141 Stojan Bračič*1 Universität Ljubljana Vilmos Ágel (2017) GRAMMATISCHE TEXTANALYSE. TEXTGLIEDER, SATZGLIEDER, WORTGRUPPENGLIEDER Berlin/Boston: De Gruyter. 1 GRUNDLAGEN DER GRAMMATISCHEN TEXTANALYSE Die zu besprechende Grammatik von Vilmos Ágel ist ein sehr umfangreiches Werk (941 Seiten). Es handelt sich um eine theoretisch konzipierte wissenschaftliche Gram- matik, die nur bedingt etwa auch zu didaktischen Zwecken benutzt werden könnte. Der Vorteil dieser Grammatik ist auf der anderen Seite darin zu sehen, dass sie mit ihren de- taillierten Darstellungen grammatischer Fragen der deutschen Sprache zum kritischen Nachdenken über traditionell interiorisiertes grammatisches Wissen anregt. Es ist eine Textgrammatik, welche die grammatischen Relationen nicht von unten nach oben (vom Wort über das Satzglied bis hin zum Text, also traditionell bottom-up), sondern von oben nach unten, also beginnend beim Text in der top-down-Perspektive, angeht. Dieser Orientierung liegen Beobachtungen zugrunde, dass nicht jedes sprachliche Zeichen im Satz einem Satzglied zugeordnet werden könne, dass also die Satzglied- bestimmung in der bottom-up-Perspektive bei gewissen Elementen der linearen Satz- struktur auf der Strecke bleibe. Ein Umstand, der sich bei der traditionellen syntakti- schen Satzanalyse manchmal in der Tat als frustrierend herausstellt. Das Problem kann jedoch auch so umgangen werden, dass man auf den Skopusbegriff ausweicht: Parti- keln und Modalwörter, z.B., können in einem Satz keinen Satzgliedwert haben, weil sie satzbezogen, im Prinzip also satzäquivalent und daher auch als Satz paraphrasierbar sind. Anders bei Ágel: Er geht auf drei Ebenen heran: Nach den „Grundlagen der gram- matischen Textanalyse“ im Kapitel I befasst er sich im Kapitel II auf der Textebene mit Textgliedern, die er auch als die grammatischen Makroglieder von Texten benennt; im III. Kapitel behandelt er die Satzglieder als grammatische Mesoglieder von Texten und auf der untersten, der sog. Mikroebene (IV. Kapitel), nimmt er die Wortgruppenglieder als die grammatischen Mikroglieder von Texten unter die Lupe. Alle theoretischen Ansätze wendet er systematisch auf denselben Analysetext an. In Kapitel V ist der Ap- parat angeschlossen. Dem I. Kapitel (I GRUNDLAGEN DER GRAMMATISCHEN TEXTANALYSE) geht die Einleitung zur Lektüre mit Erklärung der Darstellungskon- ventionen voraus. Vorauszuschicken ist: Das Buch ist ingesamt ein wertvoller Beitrag zur Germanis- tischen Linguistik. Es ist jedoch so umfangreich, dass man es in einer Rezension nur * Stojan.Bracic@ff.uni-lj.si DOI: 10.4312/linguistica.61.1.141-145 Linguistica_2021_FINAL.indd 141 31. 03. 2022 09:31:22 142 annähernd adäquat besprechen kann. Deshalb wird hier im Weiteren – um den roten Faden nicht ganz zu verlieren - so vorgegangen, dass einige Schwerpunkte ausgewählt werden, die besonders auffallen. Stellenweise werden gewisse Positionen des Autors (kritisch) hinterfragt. Das dürfte den Wert des Buches nicht mindern. Bevor zu den zentralen Kapiteln II, III, IV übergegangen wird, sollen kurze Anmerkungen zu der im Buch verwendeten Terminologie und zu der sog. Funktion-Argument-Wert-Formel ge- macht werden. Dabei handelt es sich nämlich um zwei Subthemen, die im ganzen Text immer wieder auftauchen. Der Autor verwendet viele, z.T. auch