UDK. 821.163.6.09-1:929 Kosovel S. Gerhard Schaumann Tautenberg SREČKO KOSOVELS EUROPAGEDICHTE I »Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christlisches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltentheil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reiches. - Ohne große weltliche Besitzthümer lenkte und vereinigte Ein Oberhaupt die großen politischen Kräfte.«1 So beginnt der 1799 geschriebene, aber erst 1826 veröffentlichte Essay Novalis' »Die Christenheit oder Europa«, in dem ein von der Reformation noch ungeteiltes einheitliches christliches Europa des Mittelalters beschworen wird. Angesichts der durch Aufklärung und Französische Revolution vertieften Krise eines solchen von christlichen Grundwerten getragenen Europas sieht Novalis die Rettung in der Erneuerung dieser verlorenen Einheit. Im Europa des 19. Jahrhunderts, der sich entwickelnden Nationalstaaten mit ihren disparaten Interessen war das vergebliche Hoffnung. Novalis' Verweis auf das Mittelalter und die dort durch das eine Christentum gleichsam garantierte ideale europäische Gesellschaft negierte zwar in ihrer utopischen Überhöhung die tatsächlichen realpolitischen Widersprüche der Staaten, ungeachtet dessen läßt sich jedoch sagen, daß es dieses Bewußtsein durchaus gab. Sicher nicht in der von Novalis unterstellten Absolutheit, wohl aber in historisch angespannten Situationen. Man denke an die Einfälle der Magyaren, Mongolen und Türken. In Mittelalter erlebte Europa »seine Einheit vor allem dann, wenn es um die Abwehr einer gemeinsamen Gefahr geht, und es verliert diese Einheit, wenn die Gefahr geschwunden ist.«2 Für das von Novalis herbeigewünschte neue Goldene Zeitalter gab es im Jahrhundert der Nationalstaaten keinen Platz. Der Europabegriff war nicht mehr praktikabel. Wenn überhaupt, dann im negativen Sinn als Allianz reaktionären Polizeistaaten. Alternativ, gegen politische nationalstaatlichc Abgrenzung und Vereinzelung gerichtet, entstand der Begriff des Kosmopolitismus, der als gedankliches Zentrum ein durch gemeinsame Geschichte, Traditionen und kulturellen Austausch lebendiges Europa einseloß, dieses aber nicht als Zielvorstellung heraushob. Hundert Jahre nach Novalis wurde in der deutschen Literatur wiederum Europa thematisiert. Und es war ebenfalls das Bewußtsein einer nicht mehr abzuwendenden Krise, dem die Schriftsteller Ausdruck verliehen. Das rücksichtslose Machtstreben der Großmächte, der Kampf um Rohstoffe und Märkte führte zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, zu sinnlosen Zerstörungen und Menschenopfern in einem Umfang, wie Europa sie in diesem Umfang noch 1 Novalis, Dichtungen und Prosa, Leipzig, 1975, 443. - H. Schulze, Die Wiederkehr Europas, Berlin, 1990, 31. nicht erlebt hatte. Besonders im deutschen Expressionismus artikulierte sich der Protest gegen einen absurden gesellschaftlichen Zustand, der nicht nur der großen europäischen Kulturtradition widersprach, sondern der - konsequent zu Ende gedacht - den Untergang Europas bedeuten würde. Der Untergang Europas ist ein immer wieder aufgegriffenes Thema vor allem der Lyrik der ersten beiden Jahrzehnte unseres Jahrhunderts. Die Schriftsteller erfassen Europa in Zuständen des Wahnsinns, des Verfalls und des Sterbens. Franz Pfemfert - in seiner Zeitschrift »Die Aktion« bündelten sich seit 1911 die leidenschaftlichen und kritischen Stimmen der jungen Generation - schreibt von »Europas Wahnsinn« (1912), J. R. Becher wendet sich verzweifelt und hoffend »An Europa« (1915), Albert Ehrenstein dichtet »Das sterbende Europa« (1917) und erhebt seine »Stimme über Barbaropa«. Europas Untergang erweitert sich zum »Weltende« -so die Titel der Gedichte von Else Lasker-Schüler (1905) und Jakob