DAS REICH DER ZAREN UND DUO RÜSSEN VON ANATOL El 1MROY - BEAULIEU. AUTORISIRTE DEUTSCHE, MIT SUHLUSSBEMERKUNGEN VERSEHENE AUSGABE BAND II. ZWEITE AUFLAGE. SONDERKHAUSEN. VERLAG von FR. AUG. EITEL (OTTO KIRCHHOFE). 1887. d(ks zweiten Bandes. Ersten Jiuch. Die Gemeinde und die Selbstverwaltung der Bauern. Erstes Kapitel. Alter der russischen (icineinde. — 8ie ist die einzige, wirklieh nationale Institution. — Die Art der Verwaltung ist aus der Art de» Bodenbesitzes hervorgegangen. — Der Emancipationserlass hat bei Frei-gehung der Bauergcineinden den frühem Herrn ausserhalb derselben belassen. — Die geschlossene Gemeinde und ihre beiden Stufen, die Gbseht sehest wo und die Wolost. — Worin Familie, Gemeinde und Staat nach gleichem Typus gebildet sind, worin sie sich unterscheiden. — Die Landgemeinde und die kaiserliche Autokratie . . Zweites Kapitel. Die Gemeindeheamlen. — Die Gemeinde von Wahlbeamten verwaltet. — Wie sich die Gemeindeautonomie mit der Autokratie vereinigen lässt. Die Dorfältesten, der Starost und der Starsehina. — Vorsichtsmassregeln gegen ihre Tyrannei. — Ausserordentlicher Einfluss des Fissur "der Gemeindesehreibers in einer gewöhnlich ganz hildiingslosen Umgebung. — Der Volksunterricht wird die Gemeinden von diesem neuen Joch befreien..................... Drittes Kapitel. Die Gemeinde- und die Wolostversammlungen. — Kein gewählter Ausschluss iu den Dorfgemeinden. Die Versammlungen ans Familien-ältesten bestehend. Worin diese patriarchalische Demokratie sich von unsern individualistischen Demokratieen unterscheidet. Vorzüge und Mängel dieser Versammlungen. Ihr Ausschliessungsrecht. .Mangel an Formalitäten und regelrechten Abstimmungen. Von der Gewohnheit bn Mir wie in der alten Wetsche, die Beschlüsse einstimmig zu fassen. - Macht des Mir über seine Glieder. — Abhängigkeit des Individuums w diesen autonomen Gemeinden.............. W6 Viertes Kapitel. Das despotische Prinzip der Gemeinde. •— Die Aufsiehtseomiles der bäuerlichen Angelogen hohen. — Schwierigkeiten und Gefahren der bureau-kratisehen Controle. — Die Autonomie der Gemeinde und die Isolirung der bäuerlichen Classe. — Ihre Wirkungen und ihre Ursachen. — Wie sind die Gutsbesitzer wieder in die Gemeinde einzuführen? — Ist das Belfgovernmenl des Mir eine Vorbildung zur politischen Freiheit?....................... Zweiten Buch. Die Verwaltung, die Bureaukratie und die Polizei. Erstes Kapitel. Die russische Centrahsation. — Ihre physikalischen und historischen Ursachen. Ihre guten und ihre schlimmen Folgen. Wie die administrative Centralisiition die Fortschritte der in Russland importirten europäischen Civilisation hemmt.............. Zweites Kapitel. Die Central Verwaltung. — Die grossen Reichscollegien. — Der dirigirende Senat. — Der Reichsrath. — Warum diese Institutionen den Hoffnungen ihrer Gründer nicht entsprochen haben. — Die Ministerien und das Ministercomite. — Keine Verbindung zwischen den Zweigen der Verwaltung. — Folgen dieses Mangels an administrativer Einheit. — Ist ein homogenes Ministerium hei dem autokratischen Regiment möglich?....................... Drittes Kapitel. Die Frovinzialverwaltung, die Bureaukratie und das Tschinownikthum. — Gouvernements und Kreise. — Der Gouverneur und seine Befugnisse. — Fehler des russischen Tsehinow nikthums. — Wirkungen der Rangliste. — Keine Spezialbildung. — Die Bestechlichkeit und ihre Ursachen. — Inwiefern die Corruption in der Verwaltung den bureau-kratischen Despotismus mildern kann. — Schwierigkeiten der Bureaukratie, sich selbst zu controliren. — Alle angewandten Mittel gegen die Bestechlichkeit sind ungenügend. — Formalismus und Missachtuug der Verordnungen................... Viertes Kapitel. Die Polizei. — Ihre Wichtigkeit in einem absoluten Staate. — Die gewöhnliche Polizei. — Ihre Fehler, ihre Tyrannei. — ({runde ihrer häufigen Ohnmacht. — Die Stadlpolizei und die Dworniks. — Die Landpolizei und die Urädniks. — Der Passzwang. Seine Nachtheile, seine Wirkungslosigkeit................. Fünftes Kapitel. Die Staatspolizei. — Die frühere Dritte Abtheilung der kaiserlichen Kanzlei und ilie Gendarmerie. — Ihr Verfahren und ihre Täuschungen. — Ursachen der Aufhebung der Dritten Abtheilung. — Vereinigung beider Polizeien. — Was Publicum und Individuelle Freiheit dabei gewonnen haben. — Der Zustand des Schutzes unter Alexander III. — Wirkungen der Allmacht der Polizei auf den russischen Charakter. — Wie die Dritte Abtheilung und die geheime Polizei den revolutionären Geist grossgezogeu haben..............114 Drittes Buch. Die locale Selbstverwaltung. Provinzialstände und städtische Behörden. Erstes Kapitel. Wahlversammlungen. — Adelsversammlungen. — Ihre gegenwärtige Bedeutung. — Provinzialstände oder Semstwos, — Ihr Ursprung, ihr Wahlmodus, ihre Zusammensetzung. Wie Bauern und frühere Herren sich in ihnen treffen. — Ihre gegenseitigen Gefühle. — Uebergewicht der Gutsbesitzer. — Provinzen mit Semstwos, Provinzen ohne solche 133 Zweites Kapitel. Befugnisse der Provinzialstände. — Sie sind ausgedehnt und zugleich schlecht begränzt. Wie die Bureaukratie sie benutzt hat, um ihre Macht aufrecht zu erhalten. Warum keine Conflicte der Behörden eintrete]]. — Beschränkungen der Rechte der Semstwos. Ihre Unterwerfung unter das Tschinownikthuni. - Armuth ihrer finanziellen Quellen. — Ihre Leistungen für den Volksunterricht und die Öffentliche Gesundheitspflege .................152 Drittes Kapitel. W'f die Landst ä ude zuerst masslose I loifniingen erregt, dann aber vielfach Enttäuschung verursacht haben. Gründe dieser Enttäuschung. ■— Die locale Selbstverwaltung kann schwerlich ohne politische Freiheiten bestehen. — Haltung der Semstwos während der nihilistischen Krise. — Ungerechtigkeit des gegen sie erregten .Misstraiiens. — Auf welche Weise die Landstände leicht in Generalstände verwandelt werden könnten. — Die von Alexander III. berufenen Experten-commissionen. — Notwendigkeit der Decentralisation. — Kinmüthig-keit der Russen über diesen Punct. — Die locale Selbstverwaltung und die Autokratie...................175 Viertes Kapitel. t>ie St ädte und die Stadtverwaltung. — Einfluss und Gegensatz der beiden Hauptstädte. — Die Ueberführung des Regierungssitzes von Petersburg nach Moskau. — Die Stadtverwaltungen haben eine ganz andre Organisation, als die Landgemeinden. — Gründe dieses Unterschiedes. — Einführung des Geusas in die städtischen Wahlen. — Wähler-< lassen und Verhältnis» der Interessenvertretung. — Resultate dieses Wahlmodus. — Gleichgültigkeit und Enthaltung. — Vorwiegen der Kaufleute in der Verwaltung. — Missbräuche und Bestechlichkeit . 1S7 Fünftes Kapitel. Die städtischen Versammlungen. — Die Duma oder die Stadtverordnetenversammlung; Ocffentliehkoit ihrer Sitzungen. ■— Grosse Zahl der Stadt- verordneten, — Die Uprawa oder der Stadtrath. Versueli einer oollo-gialen Verwaltung. Der Gnlowa oder das Stadtliaupl. Folgen der Wald der Golowas. Stadtverwaltungen und (joiiverneure. — Wurth« schaft liehe Lage der Städte. — Ergebnisse der loealen Selbstverwaltung 2as < iesehworenengericlit. — Seine Zusammensetzung. — Seine Mängel, Lesensunkundige und mittellose Geschworene . . 300 Sechstes Kapitel. Beschränkungen der neuen Gerichtsinstitutionon. — Widersprüche gegen die Principieii der Reform. — Die Unabhängigkeit der Justiz und die Staatspolizei. — (Jründe und Wirkungen dieses Gegensatzes. — Beschränkungen der OeiTcntlichkeit der Verhandlungen. — Klagesachen, die der Jury entzogen worden sind. — Sondergerichtc für politische Verbrecher. — Die Ukase Alexanders II. und die Kriegsgerichte. — Der „Zustand des Schutzes" unter Alexander 111. und die Befugnisse der Regierung. — Was von der Justizreform übrig bleibt .... 321 Siebentes Kapitel. Das Strafrecht und die Körperstrafe. - Wichtigkeit der Körperstrafe in der alten russischen Gesetzgebung. — Knute und Ruthen. — Ihre gesetzliche Abschaffung und die Abweichungen vom Gesetze. — Fortschritte der Sitten in Bezug auf die körperliche Züchtigung. — Wann ist die Todesstrafe abgeschafft? — Inwiefern die Abschaffung der Knute dem Gesetz zu [gute gekommen ist. — Wie die Milde der Strafgesetze zur Ergreifung von Ausnahmsmassregeln beitragen konnte. — Das specielle Strafrecht für Staatsverbrechen und das Auslieferungsrecht. — Resultate der Abschaffung der Todesstrafe.......338 Achtes Kapitel. Die Verschickung und die Zwangsarbeit. — Sibirien und die Ansiedelungen für Verschickte. — Zahl und Lebensweise der Verschickten der verschiedenen Kategorieen. — Sträflinge und politische Verbannte. — Wirkungen der Stralänsiedelung. — Mängel derselben. — Nutzen ihrer Beschränkung. — Ursachen ihres Fortbestandes. — Die Gefängnisse und die Reform des Strafgesetzes. — Charakter des russischen Verbrecherthums.....................35(> Fünftes Buch. Die Presse und die Censur. Erstes Kapitel. Bedeutung der Presse in Russland. Langdauerndes Uebergewicht der literarischen Blätter über die politischen, der Monatsschriften über die Zeitungen. Fntwickelung der Zeitungen unter Alexander II. Vertreter des russischen Journalismus. — Das Pressgesetz. — Die Abschaffung der Präveiiliveeiisur für die Blätter der beiden Hauptstädte und für Bücher. Administrative Strafverfügungen nach dem Muster des zweiten französischen Kaiserreichs. Missstände dieses Systems für die Regierung. Nene Verschärfungsmassregolu gegen die Presse.......................377 Zweites Kapitel. Von den Büchern und Zeitungen, die der Präventivceusur unterliegen. — Die auswärtige Censur. — Der Kaviar des Censors. — Persönliches Erlehniss. - Strenge gegen die inländischen, nichtrussisehen Sprachen. — Die Provinzialpresse. •— Ihre Abhängigkeit. Ein Pressprozess in der Provinz. - Die Knechtschaft der localcn Presse als einer der Gründe für die Erfolglosigkeit der Reformen. — Regierung und Publikum sind mangelhaft berichtet. Folgen des zu Gunsten der l'auptstädtischen Presse eingeführten Monopols ........3!»8 Drittes Kapitel. ^bdhiss des Presswesens auf die russische Literatur und die russische Denkweise. — Paradoxen eines Censors. — Wie sich aus Mangel :"> Freiheit die Politik in die Dichtung und den Roman einschleicht. Tendenzliteratur. — Missstände für die Literatur, Missstände für Solle den öffentlichen Geist. — Wie die Censur den Geschnmck an Neuigkeiten und die Neigung zum Radikalismus fordert. — Geheime Presse und Journale der Emigration. — Nihilistische Druckereien und Organe der revolutionären Comites. — Wirkungslosigkeit der Verordnungen über den Bücherdruck. — Wie das Presssystem zu geheimen Gesellschaften drängt. —Warum die Pressfroihcit in Russland mehr Vortheile und weniger Nachtheile haben würde, als anderswo . 409 Sechstes Utah. Die revolutionäre Agitation und die politischen Reformen. Erstes Kapitel. Warum haben die Reformen scheinbar den Geist der Revolution entwickelt?— Erklärung der Conservativen. — Erklärung der Liberalen. — Russhind im Zwiespalt mit sich selbst und mit dem Ausland. — Classen, aus denen sich die Revolutionäre rekrutiren. — Was die „Intelligenz" zum Radikalismus drängt. — Die Schulen und das Proletariat der Bildung. Die Frage des Volksunterriehts und der Nihilismus. — Abneigung des Volkes gegen die radikalen Theorieen. — Schlimme Erfahrungen der Agitatore und Misserfolg ihrer Propaganda. — Welchen Finthtss der tieist der Revolution auf das Volk gewinnen kann. — Agrarfrage und Socialismus............42*5 Zweites Kapitel. Entwicklung und Organisation der revolutionären Partei. — Wie die Nihilisten im Gefühl ihrer Schwäche zuerst bei einer friedlichen Agitation bleiben wollten. Was sie zum Kriege mit der Regierung getrieben hat. — Die Bildung der Terroristengruppe und der Congress so Upetek. Zerfall der Partei in zwei Fractiouen. — Wie der Nihilismus von der sozialen Frage zu der politischen gelangt ist. — Die Verschwörungen und «las „Exekutivcoinite". — Ihre Actionsnnttel. Ihre Geldquellen. — Irrthümer und Vortheile in diesem Puncto.........44!» Drittes Kapitel. Notwendigkeit politischer Reformen. — Gründe für «leren Dringlichkeit. Für wen ist die Regierung da? — Einwendungen. Die Grösse des Reichs und die Mannigfaltigkeit der Raccn und der Nationalitäten.— Centralisation und Föderalismus. — Die geringe Entwicklung der Volksmassen und der Unterschied der Stände, der Bildungsstufen, der Ziele.......................468 Viertes Kapitel. Die Form der politischen Freiheiten. Kann Russland in dieser Beziehung nationale Institutionen haben? — Hindernisse der Nachahmung und Hindernisse der Eigenart. Die Voraussetzungen des Problems und die I lauptlösungen, die vorgeschlagen sind. — Die „Consulta" Alexanders II. - Wachsende Gefahren des Status ipio. — Allgemeine Schlussfolgerung..............., . . . . 