nachfolger im Institut Français Marc Vey minimalisiert, denn Župančič "n'y rechercha jamais que la compagnie des milieux littéraires slaves". Einen Einfluß des "jungen Wien" auf den Dichter läßt Tesnière nur indirekt, "à travers l'ambiance générale de l'époque" (S. 21) gelten. Dem widerspricht, muß man hinzufügen, auf durchaus positive Weise die Praxis seiner Studie. Dies zeigt beispielsweise die Analyse des Adjektivs "mystisch", die 10 Zitate aus der Monographie werden hier und des weiteren im Text unter Angabe der Seite in Klammern vermerkt. 279 Analyse der Rolle der "Augen", und besonders der damit verbundene Farbsymbolik, in Župančič' früher Dichtung, wo Tesnière auf entsprechende Parallelen bei Dehmel und Baudelaire verweist, die modellhaft auf Župančič eingewirkt haben dürften. Er vermeidet allerdings dabei jegliche Festlegung. Typische Formulierungen sind: "comme Baudelaire", "comme Verlaine", "tout comme Dehmel", "tel Verlaine..."; Einflüsse "... sont probables", ein poetisches Bild "fait songer à" und ähnliches. Das letztere Beispiel bezieht sich übrigens auf das Bild des Kondors in Župančič' Gedicht "Manom Josipa Murna-Aleksandrova" als eines Symbols für den Dichter, dem Tesnière den Vogel Albatros bei Baudelaire gegenüberstellt. Nur einmal bezieht er eindeutig Stellung: Das betrifft das Symbol des "Ptič Samoživ", das er als Übernahme von Dehmels "Vogel Wandelbar" bezeichnet (S. 78). Auf die deutlichen Parallelen zwischen Teilen von Župančič "V zarje Vidove ("Kovaška")" und Whitman's "Leaves of Grass" ("Carol of Occupations") wird nur im Anmerkungsapparat, da aber sehr ausführlich eingegangen. Doch auch hier möchte sich Tesnière nicht festlegen: "Peut-être par une réminiscence de Whitman..." lautet sein vorsichtig formulierter einleitender Satz (S. 177, Anm. 23).11 Zusammenfassend muß anerkannt werden, daß Tesnière insbesondere die Parallelen und möglichen Einflüsse (um hier seiner vorsichtigen Ausdrucksweise zu folgen) auf Župančič' Lyrik im Werk vor allem von Dehmel, Whitman, Baudelaire, Verlaine und Verhaeren in beträchtlicher Breite, wenngleich vielfach nur in ausführlichen Fußnoten, dargestellt hat und damit der weiteren Forschung den Weg wies. Stellen wir uns die Frage, weshalb wohl Tesnière die literarischen Quellen und Modelle Župančič' so zurückhaltend behandelt hat, obgleich sie vor allem im Frühwerk des Dichters nachgewiesenermaßen doch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung haben. Tesnière sieht in Župančič den bedeutendsten Dichter der jungen slowenischen Nation, der seine Inspiration vor allem aus dem Volkstum, d.h. der Atmosphäre seiner engeren Heimat, ihren Bräuchen, ihren Volksliedern und ihren sprachlichen Eigenheiten schöpft. Konsequenterweise beginnt das erste Kapitel der Monographie auch mit einer vierseitigen, einfühlsamen Schilderung der Weißkrain. Tesnière spricht von "les légendes du pays", "les vieilles chansons", "la nature de son pays", "l'atmosphère du rêve" und zitiert zustimmend Gspan: "la poésie de Joupantchitch ressemble à sa patrie -la Carniole-blanche" (Novi čas, Jänner 1928, S. 4, Monographie). Darauf aufbauend geht Tesnière noch einen Schritt weiter und stellt die These auf, daß "les faits essentiels de la personnalité poétique de Joupantchitch" allein aus zwei Quellen zu erklären seien, "l'école de la nature (= la Carniole-blanche)" und "celle de la poésie populaire", und 11 H. Cooper spricht hingegen von "the direct influence of Whitman" auf Župančič, fügt aber zwei Seiten später hinzu, es wäre dies eher ein Fall von "affinity, not influence" ("Influence and Affinity: Walt Whitman's Leaves of Grass and the Early Poetry of Oton Župančič" in: Obdobja 4.1 del / Simpolizem, Ljubljana 1983, S. 269 und 271. In dem Aufsatz findet sich kein Verweis auf Tesniere.). 