van Hoddis. Es wird nach Alternativen gesucht: Vertrauen in die ewige Kraft erneuernder Natur, Besinnung auf das Menschliche im Menschen, Solidarität der »guten Menschen«. Mit der russischen Revolution verbinden diese ihrem Wesen nach oft unpolitischen Dichter utopische Hoffnung, schreiben Hymnen, Revolutions-appelle, Erklärungen der Solidarität und Verbrüderung mit dem »heiligen Rußland« (Karl Otten). Dabei gerät diese Dichtung nur selten in Gefahr, ins bloß Politische und Agitatorische zu fallen. Davor bewahrt sie ihre Sensibilität gegenüber den politischen und sozialen Vorgängen, ihre Betroffenheit, die sich subjektiv als individuelle Leidensfähigheit und ästhetisch als maximal gesteigerte Expressivität äußert. Ihr Idealismus lebt sich in Traumwelten aus, in denen der »gute Mensch« beschworen wird (Franz Werfel, Leonhard Frank). Veränderung der Welt setzt für sie eigene Wandlung voraus, Läuterung, Neugeburt, Liebe. »Liebe den Menschen« heißt programmatisch der letzte Teil der diese Dichtung exemplarisch repräsentierenden Sammlung »Menschheitsdämmerung« (1919), deren ambivalenter Titel Untergang und Neubeginn symbolisch umschließt. Kurt Pinthus, der Herausgeber dieser Anthologie, sah 1922 das expressionistische Jahrzehnt als abgeschlossen an: »Von der kleinen lyrischen Schar dieses Buches blieb nichts als der gemeinsame Ruf von Untergang und Zukunftsglück.«3 II Eben dieser »gemeinsame Ruf von Untergang und Zukunftsglück« ist es, den Srečko Kosovel in Slowenien vernommen hat. Zweifellos ist es dieser Ruf aus Deutschland, auf den er antwortet. Kosovels Dichtung erscheint so, wenn auch nicht ausschlißlich, in der Nachfolge des deutschen Expressionismus, als ein Echo. Das heißt aber nicht als bloßer Widerhall, gar als Wiederholung. Kosovel fühlt sich dem Anliegen der Expressionisten verbunden, und mit seiner Charakteristik des Expressionismus charakterisiert er durcaus einen wesentlichen ' Menschheitsdämmerung, Ein Dokument îles Expressionismus, Hsg. von Karl Pinthus, Hamburg 1959, 35. Zug auch seines Werkes: »Zato je umetnost ekspresionizma bila umetnost religiozne sinteze, umetnost iskanja končnega smisla in odrešitve življenja.«4 Die Welt hatte sich verändert. Im Nachkriegseuropa waren neue Widersprüche entstanden: Grenzen, die Unruhe schufen, Friedensverträge, die neue Konflikte in sich bargen, ökonomische Krisen mit gefährlichen sozialen Folgen. In diesem Umfeld beginnt Kosovel als Schriftsteller. Jener chaotische Weltzustand, mit dem sich die deutschen Expressionisten auseinandergesetzt hatten, hatte zwar seine Form verändert, das Chaos war geblieben. Für Kosovel auch sein übergreifender Name: Europa. Kosovel, bei aller Entschiedenheit, mit der er Europa angreift, orientiert sich aber auch an jenen Europäern, die für eine Erneuerung einstehen: Romain Rolland, Maxim Gorki, Hermann Hesse, Stefan Zweig. Und man muß in diesem Zusammenhang auch den Namen Rabindranath Tagore nennen, den großen Menschenfreund, auch wenn das »grüne Indien« (»V zeleni Indiji«), das Kosovel als Gegenbild zu Europa sieht, ein schöner naiver Traum ist. In einer Anmerkung zur Skizze »Student Vasja« heißt es: »... Romain Rolland in Tagore sta edina vez na prehodu v novo družbo.«5 Und in dem Essay »Kriza človečanstva« unterstreicht er diesen Gedanken: »Nova pola nam je pokazal Romain Rolland, nova Tagore, nova pota Cankar.