Original scientific paper Izvirni znanstveni članek DOI: 10.32022/PHI31.2022.122-123.11 UDC: 111 Überlegungen zur Ontologie und zur „ontologischen Erfahrung" bei Eugen Fink Anna Luiza Coli Universidade Estadual de Londrina, Rodovia Celso Garcia Cid, PR-445, Km 380, Campus Universitario, Cx. Postal 10.011, CEP 86.057-970, Londrina - PR, Brazil annaluizacoli@gmail.com | anna.coli@institutodianoia.com Reflections upon Ontology and the "Ontological Experience" in Eugen Fink Abstract The paper aims to present Fink's critique of the Husserlian phenomenology from the perspective of the ontological problematic as it was addressed in his philosophy. For this purpose, we start from the manuscripts around the lost 1940 Treatise on Phenomenological Research, in order to arrive at his late formulations of the key Phainomena 31 | 122-123 | 2022 concept "ontological experience." Though there is no pretension in discussing Fink's interpretations of Husserl, Nietzsche, or Hegel, the present study aims to present the development of the ontological problematic from Fink's own perspective. Keywords: ontology of becoming, force, ontological experience. Razmisleki o ontologiji in o »ontološkem izkustvu« pri Eugenu Finku Povzetek Članek želi predstaviti Finkovo kritiko husserlovske fenomenologije z vidika ontološke problematike, kakor jo je razgrnil v svoji filozofiji. Zato se najprej posvetimo rokopisom, ki so nastali okrog leta 1940, v času izgubljene Razprave o fenomenološkem raziskovanju, da bi se približali k njegovim poznim formulacijam ključnega koncepta »ontološkega izkustva«. Pričujoča študija nima pretenzije, da bi obravnavala Finkove interpretacije Husserla, Nietzscheja ali Hegla, temveč želi predvsem predstaviti razvoj ontološke problematike s Finkove lastne perspektive. 238 Ključne besede: ontologija postajanja, moč, ontološko izkustvo. Anna Luiza Coli 1. Einleitung Die für das Jahr 2023 angekündigte Publikation der Bände 3.3 und 3.4 der Eugen Fink Gesamtausgabe (EFGA) und damit die Vervollständigung der Veröffentlichung von Finks philosophischem Nachlass bis 1945 (Phänomenologische Werkstatt)1 bietet aus naheliegenden Gründen die Gelegenheit einer tiefgreifenden Erneuerung des Rezeptionsspektrums seines Werkes. Unter den zahlreichen Gründen, die dieses Material für die heutige Fink-Forschung so relevant sein lassen, sticht meines Erachtens hervor, dass es erlaubt, entscheidende Fragen im Blick auf das zu beantworten, was bisher als „fehlendes Verbindungsglied" zwischen den Schriften des jungen Husserl-Assistenten und -Mitarbeiters und dem Universitätsprofessor der Nachkriegszeit galt. Im vorliegenden Beitrag wähle ich den Begriff der „ontologischen Erfahrung" zum Leitbegriff und Bindeglied, da er den Kern der bereits vielfach dokumentierten Kritik Finks an der Husserl'schen Phänomenologie2 mit einer grundsätzlichen Achse des Nachkriegswerkes verbindet: Finks kritische Auseinandersetzung mit der traditionellen 239 Metaphysik und die damit verbundene Entfaltung einer Kosmologie bzw. kosmologischen Philosophie.3 Das neue Nachlassmaterial eröffnet den breiteren Kontext, in dem der Begriff der „ontologischen Erfahrung" geprägt wurde. Er erscheint im Zusammenhang der systematischen Herausarbeitung von Finks Kritik an Husserls Phänomenologie hinsichtlich ihrer metaphysisch-philosophischen Begrenztheit in der Schrift Traktat über die phänomenologische Forschung, die durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verloren gegangen ist. Von der Existenz dieses „Traktats" wie von seinem Schicksal weiß man lediglich 1 Die letzten Volumina von Band 3 der Eugen Fink Gesamtausgabe (EFGA), Phänomenologische Werkstatt 3.3 (Fink 2023a) und Phänomenologische Werkstatt 3.4 (Fink 2023b) erscheinen in 2023. Ich bedanke mich herzlich bei dem Herausgeber Giovanni Jan Giubilato, der mir schon vorab einen Einblick in die entsprechenden Materialien ermöglicht hat. 2 Vgl. dazu Cairns 1976, 14f.; Luft 2002, 204; van Kerckhoven 2003, 162f., Moran 2007, 6f. 3 Vgl. Coli 2022b. Zur Kritik der Metaphysik als Grundlage von Finks kosmologischer Philosophie vgl. Coli 2022a. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 durch Finks Hinweis in dem im Frühjahr 1940 niedergeschriebenen und erhalten gebliebenen Manuskript „Elemente einer Husserl-Kritik".4 Mehr als einen Hinweis auf das philosophische Unbehagen, aus dem heraus die „ontologische Erfahrung" als Begriff entwickelt wurde, bietet uns nun das der Öffentlichkeit vorgelegte, bislang fehlende Verbindungsglied verschiedener Notate, die den Aufbau einer radikal eigenständigen Ontologie erahnen lassen. Es zeigt sich, dass die ontologische Besinnung, die Fink in seinem späteren Werk vornimmt,5 von denselben Fragen ausgeht, die ihn bereits zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Husserls Grundidee der Philosophie als „vorphilosophischer Lebenshaltung" (Fink 2023b, 204), die sich durch einen „Verzicht auf Metaphysik" (ebd., 212) auszeichne, getrieben hatten. Da Fink „Ontologie" auf der Grundlage eines eindeutig spekulativ-dialektischen Denkens basiert,6 können wir zudem vermuten, dass sie sich deutlich weniger mit Heideggers Ansatz verbinden lässt,7 als bisher anzunehmen war. Zwar ist die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Kritik der Metaphysik und einer kritischen „Destruktion der Geschichte der Ontologie" (Heidegger 1977, 27240 4 In Band 3.4 der Phänomenologischen Werkstatt nachzulesen. In diesem aus 56 Thesen bestehenden Manuskript rekonstruiert Fink ansatzweise die wichtigsten Punkte, die im verlorenen Traktat angesprochen und erörtert wurden. 5 Bedeutende Arbeiten dieser Zeit thematisieren die „ontologische Erfahrung" sowie die ontologische Diskussion im Kontext der Kritik der Metaphysik auf eine direkte oder indirekte Weise. Vgl., u. a., Sein und Mensch (Fink 1977b), „Sein, Wahrheit, Welt" (Fink 1956/57) und vor allem Hegel. Phänomenologische Interpretationen der „Phänomenologie des Geistes" (Fink 1977a). 6 Heideggers Ablehnung der Dialektik ist bekannt. Im Blick aufseine Auseinandersetzung mit Nietzsche und der Metaphysik (Schwarze Hefte 1942-48) behauptete Heidegger sogar, Dialektik und Technik gehörten zusammen: „Inwiefern gehören Dialektik und Technik zusammen? Sie richten die Vereinbarkeit alles Auseinanderliegenden in eine unbedingte, überallhin sichernde Herstellbarkeit ein. Die Technik beseitigt Bedürfnis und Vermögen des Lernens, dessen Wesen darin beruht, daß es im erfahrenden Anerkennen der Verfahren beruht." (Heidegger 2015, 497.) 7 Die Nähe zwischen Fink und Heidegger im Blick auf die vermeintliche Absicht, eine Ontologie in die Phänomenologie einführen zu wollen, ist weithin verteidigt worden. Vgl., u. a., Moran 2007, 16: „[The] emphasis on a primordial life led Fink in the direction of Heidegger's existential ontology." Ich beabsichtige hier wie gesagt nicht, auf die Frage der Abgrenzung des Weges der Ontologie bei Fink und Heidegger einzugehen. Ein Versuch in dieser Richtung wurde jüngst wieder unternommen in Giubilato 2020. Anna Luiza Coli 36) zweifellos ein Anliegen, das Fink mit dem Heidegger von Sein und Zeit teilt. Jedoch führt dies Fink zu dem Versuch einer Erneuerung der Metaphysik in einem kosmologischen Sinne und damit zu einem grundsätzlich anders gearteten Ergebnis als dem des Heidegger'schen Seinsdenkens.8 Ohne den Anspruch zu erheben, das heikle Terrain einer unmittelbaren Auseinandersetzung mit Heideggers Ontologie zu betreten (diese Arbeit steht noch aus), möchte dieser Beitrag sich darauf beschränken, einen möglichen Weg aufzuzeigen, wie die ontologische Problematik und ihre Entwicklung innerhalb des Rahmens von Finks Denkweg verstanden werden kann. Will man Finks Philosophie anhand einiger grundlegender Achsen aufspannen, ist auf jeden Fall die ontologische Frage, so will dieser Beitrag zeigen, eine dieser zentralen Achsen, die zugleich verschiedene Momente seines Werkes miteinander verbindet. 