Hans Rainer Sepp DAS MASKiERTE SELBST Zu einer oikologischen Phänomenologie der Person Begriff und Sache der Person ist mit der Entfaltung der europäischen Zivilisationen verknüpft und bilden grundlegende Bausteine dafür, wie Europa sich in der Welt einrichtete, seinen Haushalt organisierte. Die folgenden Ausführungen werden von der These geleitet, dass 'Person' eine Weise darstellt, das 'Selbst' zu realisieren. 'Person' verweist damit auf einen Prozess, eine Bewegung, innerhalb derer heute gängige Bestimmungen der Person, ausgedrückt mit Begriffen wie Freiheit, Autonomie, Menschenwürde, späte Stationen sind, deren Möglichkeit in Früherem gründet. Dieser Prozess, in welchem sich der Sinn der Person bewegt, sich verschiebt, ist das fluktuierende Medium, über das sich der oikos Europa ein gutes Stück weit definiert und in der Wirklichkeit Fuß fasst. Der Schauplatz dieses Geschehens ist das europäische Theater, das sich damit selbst erfindet; dessen Grundkoordinaten werden zur Wohnstätte des europäischen Menschen und verbreiten sich von hier aus über die ganze Welt. Es wäre eine eigene Aufgabe, diesen Gang detailliert nachzuzeichnen. Hier kann es nur darum gehen, die strukturellen Schemata dieses Prozesses herauszuarbeiten, und zwar im Kontext einer Oikologie, deren Aufgabe es ist aufzuzeigen, unter welchen Bedingungen menschliche Existenz in die Welt und ihre Kontexte des Mitmenschlichen und Naturhaften eingreift. Da es um die Strukturen einer Sache selbst geht, verfährt eine solche Analyse anders als eine begriffsgeschichtliche Untersuchung. Ihr ist - um im Bild zu spre- 3 4 chen - nicht an einer nur materialtechnischen Rekonstruktion der Errichtung des Gebäudes gelegen, sondern sie befragt in erster Linie seine Architektur und will die Entscheidungen freilegen, die zu den faktischen Ergebnissen des Gebauten führten - letzten Endes zu dem oikologischen Zweck, über die in den Sinndimensionen des Gebäudes steckenden Möglichkeiten orientiert zu werden, um ein künftiges Wohnen in ihm besser gestalten zu können.^ Aus dem Raum, der mit den Ursprüngen der europäischen Tragödie (im doppelten Sinn dieses Ausdrucks) abgesteckt ist, resultiert ein Bau, der von vornherein durch Fragilität, Schnelllebigkeit, Wandelbarkeit gekennzeichnet und von Instabilität bedroht ist. Mit dem Theater führt sich der europäische Mensch gleichsam selbst auf, und so möge auch der Versuch, sein eigentümliches Spiel, bei dem es um das Haus Europa geht, ans Licht zu bringen, entsprechend gegliedert sein: nämlich in eine Exposition, einen Ausgangspunkt, in eine Peripatie, in der sich die Krise zeigt und zu einer Entscheidung drängt, und in eine Katastrophe, eine Auflösung des Konflikts. I. Exposition Der Begriff der Person wird bekanntlich auf persona zurückgeführt - einen Ausdruck aus der Theatersprache, der 'Maske' bedeutet und damit 'Person' im Kontext der Ursprünge des europäischen Theaters lokalisiert. Die Schauspieler trugen Masken - ein Relikt aus der Geburtszeit der Tragödie, die sich aus den DionysosKulten entwickelt hatte. Das Bedeutsame aber ist, dass die Maske, indem sie zur persona wurde, einen eklatanten Bedeutungswechsel erfuhr. Masken kennt wohl nahezu jede Kultur. Ihre gemeinsame Grundbedeutung liegt darin, für eine bestimmte Zeit, an ausgezeichnetem Ort ein Anderer oder eine Andere zu sein. Das rituelle Fest entrückt den einzelnen aus dem Zusammenhang seiner täglichen Verrichtungen, und eine besondere Kleidung und insbesondere die Maske dienen dazu, diese Entrückung zu vollziehen. Die Maske verbirgt ihren Träger, um ihn dem Gott zu nähern. Die Maske der attischen Tragödie verbirgt auch, und zwar ihren Träger, den Schauspieler. Zugleich aber enthüllt sie - nicht jedoch die mögliche Partizipation an einem Urgrund -, sondern sie zeigt eine neue Weise i Denn es gilt der Satz: »Wo der Ursprung vermisst wird, kann nichts erfasst werden« (Dean Komel, Tradition und Vermittlung. Der interkulturelle Sinn Europas [Orbis Phaenomenologicus Studien, Bd. 10], Königshausen & Neumann, Würzburg 2005, S. 115). Dem könnte man hinzufügen: 'Und wo nichts erfasst wird, kann, vor dem Offenen des Künftigen, nicht wirklich Gegenwart gestaltet werden.' - Komel setzt mit seiner Arbeit die reichhaltigen phänomenologischen Ansätze zu einer philosophischen Europa-Forschung fort (vgl. auch sein Buch Intermundus. Hermeneutisch-phänomenologische Entwürfe [Orbis Phaenomenologicus Studien, Bd. 19], Königshausen & Neumann, Würzburg 2009). Unser Absehen gilt dem Versuch, solche Forschung zum Ort oder zum 'Haus' Europa einer zu entwickelnden phänomenologischen Oikologie einzupassen. der Herausgehobenheit, die Abgesondertheit der Individualität, die sich ebenso scharf oder noch konturenreicher von ihrem gemeinschaftlichen Hintergrund abhebt, wie sich zur selben Zeit der einzelne Mensch von seiner Gemeinschaft zu emanzipieren beginnt. In der Maske der persona birgt sich das Selbst nicht zurück in einen namenlosen Grund, sondern stellt sich umgekehrt als Individuum ins Licht: in den Lichtkegel der Spielfläche der orchestra. Die Haltung der persona ist selbst durch und durch expositio:: ein Heraus-Stellen. Ihre Bewegungsrichtung intensiviert die eks-tasis, das triebhaft fundierte Wollen, und ergreift Zeit und Raum - zunächst den Raum ihrer Spielfläche und die Zeit ihrer Spieldauer. Die expositio des Dramas ist solche nur, weil das sich in ihm herausstellende Individuum eine Zeitlichkeit will, sie usurpiert, besetzt. Seine Zeitlichkeit legt der Zeit des Dramas den Grund; sein Wollen spannt den dramatischen Bogen. Das Herausstellen des Individuums vermöge der persona öffnet einen Zeit-Raum, öffnet Welt. Hand in Hand damit geht eine Versichtlichung, die noch einmal die Besonderheit dieser Maskierung unterstreicht. Das Individuum verhüllt sich nicht, sondern zeigt sich - wenngleich nicht nur mittels der, sondern vor allem als Maske. Sein Herausstellen als maskiertes Selbst ist