485 Erstes Buch. Die Gemeinde und die Selbstverwaltung der Bauern. Erstes Kapitel. Alter der russischen Gemeinde. Sie ist die einzige, wirklich nationale In--titutioii. — Die Form der Verwaltung ist aus der Form des Bodenbesitzes hervorgegangen. — Der Emancipationserlass hat bei Freigebung der Bauergemeinden den frühern Herrn ausserhalb derselben belassen. — Die geschlossene Gemeinde "ad ihre beiden Stuten, die Obschtschestwo und dieWolost. Worin Familie, Gemeinde und Staat nach gleichem Typus gebildet sind, worin sie sich unterscheiden. - Dif Landgemeinde und die kaiserliche Autokratie. Die bescheidenste Freiheit, die aller andern Freiheiten Grundlage S|,i" zu müssen scheint, die Freiheit der Gemeinde, ist gerade am schwersten zu schaffen. Tocqueville hat es ausgesprochen.: Die Schwierigkeit, die fjnabhängigkeii der Gemeinden zu begründen, nimmt nicht ab in dem Müsse, als die Völker zur Aufklärung gelangen, sie Ui>'bsi vielmehr mit der zunehmenden Aufklärung1). Die communale Freiheil ist vielleicht Oberhaupt nicht künstlich geschaffen; sie entsteht gewissermassen selbst und wächst unbemerkt heran, ohne den Antrieb '•''r Gesetzgebung; aus dem Alterthum, aus halbharbarisehen Ge-s,'lls(dial'tsz.tiständen bat sie die Mehrzahl der eivilisirten Völker überkommen, die sie noch besitzen. Dank 'lern Gemeindebesitz and der Genossenschaft haben die Dörfer Russlands sich in ihrem Mir das Herkommen der Selbstverwaltung und Selbstregierung erhalten. Die ') Tocqueville, Lfl Democratie en Amerit|ue, II. I. Systeme eommunal. iy - I! | it Ii I i c ii , Iti'icli il. Z.niMi n. il. Kulten. II. IM. 1 moskmvitischcn Bauern hallen diese erste Freiheit sich bewahrt, der freiere Völker oft ermangeln. Wie jene Tempel des alten Aegyptens unter Wüstensand und Nilsehlamm jahrhundertelang unberührt dalagen, so bat sich die russische Gemeinde, begraben unter Autokratie und Leibeigenschaft, um so besser zu schützen vermocht, je mehr sie den Blicken und Eingriffen der Menschen verborgen blieb. In dem Alter des Mir liegt seine Eigenart. laue Seltenheit in Russland: die Verfassung der Gemeinde ist russisch, durchaus russisch und national. Sie ist nicht, wie so viele Institutionen des Reiches Copi.....ler Nachahmung des Auslands, wenn sich auch im Auslande in der Zeit des Mittelalters viele Analogieen zu ihr linden lassen. Die Gemeinde ist entstanden und erwachsen auf ihrem eigenen Hoden: sie ist neben der Autokratie, im eigentlichsten Sinne die einzige eingeborene Institution, die einzige lebende Ueborliefbrung des russischen Volkes. Sie ist keineswegs ein einfaches Räderwerk in der Verwaltungsmaschine, sondern älter als jede durch kaiserliche l'kase geschaffene Verwaltung. Aus diesem Grunde muss sie vor der Central-uinI Provincialverwaltung Gegenstand der Untersuchung sein. Die russische Gemeinde stammt ganz und gar aus der noch heute bei dem Hauer üblichen Bodengemeinschaft; (Iii1 Form der Verwaltung ist grossentbeils nur eine Folge der Form des Besitzes1). Der Gemeindebesitz und die solidarische Steuerhaft knüpfen zwischen den Bewohnern eines Dorfes, den Mitbesitzern des Hudens viel engere Hände, als sie bei uns auf dem Lande bestehen. Dhter diesem System bildet die Gemeinde eine Familie oder einen Clan, eine Genossenschaft wie einen administrativen Bezirk. Sie besitzt naturgemäss einen weit grössern Kreis der Thätigkeil. eine weil ausgedehntere Hechtshefugniss. als im Westen, sie nimmt im Leben der Menschen eine ganz andre Stellung ein und beeinflussl deren Interessen, deren Wohl und Wehe weit tieler. Diese russische Gemeinde ist nicht auf gesetzgeberischem Wege errichtet, sie ist jeder Gesetzgebung vorangegangen, das Gesetz bat nur ihr Bestehen anzuerkennen und zu verzeichnen gehabt. Die Centralgewall bat sie ihren Anordnungen unterwerfen wollen, aber thatsäi blieb bleibt sie linier der Herrschaft des Herkommens und in den archaistischen Formen ihres eigenen und selbstbedingenden Lebens bestehen. A.elter als die Leibeigenschaft, hat die Gemeinde derselben Widerstand geleistet und sie aberlebt; Dank ihrem wirthschaftlichen Grundwesen hat sie die dreihundertjährige Knechtschaft des Hauern ») Siehe hierüber Bd. 1, Buch VI IL überstanden. Die Leibeigenschaft wurde dein Mir auferlegt, ohne ihn zu zerstören: doch Konnte sich die russische Gemeinde den Einwirkungen der socialen Stellung ihrer Glieder nicht entziehen. Matte s'(' die Einflüsse der Leibeigenschaft ertragen, so musste sie auch die Wirkung und den Gogenstoss der Freigebung an sieh erfahren. Die s« Indlenpllii htigkeit musste sie natürlich niederdrücken, die Emanci-pation hat jnit den Hauern auch sie wieder gehoben und frei gemacht Zur Zeit der Leibeigenschaft lag die locale Verwaltung wie die locale Justiz grossentheils in den Händen des Grundherrn oder seines Verwalten. Der Grundherr übte als geborener Vormund der Hauern über die Genieinden seines Gnies wahre Vormundschaftsrechte. Der Wir war unter diesem patriarchalischen Kegimente mehr eine wirth-SChaftliche als eine administrative Institution. Die Freigebung rief, als 8W die Hände zwischen Grundherrn und Hauer brach, die Frage der ';,"dlichen Verwaltung aufs Neue wach. Bei der Verleihung der persönlichen Freiheil an die Bauern hätten viele bisherige Herren gern Mnen Theil der Verwaltung, ein Aufsichtsrecht oder eine Controle Ober ihre Freigegebenen sieh bewahrt. Einige Gutsbesitzer beanspruchen noch heute in dem Interesse der Hauern selbst, die sie ;ds unfähige Unmündige betrachten, für den Adel ein mehr oder ininder verhülltes Vorninndscliaftsieeht über die Gemeinden. Die Kaiserliche Regierung hat diese Ansprüche nicht anerkannt. Der Musbik bat mit der bürgerlichen Freiheit zugleich die administrative ßfbalten. Die Klagen Derer, die ihn berabzuziehn suchen, können dun ollenbar weder die eine noch die andre nehmen. Das Statut von 1801, das die Vorfassungsurkunde der Hauern geblieben ist, befreit die Landgemeinden vnn jeder Abhängigkeit, von jeder Autorität des Herrn. Die Gemeindeverwaltung ist auf Wahl gegründet; der Mir wählt aus dem eigenen Schoosse, das heissl aus den Dorfbewohnern, seine Beamten, denn die amiern ('lassen, die Keinen Antheil au dem Gemeindeland haben, sind DioÜt Glieder des •Mir und bleiben somit gesetzlich ausserhalb der Gemeinde, in der sie ihren Wohnsitz haben. Dir Regierung besass für die Verwaltung der freigegebenen Leibeigenen ein Vorbild in der Verwaltung der Krons-bauera. Die Freigebungsacte hatte nur die bei den letzteren üblichen und erprobten Institutionell auf die ersteren auszudehnen. Der Grundzug dieser Institutionen ist eine doppelst ulige oder doppelst öckige Gemeindeordnung. Die kleinen Dorisch alten sind zu grossen Ver-ffaltungsgemeinden oder Aemtern (wolost) vereinigt, in denen jede Gemeinde ihre Individualität behält, Der Gemeindebesitz ist eine der Ursachen dieser Zusammen-Schliessung der Dörfer. Die von den Bauern gemeinschaftlich besessenen Ländereien sind von sehr verschiedener Grösse. Wenn diese wirthschaft liehen Genossenschaften überall als Verwaltungseinheit angenommen worden wären, so hätte mau ausserordentlich angleiche Lmgrenzungon erhalten und wäre endlich zu Übertriebener Zerstückelung der Gemeinden gelangt, die für die Thätigkeit der (Vntral-gewa.lt ebenso uuvurtheilhaft wäre, wie für die des localen Sri 1-govemments '). Andererseits konnte man auch Dörfer niebl aneinanderfügen und verschmelzen, die jedes für sieh Ländereien von ungleicher Ausdehnung und ungleichem Wertin» besassen. Das angenommene System hat in scharfsinniger Weise beiden Missständen vorgebeugt. Die durch die doppelte Kette des gemeinschaftlichen Besitzes und der solidarischen Steuerhaft verbundenen Hauern bilden eine Dorfgemeinschaft oder eine Gemeinde ersten Grades (selskoje obschtschestwo). Nach der Kmancipationsacte ist diese ursprüngliche Gemeinde in der Hegel aus Hauern gebildet, die früher demselben Herrn gehörten und jetzt noch dieselben Ländereien besitzen. Mehrere solcher Nachbargemeinden sind zu bestimmten Districten, die wolost genannt werden, vereinigt. Das Wert wolost wird oft mit Bezirk oder Amt übersetzt. In Wirklichkeit steht die russische „wolost". wie das amerikanische „township" zwischen dem „canton" und der ..commune" Frankreichs: in seiner administrativen Bedeutung nähert es sich sogar mehr der commune". Gesetzlich musste die Wolost wenigstens 300 männliche Steuerseelen zählen und wo möglich die Zahl von 2000 nicht überschreiten. Die Bewohnerzahl dürfte in ihr also zwischen liOO und 1000 sehwanken. Die Grenzen der Wolost sollten in der Regel mit denen der Kirchspiele übereinstimmen, was sie in unsere Augen auch mehr der commune als dem canton ähnlich gemacht hätte. In der Praxis aber ist oft von dieser Regel abgegangen worden; die grosse Ausdehnung der Bezirke hat zahlreiche Debeistünde hervorgerufen. Mitunter, bei sehr grossen Dörfern, bilde! eine einzig»1 Gemeinde schon eine Wolost, und dann verwischen sich die Befugnisse beider, wie ihre Umgrenzung. Die Wolost ist neueren Ursprungs - wenigstens bei den jüngst noch der Leibeigenschaft unterworfenen Hauern: auch bei den Krons- '! Iii IM (iouvernciiieiits in (irossiiisslnnd wurden bist 180,(100 Dorfgemeinden gezählt, die durchschnittlich 86 Steuerseelen, oder l7o—lso Bewohner besauen. In 50 Gouvernement« in to-oss-, Klein- and NeuruBBland Bttsa.....ten wurden :M4,ooo Gemeinden gezählt, bauero ist sie erst unter der Regierung Nikolais eingeführt worden. Der Nanu' kommt /war in den alten russischen Chroniken vor, aber unter ganz, anderer Bedeutung und gewöhnlich für weit ausgedehntere Bezirke. Die Wolost stellt in der ländlichen Verwaltung ein neues, SO zu sagen, künstliches Element dar, eine Schöpfung der Regierungs-iintiative und der Kmancipationsacte. Durch die Zusammen Ziehung der kleinen Gemeinden hat die Regierung bezweckt, den Mushiks die Mögliehkeil der Selbstverwaltung zu bieten und die Abschaffung der herrschaftlichen Gewalt ganz zu vollziehen. Auf diese Weise hat die kaiserliche Autorität dem Bauerstande eine Festigkeit gegeben, welche ihm die Zersplitterung in kleine Dörfer und winzige Gemeinden nicht liättc bieten können. Selbst in den civilisiitesten Ländern von Westeuropa, wie beispielsweise in mehreren Gegenden Frankreichs ist oft die Kleinheit und Vereinzelung der Gemeinden ein Grund für die Schwäche und Mattheit des Gemeindelebens. Die Wolost und die Obschtschestwo haben verschiedene Aufgaben. Ihjr kleinen Gemeinde stehen vornehmlich wirthschaftliche, der grossem administrative Competenzcn zu. Der ersteren liegt alles ob. was dir Nutzung des Hodens und die Vertheilung der gemeinsamen Steuern betrifft, der anderen Alles, was sich auf die gemeinsamen Interessen der Wolost, auf das Yerhältniss zu den vorgesetzten Hehörden und auf die Justiz bezieht, denn die Hauern haben in gewissem Maasse das Hecht der Justiz und der Polizei von ihren frühem Herren geerbt. Sie haben ihre bäuerlichen Richter und ihre bäuerlichen Gerichtshöfe, w'ie sie ihre alten Keciilsgewolmheiten haben, die von dem bürgerlichen Gesetz für die andern Stände bedeutend abweichen1). Die Principien, die der Wolost und der Obschtschestwo zu Grunde liegen, sind identisch. Indem das Gesetz Bauergemeinden zu einem Körper zusammenband, führte es in diese neuen Schöpfungen die Bitten, die Vorschriften, den Geist ein, die herkömmlich im Mir regierten. Alle Aemter beruhen auf Wahl, alle Glieder beider Gemeinde-formen können in gleicher Weise zu allen .Wintern gewählt werden, 'birfgonieinsclniften oder Woloste sind also wirkliche Demokratieeii, in denen die Hauern ihre Angelegenheiten unter sich, ohne die Einmischung der andern Stände erledigen. Dies isl in seinen Hauptzügen das Gemcindcsystein im automatischen Reiche. Dieses überkommene Selfgoverninent, diese ländliche und bäuerliche Autonomie verdankt der Muslnk. der so lange Leibeigener war. oflenkundig der Aufrechterhaltung des Gemeimh- M ITel>er diese Bauergeriehte vergl. weiter unten Buch IV, Kap. II, — ti besitze«. Alle Rechte, Bräuehe and Sitten der Gemeinde fliessen aus dieser einen Quelle. Eine der natürlichen Eulgen der Bodengomeinschafl ist die Gleich-heit aller Gemeindeglieder und somit der gleiche Antheil aller an allen Angelegenheiten des Mir. Daher stammt in den Dörfern Grossrusslands das demokratische Wesen in seiner einfachsten und reinsten Form, ohne Zwischenglieder und ohne Repräsentation, das System der unmittelharen Demokratie, in der Jeder persönlich an allen Berathungen und an allen Entscheidungen Theil nimmt. Bei einigen Völkern, wie bei den Arabern, hat der patriarchalische und familiäre Colleotivbesitz sich einer aristokratischen Regierung anpassen lassen, da die Gewalt dem Haupt des Stammes oder Clans, als dem Vater und Familienhaupt, überlassen war. Hiervon in Russland keine Spur: in dem moskowitisohen Mir giebt es Keine erbliche, keine individuelle imeh oligarchische Autorität. In dieser Beziehung nennt Haxthausen die russische Gemeinde mit unrecht eine patriarchalische. Tschi-tscherin macht ihm hieraus aus gutem Grund einen Vorwurf1), In den Genossenschaften der leiheigenen Bauern herrschte immer die vollkommenste Gleichheit; wie weil man auch in der Geschichte zurücksteige, ein durch Geburt oder Brauch designirtes Haupt findet sich nicht. Zur Zeit der Leibeigenschaft hatte die Gemeinde freilich einen Herrn; aber dieser Herr stand ausser ihr: er war ihr Gutsherr, bisweilen ihr Tyrann, aber ihr Haupt war er nicht. Der Drushinnik und der Pomesohtsohik, Staatsdiener, die vom Herrscher Land erhalten hatten und später zu adligen Grundbesitzern verwandelt wurden, bildeten einfach eine höhere Schicht über den Bauern und über den Gemeinden ihrer Güter. Dies ist so wahr, dass das Gesetz bei Freigebung der Landbewohner unter diesen noch keinen Platz für die früheren Herren gefunden hat. Nach der Emaneipation blieb der Pomesohtschik ausserhalb des Mir der Mushiks. wie er früher ausserhalb desselben und über ihm gestanden hatte: er ist getrennt von seinen dereinstigen Bauern, er steht ausserhalb der Gemeinde, ausserhalb der Wolost, in welcher er selbst seinen Wohnsitz, hat. Nachdem die Ivette der Leibeigenschall gebrochen, bindet ihn nichts an seine früheren Untergebenen. In der solidarisch haftenden Gemeinde ist in der Thaf nur für die Glieder Raum, welche an allen Rechten und an allen Lasten der Genossenschaft theilnehmen. Die Form des Landloskaufs, die nach ') Tschitselicrii), Studien über die Geschichte des russischen Rechts (russ. • der Emancipation in Gebrauch trat, hat dieses Band der Solidarität noch fester gezogen. Der gemeinschaftlich verhaftete Grund und Boden kann ein/ig den früheren Leiheigenen gehören, die ihn mit ihren letzten Pfennigen bezahlt haben. Um Glied einer solchen Genossenschaft zu werden, genügt es nicht, seinen Wohnsitz in ihre Mitte zu verlegen. Man kann dort nur mit Zustimmung der Beteiligten zugelassen werden. Die Haftbarkeit gegenüber dem Eisens nmschliesst den moskowitischen Mir mit einer noch dickeren Mauer. Die russische Gemeinde ist -- wie sie aus der Leibeigenschaft und '''reigebung hervorging eine geschlossene Gesellschaft, der weder Zutritt noch Austritt frei sind. Abwesend oder anwesend, nomadisch öder ses&haft, die Glieder des Mir sind in hohem Masse für einander verantwortlich. So gehören viele Leute, die das Land der Gemeinde bewohnen, nicht zur Gemeinde, viele, die ganz entfernt leben, doch