2. Finks Husserl-Kritik Als Mitarbeiter Husserls bis zu dessen Tod war Fink selbstverständlich bestens vertraut mit Husserls Spätwerk und spielte keine unerhebliche Rolle im Zusammenhang von dessen Genese (vgl. Biemel 1985). Und doch gilt seine Kritik allem voran der programmatischen Darstellung einer phänomenologischen Forschung und Methode, wie Husserl sie in Ideen I formuliert (vgl. Bruzina 2004; Moran 2007). Wie in seinen in den WerkstattBänden veröffentlichten Arbeitsnotizen immer wieder deutlich wird, ist Fink der Ansicht, die Idee einer phänomenologischen Forschung als „Ausweitung 241 8 Heidegger erkennt (wiederum abweichend von Fink) bei Nietzsche die Möglichkeit einer Überwindung/Verwindung der Metaphysik (vgl. Heidegger 2015, 73f.). Nach seiner konfrontativen und destruktiven Auseinandersetzung mit Nietzsche während der 1930er bis Mitte der 1940er Jahre, deren Folgen sich noch viele Jahre später abzeichnen sollten (vgl. die 1960 an Medard Boss gerichtete Bemerkung: „ich stecke noch im ,Abgrund' Nietzsche"; Heidegger 1994, 320), behauptet Heidegger später, nur die Überwindung Nietzsches habe ihn in die Lage eines „Sich-sagen-lassende[n] Nachsagen^] des Wortes aus Seyn" (Heidegger 2015, 77) versetzt. Während seiner Arbeit an den Nietzsche-Büchern taucht diese Grundidee erneut im Begriff der Gelassenheit auf. Gemeint ist damit die Haltung, die Metaphysik ihrem Geschick zu überlassen und ihr lautes Gerede nicht weiter anzuhören: „erst wieder schweigen, überschweigen das Gesage der Sprache der Metaphysik" (ebd., 56). Dazu Coli und Giubilato 2021. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 des Begriffs der Anschauung aufjede Grundart von Evidenz" (Fink 2023b, 201) bzw. einer Phänomenologie, deren Ziele letztlich ein Erbe des Positivismus des 19. Jahrhunderts darstellten, sei von Husserl nie ganz überwunden worden. Ein solcher szientistischer Positivismus manifestiere sich vor allem in der Idee einer intuitiv-deskriptiven Methode, die glaube, einen voraussetzungslosen Zugang zu der unmittelbaren Gegebenheit des Phänomens „als vorprädikative Grundlage ausdrückender Urteile" (ebd., 211) gewährleisten zu können.9 In eben diesem Kontext verortet sich Finks Interpretation der Husserl'schen Phänomenologie, wie sie in diesen und anderen Manuskripten aus dieser Zeit, aber auch in den späteren Husserl gewidmeten Beiträgen zu finden ist (vgl. Fink 1976).10 Wie aus einer Lektüre der „Elemente einer Husserl-Kritik" eindeutig hervorgeht, wurde daher das eigentümlich Philosophische an der Phänomenologie Husserls aus der Sicht Finks von vornherein durch bestimmte methodische Ansätze (z. B. Deskription und Analyse) und durch am Ideal der mundanen Wissenschaftlichkeit orientierte Forderungen 242 gehemmt (Fink 2023b, 200). Folglich sei Husserls Idee von Phänomenologie als strenger Wissenschaft eigentlich in Opposition zum philosophischen als einem „spekulativen" und als unwissenschaftlich abqualifizierten Denken und in Hinblick auf den reformatorischen Anspruch einer neuen Begründung von Erkenntnis errichtet worden. Finks neuerliches Nachdenken über das Verhältnis von Phänomenologie und Philosophie wurde zum Teil in seiner 1939 veröffentlichten Abhandlung „Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls" realisiert,11 zum Teil aber auch in dem berühmten Aufsatz 9 Vgl. dazu Husserl 1976, 136: „Dazu kommt - und das ist, weil aufPrinzipielles bezogen, sehr viel wichtiger - daß die Phänomenologie ihrem Wesen nach den Anspruch erheben muß, ,erste' Philosophie zu sein und aller zu leistenden Vernunftkritik die Mittel zu bieten; daß sie daher die vollkommenste Voraussetzungslosigkeit und in Beziehung auf sich selbst absolute reflektive Einsicht fordert." 10 Eine analytische Diskussion und kritische Hinterfragung von Finks Interpretation der Phänomenologie Husserls geht über den Rahmen dieses Beitrages hinaus, der sich (auch) als vorbereitendes Instrument für eine spätere, zweifellos notwendige kritische Diskussion der Fink'schen Position und ihrer Grenzen versteht. 11 Deren „Gegenstück" war der geplante Traktat über die phänomenologische Forschung (vgl. Fink 2023a, 135). Anna Luiza Coli „Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie" von 1957.12 Operative Begriffe gehören zu den „Selbstverständlichkeiten" bzw. Voraussetzungen, der „operative[n] Verschattung", dem „Nichtgesehene[n]", welches, so Fink, zugleich „das Medium des Sehens ist" (Fink 1976, 191f.). Es geht also um jene Begriffe, mit denen das Denken notwendig operiert, da es sie zwingend voraussetzt. Gerade in Hinblick auf die „urlichtenden Begriffe"13 (Fink 2023b, 208) stellt sich Fink die Frage nach dem operativen Verständnis dessen, was die Phänomenologie unter „Sein" und „seiend" fasst. Indem er diese Frage an die Phänomenologie Husserls richtet, scheint sich die ontologische Problematik seinem eigenen phänomenologischen Projekt auf nahezu unausweichliche Weise aufzudrängen. An dieser Stelle lohnt sich ein kleiner Exkurs über den Sinn des Spekulativen bei Fink. Denn auffallend ist meines Erachtens das Beharren eines Teils der Fink-Forschung auf einer überlieferten missverständlichen Bedeutung des Begriffs „Spekulation", dem Fink immerhin von den ersten dokumentierten Arbeitsmaterialien der Phänomenologischen Werkstatt an bis in sein gesamtes späteres Werk hinein zentrale Bedeutung beimisst.14 Fink verbindet das 243 12 Unter dem Anspruch, die Spannung zwischen den thematischen und den operativen Begriffen in der Phänomenologie Husserls herauszustellen, gelingt es Fink, die Husserl'sche Phänomenologie aus einer ganz in die ontologische Problematik integrierten Perspektive darzustellen. Vgl. Fink 1976, 195: „Es handelt sich [...] um die transcendentale Vorgängigkeit des konstituierenden Lebens vor allen konstituierten Sinngebilden. [...] Die Konstitution der mundanen Charaktere des Subjekts, in denen es seine weltvorgängige Ursprünglichkeit verhüllt, ist bei Husserl nicht explizit und überzeugend genug durchgeführt worden. Darin ist es begründet, dass der Begriff des Phänomens bei Husserl merkwürdig schillert." 13 Wie im Manuskript „Elemente einer Husserl-Kritik" nachzulesen ist, bezeichnet Fink jene Begriffe als „urlichtend", die in seinem späteren Werk die Problematik der Transcendentalien berühren, also des ursprünglichen Entwurfs philosophischer Grundbegriffe (Sein, Welt und Wahrheit). 