«6 Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob und wie sich Einflüsse der Philosophie Friedrich Nietzsches in den Europagedichten äußern. Verweise auf Nietzsche finden sich in Briefen und Tagebüchern Kosovels. Kosovel gebraucht auch die zentralen Begriffe Nietzsches »apollinisch« und »dionysisch«, die dieser in »Die Geburt der Tagödie aus dem Geiste der Musik« entwickelt hatte. Diese waren ihm in den Vorlesungen Professor Prijateljs an der Universität vermittelt worden.7 Der »Übermensch« (nadčlovek) ist ihm vertraut, im »Klub« - Programm plant er einen Vortrag zu »Also sprach Zaratustra«.8 Nietzschelektüre vermerkt er auch unter dem 25. Juli 1925 in seinem Tagebuch: »Kadar mi najgrenkejše pri srcu, berem Nietzscheja in zaničujem ljudi, ker se ne zaničujejo sami.«9 Für die Expressionistengeneration war Nietzsches Philosophie vor allem durch ihre antibürgerliche provokative Kulturkritik von Bedeutung gewesen. Nietzsche erlangte erste öffentliche Wirkungen in breiteren Kreisen gerade in dem Augenblick, als die Expressionisten daran gingen, überkommene ästhetische Normen in Frage zu stellen, bei der radikalen »Umwertung aller Werte«, ästhetischer wie moralischer, war Nietzsche den jungen Dichtern und Malern ein Bundesgenosse. Man kann - und das ist ein Beispiel, das für viele steht - etwa auf Franz Marc verweisen. (Motive des Marcschen Werks finden sich in Kosovels 4Srečko Kosovel, Zbrano delo, Ljubljana, 1946-1977, Bd. 1-3. Im folgenden wird aus dieser Ausgabe zitiert, wobei die erste Zahl den Band, die zweite die Seite ausweist. 5 2/699. 6 3/33. 7 3/84. 8 3/747. 9 3/703, Gedichten wieder. Die berühmten »blauen Pferde« - modri konji - sind eine direkte Übernahme, die ihn zu lyrischen Paraphrasen anregen.)10 In seinen Briefen aus den Jahren 1915/16 bezieht sich Franc Marc oft auf Nietzsche als großen Anreger. Der 41. Aphorismus seiner »Hundert Aphorismen. Das zweite Gesicht« (1915) lautet: »Die Umwertung von Nietzsches Willen zur Macht in das Wissen um die Macht, - nach langen Kriegen, die wir unter Nietzsches Fahnen kämpfen und noch kämpfen werden - das wird unser Glaube, unsere Zeit, die Zeit Europas sein.«" Nietzsches Urteil über Europa als untergehende Welt, über die Nivellierung des europäischen Geistes, wurde direkt von den Expressionisten übernommen. Sicher ist Nietzsches aus aristokratischem, auch antidemokratischem Geist entwickelter Europabegriff nicht absolut deckungsgleich mit dem der Expressionisten. Besonders in ihren Vorstellungen von einem neuen Europa unterscheiden sie sich, und die Perspektiven eines Europas der Zukunft weisen in diametral entgegengesetzte Richtungen. Es ist schwer vorstellbar, daß Kosovel etwa Nietzsches Hoffnung auf »eine verwegene herrschende Rasse auf der Breite einer äußerst intelligenten Herden-Masse« oder über »die Züchtung einer über Europa regierenden Kaste« geteilt hat.12 Dennoch: als auslösendes Moment für den expressionistischen Aufbruch und die Überwindung der europäischen Krise hat Nietzsche auch dort gewirkt, wo sich das Widersprüchliche, Chaotische und Zerstörerische als die alte Welt in Frage stellende Energie des Dionysischen in Szene setzt, selbst wenn sie sich in der Feier des Krieges als Befreiung, als »etwas Großes und Furchtbares«, als »Sterbelust und Opferdrang« mißbrauchen ließ.13 Kosovel hat, wie man annehmen darf, die dem Zeitgeist einer ebenso sensibel empfindenen wie radikal handelnden Intellektuellen- und Künstlerschicht entsprechenden Schlagworte der Kulturkritik Nietzsches als Bestätigung seiner eigenen Erfahrung aufgenommen. Der Übermensch war für ihn der Gegner und Überwinder einer satten und selbstzufriedenen Bürgerlichkeit. Er war für ihn der freie, unabhängige und nicht mehr erniedrigte Mensch. Insofehrn geht der Übermensch in Kosovels Vorstellungen vom »neuen Mensch« ein: »Novi človek boja in energije, človek, ki se bori za človečanstvo in stoji na strani vseh tistih, ki se borijo zanj.