loch zu ihr. Dagegen bestehen die I )oHgcnossensohaften oder Wo-'"sie ausschliesslich aus Bauern mit gleichen Rechten; jeder andre Bewohner ist für sie ein Fremder and der Gemeinde gegenüber beinahe in derselben Lage, wie ein Mann, der in einem fremden Lande lebt Die BO COn8truh*te Gemeinde ist ein Haus, in dem man noch Bichl Raum für Alle schaffen konnte: sie steht unter der Nachwirkung <'('1' alten Tbeilung der zarischen Unterthanen in ('lassen, in gesellschaftliche Fäiher und ist durch ihren natürlichen Charakter der Solidarität darauf gerichtet, diese alten Scheidungen aufrecht zu erhalten. Die Hechte und Privilegien einer solchen Gemeinde sind nach «tem Herkommen und durch die Macht der Thatsachen selbst zahl-r,'U'l) und ausgedehnt. Als Genossenschaft ha! sie den Charakter iiner Rechtsperson, sie kann Landereien kaufen, pachten, verkaufen: '"ehr noch, sie hat ihre eigenen Bestimmungen, Herkommen und Sondergesetze, die innerhalb ihres Kreises verbindlich sind, sie bat "«mitten des nationalen ülfeiitliehen Hechts ihr Privatrecht. Als Garanl und Bürge für ihre Glieder gegenüber dem Staat und dem '''isciis, ha1 sie Straf- und Ausweisungsrecht: da sie über Kommen U|id Gehen ihrer Glieder Herrin ist, hält sie dieselben in einer Art v,,n Vormundschaft Endlich hat die Gemeinde als Besitzerin des Landes den Hauern gegenüber die Autorität des Grundherrn gegen-,l,l,,r seinen Pächtern und kann ganz wie ein solcher und freier noch den Landhebaucrn ihr beliebige Bedingungen auferlegen, ihre Bewirtschaftung überwachen, ihnen diese oder jene Cultur befehlen oder verbieten. Aus dieser doppelten Eigenschaft als Grundherrin und gesetzliche Bürgin erwächst ihr gegenüber ihren eigenen Gliedern eine Machtvollkommenheit, die durch die Sitten der Leibeigenschaft zur Hnie. zuweilen zum Despotismus wird. Die Vereinigung der Hauern zu einer DorfgenOSSenschafl heisst, wie schon erwähnt, im russischen Volke der Mir. Dieses Wort hat verschiedene Bedeutung: es bezeichnet die Bauergemeinde und zugleich die Welt, das Weltall: es trägt den Begriff von Ordnung und Schönheit in sich und ist drum mit dem griechischen xoVjuog zusammengestellt worden •). Nicht umsonst hat das Wort Mir diese verschiedenen Bedeutungen. Der russische Mir ist, wie er Jahrhunderte lang Leibeigenschaft und Selbstherrschaft überständen, in der That eine kleine Welt inmitten der grossen, eine umgrenzte, geschlossene Welt, die sich selber ganz genügt, ein wahrer Mikrokosmos. Jahrhunderte lang hat der russische Hauer nur das Leben des Mir gelebt. Wie Herzen sagt, bat der Mushik nur seiner Gemeinde gegenüber Rechte gekannt und zu Pflichten sich bekannt*). Der Mir war für den Hauer gleichsam das kleine und wahre Vaterland, alles 1'ehrige. das Hussland der Herren und der Beamten, erschien ihm wie eine fremde, ofl wie eine feindliche Welt. Mehr als in andern Ländern ist so dürfte man sagen — in Hussland die in ihren alten Formen erhaltene Gemeinde die Urzelle, die Crmonade der Nation, wenn nicht des Staates. Das ganze russische Leben scheint ursprünglich nach diesem althergebrachten Typus sich geformt zu haben, von dem das Moskowien der Zaren und das Hussland der Kaiser mehr und mehr abgewichen sind. In den Dorfgenossenschaften und im Staate, in dem Mir des Mushiks und in der zarischen Selbstherrschaft lässt sich jedoch eine gemeinsame Urform linden, die noch im Grunde des Volkes lebendig ist. die Familie11). Zwischen diesen drei Formen, diesen drei Stufen des socialen Lebens, zwischen Familie, Gemeinde und Staat hat man eine Grundähnlichkeit, eine Analogie der Bildung entdeckt, um deren willen man die beiden letzteren mitunter als aus der ersten direct hervorgegangen betrachtet hat. Staat, Gemeinde, Familie schienen drei auf einander folgende Hinge derselben Kette, drei nach demselben Muster gebildete und Hindurch ihre Dimensionen sich unterscheidende Hinge1). Die Gemeinde ist nur die erweiterte Familie, der Staat, oder besser das russische Volk ist nur die Vereinigung aller Gemeinden zu einer grossen Pa- ') Mit einer leichten orthographischen Veränderung bedeutet Mir im Busse scheu mich Friede. *) Herzen, le J'euple russe et Je socialisme. Brief an Michelet 1852. Tclier die russische Familie vergl. Bd. I, Buch VIII, Kap. IT. 'I Siehe vornehmlich Haxthausen. Studien Bd. III. pag. 1^0, 152, 198, 200. nailie, deren Glieder ursprünglich gleich waren und deren Vater der Grossfflrst, der Zar, der Kaiser ist. Die Macht des Herrschers ist '"diestdiränkt. wie die Gewalt des Vaters. Die Selbstherrschaft ist also nur die Fortsetzung der väterlichen Autorität, Von Seiten der Russen wird übrigens auf allen Sprossen der Leiter ein mehr kindlicher als sclavischer Gehorsam geübt. Die Volkssprache isl in dieser •»eziehung lehrreich, man darf in ihr nicht leere und sinnlose Formeln sehen. Der Kusse redet seinesgleichen: Bruder an: den Höherstehenden jeden Ranges, seinen frühern Herrn, den Beamten, den Zaren selbst redet der Mann aus dem Volke: Vater, Väterchen, ba-tttschka an. Von dem Grunde bis zum Gipfel scheint das unermess-«che nordische Reich in all seinen Theilen und auf all seinen Stufen Räch demselben Grundriss und in demselben Stil erbaut: alle Steine scheinen demselben Steinbruch entnommen, das ganze Gebäude ruht auf derselben Grundschicht, auf der patriarchalischen Autorität. In diesem Punkte gleicht Russland den alten Staaten des Orients und unterscheidet sich lebhaft von den modernen Staaten des Westens, , einige Beispiele an. IMe Aemter, gegen die der Bauer die grosste Abneigung hegt, sind die der Steuererhebung, Die Schwere der Steuern, die solidarische Haltung für dieselben, die Schwierigkeit ihrer Beitreibung erklären diese Abneigung nur allzu genügend; sie isi so natürlich, dass das Amt des Stciicr-erliebers nur für ein Jahr auferlegt wird, während alle andern Beamten auf drei Jahre gewählt werden. Auch für den l'oli/eiiliensl besteht wenig Neigung. Die 11iiiidertmäiiner (sotnijei, die diesen Dienst bekleiden, werden in der Regel aus den armen und arbeitsunfähigen- Hauern genommen. Zuweilen hilft man sich mit frühem Soldaten, die besonders besoldet werden. In einigen (legenden des (Jouvernement Tula besteht der (ichrauch, dass alle Hauern der Reihe nach IIundertmänner gewesen sein müssen: aber in der l'ra\i- lassen sieh die wohlhabenderen durch angemiethete Leute vertreten. Die deutschen ('olonieen sind fast die ein/igen Gemeinden, die wirklich eine reguläre l'oli/.ei haben. (Male lialien /.tun Stadium der gegenw. Lage der Landwirthschafl I., 1880). kennung finden müsste1). Die Anhänglichkeil an Hon Mir und der ,,'sl),'(d der unwissenden Bauern vor seinen Entscheidungen sind n',<*'1 heute die Grundlage naiver und einfacher Tugenden, ohne die er M^r, wie die Republik Montesquieu's, kaum bestehen könnte. •)or Gemeindebeamten gieht es sehr viele, und die ländliche Verwaltung ist daher verhältnissmässig complicirl und kostspielig; ('ils ist einer der Vorwürfe, den ihr die Gegner machen. An der Spitze jeder Dor%emeirisohai steht eine Art Schulze oder Bürgermeister, der den Tit.d „Alter'-. „Stamsta" trägt, an der Spitze der l> als di,. Gemeinde nur eine erweiterte Familie war, war der " Ite" ihr Haupt; der Xame blieb, wenn auch die Jahre nicht mehr ^schieden. Als Abzeichen ihrer Würde tragen diese Alten eine *tte und eine Medaille von Bronze am Halse. Dem Starost und Starschina, er8terem unter Controle des zweiten, liegen die Z(>| und die Aufrechterhaltung der Ordnung oh; sie haben unter Rissen Umständen das Recht, den Ruhestörern, sei es eine leichte Strafe, sei es einige Taue Halt oder Prohndienst, aufzuerlegen. rost und Starschina wachen auf die Unterhaltung der Vicinalwege, ^jj*alten die Gemeindecassen, die Schulen, die Hospitäler und alle ungen des Mir. Zu ihren Verpflichtungen gegenüber ihren . ahlero kommen andere gegenüber der Centraigewalt; sie haben für den Pr . ' Zugang der steuern, für die Rekrutirung, für die Anzeige pass-861 vagabunden, für die Verhaftung polizeilich Verfolgter zu sorgen. er Gemeindebesitz legt naturgemäss den Häuptern der Ge-j." ""'('. namentlich dem Starost, besondere und speciell wirthschaft-°'e Pflichten auf. Der „Alte- ist gewissermassen der Geschäfts-ri der Verwalter, mitunter auch der Leiter der Bebauung des schu|/'11'lH:l,1'il'V AIm''' W;IS aUCh i,llV Befugni88e seien, diese Dnrf- /('n bleiben immer nur Ausführer der Bestimmungen des Mir u. diesem Rechenschaft abzulegen. Solche Gemeindebeamte, HSstens die Dorfstaroste sind bisweilen ohne alle Macht Uber ihre rp. 1 ,n,l'': was sie an Kinlluss besitzen, danken sie weniger ihrem 1<'1 von obenher, an der Käuflichkeit und der Willkür, von der alle Institutionen durchtränkt sind, und die auch die jüngsten und besten 111 V|,>']iängnissvoller Weise eorrunipirt. Ausser ihren Würdenträgern und Richtern besitzen die russi-8°hen Gemeinden noch Beamte, die nach Entscheidung des Mir ent-J^eder von den Versammlungen gewählt oder von den Behörden in "'Usi< genommen werden, und die in die einfache ländliche Verwaltung von aussen her den Keim der Bestechung tragen. Solche *lr>d die Aufseher und Inspectore der Genieindemagazine, die Wald-Un,l Wiesenhüter, die Gemeindehirten und namentlich der Gemeinde-'"'dier. Diesem Letzteren fällt im Leben des Mir eine bedeutende ©ZU. Er jsr. die Zielscheibe vieler der gegen die freie Verwaltung [] Haueni gerichteten Angriffe. Dieser Schreiber (Pissar), der nur * besoldeter Angestellter ohne gesetzliche Macht ist, ist oft tliat-^j* "ich die erste Autorität im Dorfe, der wirkliche unumschränkte " der Gemeinde. Bauer und Schulze legen ihre Rechte in seine 1||'"1<1, •mo grosse landwirthschafbliche Enquete ist voll von Klagen Wöl Anl Willenskundgebungen ihrer Wähler direct entgegen. Diese absolute Demokratie, diese unmittelbare und fortlaufende Controle der Gewählten durch ihre Wähler, der Beauftragten durch ihre Auftraggeber ist natürlich nur auf beschränktem Gebiete möglich. In Bussland, wo die Bevölkerung auf dem Quadratkilometer selten 30 Bewohner übersteigt, sind die Grenzen, ausserhalb welcher ein derartiger Modus sich unbrauchbar erweist, bald erreicht, So haben denn auch die alten Formen des russischen Mir, die in den Fr-gemeinden ehrfurchtsvoll für die Dorfversammlung (selski 8-chod) erhalten sind, in dem weiteren Distriet auf die Wolostversamm-lungen nicht angewandt werden können. Hier hat das Gesetz, indem es eine neue administrative Einheit schuf, das Repräsentativsystem eingeführt. Die Wolostversammhmg besteht aus allen Wahlbeamten des Bezirks und den von den Dorfgemeinden nach dem Massstabe von je einem Gliede für 10 Feuerstellen oder Höfe (dwor) gewählten Delegaten. Dieses Collegium muss in jedem Falle mindestens einen Vertreter jedes Dorfes zählen und besitzt, wie schon erwähnt, eine Art permanenten Ausschusses, der aus den Häuptern der verschiedenen Gemeinden gebildet ist. Der Wolostversammlung fällt als Hauptauf« gäbe zu, die Beamten und Richter dos Wolostbezirks zu wählen; sie bezeichnet die bäuerlichen Vertreter in den Kreisvorsammlungen, einer Art von Generalräthon. in denen alle Stände vertreten sind. ') S. L'Aiicien regime et In Demncratie <■ 11 Ann'riqiie von Tocqueville lind Le Village sous l'anrieii regime von Alb, Ilabeou, Paris, 1H7H. Die Wolo8tver8ammlungen können Arbeiten oder Stiftungen unternehmen, die über die Kräfte jeder ein/einen Gemeinde gehen, Wege bauen, Schulen und Krankenhäuser errichten. Zu diesem Zweck haben sie das Recht, lokale Steuern zu besohliessen. In Folge des Gemeindebesitzes und der traditionellen Bräuohe des Mir ist die Dorfversammlung (selski s-chod) zugleich die wichtigste für die Bewohner und die interessanteste für den fremden. Auch sie besteht nicht aus allen Bauern der Gemeinde, sondern nur »US den Häuptern der Wirtschaften (domoehosain). Als solche können auch Witwen oder zeitweilig ihrer Männer beraubte Frauen i,n ihr theilnehmen. In den Dürfern der unfruchtbaren nördlichen Regionen, WO die Männer in der Kerne Arbeit suchen, zählen die Gemeindeversammlungen daher viele Krauen zu ihren Gliedern. Nicht QM Individuum tritt kraft persönlichen Rechts in die Berathung der allgemeinen Interessen, sundern die Familie in der Person ihres Hauptes. So will es wenigstens die Tradition des Mir. Von diesem Gesichtspunkt aus lägst Bich diese Versammlung, wenn ihre Glieder iU'ch nicht aus Wahlen hervorgegangen sind. eine thatsächlich repräsentative nennen, da jedes ihrer Glieder der rechtmässige Vertreter und der geborene Beauftragte eines Hauses, einer Familie IM- We Form der Zusammensetzung nach Keuerstellen oder Haushalten entspringt noch dem Grundprincip der russischen Gemeinde, (1*'m Gemeindebesitz. Wie die Landvertheilung meist nach Eaus-halt^ Tjäglo oder Dwor, vollzogen wird, so ist es die Familie als Glied der Dorfgenossenschaft, die über die Genieindeangelegenheiten zu Rathe sitzt; die Familie, nicht das Individuum, bildet die sociale Kin-beil und besitzt in den Berathungen der Gemeinschaft eine Stimme. Debrigena kann zuweilen ein Haus, in dem an demselben Heerde mehrere Raushalte vereinigt sind, und das mehrere Landantheile erhält, mit '«Stimmung der Andern zwei oder mehr Glieder zu der Versainm- M,nS delegireu. »8 wäre übeiilüssig, den grossen Unterschied zwischen dieser Patriarchalischen Demokratie und der individualistischen Demokratie. |De sie anderwärts erstrebt oder constituirt ist, schildern zu wollen. 