14 Man könnte dieses interpretative Missverständnis Ronald Bruzinas ersten (und in jeder Hinsicht verdienten) Bemühungen zuschreiben, die Beziehung zwischen Husserl und Fink zu beleuchten, wie er es in seinem inzwischen zum Klassiker avancierten Werk Edmund Husserl and Eugen Fink: Beginnings and Ends in Phenomenology (2004) tut. Möglicherweise, weil er Finks damals schon vorhandenes Spätwerk nicht ausreichend berücksichtigte, prägte er eine Interpretation des „Spekulativen" bei Fink, die in großer Nähe zu „Gabriel Marcel's conception of the nature of mystery" steht, „that is, a problem in which one finds oneself existentially involved" (ebd., 458). Dabei wurde Phainomena 31 | 122-123 | 2022 Spekulative keineswegs mit einem leeren, abstrakten Grübeln, das der nüchternen Wissenschaftlichkeit phänomenologischer Forschung entgegenstehen würde, sondern begreift es als Haltung gegen eine dogmatische und wenig hinterfragende Verhärtung thematischer und vor allem operativer Begriffe der Philosophie - und somit gerade als Möglichkeit, diese als Entwurf zu denken bzw. wieder in Bewegung zu versetzen (vgl. Fink 1956/57, 221, 237f.). Unbestreitbar verwendet Fink das Spekulative als Index für die Arbeit des Begriffes, also als dessen Entfaltung und Problematisierung.15 Nicht zufällig wird der Vorwurf gegen Husserls anti-spekulative Haltung immer wieder um die Feststellung seines „Unvermögen[s] zum Begriff" (Fink 2023b, 211) ergänzt, das seine Phänomenologie insofern zu einem „begriffsblinde[n] Positivismus" (ebd., 201) werden lasse, als sie eine Deskription „ohne Setzung des Begriffs des Gegebenen" vertrete. Kurz: „Analyse ohne Bezug zum spekulativen Gedanken, also Analyse, die nur ein gegebenes Wissen ins Uferlose entfaltet, ist Geschwätz." (Ebd.) Spezifischer auf den Kontext der ontologischen Problematik bezogen, zeichnet sich das Spekulative - dessen hegelianisches Erbe gewürdigt und fruchtbar 244 gemacht werden muss16 - bei Fink jedoch dadurch aus, das es sich gegen die unmittelbare Gegebenheit des Phänomens richtet und dieses selbst hinterfragen und zum Problem der Phänomenologie machen will. „Die Phänomenalität der Phänomene aber ist nie selber eine phänomenale Gegebenheit. Sie ist immer und notwendig ein Thema spekulativer Bestimmung." (Fink 1976, 148.) Der der offensichtliche hegelianische Kontext, in dem Fink diesen Begriff systematisch gebraucht, völlig außer Acht gelassen. Spätere, ebenso problematische Interpretationen trugen dazu bei, die Idee des „Spekulativen" als Gegenteil von „Husserl's ,sobriety'" (ebd., 451), also als leere Abstraktion, die einer phänomenologischen Haltung völlig widerspreche, zu verhärten. In der Formulierung von Moran 2007, 11: „Fink was a speculative thinker who understood speculation in a somewhat Heideggerian manner as an essential on-going, ,unresting' questionableness of a problem that cannot be solved by analytic means but can only be brought to a more pressing question." 15 Vgl., u. a., Fink 2008, 81f.: „Diese spekulative Natur des Seienden, in sich ,Begriff' zu sein, bestimmt die spekulative Methode." 16 So stellt Hegel im ersten Band der Enzyklopädie das Spekulative dem Dogmatischen gegenüber und erklärt: „Wie allenthalben ist die spekulative Identität nicht jene triviale, daß Begriff und Objekt an sich identisch seien; - eine Bemerkung, die oft genug wiederholt worden ist, aber nicht oft genug wiederholt werden könnte, wenn die Absicht sein sollte, den schalen und vollends böswilligen Mißverständnissen über diese Identität ein Ende zu machen." (Hegel 1977, 347.) Anna Luiza Coli antispekulativen, positivistischen Haltung Husserls setzt Fink daher eine spekulativ-begriffliche entgegen, welche der eigentlich philosophischen Haltung entspreche. In diesem Sinne ist das ontologische Vorhaben Finks, das um die „ontologische Erfahrung" herum entwickelt wird - wie ich im Anschluss zeigen möchte -, der kritisch-metaphysische Riss (vgl. Fink 1976, 195), durch den er die Phänomenologie wieder in das Feld der zentralen philosophischen Probleme zurückführen will. „Die spekulative Frage, mit welcher der Mensch aufsteht inmitten des Seienden, ist die Frage, was das Seiende ist. Dieser ,Anfang' ist kein ,primitives Vorstadium' des wissenschaftlichen Philosophierens, sondern ist der Entwurf des spekulativen Grundproblems der Philosophie selbst." (Fink 2023a, 302.) In der Gleichsetzung von antispekulativer Haltung und dem ihr entsprechenden „Idol der Gegebenheiten" (Fink 2023b, 200) liegt also der Kern von Finks Kritik an Husserl, die sich in zwei einander ergänzenden Punkten so engführen lässt: 1) einerseits nämlich der Kritik an der Annahme schlichter Gegebenheit, die der Deskription als ihrerseits voraussetzungsloser Methode zugrunde liege; und 2) andererseits der Kritik an Husserls methodologischer 245 Unfähigkeit, die Phänomenalität des Phänomens bzw. die Sachlichkeit der Sache so zu denken, dass die Idee einer solchen Rückkehr zur Urfaktizität selbst nicht in einer methodologischen Naivität gefangen bleibt. „Das Wahnbild einer Unmittelbarkeit, eines schlichten Aufnehmens eines einfach daliegenden Seienden, einer für uns bereit liegenden Sache. Die Sachlichkeit der Sachen wird weder erörtert, noch begriffen." (Ebd., 213.) Zusammengefasst: Wenn Husserl seine Phänomenologie insofern zu einer „vor-philosophischen Propädeutik der Philosophie" (ebd., 202) machen will, als sie „neutral gegenüber philosophischen Standpunkten" bleibt, d. h., wenn sie für sich selbst den Anspruch erhebt, voraussetzungslose Wissenschaft zu sein, führt dies dazu, dass die Phänomenologie aus dem Bereich der philosophischen Fragen ausgegliedert werden muss. 3. „Ontologische Erfahrung" Zu der gleichen Zeit, in der er seine Kritik an der Husserl'schen Phänomenologie in Form des „Traktats" systematisiert, beschäftigte sich Fink Phainomena 31 | 122-123 | 2022 246 mit seiner ersten „geistig selbständigen Schrift" (Fink 2023a, 142), der er den Titel „ontologische Erfahrung" gibt. Auch wenn diese Schrift nicht als eigenes Werk vollendet wurde, ist doch der Umfang der darauf bezogenen Materialien beträchtlich - sie nehmen den mit Abstand größten Teil des vierten Teilbandes der Phänomenologischen Werkstatt ein, so die Herausgeber - und spannt sich über den Zeitraum der Jahre 1938 bis Ende 1945. Die zentrale und strukturierende Rolle, die dieser Begriff in Finks philosophischer Produktion nach dem Krieg spielt, ist grundsätzlich bekannt; seine Bedeutung für die Neuformulierung einer eigenen phänomenologischen Philosophie jedoch kann erst jetzt gründlich untersucht werden.17 Die folgende Analyse soll den Weg nachzeichnen, den Fink bis 1945 in seinen Notaten und Überlegungen und nach dem Krieg in seinen Schriften und Vorlesungen auf der Suche nach der „seinsbegrifflichen" Formulierung der ontologischen Erfahrung gegangen ist. 4. Die Ontologie des Werdens im Zusammenhang einer Nietzsche'schen „Metaphysik des Spiels" Auch wenn die systematische Deutung von Nietzsches Werk erst viele Jahre später in seiner Vorlesung über Nietzsches Philosophie (1960) vorgelegt wird, so findet man doch in Finks bereits 1946 als Probevortrag im Rahmen seiner Habilitation an der Universität Freiburg i. Br. vorgestellter Studie „Nietzsches Metaphysik des Spiels" in nuce die grundlegenden Leitlinien seiner Auslegung.18 Parallel zur Diagnose des Nihilismus als Zeichen des Niedergangs und des Verfalls sowie des Platonismus als des großen Gegners der tragischen 17 Zum phänomenologischen Projekt des Spätwerks Finks auf der Basis des Begriffs der „ontologischen Erfahrung" siehe Coli 2022a. 18 Die Referenzwerke sind hier eindeutig auf die Themen zu beschränken, die mit Nietzsches Philosophie und ihrer Auslegung zusammenhängen - hauptsächlich die Texte Nietzsches Philosophie (Fink 1960) und „Nietzsches Metaphysik des Spiels" (Fink 2011). Jedoch geht es in diesem Beitrag nicht darum, die Relevanz oder Angemessenheit von Finks Nietzsche-Deutung im Rahmen der Nietzsche-Forschung zu