zugleich ein Aus-Stellen. Indem es sich unter der Voraussetzung seiner Maskierung rückhaltlos präsentiert, wird es nicht nur greifbar, sondern auch angreifbar. Mittels des Konzepts der persona präsentiert sich das Selbst in einer von ihm selbst miterwirkten Welt, über die es jedoch von vornherein keine Macht hat, so sehr seine persona auch versucht, in ihr sich zu behaupten - und scheitert. Ja man könnte sagen, dass die persona das durch sie maskierte Selbst in den Strudel der Ereignisse zieht, die sie heraufbeschwört. Die persona bewirkt somit letzten Endes nicht eine Entlastung des Selbst, ist nicht ein Stellvertreter, dem man das Existieren überlässt, ist letztlich auch nicht probates Mittel zur Selbsterkundung, zu einer Reinigung und Maß-Regelung des Selbst. Es ist vielmehr Dokument eines Selbst, das auszog, sich durch (Über-) Sichtlichkeit die Welt untertan zu machen, und dessen Drama es ist, sich in seinen eigenen Kreationen zu verfangen - zunächst in einer Schöpfung wie dem Drama, welches gerade die Hybris des Einzelnen brandmarken will. Andererseits sind solche Kreationen die einzigen Spuren, die zum 'Selbst' als einem solchen führen, das sich im Vorhinein schon entzogen hat, immer im Rücken liegt, wobei es das Eigentümliche dieser Spuren ist, dasjenige, worauf sie verweisen, noch zusätzlich zu verdecken. Die Anklage, welche die attische Tragödie erhebt, fällt hinter ihre Absicht zurück; sie kann diese nicht verwirklichen, weil offenbar ihre Mittel ungeeignet sind. 5 6 Was also liegt mit der persona der attischen Tragödie, die in diesem fünften vorchristlichen Jahrhundert mit den Namen Aischylos, Sophokles und Euripides bezeichnet wird, vor? Was sind die phänomenalen Bestandteile, die durch sie erwirkt werden? Da ist zum einen die persona, die Maske selbst: Sie verdoppelt. Indem sie das Individuum herausstellt und ausstellt, gibt sie es noch einmal. Das ist die Geburt der Persönlichkeitsspaltung. Sie gibt das Selbst selbst noch einmal - und sichtbarer, in der sichtbaren Begrenzung durch ein peiron, die ausgrenzende Einräumung des Zeit-Spiel-Raums der orchestra. Zum anderen wird dadurch eine weitere Differenz gestiftet, die Dichotomie zwischen innen und außen. Fortan muss man zwischen dem unterscheiden, was sich - mittels der Maske - aus sich heraus entbirgt, zum Austrag bringen will, und dem, was auf diese Weise ausgetragen wird, sich zeigt. Das Sichzeigen aber zeigt sich nicht: ein unüberwindbarer Hiatus trennt das selbstaffektive Leben und seine Versichtlichung, Veräußerlichung und Veräußerung, die ersteres doch bewirkt und sich selbst damit nach außen transportiert, ohne wirklich im Außen sein zu können. Und der dritte Punkt ist die Erfindung der Perspektive, einer bestimmten Perspektive, derjenigen Perspektive, die in der Lage ist, sich selbst zu vervielfachen. Nacheinander erfinden Aischylos und Sophokles den Protagonisten, die erste Person, und den Gegenspieler, die zweite Person. Die dritte Person wird stillschweigend dazuerfunden: Die dritte Person ist der Zuschauer. Er korreliert von Anfang an mit der Maske, der persona, also der ersten Person, sofern sie sich schon gezeigt hat. Denn das Sich-Ausstellen, in die Sichtbarkeit-Bringen durch die Maske verlangt nach einem Blick, dem sich diese Ausstellung präsentieren kann. Mit der Verschiebung der Maske hin zum Herausstellen tritt auch der Zuschauer auf; und indem das Herausstellen einen Zeitspielraum schafft, ist auch der Verfügungsbereich des Zuschauers definiert: Er befindet sich nicht auf der Bühne, er ist unbeteiligt. Er ist gegenüber dem peiron der Bühne in einem apei-ron lokalisiert - einem relativen apeiron allerdings, da seine Existenz ja von der Maske abhängt. In diesem Sinne ist er beteiligt-unbeteiligt, beteiligt als Unbeteiligter. Er wird gebraucht, das Drama braucht ihn. Er ist auf exzentrische Weise zentrisch - außerhalb der Bühne befindlich, aber auf ihr Geschehen bezogen und von ihm im Ganzen gefordert. Indem sich diese erste Selbstobjektivation zur persona, die Verschiebung des Selbst hin zur ersten Bühnenperson, vollzieht, erfolgt auch schon die Stiftung der Dritten-Person-Perspektive: als die Geburt der theoria im Medium des Dramas, die Inauguration eines Zuschauers, der sich erhaben dünkt - so wie die Ränge des Theaters allmählich ansteigen - und doch von der Verweltlichung des Selbst abhängig bleibt. Wie sich das Selbst in seine persona entäußert (und in ihr sich verfängt), wird das eigentliche Drama auf der Bühne von einem Drama zweiter Ordnung umgriffen, das die persona und ihre Bühne mit ihren Zuschau- ern in einen Umkreis bringt - baulich das amphitheatrum, woraus sich später die »Guckkastenbühne« entwickelte. Damit der theatralische Raum des Dramas und auch der Raum des Theaters selbst in Funktion treten können, ist nicht nur die Betonung der - bezogen auf das Ganze - relativen Grenze zwischen beidem, zwischen dem peiron und seinem relativen apeiron, also die sogenannte Rampe, von Bedeutung, sondern auch der Bühnenhintergrund. Er entfaltet die Tiefe der Welt, indem er sie verbaut. Die Verbauung, die Kulisse, erzeugt die Illusion, dass hier in der Tat eine Welt geschaffen ist, die ins Endlose durchschritten werden könnte, wenn man dies nur wollte und nicht vom Geschehen auf der Bühne abgehalten würde. Das Bühnengeschehen und die nur auf illusionäre Weise transparente Rückwand der Bühne halten die Zuschauer sozusagen auf ihren Sitzen. Ja mehr noch: Sie fixieren sie. Entfaltet das dramatische Geschehen einen Zeitspielraum, so entwickelt es ein Mythisches: einen Umkreis eben, eine Zirkelfigur. Die Bewegungsfigur des Mythos', der in der attischen Tragödie steckt, leibt sich auch auf der Bühne und mit ihr selbst aus. Diese mythische Figur wird jedoch durch eine unsichtbare magische Figur unterlaufen, die insbesondere das Zueinander von Bühnengeschehen und Zuschauer stabilisiert. Auch in der Ausrichtung der mit dem Herausstellen der