11 der That ist die Abstimmung nach Hauseinheiten, nach Familien J5er Haushalten viel verständiger und natürlicher, als die nach der Opfzahl der erwachsenen männlichen Individuen; sie vertrittt weit Weser alle Interessen, Rechte und selbst alle Personen, als unser gemeines Stimmrecht, das auf Krauen und Minderjährige keine ^'"•ksiclit nimmt, thatsächlich nur ein Geschlecht und ein Lebens-r repräsentirt und als Einheiten gleicher Art numerisch ganz ver- sehiedene Grössen zusammenstellt. Das System des Mir verbürgt nicht blos besser das gleiche Recht und die Vertretung Aller, sondern ist zugleich auch conservativer. Ohne Zweifel verdankt die russische Gemeinde grossentheils ihm die Aufrechlerhaltung ihrer Freiheiten und ihrer alten Autonomie. Dass Rechte und Wahlfähigkeil der Familie und nicht dem Individuum zugetheilt sind, darin liegt ein CuiTectiv gegen Ausschreitungen und Geiahren, in diesem System einer ohne gewählte Vertreter sich selbst verwaltenden Gemeinde. Die DorfVersammlung der Mushiks kennte noch vor Kurzem für einen bäuerlichen Senat gelten, in dem die Familienhäupter die berechtigten Mitglieder waren. Leider müssen diese Versammlungen unter dem Binfluss der Familientheilungen allmälich diesen Charakter verlieren: sie werden immer zahlreicher, immmer stürmischer, denn die alten Formen der Selbstregierung des Mir verändern und verwandeln sich mit dem Fortschritt des Individualismus am häuslichen Heerd. Alle Familienhäupter sind nach Herkommen und Gesetz zu den Versammlungen berufen; Ausnahmen bilden jetzt nur die wegen Diebstahls oder anderer schwerer Verbrechen Verurtheilten. Es giebt eine nationalökonomische Schule, welche die Reihe der Ausschliessungsgründe gern erweitert und die Zahl der Glieder der Versammlung gern beschränkt gehen mochte. Schriftsteller und Redner haben in der Presse und in den Adelsversammlungen mit Nachdruck gefordert, dass auch den rückständigen Steuerzahlern und schlechten Schuldnern das Stimmrecht in der Gemeindeversammlung aberkannt werde, um — wie es hiess — die Ordnung der Angelegenheiten nur den ordentlichen und arbeitsamen Hauern zu belassen.1) Unter dem Vorwand, die schlechten Subjecte und Säufer den Berathungoii fern zu halten, gelangte man hiedurch dazu, in der Praxis die althergebrachte Gleichheit der Glieder des Mir zu unterdrücken und in der Landgemeinde eine Art Censur einzuführen, denn um der grossen Steuerlast wegen ist bekanntlich in vielen Dörfern die Zahl der Steuerrückständigen sehr erheblich. und bisweilen ist sogar ein ganzes Dorf nicht im Stande, seine schuldigen Abgaben an den Staat zu entrichten. Die Gemeinde ist eine wesentlich volkstümliche und althergebrachte Institution; es wäre gefährlich, ihre Grundlage zu erschüttern, geschähe es auch in der Absicht, sie zu festigen, oder in der, ihre Ordnung zu bessern. Die Abwesenheit aller Familienhäupter im Gemeinderath ist die natürliche Folge des Gemeindebesitzes. Wer einen T) S. die oben citirten Schriften von Fadejew, Samarin und Dmitrtcw. grossen Theil der Hauern aus den Versammlungen ausschliefen will, der bemüht sieh — wissentlieh oder nicht — für die Aullösung des Mir und die Abschaffung des Gemeindebesitzes. Die Familien, die nicht mehr in den Versammlungen vertreten wären, in denen die im&~ und Steuervertheilung vollzogen wird, geriethon ernstlich in Gefahr, hei den Theilungen henachtheiligt zu werden. Sie würden thatsächlich das Hecht auf das Gemeindeland verlieren, und der Golleotiv-hesitz an sich würde mittelbar ausser Gebrauch gesetzt. Wie man :nich über die Durfgemeinden denken mag, dieser krumme Weg zu ihrer Auflösung wäre von allen Mitteln zu ihrer Abschaffung das willkürlichste und unbilligste. Unwissenheit, Trunksucht und Faulheit sind übrigens durchaus «icht die einzigen wunden Puncte des Mir. oder — besser gesagt — diese allzuhäufigen Laster treten oft gerade unter der Herrschaft einer Minderzahl wohlhabender Hauern über die Mehrzahl ihrer Dorfgenossen i" unerwartetem Masse auf. Leute mit Steuerrückständen, zahlungsfähige Schuldner, stetige Kneipenäitzer, die der Abhängigkeit von 'hren thätigern und klügeren Nachbarn verfallen sind, Werden gleichsam ein gefüge Clientel ihrer Gläubigen. Daher zeigt sich bisweilen bei einer durchaus demokratischen Verfassung die Herrschaft einer Dorfaristokratie, daher die schlimme Herrschaft der Ausbeuter des Bauern, jener Kulaki oder Landfresser (mirojedüi), von der die land-Wirthsehaftliche Enquete soviel zu berichten weiss.1; Dergleichen Thatsachen beweisen wiederum, wie schwer es ist. alle praktischen ('()nse<|uenzcn eines Gesetzes oder einer Verfassung vorauszusehn. Sitten und Verhältnisse üben oft viel mehr Kinlluss. als alle Gesetzes-P&ragraphen oder Verwaltungsmassregeln. Der russische Mir ist zwei entgegengesetzten Missständen ausgesetzt: er kann das Werkzeug ,""T neidischen und faulen Dorfdemagogie werden und kann ebensowohl in den Dienst einer kleinen, raub süchtigen Kirohthurmsoli-garehje treten. Der Mir ist, wie viele andre Institutionen, zwischen ZWei entgegengesetzte Klippen gestellt; wir werden weiter unten sehen, welche Mittel ihm zu seiner Rettung an die Hand gegeben sind. Die Dorfgemeinden sind auch jetzt durchaus nicht wehrlos gegen schlechte Subjecte und Ruhestörer. Die Gemeindeversammlung besitzt ihren Gliedern gegenüber das Recht der Ausschliessung. Das Herkommen verleiht ihr die Macht, nach ihrem Belieben Jedem die Tli.il-" dass es in den russischen Dörfern aus sehr ähnlichen Grün-' en eine Art Lynchjustiz giebt, wie in den amerikanischen Niederlassungen. In Vereinigungen von so primitivem Charakter, wie die Dorf-^rsammlungen, wäre es ein [rrthum, allzu grosse Wichtigkeit den »''Stimmungen und Verholen des Gesetzes beizulegen. Man darf Bich toese Versammlungen der Mushiks nichl als Sitzungen regelrecht be-• euer ragungen denken, zu denen man nur mit der Karle des ^ »hlers Eintritt hat und in denen die Abstimmungen der Einzelnen gewissenhaft gesammelt und gezählt werden. Der Mir ist die Frucht 68 Herkommens, Sitte und Gewohnheit gelten in ihm für Gesetz, er Gesetzgeber mag in üfcasen von noch so viel Artikeln die Regeln ^ die Berufung und für die Berathungen der Dorfversammlungen und a 68 Winl n Ms diese bäuerhehen Zusammenkünfte; in ihnen lässt sich keine jattsordnung linden, wie sie in unsern Versammlungen und 8Uilkörpern die Herrschaft üben. Weder Ceremoniel noch Etiquette ,a Ulll('n beobachtet. Die Versammlung ist durchaus Herrin er, zur Berathung und Abstimmung zu bringen, was ihr gut dünkt. '«'wohnlich find,.,, ,ije Zusammenkünfte unter freiem Himmel stati. meist am Sonntag nach dem Gottesdienst, in der Nähe der Kirche oder auf den weiten Plätzen, die den russischen Dörfern zu Strassen dienen. Die gesanimte Bevölkerung, Männer und Weiher. Erwachsene und Kinder, wohnt der Beruthung hei. Da, wo sich die alten Gebräuche erhalten haben, discutiren die Familienväter, in Gruppen getheill oder im Kreise stehend, die Tagesfragen, während die jungen Leute sich ein wenig bei Seile halten und schweigend zuhören. Seit der Freigebung hat leider die Jugend viel Geschmack an der Unabhängigkeit gefunden; sie verliert den Respect vor den grauen Haaren und der Erfahrung immer mehr, der bis vor Kurzem der Charakterzug des Mushik und des Mir war. Die .lugend scheut sieh nicht mehr, die Stimme des Allels zu überschreien, und in einigen Gemeinden beginnen die Greise bereits aus den Versammlungen fortzubleiben. So wird die Herrschaft des Mir mittelbar in ihrem Grundwesen, in dem. was ihre Kraft und Dauer bedingte, geschädigt. Die gesammte Gemeinde steht unter der Einwirkung des Gegenstosses der Umwälzung, die sieh in der Familie ZU vollziehen in Begriff stellt, denn, wie E. Henau bemerkt, „der Ausschluss der .lugend von den Geschäften gehört zum Charakter derartiger patriarchalischer Verfassungen". J) In diesen Sitzungen giebt es weder Vorstand noch Präsidenten. Der Starost. der die Versammlung einberuft und sie zu leiten gehalten ist, verschwindet mitunter in der Masse. Wenn er nicht gerade von seinen Handlungen und Flauen Rechenschaft altlegt, beschränkt er sich darauf, die Besitzer zu fragen, ob sie diese oder jene Massregel, dies.- oder jene Entscheidung approbiren. Ks wird auf allen Seiten gesprochen, abwechselnd oder gleichzeitig, ohne um das Wort zu bitten, in der Regel ohne viel Phrasen und ohne viel Beredsamkeit. Meist enden die Geschäfte im Kabak, in der Kneipe: hier verhandeln die starken Geister des Dorfes, hier halten — sozusagen — die Com-missionen ihre Sitzungen. Wie in allen Bauerversammlungen, wird vorher und namentlich nachher viel getrunken. Es wäre übrigens falsch, sich diese Zusammenkünfte wie Versammlungen von Betrunkenen vorzustellen; ein Betrunkener wird in der Regel nicht zugelassen. In der Discussion ist die Redeweise nicht gerade immer parlamentarisch; oft ist sie kräftig und bilderreich; Neckereien, Witze. Persönlichkeiten stehen nicht ausser Gebrauch. Jedoch geben die Sanftmut!) des Charakters, die patriarchalischen Formen und die biblischen Wendungen der Redeweise, die halborientalische Höflichkeit ') Renan, Melange« d'histoire et de voyage 1878, des Bauern den meisten Sitzungen dieser bäuerlichen Senate eine einlache und naive Würde, wie sie sich nicht immer in den Kammern unserer Parlamente findet. ') In diesen Versammlungen giebt es meist keine regelrechte Abstimmung, und man kennt dort weder 1'rnen nuch Stimmzettel, weder «dlentliche noch geheime Stimmabgabe. Kaiser Nicolai wollte die Zettel oder die Kugeln des Westens bei den Kronsbauern einführen, aber der Wille des Zaren scheiterte an der Autorität der Gemeinde. Dieser Widerstand der Mushiks gegen die geregelten Formen der westeuropäischen Freiheit ist nicht Mos Folge ihrer l'nwissenheit oder Einfalt; er hängt mit ihrem Begrif] vom Mir und von der Macht der Gemeinde zusammen. Gesetzlich können die meisten Beschlüsse mit einfacher Stimmenmehrheit getässt werden; nach dem Herkommen ist es anders. Ihr russische Bauer begreift schwer, dass in einer Versammlung die Hälfte der Glieder plus eins im Gegensatz zu der andern Hälfte ein Gesetz schallen könne. Sein Gefühl sträubt sich gegen die brutale Gewalt der Majoritäten, gegen das, was Andere die •Tyrannei der Zahl genannt haben. Für ihn liegt offenbar in den allmächtigen Entscheidungen einer einfachen Majorität eine Art moralischer Vergewaltigung. In den Augen des Mushik muss Alles, was im Mir geschieht, durch Vertrag geschohn: die reboreinstimmung l|nd der allgemeine Wille der Glieder der Versammlung bilden die Autorität der letzteren. Daher in diesen patriarchalischen Zusammenkünften der uralte Brauch, alle Dinge mit Einstimmigkeit, mit Accla-niation zu votiren. oder besser zu entscheiden.2) Damit ein Beschluss für rechtsgültig, für frei von Irrthum und ') Ks Messen sich hier merkwürdige Beschlüsse mehrerer Baucrversammlungen &Qftthren. So beschlossen beispielsweise 1 SS 1 mehrere (iemeindeii des < Mow->(hcn Kreises (Gvt St. Petersburg) „um das GcdüclitnisH ihres Wohlthälers uiul Befreien Alexander Ii. zu ehren" feierlich, dch in ihren Gemeinden i -sammlungen fortan jedes groben oder ungeziemenden Wortes enthalten und einen Rubel Strafgeld für jedes Zuwiderhandeln zu verhängen. Andre (Je-'»emdeii haben und zwar in grosser Zahl als Beweis ihrer Trauer die Schliessung '''1 Kneipen votirt. ■) Aehnliche Gebräuche lassen sich in der Dshemaa der Kabilen Afrikas '""''»weisen. Was die Zusammensetzung der 1 ^Versammlung, die Wahl des Amin oder Alten, die Autorität der Versammlung, die keine andre Grenze kennt, als das Herkommen, was die Art der Berathung betrifft, so hätte die kahilische Dshemaa vor den unter französischem Kinlluss eingeführten Ycr-«nderungen zahlreiche Züge der Achnlichkeit mit der russischen Gemeinde vor Ibirchlührung der Veränderungen bieten können, welchen der Mir zu unterlegen beginnt. S. La Kabylie et les coutumes kabyles par Hanoteau et Letour-»cur I873 u. Renan: Melange« d'histoire et de voyage 1878. Zwang, für verpflichtend für Alle anerkannt werde, muss et in dieser primitivem Demokratie die Unterstützung oder wenigstens die Zustimmung Aller haben. Da nicht Alle immer derselben Meinung sein können, kann selbstverständlich eine solche Einstimmigkeit nur dadurch erzielt werden, dass die kleinere Zahl dem Willen der Mehrlab] sich fügt. Dies ist der gewöhnliche Vorgang im Mir: die Minorität hescheidet sieh ausdrücklich oder stillschweigend nach dem Willen der Majorität. Auf diesem bäuerlichen forum wagen die Redner, welche sich vereinzelt fühlen, nicht, ihren Widerspruch negen dir allgemeine Meinung lange aufrecht zu erhalten: anders handeln wäre in ihren Augen Narrheit oder Eigensinn. Diese freiwillige Unterwerfung hängt zugleich mit dem Respeet des Individuums gegen die Gemeinde und mit dem Kespect der Gemeinde gegen die alten, erfahrenen oder kenntnissreicheren Leute zusammen, deren Rathschlägen sie folgt. Was auch die Gründe seien, diese traditionellen Gewohnheiten machen in der Regel jede Abstimmung unnöthig. Handelt es sich um die Wahl eines Starost oder andern Beamten, so wird ein Name, dann ein zweiter ausgerufen; der Name, der das lebhafteste Echo findet, wird bald von allen Mündern wiederholt, und der so gewählte Starost wird proclamM. Handelt es sieh um eine delicale braue, in welcher die Verständigung schwer ist. so verschiebt die Versammlung nach dem eisten Versuch einer solchen die Frage auf eine andre Sitzung. In der Zwischenzeit wird die private DisCUSSion darüber fortgesetzt, man sucht Compromisse, und wenn man solche Dicht erreicht, so zieht sich die Partei, die sich in der Minderheit fühlt, zurück und unterwirft sich. Fühlt man zufällig das Bedürfniss. sich zu zählen, so werden die Anhänger der sich entgegenstehenden Ansichten auf verschiedenen Seiten aufgestellt, aber in der Regel ist man zu dieser äussersten Massregcl nicht gezwungen. Sind die Meinungen ausgesprochen, und scheint eine derselben die Gunst der Versammlung gewonnen zu haben, so sagt der Starost zu den Anwesenden: ,.Rechtgläubige, entscheidet ihr so?" Die Versammlung antwortet mit Zustimmungsrufen; in einigen Gegenden entblösst man das Haupt, bekreuzt sich, und der Antrag ist von Allen angenommen. Der Usus, die Beschlüsse einstimmig zu fassen, wird sich bei dem Eindringen westlicher Begriffe und Gewohnheiten nicht lange halten können. Bis dahin bleibt er einer der eigenartigsten und doch wenigst bemerkten Züge des russischen Mir. ein Zug der sich in der alten Wetsche der Städte wiederfindet1). Nach Meinung einiger ') So z. B. in der Wetsche von Nowgorod. Wurden die Andersineinenden Slavophilen ist ei eino slavisclio Tradition, die bei den meisten slavi-schen