diskutieren. Diese Diskussion wurde an anderer Stelle (Coli, Giubilato und Weber 2022) geführt. An Finks Auseinandersetzung mit Nietzsche interessiert mich im Folgenden nur das, was sie zur Rekonstruktion des Hauptarguments (der ontologischen Kritik der Metaphysik) beisteuert. Anna Luiza Coli Kunst und des tragischen Geistes gebe es in Nietzsches Denken, so Fink, die grundlegende Intuition einer ursprünglicheren Erfahrung des Seins, die nur einer „antimetaphysische[n] Weltbetrachtung - ja aber eine[r] artistische[n]"19 (Fink 2011, 31) zugänglich sei. Nietzsches Artistenmetaphysik begreife die Kunst - und insbesondere die tragische Kunst - als Welterkenntnis, insofern sie eine „Deutung des Weltganzen am Leitfaden der Kunst" (Fink 1960, 24) vorlege, in der sich das Sein als Werden, als Spiel erfahren lässt. „Nietzsches Lehre vom Sein des Menschen wie vom Sein der Natur gründet in seiner Metaphysik des Spiels." (Fink 2011, 35.) Diese neue Ursprünglichkeit entspreche zugleich einem „neuen Lebensgefühl, einer tieferen Daseinserschließung" (Fink 1976, 128) und letztlich einer Erfahrung des Seins, die einen neuen und ursprünglichen Entwurf des Seinsgedankens ermöglicht. Nietzsche halte diese Grundeinsicht in das Sein für die eigentliche metaphysische Tätigkeit des Menschen, die in der Tragödie ihre höchste Form erreicht habe. So wird „das Tragische' als kosmisches Prinzip verstanden" (Fink 1960, 21) und in „einer tragischen Weltauffassung kann es keine Erlösung geben" (ebd., 17). Nietzsche verweise 247 auf den Schmerz der Offenheit zur Welt, der sich in Form einer „Sinnlosigkeit und Abgründigkeit des Daseins" (ebd., 26) zu erkennen gebe. Die antike Kunst und insbesondere die Tragödie offenbarten in dieser Hinsicht die Art und Weise, wie die Griechen die dunkle Bedrohung der Sinnlosigkeit in den Bedingungen ihres Daseins künstlerisch zu befriedigen versuchten. Damit ist Finks Auslegung zufolge gemeint, dass Nietzsche ein Gespür für die tiefgreifende Wandlung der Seinsauffassung zeige, die bereits bei Parmenides angelegt sei: „Der tiefere Einschnitt liegt zwischen dem WeltDenken der Jonier und dem Seins-Denken der Eleaten, in zwei großen Figuren repräsentiert: zwischen Heraklit und Parmenides. Seit Parmenides gibt es eine ontologische Philosophie. Und sie ist eine ununterbrochene Kette bis heute." (Fink, 1957, 46.) Im Geiste der Konfrontation, die 19 Fink geht davon aus, dass die antimetaphysische Polemik Nietzsches „auf einem verengten und unzureichenden Begriff von Metaphysik beruht" (Fink 2011, 28), so dass man diese kritische Perspektive auf die Metaphysik selbst als eine Art Metaphysik betrachten könne, die freilich auf einem radikal anderen Fundament beruhe als die traditionelle Metaphysik: eben dem einer Metaphysik des Spiels. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 Nietzsche den Grundlagen der überlieferten Metaphysik angedeihen lässt, eröffnet sich für Fink selbst die Aufgabe, die Problematik einer Ontologie des Werdens zu überdenken. Nietzsches Intuition sei in dieser Hinsicht entscheidend, insofern sie einerseits Einblick in eine nicht von Weltvergessenheit geprägte Seinserfahrung gebe, die in der überlieferten Metaphysik an den Rand gedrängt wurde, und diese Seinserfahrung andererseits als Analogie zu einem Verständnis der kosmischen Dynamik selbst beschreibe. In einer Passage, in der Fink die Züge einer Ontologie des Werdens im Gegensatz zu einer Ontologie der Identität und des starren Seins - das Sein als Gegenbegriff zum lebendigen Werden (Fink 2011, 30) - zusammenfasst, behauptet er in Anknüpfung an „Nietzsches Wort über das Sein" (ebd., 27): „Das Tragische ist Nietzsches erste Grundformel für seine Seinserfahrung. Die Wirklichkeit ist ihm das Widerspiel von Urgegensätzen." (Fink 1960, 17.) 5. Ontologie des Werdens bei Hegel? 248 Auch wenn Nietzsche als Herold einer neuen ontologischen Erfahrung in Erscheinung tritt, erfährt sie bei ihm Fink zufolge keine seinsbegriffliche Formulierung. Die Weigerung Nietzsches, die Ursprünglichkeit der ontologischen Erfahrung begrifflich herauszuarbeiten, sei dabei auf sein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Begriff zurückzuführen (Fink 2011, 31). Angesichts dieses Mangels an einer „Arbeit des Begriffs" im Blick auf Nietzsches „Erfahrung des Seins im Werden" wendet sich Fink daher an Hegel, seit dessen „Gigantenwerk" das „seinsbegriffliche Denken still[stehe]" (Fink 1976, 128). 20 Jedoch ist die Abgrenzung in Finks Hegel-Deutung viel weniger offensichtlich und breiter ausgedehnt als die in seiner Nietzsche-Deutung. Aus diesem Grund schlage ich einen Ausschnitt jener Werke vor, in denen Fink das Problem der Ontologie bzw. die Frage nach dem Sein des Seienden stellt 20 Vgl. dazu auch Fink 1977a, 107: „Die Art, wie Hegel zuletzt Bewegung, Leben, Begriff und Spiel in eins denkt, bedeutet eine Sprengung des logischen Ansatzes, nicht in Richtung auf einen Irrationalismus, der nur der wesenlose Schatten des Rationalismus ist, sondern in Richtung auf eine neue ursprüngliche Grunderfahrung des Seins, deren Herold und Hahnenschrei wir in Nietzsche ahnen." Anna Luiza Coli (insbesondere 1956/57; 1977a; 1977b). Anhand dieses Ausschnitts lässt sich nachvollziehen, wie sich die ontologische Problematik bzw. der Begriff einer „ontologischen Erfahrung" als wichtiger Gravitationspunkt herausstellt.21 Im Rahmen der phänomenologischen Interpretationen von Hegels Phänomenologie des Geistes (Fink 1977a) zeigt sich diese Rückbesinnung auf Hegel insbesondere in der Konzentration Finks auf die ersten drei Kapitel der Phänomenologie, die in der von Fink zitierten Suhrkamp-Ausgabe unter „Abschnitt A" zusammengefasst sind, nämlich: „I. Die sinnliche Gewissheit"; „II. Die Wahrnehmung"; „III. Kraft und Verstand". Nach Finks Verweis auf diese Ausgabe würde also der Abschnitt A die sich auf das „Bewusstsein" beziehenden Kapitel enthalten. Im Erfahrungsfeld des Bewusstseins kommt Hegel laut Fink zur Auslegung der Subjektivität als „Geist" ausschließlich im Zuge der Seinsfrage. Dabei befasst sich Fink insbesondere mit den dialektischen Momenten jener Erfahrung des Seienden, die Hegel in Form der Übergänge von der sinnlichen Gewissheit zur Wahrnehmung und von der Wahrnehmung zum Verstand fasst, in denen das Bewusstsein die Dingheit des Dinges zu fassen versuche, dabei 249 aber unweigerlich in Paradoxien gerate. Die ausdrückliche Thematisierung des Seins des Seienden im Werden - bzw. eine mögliche „Ontologie des Werdens" - sei also bei Hegel im Übergang von der Erfahrung der Wahrnehmung zu der des Verstandes zu finden.22 Der Grundbegriff des Verstandes, der es 21 Ähnlich wie im Fall von Finks Nietzsche-Deutung wird jede Diskussion über die Relevanz oder Gültigkeit seiner Hegel-Deutung in diesem Beitrag völlig außer Acht gelassen. Diesbezüglich beziehe ich mich auf die Beiträge von Barbaric (2020) und Bertolini (2015), die diese Interlokution zum Thema machen, möchte aber zugleich die im Journal der Hegel Society of America veröffentlichte Rezension hervorheben, in der der Autor bereits 1981 in Finks Werk eine eigenständige und originelle Haltung erkennt (Sallis 1981). Diesbezüglich verweise ich aufdie zwischen 5. und 7. Februar 2020 am EFZW (Eugen-Fink-Zentrum Wuppertal) der Bergischen Universität Wuppertal stattgefundene Tagung „Eugen Fink und die klassische deutsche Philosophie". Diese Tagung war in diesem Sinne ein wichtiger Meilenstein innerhalb dieser Debatte. Ich verweise insbesondere auf die ausgezeichneten Vorträge von Dr. Cathrin Nielsen, Prof. Dr. Dina Emundts und Prof. Dr. Damir Barbaric. 