«14 Ein solches Verständnis des Übermenschen entfernt Kosovel von Nietzsche. Aber das ist in diesem Fall unwesentlich. Das produktive Mißverständnis war schon immer Teil der Rezeptionsgeschichte. Es liegt nahe, wenn von Nietzsches Wirkung gesprochen wird, auf einen anderen deutschen Philosophen einzugehen, den Kosovel erwähnt. Dazu veranlaßt schon der Titel seines Hauptwerks: »Der Untergang des Abendlandes«. Sein 1(1 Vgl. F. Zadravec, Elementi slovenske moderne književnosti, Murska Sobola, 1980, 239. 11 F. Marc, Briefe, Schriften und Aufzeichnungen, Leipzig und Weimar, 1989, 287f. 12 F. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Stuttgart, 1980, 637 bzw. Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral, Leipzig, 1930, 185. 13F. Marc, Briefe ..., 138 bzw., 142. 14 3/103. Verfasser ist Oswald Spengler (1880-1936). In seinem Vortrag vom 23. Februar 1926 in Zagorje »Umetnost in proletarec« kommt Kosovel auch auf Spengler zu sprechen: »V zadnjih časih govorijo mnogo o tem, kako propada Evropa. Nemci imajo veliko knjigo, ki jo je spisal nemški filozof Oswald Spengler in ki se imenuje 'Propad Zapada' (mišljena s tem zapadna Evropa: Nemčija, Francija, Španija, Italija itd.) Dasi je v vsem tem tudi kal resnice - v Nemčiji je ta knjiga izzvala velike debate in polemike - vendar pa ni vzeti 'propada' dobesedno. Ako govorimo o propadu Evrope, mislimo na propad razpadoječego kapitalizma, ki sicer še skuša z vsemi sredstvi kraljevati po Evropi, ki pa bo kakor vsaka krivica moral tekom let propasti. Tako je tudi razumeti mojo pesem 'Ekstaza smrti'«.15 Das ist eine eindeutige Stellungnahme. Sie zeigt, wie unterschiedlich der Begriff des Untergangs Europas von Spengler und Kosovel verstanden wird. »Der Untergang des Abendlandes« war 1919 erschienen. Der nationalkonservative Philosoph hatte darin mit seiner Zivilisationskritik eine biologistische Geschichtstheorie entwickelt, nach der Geschichte sich als ewiger Kreislauf von wechselnden Kulturen vollzieht. Nach Spengler folgt auf jede Kultur eine Zivilisation, wobei Zivilisation im Verständnis Spenglers Abstieg und Verfall und damit das Ende der Kultur bedeutet. »Der Untergang des Abendlandes, so betrachtet, bedeutet nichts Geringeres als das Problem der Zivilisation«, schreibt Spengler.16 Die Gegenwart Europas sah er als Übergang vom Napoleonismus zum Cäsarismus, als eine Phase, die er in allen Kulturen glaubte nachweisen zu können. Nietzsches Ideen vom Recht des Stärkeren, von »Zucht« und »Züchtung« wurden von Spengler übernommen. Auf den ersten Blick scheint es bei Kosovel Annäherungen an Spengler zu geben, wenn auch nur punktuell. Er teilt dessen Kritik an der Erstarrung der Lebensprozesse, der einseitigen Rationalität, des Mechanischen als seelenloser Konstruktion, nicht zuletzt auch seine Kritik an der Kunst der Gegenwart.17 In »Kons« heißt es: »Civilizacija je brez srca. / Srce je brez civilizacije.«11* Die gezielte Aufnahme des Zivilisationsbegriffs könnte auch auf Spenglers Buch zurückgehen. Noch mehr vielleicht die Schlußzeilen des Gedichts »Pesem o zelenem odrešenju« mit ihrer kalten Verurteilung der »Friseur-Zivilisation«: »... jaz pa se ne vozim rad z avtomobili in hočem podreti / to stavbo, vse stavbe, te strašne in frizerske civilizacije.«19 In Kosovels »Mehanikom!« stehen die Mechanismen, die zu zerstören er aufruft, stellvertretend für gesellschaftliche Erstarrung, der der Kampf angesagt wird und mit der die Hoffnung auf eine menschheitliche Auferstehung verbunden l5Zit. nach 3/4381". 16 O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Umrisse einer Morphologie, München, 1990, 43. 17 »Mit der abendländischen Kunst geht es im 19. Jahrhundert zu Ende. ... Was heute als Kunst betrieben wird, ist Ohnmacht und Lüge, die Musik nach Wagner so gut wie die Malerei nach Manet, Cézanne, Leibi und Menzel.« Ebd., 377. 18 2/73. 