280 schließt mit dem bezeichnenden Satz, "avant même de découvrir Verlaine et Dehmel, il était prédestiné au symbolisme" (S. 5). Es ist verständlich, daß Tesnière sich damit selbst eine Grenze gesetzt hat. Die Einflüsse der Wiener Moderne und des französischen Symbolismus, Whitmans, usw. mußten, wie Tesnière an einer anderen Stelle sagt, auf "l'ambiance générale de l'époque" (S. 21) reduziert bleiben. Das nationalslowenische Element, die Einflüsse Levstiks und Aškerc', hatten vorrangige Bedeutung. Mit dieser Festlegung gewinnen die biographischen Passagen der Monographie an Bedeutung, da die "psychologische Evolution" des Dichters zu einem Gutteil darin ihre Begründung findet. Hier sind hervorzuheben die eingehende Beschreibung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen Župančič, Kette, Murn und Cankar. Die Begegnung Župančič' mit Janez Krek schildert knapp und präzise das Entstehen der nationalslowenischen, panslawisch gefärbten, auf ein vereintes "Jugo-Slawien" ausgerichteten Ideologie, mit der auch der Autor augenscheinlich sympathisiert, wobei Begriffe wie "l'âme nationale" und "poésie populaire" eine zentrale Rolle spielen. Es folgt die Entdeckung Wiens und seiner jungen Literatur. Tesnière zählt alle irgendwie bedeutenden Namen der zeitgenössischen dekadenten und neuromantischen, bzw. symbolistischen Wiener Dichtung auf, die im berühmten Café Griensteidl versammelt waren, fügt allerdings bezeichnenderweise sofort hinzu: "De son propre aveu, â aucun moment Joupantchitch n'a eu, ni même cherché â avoir aucune relation avec le café Grriensteidl, ni en général avec les jeunes littérateurs de langue allemande," (S. 20). Tesnière, der selbst in Leipzig und Wien studiert hatte, setzt den Stellenwert französischer symbolistischer Autoren höher an, die einzige Ausnahme bilden Dehmel und Whitman. Eingehend schildert er Leben und Tod Murns in der ehemaligen Zuckerfabrik und das kurze Leben Kettes. Darin eingebettet ist eine knappe Schilderung des Zustandes der slowenischen Literatur um die Jahrhundertwende, die Tesnière zwischen den Polen von Klerikalismus und Moderne eingespannt sieht. Im fünften Kapitel "Aux aurores de la St-Guy" schildert er den Weg des Dichters in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Župančič erreichte nach Tesnière in dieser Periode in seinem Schaffen ein neues und höheres Niveau, im praktischen Leben eine gesicherte Existenz. Schon seit 1913 ist er Nachfolger Aškerc' im Stadtarchiv von Ljubljana. 1920 folgte Heirat und Familiengründung. Župančič' Weg als Mensch und Dichter hat damit eine Position der Reife, verbunden mit gesellschaftspolitischem Engagement, erreicht. Tesnière geht ausführlich auf die politischen und sozialkritischen Aspekte im Schaffen Župančič' in dieser Zeit ein, die er überhaupt als einen Höhepunkt in der kreativen Tätigkeit des Dichters sieht. Mit diesem Kapitel endet die biographische Linie in Tesnières Monographie. Der Dichter hat sozusagen in seinem Werdegang die poetische und gesellschaftspolitische Reife erlangt, was nun in seinem Leben folgt, sind bestenfalls Modifikationen, aber keine wesentlichen Neuentwicklungen. Die restlichen fünf Kapitel sind ganz der Werkanalyse gewidmet. Biographisches wird dort nur in jeweils ein oder zwei Sätzen eingeschoben. 