22 Während die Wahrnehmung die Kategorien der Seinsauffassung lediglich zusammenhangslos denke, sei es dem Verstand gestattet, das innere organisierende Prinzip, „das allen einzeln unverträglich scheinenden Gedanken den Zusammenhang gibt" (Fink 1977a, 114), zu formulieren. Der Verstand „überwindet [daher] Phainomena 31 | 122-123 | 2022 Hegel erlaubt, die Dingheit des Dinges im Ganzen bzw. im Horizont der Welt zu denken und seine verschiedenen Momente und Eigenschaften im Zusammenhang zu artikulieren, ist jener der Kraft. Fink geht jedoch noch weiter und erkennt in der Kraft nicht nur den Grundbegriff des Verstandes, sondern auch die Fundamentalkategorie der Hegel'schen Grundverfassung des Dingseins überhaupt: Die Kraft bilde den entscheidenden Grundbegriff des Verstandes, weil nur die Grundverfassung des Dingseins überhaupt als Kraft den Widerspruch der Erfahrung der Wahrnehmung überwinden könne, und zwar insofern, als sie es erlaube, die verschiedenen und gegensätzlichen Eigenschaften des Dingseins als Kraftfeld der Selbstheit des Seienden zu denken.23 Das ist genau der Punkt, der Fink am meisten interessiert: das Abbauen des Begriffs der Identität „bei dem Versuch, den Ding-Gedanken" innerhalb der metaphysischen Tradition „auszudenken", die „das Wesen des Seienden als Identität" (ebd., 102) begreift. Der Verstand fasst die Sichselbstgleichheit bzw. Identität als Thema der Dialektik und des spekulativen Denkens, indem 250 er das Schema der tautologischen Identität (A=A) der überlieferten Tradition der Ontologie infrage stellt, um die Grundeinheit der ontischen Existenz anders denken zu können - nämlich als Selbstheit, in der die Einsicht einer Selbstständigkeit des Seienden als Fürsichsein mit einem entscheidenden Doppelsinn begabt sei (vgl. ebd., 102f.). „Die Selbstständigkeit des Seienden enthält in sich schon die Bezüglichkeit, und dies nicht in einem leeren logischen Sinne, sondern als die Wesensverfassung des Dinges selbst. Was wir gewöhnlich trennen und auseinanderstellen, ist gerade das paradoxe Gefüge des Dingseins." (Fink 1977a, 105.) So wird das Seiende, als Ding genommen, insofern als ein Paradox gefasst, als es für sich ist, sofern es gerade für ein Anderes ist - und umgekehrt. „Die Prüfung läuft aus in einer Paradoxie: die Selbstgleichheit (die Identität) ist zugleich der Unterschied, d. h. das Verhalten zu Anderem, - das Eins ist zugleich das Viele, das Bestimmte ist zugleich diese vordergründige, eindimensionale, statische Betrachtungsweise, welche der Wahrnehmung eigen ist" (ebd., 114f.). 23 „Im Bau des Dinges meldet sich die noch unbegreifliche Gegenspannung von essentia und existentia, von Was-sein und Dass-sein. [...] Das Ding ist Widerspruch." (Fink 1977a, 101f.) Anna Luiza Coli das Allgemeine." (Ebd., 106.) Allein die Bestimmung des Seins des Seienden als Kraft ermöglicht das Bedenken des Seins in seiner grundlegenden und wesentlichen Zwietracht, also nicht mehr ausgehend von der tautologischen und einträchtigen Identität, sondern von der in sich die zwiespältige Bestimmung des Fürsich- und Füreinanderseins erschließenden Selbstheit. „Die Kraft hat den Grundriss der Entfaltung des Einen ins Viele, des Sichdarstellens in der Äußerung, des Insichbleibens im Außersichgehen, - und des Zusammenspiels von Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit." (Ebd., 123.) In diesem Sinne ist die Kraft nicht nur der entscheidende Grundbegriff des Verstandes, sondern, noch radikaler: „[J]egliches Seiende [...] ist, sofern es ist, Kraft. Kraft ist die metaphysische Grundbestimmung des Seienden." (Ebd., 117.) Die Kraft enthält den Grundriss der Entfaltung des Insichbleibens im Außersichgehen des Dings, indem sie in sich selbst ihre Äußerung ist bzw. Kraft ist, indem sie sich auslässt. Das Beisichbleiben der Kraft ist ebenso und zugleich ihr Außersichgehen. Das bedeutet aber auch, dass Kraft immer schon auf etwas angewiesen ist, woran sie ihre Kraft auslassen kann. Die Äußerung der Kraft braucht einen Widerpart, an dem sie sich äußern kann. In diesem Sinne ist 251 Kraft kein Selbstständiges, sondern immer schon „auf ein Widerständiges bezogen" (Fink 1997, 118). Gerade weil der von Hegel vollzogene Übergang zum Selbstbewusstsein jene Wendung zur übersinnlichen Welt mit sich bringt, in der sich Hegels ontologische Reflexion von der Frage nach dem Seiendsein des Seienden entferne, sucht Fink an diesem „Kreuzweg"24 in Hegels Denken die geeigneten seinsbegrifflichen Elemente, um die von Nietzsche angekündigte neue Erfahrung des Seins - das, was er „Ontologie des Werdens" nennt (Fink 2011, 31) - begrifflich zu erfassen. Im Folgenden werde ich diese Elemente anhand des roten Fadens, der sich durch Finks Interpretation des Abschnitts A zieht, also die auf das „Bewusstsein" bezogenen Kapitel I, II und III der Phänomenologie des Geistes, genauer betrachten. 24 Dieses Moment meint nach Fink „den Kreuzweg in Hegels Denken selbst" (Fink 1977a, 108) insofern, als die Umwandlung der Bewusstseinserfahrung selbst eine Umwandlung in der Frage nach dem Sein des Seienden und damit in der Auffassung des Seins selbst einschließt. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 6. Erfahrung des Bewusstseins (Hegel) und ontologische Erfahrung (Fink) Wenn Fink, wie einleitend angedeutet, in der ontologischen Problematik den roten Faden für eine Zurückstellung der phänomenologischen Forschung in die Philosophie erkennt, dann gilt es zu verstehen, wie in seinem philosophischen Projekt die begriffliche Ausarbeitung einer ursprünglicheren ontologischen Erfahrung mit einer neuen Bedeutung des phänomenologischen Mottos „Zu den Sachen selbst" und zugleich mit der Suche nach dem bislang unthematisierten Sinn des Phänomenbegriffs verbunden wird. In Sein, Wahrheit, Welt (1970) zieht Fink eine offensichtliche Parallele zwischen dem Vorgang, welcher im Zusammenhang seiner Auslegung von Hegels Phänomenologie des Geistes als „Erfahrung des Bewusstseins" verstanden wurde, und der Wissenschaft im Sinne des Strebens nach sophia, die nach Aristoteles die eigentümliche philosophische episteme ausmacht (Fink 1956/57, 216).25 Diese episteme müsse sich jedoch von den unmittelbar 252 gegebenen Dingen aus als ein „Vorgriff" erweisen, den der Mensch in seinem alltäglichen und un-philosophischen Leben insofern ausübt, als er immer schon im Licht des Seins existiert. „Im Licht des Seins-Verstehens erblicken wir die Dinge und sagen von ihnen, dass sie sind, so und so beschaffen sind usw." (Ebd., 266.) Und obwohl das Verstehen von „Sein" unumgänglich zu jedem inmitten des Seienden existierenden Menschen gehöre, sei doch das Sein ihm niemals unmittelbar zugänglich, „gerade weil es uns viel näher ist und uns inniger berührt als jemals die Dinge. Sofern wir selber sind, sind wir auch schon im Sein." (Ebd., 270.) Das bedeutet, so Fink, dass das Sein einer dieser Begriffe ist, die in unserer verstehenden Begegnung mit dem Seienden zwingend vorausgesetzt und verbraucht werden. In diesem Sinne ist Sein eben ein „operativer Begriff", dessen Verwendung seiner ausdrücklichen Thematisierung insofern vorausgeht, als wir nicht-philosophisch immer 25 Diese Parallele taucht dort auf, wo Fink sich zusammen mit Aristoteles fragt, wen man einen Weisen, einen sophos nennen soll - und antwortet: „Weise