19 2/470f. wird. Der soziale Impetus Kosovels, sein leidenschaftliches Eintreten für alle Unterdrückten und Erniedrigten unabhängig von ihrer Nationalität steht in direktem Gegensatz zu Spenglers Abwertung der Massen als beliebig zur Verfügung stehendes Material für Napoleons und Cäsaren. III Die hier genannten Einflüsse - die deutschen Expressionisten, Friedrich Nietzsche und Oswald Spengler - dürfen als Elemente der Biographie Kosovels sicher nicht übersehen werden, weil sie die Sicht des Dichters auf seine Zeit mitbestimmt haben. Die entscheidende Komponente ist hierbei zweifellos der deutsche Expressionismus, mit dem ihn auch das Ethos seiner Kritik und seine Erwartungsutopie verbindet. Insofern steht er in einer Reihe mit Dichtern wie Albert Ehrenstein, Paul Zech, Karl Otten, J. R. Becher, Franz Werfel u. a. Es hieße aber Kosovels Beitrag zur Gestaltung des Europathemas unterschätzen, würde man es bei dieser inhaltlichen Zuordnung seiner Gedichte belassen. Kosovel als eigenständiger slowenischer Dichter würde dann in seiner unverwechselbaren Physiognomie nicht erfaßt. Das Einmalige seiner dichterischen Leistung besteht in der Universalität seines poetischen Bildes von der Welt, das sich nicht in thematische Segmente auflösen läßt. Als lyrisches Subjekt, das alles, was in der Welt geschieht, auf sich bezieht, durchdringen sich bei ihm ständig Weltgeschichte und individuelle Biographie. Im lyrischen Gedicht fällt Kosovel Urteile über Europa, und er fällt Urteile über sich. Der Zustand Europas ist ihm Anlaß, über die eigene Situation nachzudenken. Seine früh von Krankheit überschattete Existenz und die immer wiederkehrenden Todesahnungen haben ihn für das Problem von Untergang und Sterben sensibilisiert. Das Zusammenfallen von persönlicher Tragik und einem Weltzustand, in dem aus seiner Sichtsichapokalypse und Revolution gegenüberstanden, vermittelt seiner Lyrik die Energie des Widerstands und die Melancholie der Entsagung. Die Anrufung und Verfluchung Europas ist begleitet von wechselnden Stimmungen: Empörung (»Ljudje brez src«), Verzweiflung (»Gloria in excelsis«), Haß (»Destrukcije«), Hoffnungslosigkeit (»Evropa umira«).20 Das sind unterschiedliche Stimmungen, die den Untergang Europas begleiten. Die grundsätzliche Fragestellung aber ändert sich nicht, Europas Verfall ist ein gleichsam schicksalhafter Vorgang. Hier vollzieht sich Unabwendbares. Kosovel aber entzieht ihn der Eindeutigkeit, indem er ihn aus unterschiedlichen persönlichen Perspektiven wertet, die jeweils dominierenden Befindlichkeiten entsprechen.21 20 In einer Variante dieses Gedichts stellt Kosovel dem Untergang Europas den Aufstieg Rußlands entgegen, womit er eine optimistische Perspektive verbindet: »Da nam je počiti / v ravninah Rusije. / Evropa umira. / Rusija vstaja.« 3/439. 21 Bedauerlicherweise erlaubt die in der Werkausgabe Zbrano delo fehlende Datierung der Entstehung der Gedichte keine chronologische Darstellung. Damit muß manche Schlußfolgerung hypothetisch bleiben. »Alarm« ist ein entschiedenes, durchweg optimistisch gehaltenes Gedicht. Konsequent aufgebaut zeigt es Kosovels Aufbruch als Dichter, der seine Mitstreiter in den Arbeitern Europas findet, denen er Bruder sein will. Offen formuliert er seine Hoffnung: »Ko jih že veže / fluidna sila Nove Evrope, / Nove Evrope / z / Novim človekom.« Doch selbst hier bleibt am Ende eine Frage: »Ali smo že blizu tečaja? / Polarna noč sije / na nas.«22 In »Depresija« wendet sich der Dichter nach der Verfluchung Europas an Christus. Kosovel ist Ankläger und Leidender zugleich: »Mučno strašne so moje sanje. / Kristus, odpusti strahoto dejanj.«23 Und in »Mrtvo stoletje« warnt er vor dem »toten Jahrhundert« und entzieht sich ihm: »Uprite se smrti! / Smrti! / Smrti! / Potapljam se.