persona verbundenen ekstatischen Bewegung liegt ja ein Magisches, das nicht nur die angenommene Existenz glaubhaft erscheinen lassen will, sondern das mit dieser Glaubhaftigkeit vor allem treffen und fangen, den Blick des Zuschauers bannen will. Dieser Bann stiftet den Zusammenhalt von persona und Zuschauer - und sein Ausbleiben löst ihn auf. Diese fixierende Bannung wird durch ein Mittel verstärkt, das besonders dazu angetan ist, den Blick des Zuschauers zu stabilisieren, und das ist der Bühnenhintergrund. Es ist das griechische Theater, das mit der Skenographie, dem perspektivisch angelegten Bühnenhintergrunds, das europäische Konzept der Perspektive schuf, das sich später zur Zentralperspektive fortbildete. Diese Art von Perspektive ist das streng geordnete Blickschema, das den Blick des Zuschauers domestiziert: Von welcher Seite des Zuschauerraums es auch betrachtet wird, es zieht den Blick auf die Mitte seiner blickschematischen Organisation und festigt mit der strengen Korrelation von Blicknötigung und erzwungener Blickantwort das Band zwischen dem Zuschauer und dem Geschehen auf der Bühne. Im Ganzen gesehen ist dies freilich der Vorgang einer Selbstbannung und ein Symptom dafür, wie sich das Selbst in seinen Konstruktionen von persona und Zuschauer immer mehr verfängt. Denn der erste Zuschauer ist der Konstrukteur dieser in sich gestuften Welt von Bühnenraum und Theaterraum. Obgleich oder vielmehr gerade weil der Zuschauer auf das Bühnengeschehen angewiesen bleibt, ist sein Ort in Relation zu ihm ein Un-Ort. Der Zuschau- 7 er ist, bezogen auf das Bühnengeschehen, im Nirgendwo, ortlos. Die Erfindung des Zuschauers ist zugleich die Entdeckung der Unbehaustheit. Seine Ortlosig-keit wird sogar leiblich spürbar, indem nur sein Blick, angezogen vom Geschehen auf die Bühne, dort hinüberwandert, während sein Leib im Hier verbleibt, jenseits der Rampe. Später versinkt der Zuschauerraum allmählich ins Dunkel, bis das Kino den Zuschauer schließlich mit einem tiefschwarzen Raum umhüllt, schlaglichtartig erhellt von einer lichten Membran, auf der sich die Wirklichkeit in ihrer Lebendigkeit dem Zuschauer noch einmal gibt - als eine letzte Konsequenz seiner Anonymität, seiner Verlassenheit. Wenn aber der Zuschauer aus der Korrelation mit der Maske hervorging, nistet das Nichts, der Abgrund, der sich zwischen ihm und der Bühne auftut, schon in dieser selbst, in der Verschiebung vom Selbst, in der sie sich konstituierte. Und in der Tat, wollte sich das Selbst durch seinen eigenen Hinaus-Wurf in die Maske, durch diese Selbstobjektivati-on, retten, indem es sich den Spiegel vorhielt und sich anblickte und dadurch Läuterung und Reinigung erhoffte, gewann es nichts von alledem; hinausgetrieben aus sich erfand es sich unablässig neu, fand aber nicht das, was es ersehnte: Selbstgewinn und Selbsterhalt. Im Gegenteil. Zersplittert in seine Reflexionen verlor es noch den Halt, der es an die Götter zurückband. Bei Euripides ist die Emanzipation des Menschen vollendet, der Gott schwebt nur noch als deus ex machina herab. II. Peripatie Die Ortlosigkeit des Zuschauers verweist auf den Status der Maske: Die persona ist ebenfalls ortlos, sofern ihr Ort das Resultat einer illusionären Schöpfung ist, und darin liegt zunächst ein Zweifaches: Als geschaffene besitzt sie ein Sein aus zweiter Hand, und sie ist reine Oberfläche, Sichtbarkeit und dadurch von Flüchtigkeit gekennzeichnet. Und mehr noch: Ihr Status ist illusionär auch deswegen, weil sich das Selbst mittels der Maske verankern, sich dadurch ein Antlitz geben und sich ganz im Antlitz geben will, ohne dies jedoch wirklich zu vermögen, da es im Sichtbaren nicht fassbar ist. Die persona hat so vor und hinter sich einen Abgrund - nach vorne zum Zuschauer, nach rückwärts zum Selbst. Sie ist damit von Anbeginn an der Inbegriff' für ein Verschobensein und wird zugleich zum Ausdruck für die Unmöglichkeit, das Selbst zu 'stellen', es im Außen festzuhalten. Und daran ändert auch der Zuschauer nichts: Angewiesen auf die persona kann er nur das Außen, die Maske selbst, bestätigen. Das Ziel, das Selbst durch die Erfindung der persona zu festigen, ja es durch sie zu legitimieren, schlägt fehl. Geht es aber überhaupt darum, durch die persona das Selbst zu stärken? Ist es nicht vielmehr so, dass die attische Tragödie gerade darauf zielt, jegliche Absicht, die das Selbst als das erwachende Individuum aus 8 den Fängen einer den natürlichen Weltlauf akzeptierenden Gemeinschaft befreien will, scheitern zu lassen? Das ist zweifelsohne der Fall. Das Merkwürdige ist jedoch, dass in der Entwicklung der Tragödie von Aischylos bis hin zu Euripides dieses Ziel nicht nur nicht erreicht, sondern umgekehrt das Individuum immer mehr an Selbststand gewinnt und sich von den Göttern distanziert. Der Protagonist scheitert dennoch, und das bedeutet, dass die persona eben beides evoziert: sowohl die Vertreibung aus dem natürlichen Urgrund wie auch das Nicht-An-kommen in einer neuen 'Heimat'. Ist die Maske selbst schon Verschiebung, da sie, mit illusionären Mitteln zumal, die persona die Stelle des Selbst einnehmen lässt, so intensiviert sie diese Verschiebung noch, indem sie das Individuum nicht ankommen lässt. Wie könnte sie dies auch, schließt doch die Maske hier noch jegliche Individualität aus. Die Maske entzweit sich damit selbst, und die persona ist es, die, aufgeladen mit der verführerischen Verlockung zur individuellen Existenz, an einen ortlosen Ort vertrieben wird, dorthin, wo sie nicht mehr Selbst und noch nicht Selbst ist, da sie nicht wirklich eine neue Verortung im Imaginativen der Maske erlangt. Die persona entweicht wie ein Geist aus der Wandung der Maske; sie nistet sich in das Spannungsfeld von Selbst und Maske ein und wird - ad personam sozusagen - zum Ausdruck dafür, dass das Selbst - als das, was aus dem natürlichen Weltlauf heraus fiel und sich in der neu geschaffenen Welt verankern wollte - es