metaphorisch angehauchte und fremdwört- liche Termini wie z.B. Recycling, Recyclator, recycelt, Doppelagent, Portmanteau- Junktor, Slot, Szenario, Anszenario, Impressio, konzentrisches Kuckuksei, dummy- Präpositionalgruppe (als, wie) (vgl. S. 789, 735, 683, 902, 238 u.a.m.). Diese Termini klingen in ihrer Menge innovativ, bergen aber - wie häufig bei der Verwendung von Fremdwörtern der Fall ist - die Gefahr, unpräzise zu bezeichnen, sich einer genauen Lesart zu entziehen. Daher wäre es wohl leserfreundlicher, Parallelen zur traditionel- len Nomenklatur konsequenter zu ziehen. Vom uneingeleiteten Nebensatz ist z.B. in der ganzen Grammatik – wenn ich nichts übersehen habe - nur einmal die Rede, und zwar im Glossar im Rahmen des Stichwortes „Verbalkomplex“, obwohl diese Struktur in Ágels Grammatik häufig unter verschiedenen anderen terminologischen Bezeich- nungen vorkommt. Im Werk sind allerdings einige terminologische Wortfelder genau erarbeitet und können als Muster dienen, wie man verschiedene, sich z.T. häufig se- mantisch überlappende Begriffe klar gegenüberstellen bzw. unter Beachtung von Hie- rarchien voneinander abgrenzen kann. Es folgen zur Illustration einige Beispiele. Das Szenario als Oberbegriff für den Sachverhalt eines Satzes unterteilt Ágel in Ereignisse (die mit Vollverben versprachlicht werden) und Nichtereignisse (die mit Prädikativ- gefügen versprachlicht werden). Das Szenario ist in seiner Klassifikation gleichrangig wie das Impressio (vgl. S. 874, 849, 894, 364, 336). Die Ereignisse wiederum zerfallen bei Ágel in Handlungen, Tätigkeiten, Vorgänge, Zustände; unter Nichtereignissen ver- steht er Klassenzuweisungen, Zustandszuweisungen und Eigenschaftszuweisungen (S. 364). Auch bei mehrteiligem Prädikat ersinnt Ágel ein kompliziertes terminologisches Feld. So verwendet er z.B. die Begriffe prädikative Streckformen (S. 316, 336), Kol- lokativgefüge, Prädikativgefüge, Prädikationskonstruktion, Prädikation(sträger), Prä- dikativprädikat Funktionsverbgefüge, Nominalisierungsverbgefüge, Verbalkomplex, Verbalgruppe, analytische Verbform (vgl. S. 179, 267, 316, 358, 364, 390, 497). Im Zusammenhang mit dem kohäsionsstiftenden Begriff Junktor (S. 197) werden auch folgende Termini verwendet: Kohäsionsglied, Konnektor, Junktor, Junktiv, Pa- rajunktor, Konjunktor, Subjunktor, Junktion, Konjunktion, Subjunktion (S. 62, 63, 80, 859). Die Funktion-Argument-Wert-Formel (u.a. S. 18ff., 854, 30, 31, 567) wird im Buch in fast jedem neuen Kapitel bemüht. Sie ist nicht einfach durchschaubar. Grundsätzlich scheint dahinter die Dualität Form – Funktion zu stecken (vgl. u.a. S. 18, 21, 845). Mag sein, dass davon bei Formalisierungsversuchen zur digitalen Sprachverwendung Gebrauch gemacht werden kann. Stellenweise führt diese Formel Linguistica_2021_FINAL.indd 142 31. 03. 2022 09:31:22 143 jedoch zu Formulierungen, die schwer erschließbar sind: „Syntaktisch dynamische Prädikate stellen Anwendungen von syntaktischen Konstruktionen auf statische Prä- dikate dar …“ (S. 880). 