Völkern vorkommt: unseres Kraehlens ist es vielmehr ein Herkommen aller patriarchalischen Demokratieen ohne Unterschied der Race und des Frsprungs. Kein Wunder, wenn der russische Mir uns in dieser Beziehung an die kahilisehe Dshemmaa erinnert. Dieser primitive Brauch kann uns vielleicht Sitten erklären, die uns sonst unverständlich wären, wie namentlich das berühmte und berüchtigte liberum vidi» des polnischen Reichstags. Die polnische Republik oder besser der polnische Adel, der rechtlich das Land war. könnte in dieser Beziehung wie ein Mir freier und gleichberechtigter Männer angesehen werden, in dem nichts ohne die Zustimmung und Gutheissung Aller geschehen konnte. In den russischen Dörfern legte dieses patriarchalische System der Macht der Gemeinde über ihre Glieder heilsame Beschränkungen auf. Für diese kleinen, fast jeder Controle entzogenen Demokratieen war es ein Zügel der Willkür der Majorität und eine Bürgschaft für die Freiheit des Individuums. Das geschriebene Gesetz überlässt in den Gemeindeversammlungen der einfachen Majorität die Entscheidung, fordert aber für die wichtigsten Beschlüsse ein Drittel der Stimmen. Es ist das eine weise Goncession an das Herkommen, eine Schutzmassrcgel gegen überstürzte Beschlüsse und gegen die Oeberrumpelung der Menge. So bedarf es zwei Drittel der Stimmen für die periodische Landverthei-tang und mit bestem Grund für die Abschaffung der herkömmlichen Besitzform und die definitive Zutheilung des Gemeindelandes an Individuen oder Familien. Ks bedarf dir zwei Drittel zur Feststellung der Gemeindeabgaben und der Verwendung der Kapitalien des Mir. es bedarf derselben endlich für den Ausschluss schlechter Bauern. In den Wolostversammlungen. die reine Wahlkörper sind und deren Abstimmung nicht dieselbe Wichtigkeil für das private Leben des Hauern haben, können alle Frauen mit einfacher Majorität entschieden werden. Das Ge8etz gestattet jetzt in einzelnen Fällen von der Entscheidung der Gemeindeversammlungen an sie zu appellirenj aber mit Ausnahme der Ausweisungsbeschlüsse darf eine derartige Appel-lation nur auf die Rechtswidrigkeit der Beschlussfassung, auf die Procedur selbst, nicht auf die Materie der Sache sich beziehen. Solche Appellationen sind im Uebrigen sehr selten, seltener als die Un-^ereehtigkeiten und F ebergriffe der Gewalt. Die Anhänglichkeit dos wiie Aui'sichtscomites für bäuerliche Angelegenheiten. — Schwierigkeiten und Gefahren der bureaukratischen Controle. — Die Autonomie der Gemeinde und die Isolirung der bäuerlichen Classe. — Ihre Wirkungen und ihre Ursachen. — Wie sind die (Jutsbesitzer wieder in die Gemeinde ebizuführen? — Ist das Selfgovemineut des Mir eine Vorbildung zur politischen Freiheit. In den Augen der Regierung war der Hauptzweck:, der einzige Zweck der in Russland bestehenden bäuerlichen Verwaltung lange nur der, die Einnahmen des Staats sicherzustellen. Hierin liegt auch heute noch für die Centrairegierung der grössto Nutzen der Buuer-gemeinden. In dieser Beziehung erbte die Gemeinde die Aufgabe des frühern Herrn, die Rechtsverbindliehkeit der Leibeigenschaft. Dank der solidarischen Steuerhaft aller Glieder des Mir besitzt die Regierung in der Gemeinde den eifrigsten, pünktlichsten, unerbittlichsten Steuererlieber. Die Abgaben würden immer am bestimmten Tage bezahlt werden, wenn sie nicht mitunter die Kräfte des Steuerpflichtigen überstiegen. Aus dem Rechte des Steuererhebers oder Steuerpächters schöpft die Gemeinde zum grossen Theile ihre administrative Autonomie, ihm verdankt sie besonders ihre Gewalt über ihre eigenen Glieder. Um die ihm zukommenden Zahlungen richtig durch sie zu erhalten, lässt der Staat sie die Steuern nach ihrem Gutdünken auf ihre Glieder vertheilen; er muss ihr alle der Dehörde verfügbaren Gcwaltmassregeln zugestehen. Die Solidarität der Hauern gegenüber dem Fiscus ist so einer der Gründe ihrer Fügsamkeit gegen die Gemeinde. Hierin liegt mehr noch als im Gemeindebesitz eine deutliche Ursache des engherzigen Despotismus des Mir, welcher der Entwicklung der persönlichen Freiheit, der Individualität und des Unternehmungsgeistes so hinderlich ist. Die Solidarität knüpft zwar an den Gemeindebesitz an, aber — wie schon früher bemerkt wurde (Bd. I, Kap; V), solidarische Haft und Gemeindebesitz sind nicht untrennbar, und wären das nicht weniger, wenn die Steuer nur ein liruchtheil des Landertrages bildete. Die solidarische Steuerhaft ist nur ein ebenso mangelhaftes, als einfaches und primitives Verfahren der Steuererhebung. Sie bindet den Dauer an die Scholle, indem sie ihn an seine Gemeinde bindet, und setzt so mittelbar die Leibeigenschaft fort. Wie vor der Freigebung ist der Lauer durch sie ebenso an den Roden gefesselt, nach dem russischen Ausdruck: prikreplen oder krepostnöi, wie zur Zeit der krepostnost oder Leibeigenschaft. Die Kette, die ihn hielt, ist länger und leichter geworden, aber nicht gebrochen und wird kaum gebrochen werden, so lange die Loskaufszinsen gezahlt werden müssen.]) Die Bauern, dem Fiscus und ihren frühem 1 Jenen und jetzigen ') l>:i die Gemeinde den Bauer an sein Dorf bindet, ist sie zugleich ein Hindernis« für die freie Oolonisation der südlichen und östlichen Steppen; sie wirkt dahin, die alte Vertheilung der Bevölkerung künstlich aufrecht zu erhalten, denn de widersetzt sich ihrem freien Abfluss, statt sie sich nach natürlichen Gesetzen fiber die fruchtbarsten und ertragfähigsten Landschaften verbreiten zu f'^M'ii. in dieser Beziehung hält also die GemciiHlcvormundSchaft, die man ui letzter Zeit zu mindern bemüht gewesen ist, die Wirkungen der Freigebung auf. Gläubigern gegenüber solidarisch mit einander verbunden, können sieb schwer von dieser Kette lösen und sich freier Individualität be-wusst werden. Die für alle ihre Glieder verantwortliche Gemeinde muss eine sirenge, ununterbrochene Controle über diese führen; sie kann sich des Hechtes nicht begeben, die einen auszuschliessen, die andern festzuhalten, bevor nicht diejenigen, die sie verlassen wollen, der Genossenschaft ihren Antheil an der Gemeindeschuld entrichtet haben. Dieses System der Zwangsgegenseitigkeit, das von mehreren nationalökonomischen Schulen so laut gerühmt wird, hält die ihr unterworfenen Leute in einer engen und andauernden Bevormundung. Ganz umgekehrt, als in Frankreich, sind die Gemeinden in Russland frei und mündig, die Hauern, die sie bilden, unmündig. Nach den Schilderungen der Gegner des jetzigen Systems ist das Joch der Gemeinde drückender und dem Mushik verhasster, als das der Leibeigenschaft. Viele Bussen behaupten, dass diese zu freien Gemeinden verbundenen Bauern lieber, wie früher, einen Herrn aus einem andern Stande hätten, als dass sie in Abhängigkeit von ihresgleichen und von Dorfintriganten stehen. Es ist immer leicht, das Volk sprechen zu machen, aber schwer, seine wahre Meinung zu erfahren. LTnd das ist in Hussland noch schwerer, als anderwärts, denn der Mushik ist der niisstrauischste, verschlossenste aller Menschen. Der Bauer empfindet wahrscheinlich den Druck der Ketten, die er zu tragen gewohnt ist, weit weniger, als es diejenigen für ihn thun, die ihn von ihnen belastet sehen. Er würde vielleicht gar ohne die Fessel, von der ihn gewisse Philanthropen befreien wollen, kaum vorwärtskommen können. Wie die Mängel der Gegenwart scheinbar immer schwerer zu tragen sind, als die Leiden der Vergangenheit, so scheinen die Missbrauche des gegenwärtigen Systems mitunter unerträglicher, als die Handhabung der Leibeigenschaft, welche den Hauern wenigstens einen Gebieter und Schirmherrn gab. Dass ein solcher Vergleich zwischen den Mängeln der Freiheit und den Krebsschäden der alten Leibeigenschaft überhaupt möglich ist, das allein beweist, bis zu welchem Grade das Selfgovemmeni der Hauern hinter den stolzen Hoffnungen der Patrioten von 1861 zurückgeblieben ist. In diesem Punkt — das kann nicht geläugnet werden — hat das Land eine schwere Täuschung erlitten: das Kussland der Reformen, das unter Alexander IL soviel Enttäuschungen erlebt, hat wohl keine grössere und empfindlichere erfahren. Leute der cid gegengesetztesten Ansichten, Conservative und Liberale, Slavophilen und Freunde des Westens sind darin einverstanden, die Fehlgeburt und die Unfruchtbarkeit jener oommunalen Freiheiten zu verurtheilen, auf die Hussland vor zwanzig .Jahren noch so stolz war. Die Russen, die sonst so gespalten in ihren Meinungen sind, stimmen in der Bezeichnung der Schäden der Landgemeinden ubereln; es sind: die Willkür der Versammlungen und der Staroste. die fntrigue und ist vielleicht unter Alexander III. grösser, als um die Mitte der Regierungszeit Alexanders II. Der Niedergang der bäuerlichen Selbstverwaltung wird von den meisten eompetenten Leuten behauptet oder anerkannt, und diese Selbstverwaltung hat nur etwa zwanzig Jahre gesetzlichen Bestehens hinter sich. Der Niedergang der Gemeindeinstitutionen würde somit von der Ereigebung datiren; die Emanci-pation wäre für die freie Verwaltung der Bauern verhängnissvoll gewesen. Statt neue Lebenskraft, Purificirung, Bildung, Entwicklung jeder Art sollte die Gemeinde nur Befleckung, Corruption, Schwinden der Kräfte in der Freiheit ihrer Glieder gefunden haben. Sicherlich gäbe es kein traurigeres Schauspiel, zumal wenn man bedenkt, dass diese alte Landgemeinde die einzige organische und lebendige, die einzige wirklich nationale Institution Russlands ist, Ja, das Lehel ist gross, aber man darf daraus unseres Erachtens doch noch nicht auf den unabwendbaren Verfall der Institution seil Messen. Aussei' den Feldern und Lücken des Gesetzes, ausser der Atmosphäre VOU CoTTttption, weicht1 die ganze russische Verwaltung äthmet, liegt der Grund des augenscheinlichen Verfalls der Landgemeinde in der seit der Freigebung eingetretenen Veränderung der bäuerlichen Sitten. Wie die Familie des Bauern, wie der ganze Staat, befindet sich auch die Gemeinde augenblicklich in einem Uebor-gangsstadium, in dem die alten Anschauungen und traditionellen Gewohnheiten fiel von ihrer Macht eingebüsst haben, ohne dass etwas Anderes sie ersetzt hätte, in dem zu den alten Fehlern neue treten, ohne dass sich mit Sicherheit voraussehen Hesse, was aus dem gegenwärtigen Chaos hervorgehen wird. Unterdess bestreitet fast Niemand den Ernst des Uebels: wie gewöhnlich ist man nur über das Heilmittel noch nicht einig. Line-giebts, dessen Wirkung wohl sicher, aber langsam ist und lange Jahre der Anwendung fordert, der Volksunterricht. Es giebt noch eines, das scheinbar einfacher ist, das durchaus am Orte scheint, das fast. von aller Welt empfohlen wird, das sieh aber vielleicht ebenso schwer anwenden lässt, als es leicht ist. es anzuratheil, das ist die Controle. Das beste Mittel, den Missbräuehen in den Dorfverwaltengen ein Ende zu machen, ist ohne Zweifel die Ueberwaehung des Gebrauchs, den diese Verwaltungen von ihren Hechten machen, die Ueberwaehung der Gesetzlichkeit und Gerechtigkeit der Gemeindebeschlüsse, die Ueberwaehung ihrer strengen Durchführung. In einem so ausgedehnten Staate mit dünngesäeter Bevölkerung ist diese Aufgabe offenbar keine von den leichtesten: und wenn das wirklich das einzige Heilmittel wäre, so ist dieses Heilmittel selbst — in Hussland, wie überall, — eine Gefahr. Es steht zu befürchten, dass der Wille, die Gemeinden zu überwachen und ihnen Ordnung zu geben, nur die comniunalen Freiheiten schwächen und schädigen würde. Die Gefahr jedes Versuchs der Art wäre, dass unter dem Vorwand, die Hauern der Vormundschaft der Gemeinde zu entziehen, die Gemeinden selbst unter Vormundschaft geriethen. Es gab zwei Wege, die Hauergeineinden zu oontroliren: man konnte zur Centraigewalt, zur Polizei, zum Tschinownikthum seine Zulluchtnehmen, und man konnte zu demselben Zwecke sich an die Gesellschaft, an die Wahlversammlungen wenden, die Kaiser Alexander 11. den Gouvernements octroyirt hat. Die Regierung hat abwechselnd oder, richtiger gesagt, nach beiden Systemen zugleich gegriffen, ohne bisher aus einem derselben besondern Erfolg geerntet, zu haben. Die Machtbefugnisse, die 1871 den Tsprawniks und der Polizei erheilt wurden, haben, wie bereits erwähnt wurde, kaum Anderes bewirkt, als dass ein Anlass mehr zu "Willkür und Amtsüberschreitung in den Dürfern eingeführt wurde. Wie hätte auch eine in der Regel corrum-pirte Verwaltung die Wunden der communalen Corruption heilen können V Wenn das Eingreifen des Isprawnik und der Polizei gewisse Missbräuche seltener machte, so hat sie andere, vielleicht noch bedauerlichere eingepilanzt. Die Bauern hatten fortan die zwiefache Begehrlichkeit zu befriedigen, den zwiefachen Zorn oder Groll zu fürchten. Der Isprawnik und namentlich dessen Untergebener, der Stanowoi haben beispielsweise in mehreren Gegenden Mittel gefunden, unter dem Deckmantel communaler Leistungen unentgeltliche Diener zu recrutiren oder durch Umwandlung dieser Leistungen in Geld erhebliche Kinnahmen von ihnen zu beziehen. Sie haben sieh in die Dorfjustiz gedrängt, und da das Gesetz innen das Recht abspricht, die Bauern peitschen zu lassen, lassen sie dieselben von den Wolost-richtern zur Ruthenstrafe verurtheilen'). Um der Polizei oder der Verwaltung, die in Russland gewöhnlich Eines sind, die Controle der Landgemeinden zu übergeben, müsste man die Controleure controliren, die Ueberwachenden überwachen lassen. Uebrigens ist das ein Hinder-niss, auf das bei dem Fehlen politischer Rechte die russische Regierung fast überall stösst. Ausser der gefährlichen administrativen Controle wäre die der Gesellschaft und der Wahlversammlungen möglich. Die Regierung hat nicht gezaudert, sich an diese zu wenden, das Land jedoch hat daraus ebensowenig Nutzen gezogen, und vielleicht ebensoviel Schuld daran, als jene. Bis 1874 war nach dem Emancipationsstatut die Sorge um die Controle der neuen bäuerlichen Verwaltung Männern anvertraut, die vom Provincialadel aus dem Schosse desselben gewählt waren. Diese obrigkeitlichen Personen, Schiedsrichter oder Friedensvermittler, miro-wüjo posredniki genannt, hatten zugleich die Aufgabe, die grosse Abrechnung