nicht wirklich vermag, sich durch die Maske, die Inszenierung, den Zuschauer repräsentieren zu lassen. Diese Konstellation deutet schon an, dass das europäische Konzept der Person einen Schwebezustand herbeiführt, wobei sich das Selbst immer wieder zu konkretisieren versucht, ohne sich auf diese Weise doch wirklich 'haben' zu können. Es scheint so, dass sich das Selbst als Person nur so hat, dass es sich nicht hat. Die griechische Tragödie führt auf diese Weise ein zweifaches Scheitern vor: Sie überführt die Hybris des Protagonisten, das Scheitern des Individuums, und sie zeigt die Vergeblichkeit, sich im Außen zu verankern; ersteres ist das Thema des Dramas, letzteres wird durch die Phänomenalität des Theaters vorgeführt. Die eigentliche Intention, die Verselbständigung des Individuums mit den Mitteln des Theaters anzuprangern, scheitert jedoch ebenfalls, und das Theater selbst ist hierbei der Komplize. Denn die Darstellung imaginiert nicht nur eine verselbständigte Existenz; sie bannt diese ins Außen transportierte und doch nur imaginäre Existenz in eine Zwischenwelt, in der Existenz weder vorwärts noch zurück kann, so dass sie im imaginären Mittel der Maske real gefangen ist. Auf diese Weise arbeitet das Theater an der Individuation des Einzelnen und leitet den in-dividuierenden Prozess zugleich in die Irre, indem sie ihn nicht nur unvollendet 9 10 sein lässt, sondern die bedrohliche Stimmung einer existenziellen Verunsicherung kreiert. Die Lösung konnte nur eine neue, eine ebenso erzwungene wie willentlich durchgeführte Verankerung sein, die sich von ihren Ausgangspunkten so weit entfernte, dass sie die phänomenale Grundstruktur des Theaters hinter sich ließ - ohne freilich die Erfahrung ablegen zu können, gegen die sie sich wandte. Mit Sokrates und Platon wird die Spannung konstituiert, die, unter ausdrücklicher Umgehung jeglichen Bildcharakters, den Bezug auf das Innere mit der Korrelation zu einer es ebenso übersteigenden wie fundierenden Ideenwelt zu stabilisieren suchte, um der Existenz Halt zu verschaffen. Die Struktur des Theater lieferte nichtsdestotrotz ex negative den Grundriss auch noch für diesen Versuch, sich von einem bestimmten Konzept des Phänomenalen zu befreien. Denn dieser Rücksprung ins Selbst konnte nur von dort seinen Ausgang nehmen, wohin die persona auf der Suche nach ihrem Selbst versetzt wurde: ins Äußere der Maske. Das sokratisch-platonische Unterfangen, der ortlosen persona eine Heimstätte im Selbst, der Seele, zu verschaffen, wird sich fortan an der Dichotomie von Innen und Außen orientieren und als Rückgang nach innen vollziehen, so wie noch Husserl sein gesamtes Konzept der transzendentalen »Rückfrage« mit der Augustinischen Aufforderung »in te redi« begründete.2 Im Christentum war offenbar die Gewissheit lebendig, dass der Erfolg dieses Rückgangs davon abhing, inwieweit es gelänge, den okularen Bezug des griechischen Erbes, den Hinauswurf des Selbst in die Sichtbarkeit, rückgängig zu machen. Dies musste zumindest im Feld der Theorie scheitern, die selbst nur als griechisches Erbe eingesetzt werden konnte. Wenn Tertullian und nach ihm vor allem Boethius den Begriff der Person aus seinem Niemandsland erneut verschoben, zurück ins Selbst der Seele, und ihm den zusätzlichen Namen substantia verliehen, belegt dies nicht nur die Anknüpfung an die griechische Philosophie; übernommen ist damit implizite die gesamte Genealogie der persona, deren Entwicklungsgang jedoch dem Dunkel anheim fällt. Aus der allmählichen Marginalisierung des griechischen Theaters gingen weitere Verschiebungen der persona hervor, die ihrerseits keineswegs von marginaler Bedeutung waren. Bezeichnend für diese Verschiebungen war es, dass sie nicht mehr das Selbst auf einen imaginären Ort bezogen, sondern auch dies verschoben, das Spiel in den Ernst versetzten. Im Kontext der römischen Gerichtsbarkeit, deren Vollzug auch eine Inszenierung ist, aber eine solche, die es mit Realien zu tun hat, verschob sich die Bedeutung der persona hin zur Bezeichnung 2 Mit diesen Worten beschließt Edmund Husserl seine Cartesianischen Meditationen (Husserliana, Bd. i), hg. v. Stephan Strasser, Verlag Nijhoff, Den Haag 1950, S. 183. der Rollen, die man jeweils als Advokat, Ankläger oder Richter annehmen kann. Gleichzeitig vollzog sich mit der Aufführung realer Kämpfe im geschlossenen Rund des Amphitheaters die Umkehr der Bühne in einen Schauplatz, auf dem es um Leben und Tod ging. Von den Akteuren war im wahrsten Sinn die Maske abgefallen; sie kämpften ums nackte Überleben, es ging um ihre Substanz, und nur der, der eine innere Substanz konstituiert hatte, konnte sich auf ein Unzerstörbares in ihm berufen. Die Kirche suchte den unbeteiligten Zuschauer der Idee nach wieder in den Status eines engagierten Mitglieds einer communio zurückzuführen; da jedoch ihr reflexives Potential in Gestalt der Theologie die griechischen Fundamente nicht zu überwinden vermochte, wirkten diese im Untergrund fort und bestimmten auch die Strategien ihrer Verankerung in der Welt. In diesem Zusammenhang wäre es freilich wichtig, auf die unterschiedlichen Phänomenalitätskonzepte der Ost- und Westkirche Bezug zu nehmen. Ungelöst in dieser Entwicklung blieb das Grundproblem des Verhältnisses von Selbst und seiner Erfassbarkeit, also das Verhältnis, wie es sich im Horizont des antiken Griechentums erstmals im Bezug von Selbst und Maske manifestiert hatte. Da diese Problematik nicht als solche verhandelt wurde, pendelte der faktische Verlauf des Christentums zwischen dem Versuch, die Kirche in der Heraus-Stellung ihrer machtvollen Potenz im Außen zu verankern, sich sozusagen Masken zuzulegen, die immer weniger als solche empfunden wurden, und, gegenläufig dazu und vom Leben an der Oberfläche ausgehend, in dem Bestreben, immer wieder den Rückzug auf das Innere des untangierbaren Bereichs des Selbst einzufordern. Dass sich die Kirche veräußerlichen musste, um nach