2 TEXTGLIEDER: DIE GRAMMATISCHEN MAKROGLIEDER VON TEXTEN Die Unterscheidung von orthographischen und grammatischen Sätzen ist eigentlich eine Definitionssache. Dem sog. orthographischen Satz (dieser stehe zwischen einem Großbuchstaben und einem Satzzeichen, S. 11 und passim) den Satzwert abzusprechen ist daher zumindest unter dem kommunikativen Aspekt m.E. problematisch. Die un- vollständige, prädikatlose Struktur allein kann hier schwer als alleiniges Kriterium für (Un)Grammatikalität akzeptiert werden. Grammatisch unvollständige Satzkonstruktio- nen (verschiedene Typen von Ellipsen, Apposiopesen, Anakoluthen, Isolierungen z.B.) vermögen mehr auszudrücken als nur das sog. Impressio (170 und passim). So inventiv und stellenweise wirksam einsetzbar die Bezeichnung Impressio auch sein mag, ihre Verwendung scheint nur begrenzte Berechtigung zu haben, und zwar nur dann, wenn die unvollständige Satzform einen besonderen schildernden Effekt realisiert. Das be- wegt sich schon an der Grenze zur Stilistik, welcher Ágel explizit leider kaum Beach- tung schenkt (s. unten). In der logischen Konsequenz dieses Kritikpunktes finde ich auch die Verwendung der Begriffe wie Nichtsatz, Existenzialnichtsatz, Gegenstands- existenzialnichtsatz (S. 182 und passim) problematisch. 3 SATZGLIEDER: DIE GRAMMATISCHEN MESOGLIEDER VON TEXTEN Das Kapitel über das Prädikat ist im Buch besonders gründlich erarbeitet. Den vom Autor hoch eingeschätzten grammatischen Wert des Prädikats sieht man nicht zuletzt auch daran, dass die Prädikate in allen analysierten Belegen im Buch durchgehend fett gekennzeichnet sind. Er nennt das Prädikat „de/n/ archimedische/n/ Punkt unter den Satzgliedern“ (S. 255) und reiht es damit eindeutig unter die Satzglieder ein, wenn auch im weiteren Sinn. Die Aufgliederung des Prädikats in statisches und dynamisches Prädikat mag ihre theoretische Berechtigung haben, sie erschwert jedoch das einheitliche Erfassen die- ses Satzgliedes. Die Klassifikation verschiedener Erscheinungsformen der Prädikats- dynamik ist genauestens differenziert (S. 397, 407), wie es sich für eine theoretische Grammatik eben gehört, seine (übermäßig) herausdifferenzierten Varianten (s. oben zur Terminologie) wären etwa für didaktische Bedürfnisse jedoch unbedingt auf eine überschaubarere duale Grundstruktur zuzuschneiden: auf die nominale Prädikatskom- ponente als den vorwiegenden Bedeutungsträger und auf die verbale Prädikatskompo- nente als die vor allem die Grammatikalität beisteuernde Größe. Im Einklang mit dem Kapitel zum Prädikat ist auch das Kapitel zur Verbvalenz auf sehr hohem theoretischem Niveau präsentiert (vgl. u.a. Seiten 47, 140, 407). Die Rede ist im Rahmen der Valenzänderung vom statischen Prädikat, vom kategorial dy- namischen Prädikat, vom konstruktionell dynamischen Prädikat und im Rahmen der Linguistica_2021_FINAL.indd 143 31. 03. 2022 09:31:22 144 Valenzträgeränderung von der Umkategorisierung (mit 3 Unterarten), weiterhin von der Kontamination und der Substitution. Wenn man sich in die Differenzierung dieser Begriffe vertieft, muss man letztendlich einräumen, dass sie nicht aus der Luft gegriffen sind, sondern das Ergebnis einer akribischen Erforschung sind. Die Frage ist nur, in- wiefern das für einen nicht in erster Linie an reiner Theorie Interessierten1 nützlich ist. Im engeren Sinne zerfallen bei Ágel die Satzglieder in Komplemente (Szenario- komplementierung) und Supplemente (Szenariokontextualisierung) (u.a. S. 255, 292, 17, 128). Es erhebt sich die Frage, ob die Kriterien für die Einteilung der Komplemente in zentrale und periphere überzeugend sind. Denken wir nur an die