wird genannt, wer alles weiß." (Fink 1956/57, 11.) Er erklärt jedoch weiter, dass „alles" hier „das All, worin Einzeldinge sind, entstehen und vergehen", meine, das heißt „ein Wissen vom Seienden im ganzen" (ebd.). Anna Luiza Coli schon von einer Ahnung dessen ausgehen, was es für ein Ding bedeutet, dass es „ist". Das Sein - wie auch sonst alle „urlichtenden Begriffe" - besagt folglich das Nichtgedachte, gerade weil es das Medium des Denkens selber ist.26 Mit anderen Worten operieren wir schon innerhalb einer Seinsahnung, d. h. jener „dämmerhaft vorerhellte[n]" Ahnung von Sein, die unserem Geiste apriori einwohnt (Fink 1956/57, 249). Die Aufgabe der Philosophie besteht folglich darin, sie explizit zu machen bzw. in Bewegung zu setzen, um diesen stillstehenden und unbewegten Vorgriff auf das Sein in ein bewegtes Seinsverständnis zu übersetzen. „Erst im eigentlichen und ausdrücklichen Philosophieren kommt das ganze Gefüge der apriorischen Seinsgedanken wieder in Bewegung, werden ,Grundbegriffe' freigesetzt, werden die uralten, aber immer neu zu denkenden Gedanken wirklich gedacht." (Ebd., 221.) Die Philosophie, die sich als ein Streben nach episteme, nach Seinswissen versteht, zielt nicht auf die bloße „begriffliche Fixierung einer schon vordem bestehenden Offenbarkeit von ,Sein'", sondern versteht sich eher als „Bewegung des menschlichen Seinsverständnisses" (ebd.). Und allein als Bewegung, als die die Form eines Denkweges annehmende Erfahrung (Fink 1977a, 112), 253 kann sich die philosophische Forschung als ontologische Erfahrung begreifen. Der sich hier als ontologischer Entwurf (Fink 1976, 134) anbahnende Weg des philosophischen Wissens bzw. der Philosophie ist also der Weg der Vermittlung des Seinsverständnisses selbst, das als die unthematisierte und unbedachte Seinsahnung unmittelbar wirksam ist, so dass sich die wachsende Erfahrung des Seins, das sich allein im Seiendsein offenbart,27 als die Vermittlung des stillstehenden Seinsbegriffes selbst erweist. Wie Fink behauptet: „Die Philosophie denkt das Sein, sofern sie die fundamentalen Begriffe entwirft, 26 Es ist in diesem Fall hilfreich, die Denk-Voraussetzung der unmittelbaren Seinsahnung mit Finks Argumentation in „Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie" bezüglich jener Begriffe zu vergleichen, die „in der Bildung der thematischen Begriffe" gebraucht werden. „Das so umgängig Verbrauchte, Durchdachte, aber nicht eigens Bedachte eines philosophierenden Denkens nennen wir die operativen Begriffe." (Fink 1976, 186.) 27 „Wir stehen in seinem Licht, aber blicken nicht eigens auf dieses Licht" - d. h. „von ,Sein' reden wir, wenn wir die Dinge seiend nennen; wir sprechen dabei nicht über das Sein, sondern über Seiendes. Sein als solches ist unausdrücklich mitgesagt." (Fink 1956/57, 75.) Phainomena 31 | 122-123 | 2022 die fortan das Gerüst der Welt bilden: sie ist Entwurf der ontologischen Grundgedanken." (Ebd.)28 Gerade weil die Philosophie den unmittelbarsten Begriff des Seins in Bewegung und infrage setzen soll, ist sie die Vermittlung des Seinsbegriffs. Sie entspricht folglich dem Erfahrungsweg des Denkens, in dem das Philosophieren und die philosophische Forschung, die sich „den Sachen selbst" und der Dingheit des Dinges bzw. dem Phänomenbegriff zuwenden soll, selbst besteht. „Es ist die eigentliche Grunderfahrung der Hegelschen Philosophie: das Sein ist Begriff." (Fink 1977a, 126.) Erst wenn der Gedanke das Stillstehen der Selbstheit der Dinge in Bewegung bringt, öffnet sich für die Philosophie das spekulative Reich der „Sachen selbst" (vgl. ebd., 230). Diese „mächtigste Triebkraft des menschlichen Geistes" (Fink 1994, 196), die „Seinsahnung" in Bewegung zu versetzen, sei die innere Macht des Begriffs. „Ahnung steht nicht am Ende, sondern am Anfang des Begriffs. Die Ahnung fordert den Begriff, sie ist nur echt, wenn sie auf den Begriff zuläuft, in ihm sagt, was sie dunkel meint." (Ebd.) So soll auch die Philosophie nicht als ein Denken über Dinge, sondern als ein „Ausdenken des Dingseins" 254 (ebd., 197) verstanden werden, welches sie in einer ahnungshaften Offenheit entwerfe. Mit dem Anspruch, die Art und Weise zu verstehen, in der die ontologische Erfahrung das Ausdenken des Dingseins als Vermittlung des Seinsbegriffs aus der Erfahrung des Seins des Seienden im Ganzen besagt, ist es unerlässlich, die Hauptelemente einer solchen „Ontologie des Werdens", die Fink schon bei Nietzsche erkennt, nun gleichfalls bei Hegel zu finden. Die Struktur einer solchen Ontologie wird in Finks Deutung von Hegels Phänomenologie des Geistes genauer dargelegt, und zwar in der übergängigen Erfahrung des Bewusstseins von der Wahrnehmung zum Verstehen (Kapitel II und III). In Anbetracht von Finks Ablehnung des allerletzten Schrittes29 lassen sich die mit Hegel unternommenen Schritte Finks ausgehend von der tertiären 28 Gleich im Anschluss heißt es: „Auch in der Gedankenlosigkeit' unseres Alltags haben wir Seinsbegriffe (und nicht nur Begriffe von seienden Dingen); aber sie stehen unbewegt, sind eine stillstehende Erbschaft einer früheren, nun aber im Trivialen auslaufenden Philosophie." 29 Gemeint ist Finks Ablehnung des Übergangs des Erfahrungsfeldes des Bewusstseins (Abschnitt A) zu dem des Selbstbewusstseins (ab Abschnitt B). Anna Luiza Coli Struktur darstellen, die die Bewegung der Vermittlung im Verhältnis zu dem, was vermittelt wird, sowie zu dem Medium, in dem die Vermittlung selbst stattfindet, ausmacht. Die Vermittlung als Erfahrung bzw. als Seinswissen (a), die sich im absoluten Medium der Erscheinung (b) vollzieht, eröffnet uns die Möglichkeit einer Erfahrung des Seins als absolut, das heißt als im Erscheinen zum Vorschein kommendes Sein (c).30 6.1. Wissen ist Vermittlung Das als Erfahrung bzw. als Streben nach episteme verstandene Seinswissen des Menschen ist kein Mittel, sondern eine Vermittlung: eben „das Mittelnde aller Mittel" (Fink 1977b, 75). Die hier zu destruierende Voraussetzung liegt bekanntlich in der verborgenen Annahme einer Getrenntheit von Sein und Wissen, so als sei das Wissen ein Mittel, durch welches man des Seins des Seienden habhaft werden könnte. Auf die sich daran anschließende Frage: „Was genau vermittelt das Wissen?", lässt sich antworten: Das Wissen vermittelt das Sein selbst, da das Sein zwar vorausgesetzt, jedoch nicht un- 255 mittelbar fassbar ist. So ist der Seinsbegriff gleichsam immer „in Arbeit" - und in gleicher Weise fällt das Seinswissen mit demjenigen Weg zusammen, der die Arbeit des Seinsbegriffs charakterisiert. Die Erfahrung des Seins setzt also den Grundbegriff des Seins in Bewegung, und dadurch, dass sich die unmittelbare Ahnung ent-faltet, wird das Seinsverständnis allererst auf den Weg gebracht. „Im Raume der Seinsahnung vollzieht sich die Bewegung der ontologischen Begriffe." (Fink 1956/57, 221.) 6.2. Erscheinung als Medium der Seinserfahrung Um das Sein des Seienden zu erfahren, fangen wir immer mit dem Seiendsein an, welches schon auf jenes erste und ursprüngliche Allgemeine hinweist, das uns in Form der Wahrnehmung begegnet.31 In der Tat können 30 Dies wird paradigmatisch im Werk „Sein, Wahrheit, Welt" (Fink 1956/57) durchgeführt. 