dem unbefragten griechischen Konzept der Phänomenalität in der Welt Fuß zu fassen, erzwang aber nicht nur individuelle Gegenwendungen, sondern kollektive, die, als ,Reformationen' mehr geahnt als gewusst, den Geist der Umkehr, der dem Christlichen ursprünglich innewohnt, für sich reklamierten. Mit Platon und dem Platonismus hatte sich das Schwergewicht verschoben -von der Relation, die zwischen Selbst und Maske (und ihrem Korrelat des Zuschauers) besteht, hin zu einer Relation, die sich zwischen einem Urgrund und dem Selbst aufspannt, mit der Möglichkeit, dass das Selbst in der Welt maskiert auftritt. Dem entspricht der platonische Dreischritt von Ideenwelt, Welt und Fiktion innerhalb der Welt. Mit der Reduktion der Bedeutsamkeit der Maske als desjenigen Orts, an dem das Selbst in die Sichtbarkeit der Welt tritt, wird auch die Rolle des Zuschauers minimalisiert, während das Selbst sein substanzhaftes Sein vom Urgrund her erhält, als das Nachbild eines Urbildes. Nicht nur der Bezug des Nachbildes auf sein Vorbild verweist noch auf seine Herkunft aus der Relation von Selbst und Maske, sofern das Nachbild das welthafte Selbst, die welt- 11 12 lich maskierte Seele, bezeichnet; eingeschlossen in seine Weltform partizipiert das Selbst am göttlichen Urfunken und ist insofern substantia, Person. Während also im vorplatonischen Denken im Kontext der Tragödie das Selbst sich in seine Maske veräußerlichte, verinnerlicht es sich im Platonismus in Richtung auf das Göttliche in ihm; und verschiebt sich die Person im ersten Fall in den Raum zwischen der Maske und dem Selbst, so im zweiten Fall zwischen dem Selbst in der Welt und seinem Urgrund. Beide Male aber wird das Selbst nur in Relation zu solchem bestimmt, was es schon nicht mehr oder noch nicht ist - nicht mehr nur Maske, und noch nicht bei Gott. Zu Beginn der europäischen Neuzeit tritt eine weitere Verschiebung ein. Diese Zeit wartet mit einer Karriere des Zuschauers auf, Maske und Zuschauer gehen einen neuen Bund ein. Damit ließe sich geradezu die kopernikanische Wende beschreiben: In dem Moment, da sich der exklusive Bezug des Göttlichen auf die irdische Welt insofern verschiebt, als die Erde nicht mehr länger das Zentrum des Laufs der Gestirne ist, macht sich der Zuschauer selbst zum Zentrum: Er wird zum großen Subjekt, das sich sein Bild gibt. Der neue Bund zwischen Zuschauer und Maske sieht vor, dass der Zuschauer es ist, der die Perspektive dirigiert. Er übernimmt den absoluten Nullpunkt der Orientierung und lässt das Weltschauspiel um sich herum sich entfalten. Die Mittel, diese Zentralstellung einzurichten und auszubauen, sind vor allem die Kunst, etwas später die Mathe-matisierung der Natur und die transzendentale Philosophie sowie die politische Theorie. Einer seiner Bestimmungen bleibt der Zuschauer jedoch treu: Er verharrt weiterhin im Dunkeln. Als der archimedische Punkt, als den er sich jetzt generiert, zieht er alles so auf sich, dass kein Raum mehr zu bleiben scheint, in dem er noch in Distanz zu sich treten könnte. Bar jeder Absicht, sich zu sich selbst in Relation zu setzen, stilisiert er das Resultat des Gewaltakts seiner Zentralstellung zur neutralen dritten Person. Der Enthüllungsstil, mit dem die Mathematisierung der Naturwissenschaften auf den Plan tritt, vollendet die Neutralisierung des Zuschauers, indem diesem die Möglichkeit zugesprochen wird, einen vermeintlich 'objektiven' Standpunkt einnehmen zu können. Der Zuschauer setzt sich selbst eine Maske auf, mit deren Hilfe er die Leistung seiner extremen Subjektivierung als das Gegenteil, als Ent-subjektivierung der Welt, erscheinen lassen kann. Glaubhaft wird seine Maskierung durch die korrelative Veränderung der aisthetischen Maske der Welt, durch den »Formelsinn«,3 der die Maske so sublimiert, dass sie ihren Gebrauch als Bedingung für unanfechtbare Wahrheit verkaufen kann. Im Namen dieser Wahr- 3 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana, Bd. VI), hg. v. Walter Biemel, Verlag Nijhoff, Den Haag 1954, § 9f. heit erfolgt das Schauspiel der großen Enthüllung, eine Demaskierung, welche doch nur die Maskierung als den Glauben an die Enthüllbarkeit eines Ansich der Wirklichkeit auf die Spitze treibt. Dort, wo es um die Enthüllung des Ansich-seins des Selbst geht, im Bereich der medizinischen Wissenschaften, wird sogar das Schauspiel selbst fortgesetzt - vom theatrum anatomicum der Renaissance bis hin zu Gunther von Hagens K^örperwelten.^ Noch das Faktum, dass die Maske, also der Vollzug der Enthüllung, als Demaskierung ausgegeben wird - welche nicht nur aufgrund des Nachweises chemischer und physikalischer Prozesse, sondern insbesondere mittels bildgebender Verfahren glaubt, auf diese Weise ein wahres Selbst freilegen zu können -, bestätigt, scheinbar paradox, die Maskierung des Selbst. Dieser drohende Verlust des Selbst im Verleugnen des eigenen impliziten Subjektivismus und seiner oberflächenhaften Inszenierung von Objektivität mochte als Gegenreaktion die Transzendentalphilosophie motiviert haben, wobei der hier intendierte Rekurs auf die Subjektivität eine Verbindung zwischen dem Zuschauer und dem Selbst zu stiften beabsichtigte. Dabei darf nicht übersehen werden, dass Transzendentalphilosophie und mathematische Naturwissenschaft in der Hinsicht konform sind, als beide von einer starken Position des Zuschauers ausgehen, in dessen reflexiver Potenz die Transzendentalphilosophie die Bedingung der Möglichkeit erblickt, das Selbst als Grundinstanz des Wirklichen zu erschließen. Ebenfalls nicht außer Acht zu lassen ist, dass Objektivismus und Subjektivismus derselben Quelle entstammen: der Unsicherheit nämlich, für die schon in ihrem Ursprung heimatlos gewordene persona eine Verankerung zu finden. Mit solchem Rekurs auf ein fundamentum inconcussum sollte ein Selbst gewonnen werden, von dem man nach wie vor annahm, dass es, das sich stets ins Dunkle davonstiehlt, doch zu stellen sei, so wie