der Leibeigenschaft zu leiten, die Streitigkeiten der bisherigen Leibeigenen und der bisherigen Herren zu ordnen2). Die Eriedensvermittler haben diese doppelte Aufgabe nicht überall erfolgreich gelöst. Am Anfang, da es sich um Einführung des Befreiungsgesetzes von 1802 handelte, hatte sich der beste Theil des Adels hochherzig diesen peinlichen und schwierigen Functionen unterzogen. Aber als die grosse Schlacht der Freigebung ihnen beendet und gewonnen schien, als die grossen Fragen der Landvertheilung und der Land- ') S. weiter unten Hoch IV, Kap. II-9) S. Bd. I, Buch VII, Kap. EI. ablösung im Allgemeinen geordnet waren, nahmen die hingehendsten und eifrigsten von diesen Friedensvermittlern ihre Entlassung, um zu ihren früheren Beschäftigungen zurückzukehren. Während der ersten zwei eder drei Jahre hatte sich das moralische und intellectuelle Niveau dieser improvisirten Beamten sehr hoch gestellt; jetzt sank es plötzlich und auf empfindliche Art. Die später erfolgende Einsetzung von Friedensrichtern trug noch dazu bei, dasselbe hinabzudrücken, da sie die Ergänzung der Eriedensvermittler erschwerte. Die Mehrzahl von denen, die das Amt behielten oder annahmen, suchte in demselben eine Stellung, ein Mittel zur Existenz, und diese Stellung war zu bescheiden, um Männer von grösserer Befähigung anzuziehn. Kurz, die Friedensvermittler sahen sich allmälig von Publicum und Presse der Nachlässigkeit, der Gesetzwidrigkeit, ja der Bestechlichkeit bezichtigt, wie die einfachen Tschinowniks. Provincial-versammlungen und Gouverneure nahmen gegen sie Partei, ohne sich weiter der Dienste zu erinnern, die sie geleistet hatten. Mit Recht oder Unrecht, die Versuchung lag nahe, sie für die Misshräiieho verantwortlich zu machen, welche in die ihrer Ueberwaehung anheimgegebenen Gemeinden eindrangen. Uebrigens waren diese Beamten mit specieller Bücksicht auf die Freigebung eingesetzt, sie konnten dieselbe gar nicht bis ins Ungewisse hinaus überleben. Sie wurden durch ein Gesetz von 1X71 wenigstens in den centralen, durchaus russischen Gouvernements, die von Alexander II. mit Provin-cialversammlungen ausgestattet waren, ihres Amtes enthoben. In den westlichen Provinzen, die, wie wir sehen werden, noch ausserhalb des allgemeinen Gesetzes stehen, sind die Friedensvermittler noch nicht abgeschafft, aber sie werden dort nicht von dem Adel, sondern von der Regierung ernannt, so dass sie nur Regierungsbeamte sind. Einer der grössten Vorwürfe, die gegen diese Friedens vermittlet-erhohen wurden, war ihre Willkür gegenüber den Gemeinden. Um diesen letzteren mehr Bürgschaften für Gerechtigkeit und Ehrlichkeit zu bieten, bezweckte das Gesetz von 1874 — nach einem bei den kaiserlichen Gouverneuren sehr beliebten Verfahren — dass die Nachfolge der abgeschatlten Eriedensvermittler nicht etwa auf einzelne amtliche Persönlichkeiten, sondern auf Collegien aus mehreren Personen, auf die sogenannten Comites für Bauerangelegenheiten übergehe In diesen Comites hat die Regierung sehr verschiedene Elemente ') rjesdnojo po krcstjanskini ) S. über die Centralisation die geistreichen Briefe Molinari's über Russ-hm.l zur Zeit der Aufhebung der Leibeigenschaft 18G0 und 1877. Erste Ausgabe, pag. 201—218. ist in Bezug auf die von Peter gegründete Bureaukratie richtig1); aber der Reformator hat Europa mehr die Formen, die Mittel, die Werkzeuge der Centralisation, als die Sache selbst entliehen. Man sagt, die bureaukratische Centralisation stehe im Gegensatz zu dem russischen Geiste und der russischen Natur, im Gegensatz zu der traditionellen Autokratie und dem Ideal des slavischen Staats. *) Man muss sich hierüber zu verständigen suchen und gewisse Unterscheidungen machen. Was dein russischen Volk widerstrebt, das sind wohl mehr die Formen der bureaukratischen Centralisation, als die Centralisation selbst. Scheint auch der bureaukratische Formalismus mit seinen endlosen Schreibereien in Bureaux und Kanzleien dem im Volke lebendigen Begriff vom väterlichen und patriarchalischen Regiment zu widersprechen, so enthält doch dieser Begriff in seinem Wesen gewissermassen die Grundlage zu administrativer Reglemen-tirerei. Da der Zar als Vormund und Hirte, als geborener Schützer des Volkes betrachtet wird, muss er natürlich seine Unterthancn wie Mündel und Minderjährige behandeln; Diese halb politische, halb religiöse, patriarchalische Anschauung, welche bei den Slavophilen so hoch in Ansehen steht, ist — wie sehr das diese auch verdriesse — eine der moralischen Ursachen des Systems administrativer Bevormundung, gegen welches sie mit gutem Grunde Protest erheben. Ganz wie die alten moskowitischen Zaren fühlte sich Kaiser Nikolai als der Vater seiner Unterthancn, und darum behandelte er sie als Kinder, machte Bichs zur Pflicht, sie am Gängelband zu führen und sie niemals sich selbst zu überlassen. Wenn die Centralisation auch mit dem Volksbegriff von der Regierungsgewalt, mit dem Geist der Autokratie übereinstimmt, steht sie nicht etwa in offenem Widerspruch zu der Natur des Landes, dessen weite Ausdehnung laut gegen sie zu protestiren scheint? Auch hier wird wohl unterschieden werden müssen. Die räumliche Entfernung ist von jeher und in verschiedenem Betracht das grosse Hemmniss der russischen Centralisation gewesen, ja, man könnte sagen, sie sei dadurch, dass sie derselben Grenzen auferlegte, ein ') In gewissem Sinn Hesse sich sagen, dass die bureaukratische Organisation wie die Centralisation der Verwaltung schon in dein Kussland vor Peter dem Grossen und seinen Erlassen im Keim vorhanden war. Das Moskowien der ersten Romanows war schon gewissermassen ein bureaukratischer Staat, russisch prikasnüi, denn die Russen besitzen, was deutlich beweist , dass das bureaukratische Regime der Vorgänger bei ihnen nicht ermangelte, hiefür ein nationales, selbstgebildetes Wort. 2) S. u. A. die „Russ" von J. Aksakow 70m 20. Mai 1881. Heilmittel gegen ihre Ausschreitungen gewesen; aber gerade der Kampf gegen die Entfernung, die Anstrengung der Herrscher, „das russische Land zu sammeln" und es vereinigt zu halten, das ist eine der entscheidenden Ursachen der Centralisation, vielleicht im Anbeginn ihr erster Entstehungsgrund gewesen. Man betrachte nur die Con-iiguration des russischen Staats und des russischen Bodens, und diese Erscheinung hört auf, zu überraschen. Wenn die Entfernungen des Reiches der Centralisation zu widerstehen scheinen, so scheinen die Bodenbeschaffenheit, die Unbegrenztheit seiner Provinzen, die natürliche Anordnung seiner Ebenen ihr geradezu entgegenzukommen. In Frankreich ist die administrative Centralisation vornehmlich das Werk der Geschichte, der Politik und der Monarchie gewesen; in Russland könnte man sie vor Allem das Werk der Natur und des Bodens nennen. Allem Anschein zuwider waren die unermesslichen Ebenen des östlichen Europa für die administrative Centralisation geschaffen, wie sie es für die politische Einheit sind. In dem Fehlen aller nationalen, militärischen, natürlichen Grenzen, war dem alten Moskau ebenso sein Beruf vorgezeichnet, wie in dein Fehlen provin-eicller Schranken und innerer Scheidewände. Die Gründe, welche aui russischem Boden die Gründung oder die Dauer unabhängiger Staaten und besonderer Fürstenthümer hinderten, hemmten auch die Bildung piminciellerIndividualitäten und erstickten die autonomistischen Neigungen. In keinem Lande der Welt sind die landschaftlichen Sonderbedingungen, das Locallebcn, so sehr aller äussern Umgrenzimg. allen Schutzes, jeder natürlichen Wiege bar. Der Charakter der Mannigfaltigkeit und Individualisirung, der dem Boden fehlte, hätte sich nur in der Bevölkerung selbst, in ihren nationalen, sprachlichen, religiösen Unterschieden finden können. Nun, auch hierin täuschte der Schein; Hussland zählt freilich eine unbegrenzte Zahl von Völkern und Stämmen in seinem Gebiete, aber das russische, das grossrussische Volk ist wesentlich ein einheitliches und gleichen Stammes. Kein anderes Volk besitzt vielleicht trotz der Mannigfaltigkeit seines Ursprungs, 80 festen nationalen Zusammenhalt, keines hat ein so klares Bewusstsein seiner Einheit. Pinnen, Letten, Polen, Rumänen, Tataren, Armenier, alle diese unterschiedlichen Völker, die rings um das alte Moskowien leben, üben auf dessen innere Gleichartigkeit keinen Einlluss. Euter der blättrigen Rinde der Eiche findet sich das Kernholz mit fester Faser. Der feste historische Kern des moskowitischeii Reiches, das Volk Grossrusslands, zeigt nicht blos in Sprache, Religion, Sitten eine Einheit, einen innern Zusammenhang, wie er vielleicht ausserhalb Chinas keinem A'olke eigen ist, sondern auch überall, im privaten Leben wie anderswo, eine Abwesenheit des Individualismus und der Mannigfaltigkeit, die den Mangel an Piovincialismus erzeugt. Das so Lebendige Gefühl der nationalen Einheit hat zugleich mit der besonderen Kraft auch eine besondere Form. In den Augen des einfachen Mauers ist Hussland weniger ein Staat oder eine Nation, als eine Eamilie. Diese patriarchalische Auffassung scheint fast 60 alt zu sein, als Russland selbst; sie lässt sich bis in die Zeit der Theilfürsten-thümer verfolgen und hat sich in der Tatarenherrschaft und in dem moskowitischen Einheitsstaat nur ausgebreitet und befestigt. Von allen Völkern hat der Russe wohl die geringste Anhänglichkeit an seinen Heimathort oder an sein Dorf, den geringsten Localsinn und die wenigsten Kirohthurmsvorurtheile: seine Neigung zu Pilgerschaften, Reisen, Wanderhandel ist eine der Aensserungen jenes Hanges des Mannes aus dem Volke, seine Gedanken bis an die Grenzen des Vaterlandes schweifen zu lassen, statt sie auf den engen Horizont seiner Provinz zu beschranken. Die Centralisation ist von dem rassischen Einheitsgefühl vorbereitet worden: die zahlreichen Annexionen, die sie lockern und schwächen zu sollen scheinen, haben sie nur fester gezogen. Die Reihe der Erwerbungen Alexeis, Peters des Grossen, Katharinens IL, Alexanders I.. die an Moskau Länder banden mit stamm-, sprach-, bildungsfremden Bevölkerungen, diese unermesslieheti Erwerbungen, die von dem Eismeer zum schwanen Meer und von der Ostsee ins Herz von Asien reichen, haben die Centralisation zu einer politischen Notwendigkeit gemacht. Je mehr das Reich sich ausdehnte, um so fester musste es den Knoten ziehen, der diese verschiedenen Eroberungen, alle diese mehr oder minder centrifugalen Provinzen an das alte historische Centrum knüpfte. Aus der Einheit des herrschenden Volkes hervorgegangen, ist die Centralisation durch die Mannigfaltigkeit der unterworfenen Provinzen gestärkt worden. Zwei entgegengesetzte Ursachen haben zu demselben Ziele geführt. Die Geschichte des russischen Staats ist die Geschichte der zarischen Centralisation seihst. Einmal durch die Grossfürsten von Moskau vereinigt, konnte dieses auf allen Seiten offene, Jahrhundertelang den Einfällen aller Völker ausgesetzte Land seine Unabhängigkeit nur wahren, wenn es alle seine Kräfte in einer einzigen Hand sammelte und festhielt. Die langen Kämpfe gegen Westen und Osten, gegen Europa und Asien, die beide um dieses Mittellami zu streiten schienen, haben die Centralisation der Gewalten nur beschleunigt, die einen der historischen Charakterzüge Russlands bildet, Aus diesem Grunde waren Centralisation und Absolutismus, die hier wie anderwärts Hand in Hand gingen, für Russland lange Zeit Existenzbedingung. Russische Schriftsteller, einerseits Demokraten, wie Herzen, andererseits Slavophilen, wie die Aksakow, besonders aber kleinrussische Schriftsteller, wie der Historiker Kostomarow, haben behauptet, die Centralisation stehe im Widerspruch zum Wesen der Slaven, das ihrer Meinung nach einen natürlichen Hang zum Föderalismus hat.]) Vielleicht ist das für die westlichen und südlichen Slaven richtig, falsch aber ist es in seiner Anwendung auf die Russen, mindestens auf die Grossrussen. Natur und Geschichte haben diese in gleicher Weise seit Jahrhunderten für die Centralisation herangebildet; wenn sie ihr den Verlust aller politischen Freiheit danken, so sind sie ihr vielleicht auch die Thatsache schuldig, dass sie allein von allen slavischen Völkern im Besitz ihrer nationalen Selbständigkeit geblieben sind. Der sociale und wirtschaftliche Zustand hat zu der gleichen Wirkung beigetragen, wie die natürlichen und politischen Bedingungen. Die Schwäche des städtischen Elements, der Mangel an grossen Städten,2) die zu Centren des provinciellen Lebens hätten dienen können, das hat der moskowitischen Verwaltungsweise nicht geringen Vorschub geleistet. In dieser Beziehung ist der von der Hauptstadt abgeleitete Name des Landes, des alten Moskowüens, bezeichnend. Das Fehlen eines Bürgerthums in den Städten, die Abwesenheit einer wirklichen Aristokratie des Grund und Bodens auf dem Lande — das war ein anderer Grund für die übermässige Centßalisation. Eines städtischen Bürgerthums und eines Grundadels zugleich entbehrend, war das Land derjenigen Stände beraubt, die anderwärts die Local-regierung in Händen haben und sie allein der Staatsgewalt mit Erfolg streitig machen können. Centralisation und Autokratie haben in Russand dieselben Ursachen gehabt; sie sind aus denselben Bedingungen hervorgegangen, so dass sich nicht sagen lässt, welche von ihnen die andre hervorgebracht oder erzeugt hat. Ursache und Wirkung zugleich, halten beide auf einander zu gegenseitiger Stärkung und zu Ausschreitungen 1) Diese These Herzens findet sich u. A. in Lc Peuple russe et le socialisme p. 18. Kostomarow spricht mehr oder minder gleiche Ansichten in seinen Studien zur nationalen Geschichte aus. Der hervorragende Historiker betrachtet beispielsweise die Zeit der Theilfiirstenthümcr als eine natürliche Aeusserung der föderalistischen Neigungen des russischen Slaven vor der moskowitischen Herrschaft. a) Die Ostseeküsten sind hier nicht mit in Betracht gezogen. eingewirkt, Innig verbunden haben beide Russland grosse Dienste geleistet, beide sich diese Dienste theuer zahlen lassen. Anderen Nationen haben die administrative Bevormundung und die absolute Regierungsgewalt