Bagatellisierung der Rolle von Partikeln als Füllwörtern bis zur nicht so weit zurückliegenden Zeit. Beim doppelten Akkusativ drängt sich die Frage nach der Legitimität des Prinzips auf, das Ágel »das Einmaleins der Satzgliedlehre« nennt (S. 49 und passim) und nach welchem dasselbe Satzglied in demselben statischen Satz nur einmal vorkommen dürfe (S. 49). Bei den Satzformen fallen vor allem die Formen der Nebensätze auf. Im Satzgefüge H. sagt, bald wird etwas geschehen. wird z.B. der Nebensatz bald wird etwas geschehen traditionell gesehen als ein uneingeleiteter Nebensatz klassifiziert. Bei Ágel hingegen wird dieselbe Konstruktion als „Akkusativobjekthauptsatz“ bezeichnet (S. 35), obwohl im Glossar von uneingeleitetem Nebensatz – zwar nur einmal – die Rede ist (S. 898). Auch die Bezeichnungen „abhängiger Hauptsatz“ sowie „Attributhauptsatz“ (S. 843) und „Attributtext“ (S. 844) verwundern einen traditionell ausgebildeten Germanisten. Im Buch vermisst man explizite Hinweise darauf, dass verschiedene abweichende Phänomene stilistische und pragmatische Funktionen erfüllen können. Einschlägige Schlagwörter zur Stilistik fehlen im Sachregister vollends, auf die Pragmatisierung wird nur in einer kurzen Fußnote 8 (S. 238) hingewiesen, wobei beide Begriffe zu- mindest querverweisend vielfach verwendet werden könnten (vgl. obige Bemerkun- gen zur Terminologie und etwa die Begriffe Verstehenspräferenzen (S. 469) oder pragmatische Alternativen, S.201). 4 WORTGRUPPENGLIEDER: DIE GRAMMATISCHEN MIKROGLIEDER VON TEXTEN Auf der Mikroebene erhebt sich für den kritischen Leser die Frage, ob Negationen in der Tat den Geltungsgrad ausdrücken, also als modalisierende Epistemikglieder aufge- fasst werden können. Ist es nicht so, dass die Negation mit der Affirmation gleichwertig einen propositionalen Status in der objektiven Realität abbildet und gleichermaßen gewiss oder ungewiss sein kann (S. 128, 17, 849). Eine Negation lässt sich freilich in ihrer modalen Intensität aber auch variieren, z.B. mithilfe von gewiss (nicht), partout (nicht), absolut (nicht), keinesfalls… 5 APPARAT ist umfangreich und gut aufgegliedert in: 1 Leittext (Abdruck der Novelle von Sieg- fried Lenz „Landesbühne“ aus Die Zeit), 2 Quellen (weitere 58 literarische Werke), 1 Wie bei Ágel sind Personenbezeichnungen generisch zu verstehen. Linguistica_2021_FINAL.indd 144 31. 03. 2022 09:31:22 145 3 Literatur (auf 33 Seiten!), 4 Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen (aufgeführt nach der Kapitelgliederung), 5 Darstellungskonventionen (typographische und andere Marker), 6 Glossar - Verzeichnis der Fachausdrücke: (alphabetisch angeordnet, mit kurzen definitorischen Erklärungen, leider nicht konsequent mit einschlägigen Belegen ausgestattet), 7 Sachregister (sehr detailliert gegliedert und mit Bezug auf den Fließ- text der Grammatik fast vollständig erfasst; s. oben Anmerkungen zu Pragmatik und Stil(istik)) und in 8 Wort- und Ausdrucksregister. 6 FAZIT Die hier besprochene Grammatik von Vilmos Ágel ist ein monumentales Werk, mit dem sich jeder Germanist vertraut machen sollte. Man braucht jedoch viel linguisti- sches Vorwissen und Ausdauer, um das Buch bis auf den Grund zu durchdringen. Es ist nämlich ein Werk mit hohem wissenschaftlichem Anspruch. Linguistica_2021_FINAL.indd 145 31. 03. 2022 09:31:22