« Verfall und Tod liegen nahe beieinander. Der Verfall Europas und der eigene absehbare Tod bestimmten zusammen das Lebensgefühl Kosovels. Es wurde zum großen Thema seiner Lyrik. Er hatte den Zeitgeist der vorhergehenden, ihm noch nahen Dichtergeneration verinnerlicht, die Europa sterben sah, und er glaubte wie diese an eine menschliche Revolution. So stand er zwischen Vergangenheit und Zukunft und sah sich selbst in der alten Welt untergehen: »Stari svet umira v meni.«24 Um zu wissen, worin die »verborgene Sendung des Menschen« (zatajeno poslanstvo človeka) bestehe, ging er bis an die Grenzen des Möglichen: er stellte die Welt und stellte sich selbst in Frage. Hier liegen die Wurzeln für den kathartischen Grundzug seiner Lyrik, der alle von ihm behandelten Themen bestimmt. Heinrich Mann hatte schon 1920 geschrieben: »Man hatte dem alten Europa keine Erneuerung seiner kulturellen Kräfte zugetraut. Der Untergang des abgelebten Europas war sogar mitten unter uns für viele ein Dogma geworden. Mir scheint, das Dogma wird jedenfalls widerlegt durch die ungeahnte Aktivität... die heute im ganzen Weltteil die Jugend bewegt.«25 Er hatte recht und er irrte. Der Idealismus der europäischen Jugend unterlag dem »alten« Europa. Eine neue Barbarei zerstörte alle ihre Hoffnungen. Aus der Sicht der Gegenwart sind alle mit Europa verbundenen Visionen und Utopien Srečko Kosovels erledigt. Aber: das gilt nur für die realhistorische Betrachtung. Die tiefen Erschütterungen, die Europa am Ende des zweiten Jahrtausende erlebte und noch erlebt, haben Prozesse in Gang gesetzt, die sich nicht mehr auf einfache Formeln wie Verfall und Triumph, Zerstörung und Wiedergeburt bringen lassen. Liest man die Gedichte Kosovels heute, dann begreift man sie als Aussagen eines Menschen auf der Suche nach menschlichen Lebensformen. Der Expressionist Ludwig Rubiner forderte vom Dichter »humanozentrisches Bewußtsein«.26 Das war das Bewußtsein Kosovels. Die Gültigkeit seiner Dichtung hat Franc Zadravec, der sich so oft und produktiv mit 22 l/284ff. "1/302. 24 2/185. 25 H. Mann, Essays. Zweiter Band, Berlin ,1956, 89. 26 Menschheitsdämmerung, 357. dem Werk dieses Dichters auseinandergesetzt hat, angemessen beschreiben: »Kosovel ostaja velika osebnost zato, ker je uporno izpovedoval svoje humanistične vizije, velik umetnik pa zato, ker je pri tem nepopustljivo služil umetniški lepoti, jo štel za katarzično resnico ter najvplivnejšo moč v človeški duhovni in moralni rasti.«27 Povzetek Avtor izhaja iz Novalisovega eseja Krščanstvo ali Evropa (1799) in literarnozgo-dovinsko umesti Kosovelove pesmi na temo Evrope. V središču je povezava pesmi z liriko nemškega ekspresionizma prvih dveh desetletij 20. stoletja. Kosovel izhaja iz te tradicije in poudarja nestabilnost, krizo in razpad meščanske družbe. Pri tem je pomembno navezovanje na ideje Friedricha Nietzscheja in Oswalda Spenglerja. Med Nietzschejeve vplive sodi predstava o nadčloveku, ki ga Kosovel podobno kot nemški ekspresionisti pojmuje kot »novega človeka«, ki se »bojuje za človeštvo«. Oswald Spengler je na Kosovela vplival s svojo kritiko civilizacije, ki se razkriva kot osnovni ton Kosovelovih pesmi v obliki kritike mehaničnega, brezdušnega, samo racionalno določenega sveta: energija upora in melanholija odrekanja. Pri tem je pomembno naslednje: Kosovel sicer povzame pomembne pobude iz Nietzscheja in Spenglerja, toda ni ne nietzschejanec ne spenglerjanec. Kosovel tudi ni ekspresionistični epigon. Njegov nezamenljivi pomen je posledica zmeraj konkretizirane sinteze individualne biografije in zgodovinske danosti, kriznega stanja Evrope in slutnje lastne smrti, sinteze, ki je bistvena za njegovo liriko. 27F. Zadravec, Elementi..., 223.