Freiheit und Grosse gegründet; noch andere danken ihnen vielleicht ihre Civilisation. Das moderne Russland dankt das erste dieser G-üter grossentheils der Centralisation und der Autokratie zugleich. Ohne die Concentrirung aller Kräfte, ohne den Mangel aller Frovincialfreiheit, wäre das Werk Peters des Grossen und seiner Nachfolger unmöglich gewesen, es wäre an dem localen Widerstand gescheitert. Die Centralisation war das grosse Werkzeug zu der europäischen Reform; um ihretwillen lässt sich sagen, Russland sei auf administrativem Wege civilisirt worden. Für das Land war das eine gefährliche und kostspielige Wohlthat; für die bureaukratische Organisation war es eine neue Quelle der Kraft und Dauer. In den Augen einer civilisirenden Regierung war das russische Volk nur ein Schüler, der der steten Erziehung bedurfte; der Lehrer konnte den rohen und wilden Jungen, den er zu bilden hatte, nicht genügend fest unter Vormundschaft halten. Je höher die Aufgabe, mit welcher die Geschichte die russische Verwaltung betraut hat, um so weniger Rücksicht und Bedenken ihrerseits. Nirgend konnte die Rolle des Erziehers und Pädagogen, welche die Regierungen so gern für sieh beanspruchen, von Denjenigen so ernst genommen werden, die sie als Mission erhalten zu haben meinen. Die nach europäischem Vorbild geformte, russische Verwaltung konnte das Volk, das sie gängelte, weniger für eine Nation von Vaterlandsgenossen, als für ein niedriger stehendes Volk, für eine der Freiheit unwürdige Race nehmen, wie etwa die Europäer die Eingeborenen ihrer Colonien zu nehmen pflegen. In dem modernen Russland ist im neunzehnten wie im achtzehnten Jahrhundert Alles von oben her gekommen, vom Kaiser, aus der Hauptstadt. Von Peter dem Grossen ab hat sich die Regierungsgewalt systematisch dazu bereitet, jede eigene Bewegung im Lande zu unterdrücken, um dasselbe in den Zustand eines Automaten, eines gefügen Mechanismus zu setzen, den einzig und allein die Regierungsfeder treibt. Alb1 Verwaltung wurde sclavisch der militärischen Organisation nachgebildet. Die Disciplin, die Dienstinstruetion waren das Gesetz des bürgerlichen, wie des soldatischen Lebens, und die Instruction war auf alle Einzelheiten des Lebens ausgedehnt, kleinlich und zudringlich, wie nirgend anderswo. Von einem Ende des Reiches zum andern, in der localen wie in der centralen Verwaltung, Alles hatte Ordre zu pariren. Unter der Hand Peters und seiner Nachfolger glich Russland einem Soldaten im Regiment oder einem Rekruten auf dem Exercierplatz; der auf Befehl des Unteroffiziers geht, steht, vorrückt, zurückweicht, den Arm oder das Bein hebt. Und dieses System war die natürliche Folge der Unternehmung Peters des Grossen, der die Sitten des Volkes ebenso umwandeln wollte, wie die Gesetze des Staats. Man kann sich die Wirkungen eines solchen durch viele Generationen geübten Regiments vorstellen. Geduldig zur Unthätigkeit dressirt, hat das Volk jeden Sinn der Initiative verloren, und als unter Katharina II. und Alexander II. die Regierung die Gesellschaft aufforderte, selbst zu handeln, ihre localen Angelegenheiten selbst zu ordnen, da vermochten Gesellschaft und Provinzen, der Thätigkeit entwöhnt, dem öffentlichen Leben entfremdet, nur kümmerlich auf die Einladung der Regierung zu antworten. Nachdem sie so lange daran gearbeitet hatte, alles locale Leben zu ersticken, konnte die Regierung es nicht mehr nach ihrem Belieben mit einem Male wieder anfachen. Das Land hatte sich der administrativen fteglementirung ebenso angepasst, wie der Staat, und weder jenes noch dieser, weder die Gesellschaft noch die Werkzeuge der Gewalt konnten nach ihrem Wollen die alten Gewohnheiten ablegen. Es haben alle Versuche, an die Stelle der automatischen Bewegung der Bureaukratie die freie Thätigkeit der Bevölkerung zu setzen, bisher nur einen massigen Erfolg gehabt. Nach Jahrhunderten eines derartigen Systems könnte es kaum anders sein. Viele Vorwürfe, welche die Büreaukraten der neuen Localverwaltung machen, fallen naturgemäss auf die Bureaukratie zurück; die Unterthancn des Zaren können nicht auf eigenen Füssen stehn, weil sie allzulange in den Windeln gehalten worden sind. Eine der Einwendungen, die am häufigsten zu Gunsten der administrativen Bevormundung erhoben werden, ist, dass es in den Provinzen so wenig aufgeklärte Männer und bei den aufgeklärtesten Männern keine Initiative gebe. Hierin liegt freilich einer der historischen Gründe der russischen Centralisation, aber — wie es oft geschieht — die Arznei hat das Uebel gefristet, das sie heilen sollte. Die Centralisation will Ersatz schaffen für den Mangel an Männern im Innern der Gouvernements, und sie selbst vertreibt die fähigen und gebildeten Männer, die sich dort finden Hessen, aus den Gouvernements, sie schafft künstlich eine Leere im Innern des Reiches, indem sie Intelligenz und Reichthum in die Hauptstadt zieht. Die grosse administrative Maschinerie des Fortschritts hindert so die Entwicklung der Cultur und der Civilisation, statt sie zu beschleunigen. Das ist noch nicht Alles; wenn die russische Centralisation auch naturgemäss aus den physikalischen und historischen Bedingungen des Reiches hervorgegangen ist, so hat sie doch auf dem Roden und in der Geschichte Russlands ein doppeltes Prineip der Schwächung und der Wirkungslosigkeit gefunden. Zwei grosse Hindernisse haben sie in ihrem Werke gehemmt, die materielle Grösse des Gebiets, das sie zu leiten hatte, und die Tjnwisssonheit des Volks, aus dem sie ihre Werkzeuge beziehen musste. Hieraus erklärt sieh die häufige Ohnmacht einer Verwaltung, die von Gesetzeswegen allmächtig sein sollte. Da die provinciellen Freiheiten null oder schlecht gewahrt sind, da die Hand der Centralgewalt nicht überallhin reicht, haben Verwirrung und Gesetzwidrigkeit lange trotz der Centralisation und selbst unter ihrem Schutz regieren können. Die schwere, unvollkommen montirte bureaukratische Maschine war ausser Stande, einer unermess-lichen Aufgabe zu genügen; der Anstoss der ersten Triebkraft, unregelmässig von schlecht gestellten Rädern übertragen, verlor sich, ohne an die äussersten Theile des Werkes zu gelangen. So hat Russland lange Zeit alle die praktischen Missstände einer administrativen Reg-lementirung erfahren, ohne als Entschädigung deren Vortheile zu gemessen. Zweites Kapitel. Die Cei Ural Verwaltung. Die grossen Reichscollcgien. — Der dirigirende Senat. — Der Reichsrath. — Warum diese Institutionen den Hoffnungen Ihrer Gründer nicht entsprochen haben. — Die Ministerien und das Ministercomitö. — Keine Verbindung /wischen den Zweigen der Verwaltung. — Folgen dieses Mangels an administrativer Einheit. — Ist ein homogenes Ministerium bei dem autokratischen Regiment möglich? Die russische Verwaltung steht noch auf den von Peter dem (}rossen am Ende des siebzehnten Jahrhunderts geschaffenen Grundlagen, die Katharina II. später gefestigt und*erweitert hat. Die alte moskowitische Verwaltung war höchst einfach, ganz primitiv und elementar. Hussland wurde lange Zeit wie ein Privatbesitz, wie ein grosses Landgut verwaltet ohne anderes Gesetz, als den Willen des Herrn, ohne andre Regel, als die Entscheidungen der Wojewoden oder Gouverneure, die als Verwalter des Zaren fungirten und alle bürgerlichen und militärischen Gewalten in sich vereinigten ]). Unter diesem ') Tschitscherin: Die Regicrungsinstitutionen Russlands im 17. Jahrb. und Forschungen über die Geschichte des russischen Rechts (russ.). A. Gradowski, Geschichte der LocalVerwaltung (russ.). mehr oder minder väterlichen und patriarchalischen Regiment konnten Gebräuche, Traditionen, lokale Sitten sich noch behaupten. Die Leibeigenschaft und die Landgemeinde vereinfachten überdies eine Verwaltung ganz besonders, deren Hauptsorge die Erhebung der Steuern und die Rekrutirung des Heeres war. Das Regiment der moskowitischen Wojewoden glich einigermassen dem der türkischen Paschas vor einem halben Jahrhundert, jedoch mit dem Unterschied, dass in vielen (legenden der Türkei, insbesondere der europäischen Türkei, die Verschiedenheit der liace, der Sprache, der Religion auch eine Verschiedenheit der Verwaltung, ja mitunter ein gewisses Mass der Selbstverwaltung aufrecht erhielt. Peter der Crosse — hierin, wie in allen Dingen der Nachahmer Europas - wollte seine Staaten mit einer geordneten, modernen Verwaltung beschenken. Das war eines der Hauptwerke des Reformators, und von allen den von ihm übernommenen Aufgaben war diese die schwerste. Es schien, als hätte er nur die Methode und das Verfahren des Westens hin überzunehmen gebraucht. Aber Peter bewies, dass die Institutionen sich nicht so rasch von Land zu Land, von einem verhältnissmässig civilisirten zu einem verhältnissmässig barbarischen Volk übertragen lassen. Den Theorieen des achtzehnten Jahrhunderts vorgreifend, behandelte der revolutionäre Zar sein Land wie eine tabula rasa, auf der Alles neu aufgebaut werden könne, wie es gerade den Principien der Wissenschaft oder ausländischen Lehren entsprach. An die Stelle des Chaos der alten moskowitischen Gemäuer wollte Peter eine neue regelmässige und symmetrische Stadt stellen mit breiten, luftreichen, nach der Schnur gezogenen Strassen. Hiefür fehlte aber Peter I. und seinen Nachfolgern eine wesentliche Bedingung: es fehlte ihnen an Material und an Arbeitern. Die europäische Centralisation hat ihre eigenen Formen, sie besitzt ein eigenes Werkzeug, das wir Bureaukratie nennen; dies unentbehrliche Werkzeug aber fehlte Peter dem Grossen und lange nachher noch dessen Nachfolgern. Das russische Reich besass die administrative Centralisation ohne die modernen Organe für dieselbe. Diese Thatsache darf nicht ausser Acht gelassen werden, wenn man alle in Russland vertretenen Widersprüche und Gegensätze verstehen will: auf der Oberfläche eine scharfe administrativ«' Bevormundung, tiefer unten Unordnung, Unregelmässigkeit, Willkür, tan coordinirtes System von Aemtern und mehr oder minder scharfsinnig angelegten Institutionen lässt sich zur Noth in der Eile schaffen; doch nicht auch eine Hureaukratie, ein geschlossener Körper von Beamten, weil der Heranbildung dieser die Heranbildung der ganzen Nation, die sie leiten sollen, zur Voraussetzung hat. Hierin lag für Peter den Grossen, für alle seine Nachfolger, die Kaiser Nikolai und Alexander II. mit einbegriffen, eine unüberwindliche Schwierigkeit, eine unablässige Quelle von Irrthümern, von Experimenten, von Täuschungen. Die wohldurchdachte, aus Europa importirte oder ihm nachgebildete Maschine konnte allein nicht gehen; es half nichts, an ihr Vervollkommnungen vorzunehmen oder die Triebräder zu vereinfachen. Unter ungeschickten oder bestechlichen Händen konnte der Verwaltungsmechanismus nicht mit Regelmässigkeit funetioniren. Bevor wir uns die Arbeiter betrachten, welche die Maschine in Gang bringen sollen, müssen wir zuerst die Maschine selbst kennen lernen. In der Mitte derselben befindet sich ein einziger Motor, die kaiserliche Gewalt; alle Räder haben nur die Aufgabe, deren Triebkraft weiter zu tragen. Unter dem selbstherrlichen Kaiser, von dem Alles ausgeht, stehen zwei grosse Staatskörper: der Senat und der Reichsrath. Von diesen beiden Körpern ist der erstere, der ältere, der von Peter dem Grossen zur Controle der gesammten Verwaltung geschaffen wurde, eines guten Theils seiner Functionen und Privilegien zu Gunsten des zweiten entkleidet worden, der am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts geschaffen wurde. Der „dirigirende" Senat dirigirt nichts; ursprünglich war er zwar mit allen den Rechten ausgestattet, die sich mit dem autokratischen System vereinigen lassen, jetzt ist er auf gerichtliche Functionen beschränkt; er ist nur noch ein Cassationshof. Wenn der Herrscher auch den Senat jeden Einflusses auf die Verwaltung entkleidet hat, so richtet er sich doch bisweilen an dessen Glieder, um von ihnen administrative Untersuchungen in den Provinzen anstellen zu lassen 1). Der Reichsrath ist eine Art von Staatsrath. Von Alexander I. unter dem Einflnss Speranskfs zur Zeit und nach dem Vorbild des napoleonischen Conseil d'etal gegründet, zeigt der Reichsrath in gewisser Beziehung dieselbe Organisation, wie dieser2). In Ermangelung 1) Dies geschah z. B. gegen Ende der Regierung Alexanders II., wo mehreren Senatoren dergleichen Untersuchungen anvertraut wurden, deren Berichte 1880 und 1881 viel Lärm machten. S. weiter unten Kap. IV. a) Der Reichsrath ((iossudarstwcnnüi sowet) wird im Auslände häutig Staatsrath genannt. Diese Benennung wäre vortrefflich, wenn sie nicht zu einer Verwirrung Anlass gäbe. Bekanntlich figuriren die Titel Staatsrath, wirklicher Staatsrath auf der Rangliste unter den Stufen des Tschin. Nun nimmt aber der Träger dieses reinen Ehrentitels (stätski sowdtnik) durchaus nicht Theil an dem Collegium, das Staatsrath genannt wurde und Reichsrath lieisst; jene Staatsräthe haben den erforderlichen Rang zum Eintritt in den Reichsrath nicht. von erblichen oder gewählten Kammern ist diesem Körper das Recht der Legislative übergeben. Der Beichsrath hat die Gesetze zu be-rathen und zu redigiren, das Budget zu prüfen, die Rechenschaftsberichte der Minister entgegenzunehmen. Die schwierigsten Kragen werden ihm vorgelegt; er ist aus den höchsten Würdenträgern und Beamten des Reichs zusammengesetzt — aber er hat in allen Stücken nur berathende Stimme. Wie der Conseil du Hoi der alten französischen Monarchie ist diese Versammlung im Grunde nur eine Vereinigung einfacher Rathgeber. Der Kaiser, der die Glieder ernennt und die Befugnisse feststellt, tritt ihm von seiner Macht nichts ab; der Kaiser allein entscheidet. Der Selbstherrscher ist durch die Rathschläge dieser Versammlung in keiner Weise gebunden; er bestätigt, verwirft, verändert sie nach seinem Belieben Der Reichsrath hat den Hoffnungen seiner Gründer Alexander und Speranski nicht entsprochen. Bestimmt, bei Ermangelung eines Parlaments die autokratische Gewalt als Gesetzgeber zu ergänzen und ZU vertreten, sollte er zugleich die Verwaltung der Minister