31 Fink folgt hier Hegels Argumentation, indem die Wahrnehmung das, was für die unmittelbare Gewissheit als das Seiende gilt, eben als Allgemeines nimmt (vgl. Hegel 2006, 71f. und Fink 1977a, 89f.). Phainomena 31 | 122-123 | 2022 wir die sinnlichen Dinge nicht als solche erfahren, da sie sich in ständiger Veränderung befinden. Erst in der allgemeinen Wahrnehmung stellen wir uns die sinnlich erfahrenen Dinge vor. Anders gesagt: Wir nehmen nicht das Sein, sondern immer schon das Seiende wahr. Durch die Wahrnehmung des Seienden öffnet sich für uns aber die Möglichkeit, das Sein durch das Seiende zu vermitteln. Und hier taucht das Problem des Erscheinens auf: Das Erscheinen von Seiendem ist eine besondere Weise, wie uns das Sein selbst begegnet. Im Erscheinen von Seiendem geschieht ursprünglicher ein Erscheinen von Sein (Fink 1956/57, 270f.). Die Frage nach dem Erscheinungsprozess des Seins ist laut Fink in der abendländischen Philosophie insofern allmählich verloren gegangen, als „das ,Ansichsein' von Seiendem in betontem Gegensatz zu seinem .Erscheinen' für den vernehmenden Menschen gesetzt" (ebd., 275) wurde.32 Da die Dinge an sich nicht erscheinen, haben wir keine Kenntnis von ihnen. Umgekehrt gilt traditionell das, was erscheint, als Verstellung des Seins.33 Auf diese Weise geriet die Erkenntnis des Menschen in eine Sackgasse, in der sich die Dinge, 256 wie sie an sich sind, der Erkenntnis verweigern, und wo der Mensch folglich auf die phänomenale Erscheinung der Dinge beschränkt und angewiesen bleibt. Die überlieferte Ontologie hat daher, so Fink, das Wesen in strengem Gegensatz zum Erscheinen gedacht, insofern sie diese beiden Aspekte ein und 32 Um bei Hegel eine in die radikale Gestalt der Seinsfrage mündende Ontologie des Werdens zu erkennen, wendet sich Fink Hegels Kant-Kritik zu und seinem Versuch, im Blick auf den Gegensatz von Ding an sich und Erscheinung „über Kant hinauszugehen" (Fink 1977a, 145).Während Kant mit dem Begriff des Dinges an sich eher eine Grenzsituation entwerfe, die den Bereich möglicher Erkenntnis der phainomena von den noumena, dem Ding an sich, kritisch abgrenzt, gehe es Hegel nicht um die Seinsstrukturen des gegenständlich erscheinenden Seienden, sondern um eine Ontologie, die das Seiende sowohl als Erscheinung als auch als Ding an sich begreift, da das Seiende als Kraft gedacht wird. 33 Die Sperrung jeglichen Zugriffs auf das „Ding-an-sich" als Strategie der Kritik einer Vernunft, die den Anspruch erhebt, rein zu sein (Kant), liegt der Kritik der dogmatischen Identität und ebenso der Kant'schen Erkenntnistheorie zugrunde, die Hegel in der Enzyklopädie paradigmatisch formuliert (Hegel 1986). Fink spielt diese Debatte nach, um die Forderung nach einem spekulativen Denken über das Sein und die Ontologie zurückzustellen, das den Kant'schen (und weitgehend „neuzeitlichen", vgl. Fink 1951) Dogmatismus und die Sperrung des „Ansich" thematisieren und problematisieren würde. Anna Luiza Coli desselben Dinges als sich gegenseitig ausschließende Gegensätze behandelte (Fink 1951; 1956/57). Genau diesem im Erkenntnisprinzip umgesetzten Gegensatz zwischen Wesen und Erscheinen, Innerem und Äußerem steht, so Fink, Hegels Seinsauffassung des Dinges als Kraft gegenüber. Die Kraft ist ihre Äußerung bzw. die Kraft ist, indem sie sich auslässt. „Es ist das Wesen der Kraft, sich zu äußern, sich darzustellen, und es ist das eigentümliche Wesen des Seienden, für sich' zu sein und in eins damit für ein Anderes' zu sein." (Fink 1977a, 146.) Insofern das Seiende als Kraft gedacht wird, wird auch die für die Kraft konstitutive Struktur des „Gegenspiels von Kräften" (ebd., 143) auf die Struktur des Seins in Bezug auf Erscheinung und Ding an sich übertragen. Das Fürsich-sein des Seienden steht nicht hinter seinem Für-ein-Anderes-sein, sondern äußert sich in ihm. So denkt der Verstand „das Ding an sich als das wahre Wesen der Erscheinung" (ebd.). Ausgehend von einem Ausschnitt seiner vielschichtigen und hier nur thesenhaft dargelegten Interpretation von Hegels Phänomenologie des Geistes schlägt Fink eine alternative Deutung für denjenigen Übergang zur „übersinnlichen Welt" vor, den Hegel in Form des Übergangs zum 257 Selbstbewusstsein und damit zu einer radikalen Loslösung vom Denken über das Seiendsein des Seienden vollzieht. Fink denkt hier eine solche übersinnliche Welt - was er in diesem Zusammenhang ebenso „die wahre Welt" (Fink 1977a, 142f.) nennt34 - nicht als Loslösung, sondern eher als eine noch radikalere Annäherung an das Sein des Seienden, insofern er die Erscheinung des Seienden in der Welt (bzw. im Ganzen) als sein Zum-Vorschein-Kommen in jenes „,Offene'" auslegt, „in dessen Helle jegliches, was ist, Umriss und erblickbare Gestalt hat" (Fink 1956/57, 286). [D]ie Erscheinung ist die Äußerung der Kraft des Seins; die übersinnliche Welt muss also begriffen werden als die Kraft, die in die Erscheinung hineinwirkt; damit kommt Hegel zu einem zweiten 34 Der Hinweis auf das „Wahre" ist hier nicht zufällig, sondern steht im Einklang mit der umfassenderen Betrachtung derjenigen Begriffe, die Fink „Transcendentalien" (oder auch „urlichtende Begriffe") nennt. Sein, Wahrheit und Welt sind Begriffe, die „alle obersten sachhaltigen Allgemeinbegriffe transcendieren" (Fink 1994, 117). Dazu Coli 2022a. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 Begriff von übersinnlicher Welt: sie ist das Gesetz der Erscheinung. Der unaufhörliche Wechsel, in welchem die sinnlichen Dinge kommen und gehen, sich verdrängen und verdrängt werden, der ganze Fluss des Wandelbaren und in Gegensätze Aufgespaltenen wird durchherrscht von einem unwandelbaren Gesetz; die Seinsstrukturen des Seienden (die Ideen, Kategorien) sind der „ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht", sind eine stille, wandellose Welt über dem brodelnden Gewoge, sind eine Welt des stehenden „Seins" über der vom Wechsel gejagten Welt des „Werdens". (Fink 1977a, 147.) Die durch den Verstand eröffnete übersinnliche Welt entspricht dem „Gesetz der Erscheinung" insofern, als sie die Bedingungen der Vermittlung des Seienden einführt, d. h. insofern, als in ihr das unmittelbar gegebene Seiende der Vermittlung durch einen Anderen, der ihm begegnet und es erfährt, zugänglich und gegenständlich wird. Durch die Vermittlung des unmittelbar erscheinenden Seienden - was Fink auch „Anschein" bzw. das 258 „Aussehen von Seiendem für uns" oder „das im menschlichen Vorstellen scheinende Seiende" (Fink 1956/57, 285) nennt - durch den ontologischen Entwurf, in dem die Frage nach dem Seiendsein des Seienden gestellt wird, entdeckt der Verstand jene widersprüchliche Natur der Selbstheit und begreift dadurch das Seiende als Kraft bzw. als Gegenspiel von Kräften. Auf diese Weise tritt das Denken in das Feld des Ausdenkens des Seins (der „ontologischen Erfahrung") ein, wodurch es den Seinsbegriff - und damit das Seinsverständnis - in Bewegung setzt. Die Vermittlung des unmittelbaren Anscheins des Seienden in der ebenso unmittelbaren sinnlichen Welt leitet der Weg der vermittelnden Erfahrung ein, durch den das Denken in die übersinnliche Welt gelangt. In der so verstandenen übersinnlichen Welt weicht die unmittelbare Erscheinung des Seienden einer vermittelten und „wahren", die nicht dem Anschein als „Vorgestelltsein" (ebd.) des Seienden entspricht, sondern dem „Vorschein", wobei sich das Erscheinen als „Bewegung" verstehen lässt: „Die Dinge selber vollziehen die Bewegung des Erscheinens, [...] sie gehen auf ins Offene, kommen heraus aus einer dunklen Verborgenheit" (Fink 1956/57, 287) ins Offene der „wahren Welt", in der sich das Fürsich in das Für-ein-Anderes-sein entäußert. Anna Luiza Coli „Vorschein" besagt hier also laut Fink das Zur-Erscheinung-Kommen (also die Erscheinung) des Seienden, sofern dieses sich als Bewegung, d. h. als Gegenspiel der Kräfte äußert.35 In diesem Modus der vermittelten Erfahrung des Seins des Seienden, die durch die Vermittlung seines eigenen Erscheinens in der Welt erfolgt, kann also das Sein des Seienden insofern erfahren werden, als man „im Vorschein [...] eine Eigenbewegung von Dingen [denkt], einen ihnen selbst angehörigen Seinsvollzug" (Fink 1956/57, 115). Mit anderen Worten, das Sein kommt zum Vorschein im Erscheinen des Seienden: „Das Seiende scheint an ihm selbst, - das Erscheinen ist nicht von ihm abzutrennen oder abzuziehen, es macht vielmehr gerade wesentlich sein Sein mit aus." (Ebd., 103.) In diesem Modus der vermittelnden Erfahrung des Seins des Seienden, die durch die Vermittlung seines Erscheinens in der Welt erfolgt, kann das Sein selbst in jener wahren, übersinnlichen Welt erfahren werden. Demnach fungiert das Erscheinen des Seienden als die „Brücke", die die „Vermittlung der wahren Welt für den Verstand" vollzieht und die „beide [Erscheinung und Verstand] zusammen [bindet]" (Fink 1977a, 143). Das Erscheinen gilt also als das universale Medium, durch 259 welches wir seiende Dinge im weitesten Sinne haben, und letztlich als das „alldurchwaltende Medium, worin alle Bezüge des Seienden untereinander und auch zwischen den Dingen und dem Menschen spielen, - es ist der Spielraum aller Bezüge überhaupt" (Fink 1956/57, 118). Daraus ergibt sich, dass das Seiende nicht als das unmittelbare Seiende der Wahrnehmung zum Vorschein kommt, sondern als „absolut vermitteltes" (ebd., 122). Der Weg, der die Seinserfahrung durchläuft, in welcher sich das Sein im Vorschein des Seienden zu erkennen gibt, entspricht für Fink der philosophischen Erfahrung schlechthin, die den Begriff des Seins in Bewegung setzt. Eben dies nennt er ontologische Erfahrung -, insofern es der Erfahrung des Seins 35 Der entscheidende Unterschied zwischen „Anschein" und „Vorschein" wird im Zusammenhang der „Vor-Fragen zum Problem des Phänomen-Begriffs" - also der Erscheinung - thematisiert, nachzulesen bei Fink 1956/57, 279ff., im 8. Kapitel „Erscheinen als Anschein und als Vorschein", wo es heißt: „Sofern Seiendes zum Vorschein kommt, stellt es sich immer auch dar, - hat es nicht bloß ein selbstbezogenes, sondern auch ein sich darbietendes Sein: ist es in sich, indem es gerade zugleich für anderes Seiendes ist." (Ebd., 279.) Phainomena 31 | 122-123 | 2022 im Ganzen der Welt als das Wahre entspricht: „Jedes Seiende - vom Vorschein her gedacht - ist ein Wahres: omne ens est verum." (Ebd., 115.) 7. Die Rückkehr zu den Sachen selbst Bei Hegel sucht Fink nach den begrifflichen Mitteln, um das in der Welt Seiende seinsbegrifflich als Werden zu fassen. Bei ihm findet er den Weg, die Selbstheit als den elementarsten Anteil aller ontischen Existenz zu denken, der im Gegensatz zur Identität mit ihrer ontologischen Last der tautologischen Einheit, die sie als „Sichselbstgleichheit" bejaht, eher die spekulative Spannung einer essentiellen Zweiheit in sich trägt, die aller seienden Existenz zwangsläufig vorausgeht. Das Seiende und die Dingheit des Dinges als Selbstheit aufzufassen, eröffne uns die Möglichkeit, jedes Seiende als Bewegung bzw. als Werden zu erkennen. Eben hier liegt für Fink die „Nahtstelle" zwischen Nietzsches kosmischer Intuition einer neuen Seinserfahrung und Hegels Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins durch den Gang durch ihre Gestalten: sinnliche 260 Gewissheit - Wahrnehmung - Verstand. Eine Ontologie des Werdens zu erdenken bedeutet also, das Seiende in Bewegung und als Bewegung - aber diese zugleich als das für jedes Seiende bestimmende und grundlegende Kraftfeld - zu denken. Finks Absicht, sich das phänomenologische Motto „Zurück zu den Sachen selbst" anzueignen, scheint hier eine ganz neue, andere Bedeutung zu erhalten als die, die Husserl (vgl. 1976) ihm gab: Es geht offensichtlich nicht um jenes Phänomen, das auf das menschliche Vorstellen als intentionales Korrelat eines subjektiven Systems bezogen bleibt (Fink 1976, 196). Vielmehr geht es darum, dass die Möglichkeit des menschlichen Zugangs zum Seienden „durch das Selbsterscheinen des Dinges vermittelt" wird (ebd.). Das Losungswort „Zu den Sachen selbst" setzt also das vermittelte Selbsterscheinen des Seienden, wodurch das Erscheinen von Seiendem als sein Von-sich-selbst-her-Aufgehen gefasst wird. Es gehört zum Philosophieren als ontologischer Erfahrung, das „Aufgehen" des Seienden in Form seines „Erscheinens" zu erfahren (Fink 1956/57, 115). Das „Zurück zu den Sachen selbst" ist also das Motto einer Forderung, die die Phänomenologie in die Philosophie zurückholt, indem sie sich wagemutig der Aufgabe stellt, die Frage nach jenen großen Selbstverständlichkeiten aufzuwerfen, Anna Luiza Coli die die Phänomenologie unbedenklich „verbraucht" (Fink 1976, 186). So erwiese sich das Philosophieren als der Denkweg jener ursprünglichen Erfahrung, durch die das Sein zum Vorschein im Erscheinen des Seienden im Ganzen kommt. 8. Schlussbemerkung Die Grenzen eines Aufsatzes machen es erforderlich, die Diskussion über die Nähe und die Distanz, die dieser ontologische Weg zur Philosophie Heideggers birgt, einer anderen Gelegenheit zu überlassen. Und doch erlaubt uns der bisher eingeschlagene Weg, zu erahnen, dass die der Husserl'schen Phänomenologie gestellte ontologische Herausforderung die Attribute eines eigenständigen und originellen Vorhabens erhält. Dies wird besonders deutlich unter der Berücksichtigung, dass Finks ontologisches Vorhaben einem metaphysischen Projekt (wenn auch nur auf der Basis einer grundlegenden Kritik) verbunden bleibt. Ganz konkret ging dieser Beitrag von der Feststellung einer Beschränkung innerhalb der Phänomenologie Husserls in Bezug auf die Ontologie aus, 261 um dann über den Ansatz einer Ontologie des Werdens bei Nietzsche und seine Kritik an der metaphysischen Tradition zu der seinsbegrifflichen Formulierung des Begriffs der ontologischen Erfahrung bei Hegel zu gelangen. Diese Andeutung von Finks ontologischem Weg dient als Hinweis auf den Kern der Streitfrage, die seine Auseinandersetzung mit Husserl von Anbeginn an prägt, nämlich die „Zurückstellung der phänomenologischen Forschung in die Philosophie (meine Forderung!)" (Fink 2023b, 200). Versteht man unter Philosophie das ständige und spekulative In-Bewegung-Setzen der fundamentalen und operativen Begriffe, darf die Phänomenologie also nicht von der ontologischen Frage absehen, ohne sich zugleich dem zu entziehen, was das philosophische Denken wesentlich kennzeichnet. Bibliographie | Bibliografija Bertolini, Simona. 2015. „Einige Bemerkungen über Finks Interpretation der Phänomenologie des Geistes und Hegels Einfluss auf die Weltphilosophie." Horizon. Studies in Phenomenology 4 (2): 203-217. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 Biemel, Walter. 1985. „Zum Abschluß des Fink-Symposions." In Eugen Fink-Symposion, hrsg. von Ferdinand Graf, 111-115. Freiburg. Barbarie, Damir. 2020. „Hegel als Janus-Figur. Zu Eugen Finks Hegelinterpretation." Annuario Filosofico 36: 146-167. Bruzina, Ronald. 2004. Edmund Husserl and Eugen Fink: Beginnings and Ends in Phenomenology 1928-1938. New Haven: Yale University Press. Cairns, Dorion. 1976. Conversations with Husserl and Fink. 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