ein Dieb in der Nacht ertappt werden sollte. Wir wissen freilich, dass es nicht dazu kam und nicht dazu kommen konnte, wenn eben die Möglichkeit des Bedürfnisses zu solchem Tun gerade eine unüberwindbare Differenz zu dem von ihm Begehrten impliziert. Der nicht nur aus dem Spiel herausgehaltene, sondern nun auch noch zum Angelpunkt avancierte Zuschauer vollzieht eine Absolution in doppeltem Sinn: Er separiert sich absolut, (ver-)ab-solutiert sich, sofern er sich auf den von ihm behaupteten archimedischen Punkt zurückzieht, und unternimmt in eins damit eine Entschuldung im Vorhinein, erteilt sich selbst die Absolution, da er in keinem Bezugsverhältnis mehr steht, von dem er abhinge. Dieser Vorgang ist nicht nur in der Darstellung der Perspektive, der Mathematisierung der Wissenschaft 4 Vgl. vom Vf. »Dall'immaginazzione all'ideologema: i mondi corporei di Gunther von Hagens«, in: Ma-gazzino di folosofia (Milano), 17 (2010), S. 180-194. 13 14 und in einem gewissen Sinn im transzendentalen Idealismus anzutreffen, er prägt auch eine Hauptlinie der politischen ^eorie der Neuzeit: den Gedanken der Souveränität. Die Position des souveränen Herrschers, wie ihn zuerst Jean Bodin entwirft, ist durch dieselbe doppelsinnige Absolution gekennzeichnet -der Souverän als absoluter Herrscher ist darin absolut, dass er zum einen sich selbst aus dem seiner Verfügungsgewalt unterstehenden Zusammenhang herausnimmt und zum anderen in dem Sinn schuldunfähig ist, dass er, als außerhalb des weltlichen Gesetzes stehend, von diesem nicht belangt werden kann. Bei seiner Konzeption des souveränen Herrschers geht Bodin vom Vorbild des paterfamilias aus: Wie dieser seinem Haushalt vorstehe und ihn bedingungslos führe, habe auch der Souverän seine Untertanen zu lenken und zu leiten.5 Bodin überträgt also die Struktur des antiken oikos auf das Ganze des Staats, verschmilzt die ursprüngliche Bedeutung des oikos mit derjenigen der polis. Ist der Unterschied zwischen dem privaten Haushalt und dem öffentlich-politischen Bereich aufgehoben, resultiert daraus die Möglichkeit zu einer Genealogisierung noch ganz anderer Art, als es die genealogische Abfolge in der Vererbbarkeit monarchischer Titel ist: Mit seiner Geburt steht der Mensch in eine Sphäre hinein, in der der häusliche Umkreis von vornherein auf den Staat bezogen ist, so wie umgekehrt der absolute Herrscher seine Allmacht bis hin auf das Entstehen menschlichen Lebens erstreckt. Auch im Fall des absoluten Herrschertums gibt sich der souveräne Zuschauer sein Bild: Was andernorts das spekulative System oder der Formelsinn ist, gerät hier, bestenfalls noch, zur repräsentativen Fassade, lässt sich aber auch zu umfassenden Kontroll- und Propagandamechanismen oder zur Einrichtung von Schauprozessen totalisieren, und das alles bis hin zu einer Strategie der Vernichtung, die noch das Sichtbare ihrer Maske mit in den Abgrund nehmen mag, ohne dabei die Maske selbst zerstören zu können; diese verrät immer noch die Spur dessen, der die Welt mit der von ihm usurpierten Macht vergewaltigen will. Mit der Neutralisierung und Verabsolutierung des Zuschauers, der solcherart schließlich zum Diktator moderner Couleur wird, wächst die Gefahr, dass sich der archimedische Punkt in einen blinden Fleck wandelt. Der neutrale und absolute Zuschauer läuft Gefahr, sich in das zu verstricken, über das er sich erhaben dünkt, nicht mehr nur zu manipulieren, sondern manipulierbar zu werden. Am Ende sind alle Opfer, und es wird schwer, die Täter unter ihnen zu identifizieren. Und das Ende, die große Katastrophe, nahte nach rund dreihundert Jahren in einem Geschehen, bei dem die souverän sich dünkenden Nationalstaaten Europas in einer bis dahin beispiellosen Vermengung von Rationalität und Orgie aufeinander los gingen, nahte in Gestalt des Ersten Weltkriegs, der, einer Wen- 5 Vgl. Jean Bodin, Les six livres de la Repuhlique, Paris 1583, Buch I, Kap. 3 u. 9. dung Patočkas zufolge, eine Zeit einleitete, mit der »das Jahrhundert als Krieg« heraufzieht.6 III. Katastrophe Schon in der Kritik der reinen Vernunft findet sich eine Stelle, an welcher der Versuch spürbar wird, dem Ritt in den Untergang etwas dagegen zu stellen. Die Überlegungen, die in diese Richtung zielen, setzen bezeichnenderweise beim Zuschauer an und so, dass diesem seine entschuldigte Position nicht unbefragt überlassen wird, dass er vielmehr selbst in die Reflexion genommen und damit in Relation gebracht wird. In der »Kritik des dritten Paralogismus« stellt Kant die Bestimmbarkeit der Identität der Person und damit der Seele als Substanz in Frage - zumindest, was, wie Kant formuliert, eine »Erweiterung unserer Selbsterkenntnis durch reine Vernunft« betrifft, »welche uns eine ununterbrochene Fortdauer des Subjects aus dem bloßen Begriffe des identischen Selbst vorspiegelt.«^ Die Identität der Person sei nämlich nur soweit verbürgt, als aufgrund der Form der inneren Anschauung der Zeit eine formale Bedingung des Zusammenhangs meines Bewusstseins erfüllt werde; nicht aber lässt sich so die Identität der Person im vollen Sinne ausmachen, was für Kant durch synthetische Erkenntnis geleistet werden müsste. Hierzu wäre, so Kant weiter, ein Beobachter vonnöten, der das Selbe wie ein Anderer sehen könnte, ohne aber ein Anderer zu sein. Da es einen solchen Beobachter schlechterdings nicht gibt, kann eine Selbstbeobachtung nur zu einer, wie Kant es nennt, »tautologischen« Lösung des Problems gelangen: »Da ich aber, wenn ich das bloße Ich bei dem Wechsel aller Vorstellungen beobachten will, kein ander Correlatum meiner Vergleichungen habe, als wiederum mich selbst mit den allgemeinen Bedingungen meines Bewußtseins, so kann ich keine andere als tautologische Beantwortungen auf alle Fragen geben: indem ich nämlich meinen Begriff auf dessen Einheit den Eigenschaften, die mir selbst als Object zukommen, unterschiebe und das voraussetze, was man zu wissen verlangte.