281 Ausdruck des reifen Župančič ist für Tesnière der Band "V zarje Vidove", ein Höhepunkt im Schaffen des Dichters. Die Analyse dieses Werkes ist zugleich auch ein Höhepunkt der Monographie. Damit endet die Analyse des lyrischen Werks des Dichters, das für Tesnière das zentrale Genre im Gesamtschaffen Župančič' ist. Abschließend und in Ergänzung der Analyse des biographischen Teils sei noch auf Tesnières Porträt des Dichters hingewiesen, mit dem er das erste Kapiel seiner Studie beginnt. Es ist ein Glanzstück literarischen Stils und biographischer Treue. Die Beschreibung der Augen des Dichters, der Varianten seines Lachens und Lächelns sind ein Höhepunkt der Biographie und vertiefen das Porträt in psychologischer Sicht. Hervorzuheben ist die Analyse der "Aurores de la St-Guy", die nicht nur im Gedichtband "V zarje Vidove" angesprochen werden, sondern auch im Drama "Veronika Deseniška" und auch in einem literarischen Almanach des Jahres 1914, an dem Župančič mitarbeitete. Diese Analyse kann als ein Musterbeispiel sorgfältiger' literaturhistorischer Arbeit gelten. Tesnière verbindet die Analyse des "Vidov dan" mit dem Tag des Hl. Johannes und dem Johannisfeuer und gibt eine "interprétation cosmique des Aurores de St-Guy", dieser sechs Tage dauernden Zeit zwischen den beiden Gedenktagen: "l'aurore du soir et l'aurore du matin se touchent au milieu de la nuit... Ce sont les nuits blanches du solstice d'été" (S. 169) und interpretiert letzteres Symbol als Ausdruck der Lebensmitte, des Höhepunkts im Leben des Dichters. Werk und Leben verschmelzen in der Darstellung Tesnières, der sich hier selbst einer dichterischen und metaphorischen Ausdrucksweise bedient. Der Band "V zarje Vidove", besonders der zweite Zyklus, ist für Tesnière überhaupt "le centre même de la conception de Joupantchitch. Le poète y exprime d'abord, avec une force singulière, l'aspiration de l'être à être vraiment lui-même, à développer toutes ses facultés, à accomplir sa destinée, à dégager de la gangue des influences extérieures et des obstacles rebelles le pur cristal de la personnalité originale... En un mot, à se réaliser lui-même dans toute sa plénitude" (S. 180). Die Darstellung der Vorgangsweise Tesnières, der Vorzüge seiner Studie, wäre unvollständig, würde nicht auch auf gewisse Mängel hingewiesen werden. Dazu gehört die nahezu vollständige Vernachlässigung der formalen Elemente der Dichtung wie Metrum, Rhythmus, Strophik, Lautwiederholung u.ä. und der damit hand in hand gehenden Interpretation der Texte allein aus dem Wortsinn, den Symbolen und Metaphern in Verbindung mit autobiographischen Elementen. Die eingangs erwähnte Betonung des Ganzheitscharakters der einzelnen Lyrikbände durch Tesnière führt ihn zu Deutungen, die dem Werk mitunter einen Gesamtsinn unterstellen, der in Wirklichkeit nicht immer in dieser Exklusivität vorhanden ist, wie es Tesnière dem Leser nahelegt und durch die Auswahl der übersetzten Texte zu belegen versucht. Im Band Čez plan ist nach ihm die "Leitidee" in der Elegie auf den Tod Murns vorgegeben, die den Band eröffnet. In ihr findet Tesnière die symbolische Deutung des Titels ("... la plaine à laquelle songe le poète, c'est celle dans laquelle il s'enfuit, au sortir du cimetière, pour y crier sa douleur et y goûter 282 l'amertume de sa solitude" (S. 73)). Im "Zyklus der Nacht" symbolisiert die Nacht die Vergangenheit, im "Zyklus des Tages" bedeutet der anbrechende Tag Mut und Vertrauen in die Zukunft. Der Band endet so mit neuem Lebensmut und der liebenden Zuwendung zur Heimat. Wie Tesnière zusammenfassend feststellt, beschreiben die Gedichte dieses Bandes somit drei Etappen in Župančič' innerer Entwicklung: "la douleur, la solitude et la force" (S. 79). Die Gedichte des Bandes Samogovori sind für Tesnière wiederum Ausdruck eines In-sich-Gehens, einer Vertiefung in die Problematik des dichterischen Schaffens und der dichterischen Inspiration. Er unterscheidet in diesem Band fünf Zyklen, die Zyklen der Melancholie, des Sarkasmus, der Religiosität, der vergeistigten Heiterkeit und schließlich der Apotheose seines Heimatlandes. An die Stelle der irdisch-physischen Inspiration des vorangegangenen Bandes tritt in der Schilderung der Frau das geistige Band, das sie dem Mann verbindet. Auch hier versucht Tesnière durch das Prisma der Verse die psychologische Entwicklung des Autors zu deuten, die am Ende - deutlich dargestellt im Gedicht "Duma" (für Tesnière übrigens ein Hauptwerk des Dichters) - zur Abkehr vom Kosmopolitismus seines Pariser Aufenthalts zurück zur heimatlichen Scholle führt. Durch seine interpretativen Analysen vermittelt Tesnière dem Leser immer wieder das Gefühl, Werk und Werdegang des Autors, eben seine "évolution psychologique", mitzuerleben. Damit steht das Vorgehen Tesnières zwischen einem streng wissenschaftlichen und einer poetisierenden, ästhetisierenden, sich selbst in dichterischen Metaphern realisierenden, mitunter zu schönen Bildern gerinnenden phänomenologischen Wesensschau. Um aber nicht den falschen Eindruck hervorzurufen, muß gleichzeitig darauf verwiesen werden, daß Tesnière nie den Kontakt mi dem konkreten Kontext gesellschaftlichen Lebens der Zeit verliert und in seinem Vorgehen biographische und sozialpolitische Aspekte stets voll in die Analyse einbezieht. Es wurde schon gesagt, daß Tesnière den formalen Besonderheiten des Verses wenig Beachtung schenkt. Ähnliches läßt sich vom letzten, vielleicht dem schwächsten Kapitel sagen, das dem Stil des Dichters gewidmet ist. Tesnière geht in der Tat kaum auf den Stil selbst ein, versucht vielmehr die Quellen von Zupančič' Inspiration zu definieren. Er findet sie erwartungsgemäß in der Folklore und der "Spontaneität" im Charakter des Dichters. Unter Rückgriff auf die Begriffe subjektiv und objektiv, wie sie auf Schiller und Goethe angewandt wurden, bezeichnet Tesnière Župančič als einen Dichter, dessen Hang zu Konkretheit und dessen Lebensrealismus ihn - analog zu Goethe - zu einem "objektiven" Dichter machen. Was Metrik und Verstechnik angeht, so zieht sich Tesnière mehr oder weniger elegant aus der Klemme. Er meint, Župančič stünde höher als jegliches Regelwerk: Joupantchitch est lui-même assez artiste pour n'en avoir point besoin" (S. 360), und fügt dem hinzu, der Dichter kenne nur eine Regel, - die Intuition und den individuellen Rhythmus. Tesnières an der Psyche des