«® Es wird deutlich, dass wir hier an einem Scheideweg stehen. Der Befund des 'Tautologischen' könnte noch als ein Schatten des Versuchs gelten, den Anspruch auf eine independente Position des Zuschauers zu retten. Zugleich aber wird deutlich, dass sich der Zuschauer multipliziert hat, in jeden und jede von uns, und dass gerade das Tautologische nicht als hinreichend angesehen wird, 6 Der Titel von Jan Patočkas sechstem und letztem Essay seiner Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte lautet: »Die Kriege des 20. Jahrhunderts und das 20. Jahrhundert als Krieg« (neu übers. v. Sandra Lehmann, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2010). 7 KrV A 366. 8 Ebd. 15 16 um eine Zuschauerposition bezüglich der eigenen Person zu begründen. Wenn der Zuschauer aber nicht einmal das Vermögen hat, im eigenen Haus den Überblick zu behalten, um wie viel weniger noch mag er in der Lage sein, Anderes, als er selbst ist, zu erkennen? Das Fazit lautet also, dass die Potenz des Zuschauers nicht ausreicht, um die Einheit der Person auszuweisen, da er nicht wirklich eine archimedische Position besitzt, die für eine Feststellung dieser Einheit genügen könnte. Daraus könnte man folgern - was Kant expressis verbis nicht macht -, dass sich die Identität der Person ihrer Beobachtbarkeit entzieht. Dieses Entzogensein enthielte sodann ein Mehrfaches - vor allem würde zum einen die Annahme einer selbstverständlich bestehenden Relation zwischen dem absoluten Zuschauer und seinen Masken, mit denen er Selbst und Welt dominieren will, aufgekündigt; zum anderen würde sich abzeichnen, dass es doch immer wieder Masken sind, mit denen ein Beobachter seiner selbst sich zu fassen sucht, ohne sich wirklich fassen zu können, dass m. a. W. die 'Person' etwas ist, das eher einer flüssigen Struktur, einer Bewegungsfigur gleicht, die zwischen Maske (Zuschauer) und dem 'Selbst' unterwegs ist, und dies entspräche genau dem Ort der Person, wie er sich schon in der griechischen Antike abgezeichnet hatte. Gut anderthalb Jahrzehnte später stellte Novalis in seinen Fichte-Studien das »Selbstgefühl« der »Selbstbetrachtung« zur Seite und machte damit implizit deutlich, dass die Frage nach der Identität der Person falsch gestellt sei, wollte man sie im Rahmen der Alternative einer inneren Form des Bewusstseins einerseits oder der Möglichkeit zur Selbstbeobachtung andererseits zu beantworten suchen.9 Das heißt nicht nur, dass es noch einen anderen Weg gibt, Wissen von sich selbst zu haben, als über den Weg der reflexiven Selbstobjektivation; es deutet vielmehr auf das hin, was die eigentliche Domäne des personalen Lebensvollzugs ist. Diese Domäne wird später als der Bereich des Erlebens bezeichnet werden, von dem zugleich gesagt werden wird, dass es je als dieses selbst - und damit auch das 'Zentrum' aller Erlebnisse, die Person - nicht zu vergegenständlichen sei. Dass die Person generell nicht fassbar, nicht objektivierbar ist, ja dass gerade dieses nicht positiv ihr Wesen beschreibt, wird von Max Scheler kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs betont.i° Helmuth Plessner schließlich wird in den Jahren nach dem Weltkrieg diesen Befund mit den deutlichen Worten formulieren: Die 9 Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, hg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel, Verlag Carl Hanser, München/Wien 1978, Bd. 2, S. 18. 10 Vgl. Max. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik [1913] (Gesammelte Werke, Bd. 2), hg. v. Maria Scheler, Francke-Verlag, Bern/München, 5. Aufl. 1966, S. 386 ff. Existenz der Person »ist wahrhaft auf Nichts gestellt.«iiSie steht im Nichts, weil das Erleben selbst »nirgends« sei. Der Mensch besitze eine Mitte nur darin, dass er seine Erlebnisse vollzieht - mit Plessners eigenen Worten: »Eine positionale Mitte gibt es nur im Vollzug.«i2 Damit dieser Satz ausgesagt werden kann, muss etwas vorliegen, das man mit Novalis 'Selbstgefühl' nennen könnte: ein vorgegenständliches Wissen um den eigenen Erlebnisvollzug. Wenn der Mensch sich aber ausdrücklich auf sein Erleben bezieht, verhält er sich, so Plessner, exzentrisch zu sich selbst. Da sich zu sich verhalten zu können und sich auch faktisch so zu verhalten, erst die Position des Menschen im vollen Sinne beschreibt, ist diese selbst als exzentrisch zu bezeichnen. Nur im Exzentrischen positioniert sich der Mensch; da die positionale Mitte nur zu leben, aber nicht zu erfassen ist, könne auch das Erleben selbst nicht festgestellt werden. In diesem Sinne ist es 'nirgends' - bezüglich einer Feststellbarkeit seiner Position, und weil das Erlebnis nirgends ist, kann gesagt werden, dass das »Subjekt seines Erlebens«, die Person, auf Nichts gestellt sei. Hier gilt es genau auf die Relation zu achten, bezüglich der dieses Nichts ausgesagt wird: Die Person ist deshalb auf Nichts gestellt, weil sie nicht fixierbar ist, und d. h., nicht beobachtet werden kann. Sie ist unsichtbar für jeden Blick eines potentiellen Zuschauers. Folglich kommt keinem Verhältnis von Erscheinung (Maske) und Anschauung das Vermögen zu, das Erlebnis selbst (d. i. in seinem Vollzug) zu geben; und daraus folgt wiederum, dass keine beobachtende Position mit Recht dasjenige positiv zu bestimmen vermag, was Person und eine konkrete Person sei. Wenn es aber andererseits möglich ist, das Erlebnis zu fassen und die Person zu bestimmen - da erst die exzentrische Position das Sein des Menschen ausmacht -, so muss solches Bestimmen immer in Relation zum Bestimmenden gesehen werden und kann nur für diese Relation von Maske und Zuschauer Geltung haben. Aus dem Befund, dass Person nicht zu fassen ist, folgt also nicht, dass sie nicht doch bestimmt werden könnte - dies aber unter der Voraussetzung, dass ein Bewusstsein von der Möglichkeit und Grenze der jeweiligen Erfassung diese begleitet. Die Person ist also nicht nur deswegen auf Nichts gestellt, weil sie als solche, wie das Erleben selbst, nicht fixierbar ist, sondern genau genommen aus dem Grund, weil sie sich in einem Niemandsland, zwischen dem nicht zu vergegenständlichenden Selbst und den Versuchen, es doch zum Gegenstand zu machen, ausspannt, wobei diese Versuche in sich selbst wiederum fungierende Erlebnisse sind. 11 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch [1928], 3. Aufl., Berlin 1975, S. 293. 12 Ebd., S. 290. 17 18 Daraus folgt ein Dreifaches: 1. Plessners Bestimmung der Person hebt die beiden geschichtsmächtigen Fortbildungen des griechischen Sinnes von persona in sich auf, nämlich die spätantike-christliche Bestimmung als seelische Substanz mit ihrer Tendenz zur Innenperspektive und die neuzeitliche Betonung des Zuschauers, der mit seiner Außenperspektive das Innen nur in der Maske seiner Körperlichkeit wahrnimmt. Dabei darf freilich nicht vergessen werden, dass die Bestimmung der Seele als Substanz, indem sie vergegenständlichend verfuhr, ebenfalls von einer äußeren Sichtweise aus vorgenommen wurde. Plessner denkt beides, die Innenperspektive der Person als 'Seele' und ihre Außenperspektive als 'Körper', in eins, und zwar derart, dass sie für den Menschen, wie er formuliert, »einen unaufhebbaren Doppelaspekt der Existenz, einen wirklichen Bruch seiner Natur« darstellen.i3 Dieser Doppelaspekt bezeichnet den Spannungsbereich von Selbst und Maske bzw. das Verhältnis von Sichtbarkeit und ihrem nie zur Gänze einholbaren Über-schuss - im Ganzen ein Bewegungsfeld, das nun als die Domäne des Personalen angesehen werden kann. 2. Die Akzeptanz dieses Bruches, die Anerkennung der Tatsache, dass sich das Personale in der in sich selbst exzentrischen Spannung von Erleben und Reflexion vollzieht, setzt offenbar ein anderes Bruchgeschehen voraus: die Erfahrung, dass es den einen und allseits verbindlichen Blick des Zuschauers nicht geben kann. Bezogen auf die Tendenz der Neuzeit bedeutet solche Erfahrung eine Kehrtwendung, eine Umdrehung der Perspektivik - ähnlich wie bereits die Ostkirche in den Jahrhunderten davor mit ihrer Tradition der Ikone die 'umgekehrte' Perspektive erprobte, eine Blickweise, bei der sich die Welt nicht vor einem sie betrachtenden Auge entfaltet, sondern bei der der Mensch vom Göttlichen in den Blick genommen wird. Eine ähnliche Umkehr innerhalb der neuzeitlichen Perspektive erfolgte im Westen um 1900, als die Kunst der Moderne, etwa im Kubismus, die Brechung der tradierten Perspektive unternahm - ein Vorgang, der in Husserls Phänomenologie durchaus ein Pendant besitzt.^^ Hier ermöglicht es eine spezifische Epoche, die Blicktendenz, die auf Einheiten terminiert, so zu brechen, dass die Facettierung des Wirklichen, ihre Abschattungsmannig-faltigkeit und damit das Instrumentarium selbst, diese Mannigfaltigkeit zu bündeln, hervortritt. Beides sind Weisen, die Bedingungen einer Sichtbarkeit ihrerseits sichtbar zu machen. 3. Methodisch gesehen springt daraus das Verfahren einer Phänomenologie heraus, der es darum gehen könnte, jeweils die Potenz einer faktischen Relation personalen Selbstverständnisses aufzudecken. Eine Relation beträfe die schon erfolg- 13 Ebd., S. 292. 14 Vgl. vom Vf., »Der Kubismus als phänomenologisches Problem«, in: Ernesto Garzon Valdes und Ruth Zimmerling (Hg.): Facetten der Wahrheit. Festschrift für Meinolf Wewel, Verlag Karl Alber, Freiburg/ München 1995, S. 295-321. te Festschreibung eines Personalen, in Husserls Terminologie ausgedrückt, die endkonstituierte Form eines Konstitutionsprozesses, dessen genealogische Entfaltung rekonstruierbar wäre. In der Rekonstruktion solcher Genealogie würden sich evtl. nicht nur die Etappen eines faktischen, faktisch werdenden Verlaufs enthüllen, sondern auch nicht zum Zuge gekommene Möglichkeitshorizonte, mit einem Wort: die Potenzialität dieser oder jener sich so und so entwickelnden Relation. Der relationale Aufweis sogenannter ,Menschen-Bilder' würde das Profil bestimmter passiver Leistungen aufzeigen, die schon festgestellt haben, und zwar solches, das nicht festzustellen ist. Ein derartiger Aufweis verfährt freilich seinerseits feststellend, wenngleich in dem Bewusstsein, dass das, was er fixiert, eigentlich nicht zu halten ist - da die thematisch gefasste personale Existenz in ihr selbst nichts weiter als das Spannungsfeld einer jeweiligen Relation und ihres fluktuierenden Hintergrunds ist. Unter solchem Vorbehalt mögen sich mit der Analyse von Menschenbildern Formen des oikos aufzeigen lassen. Diese verwiesen auf konkrete Orte, unter deren Bedingungen sich jeweils Stile des Erlebens herausgebildet haben, die ihrerseits die in Natur und Sozialität ausgreifende Gestaltungskraft des Menschen bedingen. Solch ein Versuch, ein maskiertes Selbst auf die Relation, die Perspektive hin zu befragen, in der sein Bild in den Blick genommen ist, wäre eine Demaskierung, die sich nicht ohne weiteres von der Maske ihrer eigenen Perspektive einfangen ließe. Diese Art der Dekonstruktion von Masken fördert stets ein Wahres zutage, ein Wahres freilich, das nur für die Relation seiner Blicknahme besteht und diesbezüglich unvergleichbar ist, so dass der Versuch, dieses Wahre aufzuzeigen, sich der Versuchung zu dominieren ebenso entzieht, wie es aufgrund seiner Unvergleichbarkeit nicht von anderem dominiert werden kann - und doch offen dafür bleibt, jederzeit durch die Resultate anderer Relationen ergänzt zu werden. Eine solche Position würde sich dort einrichten, wo es darum geht, das Span-nungsgefüge, das die Person ist, zu realisieren. Es ist eine exzentrische Position, die allein dadurch sich rechtfertigt, dass sie dem exzentrischen Ort der Person zu entsprechen sucht. Sie wäre jedenfalls nicht der oikos einer Dritten-Person-Perspektive, die im Anspruch ihrer Erhabenheit noch dem überlebten Zeitalter des Souveränentums angehört; im erschlossenen Kontext der auf Nichts gestellten Person entbehrt sie jeglicher Grundlage und ist in ihrer Verabsolutierung lediglich Fiktion. 19