Autors, seiner äußeren und inneren Biographie, orientierte Analyse entspricht in etwa der Münchner Schule der Stilistik, den Auffassungen Karl Voßlers und Leo Spitzers, in der das Sprachsystem des Dichters als 283 Ausdruck seiner Persönlichkeit gesehen wurde. Spitzer verlangt, "alles stilistisch bei einem Autor Bemerkenswerte vereinen und mit seiner Persönlichkeit in Zusammenhang bringen" und betonte "... es handelt sich darum, das besondere gewählte Bild als durch die besondere Seelenveranlagung des Schriftstellers bedingt zu erweisen, seinen 'atlas cérébral' zu zeichnen."12 In Frankreich vertraten Mabilleau und Thibaudet ähnliche Ansichten wie die eben angeführten. Mabilleau zeichnete den "atlas cérébral" des Dichters in seiner Hugo-Monographie von 1907, Thibaudet die Spiegelung von Seelischem im Sprachlichen in Studien über Mallarmé (1919).13 Genau dieselbe Vorgangsweise finden wir bei Tesnière. Man könnte noch auf Roustan verweisen und seinen Précis d'explication français (Paris 1911) und den darin gegebenen Stilanalysen. Etwas von B. Croces Begriff der "ästhetischen Persönlichkeit" ist wohl auch in Tesnières Studie zu spüren. Auch Tesnière geht es im Grunde wie Croce um den "stato d'animo fondamentale" der "poetica personalità".14 Im Gegensatz zu Croce beharrt Tesnière allerdings stets auf der Identität mit dem konkreten Menschen Župančič und den konkreten Lebensumständen. Ich möchte mit den Worten des eingangs schon zitierten André Vaillant schließen, der seiner Rezension des Buches in der Revue des études slaves (1931) folgende abschließende Bewertung gab: "Il (= Tesnière) a parfaitement réussi. Il a donné de l'œuvre de Joupantchitch une idée exacte et complète, par des analyses précises qui en marquent le développement interne et qui en même temps la situent dans son milieu Slovène et dans l'ensemble de la littérature européenne". Auch heute, mehr als sechzig Jahre nach dem Erscheinen der Monographie, kann man dem nur beipflichten. Wer immer sich mit Župančič beschäftigt, kann an diesem Buch nicht vorübergehen.15 Povzetek LUCIEN TESNIERE, LITERARNI ZGODOVINAR Prispevek je obenem pohvalni in kritični zapis o Tesnieijevi monografiji Oton Župančič, slovenski pesnik: človek in delo (Pariz, 1931). Po eni strani skuša odkriti Tesnierjevo metodo dela ter kriterije, ki jim je sledil pri analizi in prevodih pesmi, po drugi strani pa ugotoviti teoretične predpostavke, ki jih je pri tem upošteval. Monografija je kljub vplivom tedanjih literarnozgodovinskih tokov vzorno delo, ki je zaradi široko zastavljene in 12 Leo Spitzer: "Wortkunst und Sprachwissenschaft" in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 13, 1925, S. 169-186. 13 L. Mabilleau: Victor Hugo. 1893 und 1907. A. Thibaudet: La Poésie de Stéphane Mallarmé, Paris 1913 u. 1926. Inweiweit Tesnière möglicherweise von der Genfer Schule der Stilistik, d.h. von Ch. Ballys Stilistik als Studium der affektiven und emontionalen Funkton der Sprache oder von F. Paulhans synthetischem Stil in der Dichtung ausgeht, läßt sich nicht sagen. 14 B. Croce: La Critica letteraria, Rom 1894; Estetica, Bari, 4. Aufl. 1912; Poesia e non Poesia, Bari 1922, u.a. (Dt.: Grundriß der Ästhetik, Leipzig 1913; Poesie und Nichtpoesie, Zürich-Wien 1925, u.a.). 15 A. Vaillant: "Slovène. Littérature et histoire littéraire" in: Revue des Etudes Slaves, 1931, S. 114. 284