überwachen. Von beiden Aufgaben hat er keine ganz erfüllt. Schuld daran ist ebensowohl die Art der Zusammenstellung dieser hohen Versammlung, wie das ihr auferlegte Reglement. Dieses theoretisch mit den weitesten Befugnissen, mit der Ausarbeitung der Gesetze und mit der Controle der höchsten Verwaltung ausgestattete Collegium besteht grossentheils aus hohen Beamten, die theils im Dienste stehen, theils verabschiedet sind, jene von ihren Aemtern ganz in Anspruch genommen, diese durch Alter oder Krankheit ausser Stande, an den Arbeiten des Collegiums ernstlich theilzunehmen. Zur Seite zahlreicher Generaladjutanten, die den Geschäften fremd sind, sitzen frühere Civilbeamte, die mit Begierde wieder in den Dienst treten und die mehr darnach gelüstet, sich mit den Min istern gut zu vertragen, als deren Thätigkeit zu überwachen. Nach Abzug der Untauglichen ergiebt sich, dass von den sechzig Gliedern des Reichsraths als Effectiv-ziffer nur ein ungenügendes Personal übrig bleibt, das durch die Zahl, wie durch die Stellung seiner Glieder die Aufgabe eines gesetzgebenden Körpers oder einer Controlkammer zu erfüllen ausser Stande ist. Endlich fehlt dieser Institution, was allen russischen Versammlungen abgeht, was trotz aller Mängel der ursprünglichen ') Der Reichsrath ist in drei Departements getheilt, von denen jedes sieben oder acht Glieder hat. Ausserdem giebt es Glieder, die nur im Plenum Sitz haben. Ihrer sind etwa 10, die Minister nicht mitgezählt, die kraft ihres Amtes < Mieder sind. Zusammensetzung ihr sonst ein wenig Unabhängigkeit und Autorität verleihen würde: der Corpsgeist. Bei solcher Organisation ist diese Versammlung peinlicher Weist1 auf ein ganz passive, äusserliche Rolle beschränkt. Anstatt die Gesetze auszuarbeiten, begnügt sie sich meist damit, die kaiserlichen Erlasse zu registriren. AVenn es sich um Massregeln von einiger Wichtigkeit handelt, vertraut überdies der Herrscher die Untersuchung derselben keineswegs seinem Reichsrath an, sondern er ruft gewöhnlich Speeial-cummissionen zur Hülfe, deren Entwürfe wiederum nur um der Form willen dem Collegium vorgelegt werden. Auf diese Weise sind — von der Freigebung der Leibeigenen an — alle grossen administrativen, judieiären, militärischen und wirthschaftlichen Reformen vorbereitet worden. Dieses System von einzelnen, zeitweiligen, nach Belieben auflösbaren Commissionen steht übrigens vielleicht in grösserer Uebereinstimmung mit dem Prineip der autokratischen Gewalt. Unter Alexander III. wie unter Alexander II. sind immer mehrere dieser Commissionen oder Comites in Thätigkeit, von denen viele, nachdem sie bei ihrem Entstehen einigen Lärm gemacht, stillschweigend wieder verschwinden, ohne mehr als ihre umfangreichen Berichte zu Tage gefördert zu haben, oder sich auch nach einigen gelehrten und unfruchtbaren theoretischen Abhandlungen auf unbestimmbare Zeit zu vertagen. Mit Hülfe solcher Specialcommissionen hilft die Regierung der Unzulänglichkeit ihres gesetzgebenden Körpers ab, doch nicht ohne doppelten Nach-theil. Zuerst geschieht das zu Gunsten einer verzweifelten Langsamkeit, die bisweilen das lange Verfahren unserer schwerfälligsten Parlamente als ein rapides erscheinen lässt; dann auf Kosten aller Vortheile einer gleichförmigen und einheitlichen Gesetzgebung. Aus verschiedenen, zusammenhanglosen Commissionen und aus einander fremden, oft verschiedenen Impulsen folgenden Comites hervorgegangen, bewahrt die russische Gesetzgebung notwendigerweise etwas Fragmentarisches, Unzusammenhängendes, Inconsequentes. Die Art der Ausarbeitung der Gesetze erklärt den Mangel an Uebereinstimmimg und den Mangel an Erfolg vieler der besten Reformen der Regierung Alexanders II. Man könnte dem Reichsrath die Rolle, die sein Gründer ihm bestimmte, nicht wiedergeben, ohne dessen Niveau zu heben und seine Rechte zu' erweitern, und das Nesse sich nicht ohne Veränderung seiner Zusammensetzung ausführen. Man dachte gegen Ende der Regierung Alexanders H. hieran. Man sprach nicht allein von einer Vermehrung der Zahl der Glieder des Reichsraths, sondern auch von der Berufung von Vertretern des Volks zu denen des Kaisers; sie sollten aus dem Schoosse der ProvmeialVersammlungen, Wenn nicht von diesen selbst gewählt werden. Viele Russen möchten in einem solchen Ausweg ein Mittel sehen, um Hussland an seiner Regierung teilnehmen zu lassen, ohne ihm eine Verfassung zu verleihen, ein Mittel, um ohne politische Wahlen zu einem Ersatz für ein Parlament zu gelangen l). Was auch der praktische Werth solcher Projeote sei, Kaiser Alexander II. scheint ihnen im Augenblick seines Todes nicht ferngestanden zu haben, und ähnliche Entwürfe könnten leicht unter Alexander III. wieder auf die Tagesordnung gelangen. Mittlerweile hat die kaiserliche Regierung das, was sie nicht in geregelter und dauernd gültiger Weise in Bezug auf den IJeichsrath zu tinin wagte, bereits theilweise praktisch in Bezug auf einige ihrer grossen gesetzgeberischen Commissionen gethan. Wie Alexander II. zur Zeit der Emunoipation in die Redactionscommissionen Glieder der Adelsver-sammlungen berufen hatte, so hat Alexander III. in einer Commission, die für die Minderung der übermässigen Abgaben der frühem Leiheigenen zu arbeiten hat, mehrere Glieder der Semstwos berufen. In dieser bescheidenen Massregel, bei der die Delegirten der Gesellschaft nicht einmal von ihren gewählten Repräsentanten bezeichnet waren, ist immerhin das Land wieder eingeladen, seine Meinung über einzelne Angelegenheiten zu sagen. Wie aber auch die berathenden Körperschaften zusammengesetzt seien, ob Reichsrath, ob Specialcommissionen, immer sind diese Versammlungen nur berathend, die gesetzgeberische Gewalt bleibt voll und ganz in der Hand des Kaisers. Als ob diese Thatsache noch mehr hervorgehoben und der Reichsrath innner wieder an die Bescheidenheit seiner Hollo und die Bedeutungslosigkeit seiner Berathungen erinnert werden sollte, spricht sich dieses Collegium, rechtlich der erste Körper des Staats, nicht selbst über die ihm vorgelegten Entwürfe aus. Um die Unabhängigkeit des kaiserlichen Willens mehr zu betonen und dessen Allmacht in nichts zu beschränken, werden dem Kaiser nicht die Majoritätsbeschlüsse des Reichsraths, sondern zugleich Majorität«- und Minoritätsgutachten vorgelegt, die also auf gleiche Stufe gestellt weiden. Man «lenke sich ein solches Prineip auf Vertretungskörper angewandt, und dabei eine Regierung, die vollkommen frei ist, zwischen Majorität und Minorität zu wählen. Wenn gewisse Einflüsse und Lehren einmal beim Zaren Eingang fänden, wäre dies das Schauspiel, das Russland dereinst Europa bieten könnte. Wo die grossen Körperschaften des Staates nur bescheidene *) Wir kommen weiter unten auf diese Fragen zurück. Buch II und Buch IV. Werkzeuge der automatischen Gewalt sind, können die Minister kaum grössere Bedeutung beanspruchen. Die Errichtung von Ministerien geschah fast gleichzeitig mit der Gründung des Reichsraths. Auch sie sind eine Schöpfung des Kaisers Alexander L, der nach dem Ruhme eines Reformators strebend, seinen Völkern Institutionen geben wollte, die denen der grossen europäischen Staaten ähnlich sähen. Unter dem Einflüsse SperänsM's und Kotschubei's war Frankreich, das gerade damals den Reorganisationen Eonapartes unterlag, auch hierin das Vorbild. Durch einen Ukas aus dem Jahre 1802 wurden die Ministerien an die Stelle der Collegien Peters des Grossen gesetzt, die im Grunde nichts Anderes als die allen moskowitischen Erikase, — nach dem Modell der Collegialverwaltungen umgebildet, — waren, die in Frankreich zur Zeit der Regentschaft in Ehre standen. „ Die alten Collegien hatten zu Vorwürfen Anlass gegeben, die vom Collegialsystem überhaupt unzertrennlich sind; ihre Aufhebung wurde aber nichtsdestoweniger von den Staatsmännern beklagt, welche die Ausdehnung der einem Menschen übertragenen Machtbefugnisse und in den neuen Ministern lauter Autokraten zu erhalten fürchteten. In einem Briefe an Kotschubei, einen der Urheber dieser Reform, machte sich der Graf Woronzöw sogleich nach der Errichtung der Ministerien zum Organ dieser Befürchtungen. Dieser Patriot erhob sich schon im Voraus gegen den Despotismus von Ministern, die jeder Controle Ledig seien, während die alten Collegien, die ihm schon Garantie in sich selbst zu bieten schienen, durch die Theilung der Befugnisse unter ihre verschiedenen Glieder von Peter dem Grossen der Controle des Senats unterstellt gewesen waren l). War dergleichen Bedauern über das Vergangene wenig gerechtfertigt, da die Institutionen Peters des Grossen den Hoffnungen des Reformators wenig entsprochen hatten, so behielt die Befürchtung Woronzöws für die Zukunft doch Recht. Die ministerielle Allmächtigkeit nahm der Verwaltung zwar die Langsamkeit und die Complicirtheit des Collegialverfahrens, musste aber in erster Reihe die bureaukratische Centralisation und die administrative Bevormundung aufs Aeusserste erhöhen. Die zehn jetzt bestehenden Ministerien-) umfassen nicht alle *) Brief von 1803, veröffentlicht 1881 im „Russischen Archiv". Woronzöw thcilte dieselben Ansichten dem Fürsten Czartoryski in einem gleichzeitigen Briefe mit. Below, Historischer Bote (russ.). Oct. 1H80. ') Diese, deren Zahl mehrfach gewechselt hat, sind jetzt das Ministerium: 1) des Hofes oder kaiserlichen Hauses, 2) der auswärtigen Angelegenheiten, 8) des Innern, 4) der Finanzen, 5) der Justiz, G) der Volksaufkläruug, 7) der Wegccouunuuicationen, 8) der Domänen oder Staatsgüter, 9) des Krieges und Zweige der Verwaltung, es giebt ausserhalb derselben einige unabhängige Aemter, wie die Reichscontrole, deren Chef Rang und Functionen eines Ministers hat. Der Kaiser hat ausserdem seine eigene Kanzlei, die lange aus vier Abtheilungen bestand, von denen die dritte, die berüchtigte, bis zum letzten Jahre Alexanders IL schlichtweg ein Ministerium der hohem Polizei war. Die meisten Ministerien sind in Departements getheilt, die von einander fast unabhängig sind. Jedem Minister ist ein Rath beigegeben, der oft monate-, ja jahrelang sich nicht versammelt und den seine Mitglieder wie eine Sine-cure oder einen Ruhestand betrachten. Ausserdem hat der Minister gewöhnlich einen „GehülfeiV, towarischtsch, der der Mitarbeiter seines Chefs ist und oft sein Nachfolger wird. Ein etwas humoristischer Kusse, der die geheimen Triebfedern in den Petersburger Kanzleien gut «kannte, sagte hierüber, in Russland sei die Regierung zu einem gewaltsamen Niedergang verurtheilt und müsse schliesslich in die Hände der Dummheit gerathen. Gewöhnlich suchen sich die Minister im Amte einen Gehülfen, durch dessen Talente sie nicht in Schatten gestellt werden können. Einmal Minister geworden, macht der neue es natürlich abermals so, und auf diese Weise scheint das Niveau der hohen Würdenträger und namentlich des Ministerpersonals dazu bestimmt, sich fortschreitend von Amtsinhaber zu Amtsinhaber niedriger stellen, und allmälich von der Mittelmässigkeit zur Unfähigkeit hinabsinken zu müssen. Vielleicht würde sich das so gewohnheitsmässig fortspinnen, wenn nicht zum Glücke des Reiches die egoistischen Berechnungen der Männer in Amt und Stellung oft durch Infriguen ihrer Mitbewerber oder durch das Fingreifen des Herrschers vereitelt würden, der, auf die Gefahr hin. die Einheitlichkeit des Dienstes zu stören, mitunter seinen Ministem Gehülfen giebt, die sie selber nicht gewählt hätten. Der Herrscher greift oft zu einem Verfahren, das die Würde des Ministers und die Bedeutung seiner officiellen Mitarbeiter zu lieben wenig geeignet ist; an die Spitze der Ministerien und mitunter der wichtigsten Ministerien stellt er häufig statt eines Ministers einen Vertreter oder Verweser, der erst nach mehr oder minder langer Prüfungszeit in seinem Amt bestätigt wird. Dieses Hülfsmittel scheint keinen andern Vortheil zu bieten, als das Portefeuille leichter Männern anvertrauen zu können, die darauf weder durch Talent noch durch Erfahrung ein Anrecht haben. Zuweilen ist auch — und zwar unter Alexander IL 10) der Marine. Bei der Thronbesteigung Alexanders III. war von der Aufhebung des kostspieligen Ministeriinn des Hofes die Rede. Leroy -Beauliou, Reich d. Zaren u. d. Russen. II. Bd, 5 wiederholt — die Leitung der Ministerien Hofgünstlingen, Männern des Tages, politischen Dilettanten, in der Regel Generaladjutanten des Kaisers, mit einem Worte Männern anvertraut worden, wie sie Tur-genew in seinem Roman „Rauch" als „Generale von Baden-Baden" schildert. Von Weitem scheint es, als müsse das Vaterland der Autokratie das Vaterland der Harmonie zwischen den Gewalten und der administrativen P^inheitlichkeit sein. Die verschiedenen Verwaltungszweige gleichen, aus der Entfernung gesehen, bei ihrer starken büreaukratisclien Centralisation jenen neuen pneumatischen Uhren, deren Zeiger, von derselben Triebkraft getrieben, alle gleich gehen und alle dieselbe Stunde zeigen. In Wirklichkeit ist es nicht so; die Einheitlichkeit der Action, die dem Anschein nach das Erbtheil der absoluten Regierungen sein sollte, fehlt Russland häufig genug. Diese Regierung, in welcher alle Gewalten aus demselben Willen hervorgehen, in welcher alle Autorität in derselben Hand vereinigt ist, in welcher es ofliciell nur einen Motor giebt, gehört zu denen, deren administratives Räderwerk die meisten Reibungen und somit den grössten Kraft-Verlust erzeugt. Der Hauptgrund dieses Uebels ist die isolirte Stellung der verschiedenen Ministerien, die gleichsam verschiedene, von einander unabhängige Staaten bilden, deren jeder sein Heer von Beamten, mitunter sogar seine besondere Casse hat und immer bereit ist. mit den andern in Kampf zu treten. Wenn Hussland auch Minister bat, so bat es doch kein Ministerium in der politischen Bedeutung des Wortes. Zwischen den Chefs der verschiedenen Verwaltungen besteht keinerlei Zusammenhang noch Band, keinerlei Solidarität noch gemeinsame Richtung. Die Minister versammeln sich zwar an bestimmten Tagen, um sich mit einander zu verständigen; aber diesen von den Bedingungen der verschiedenen Dienstzweige durchaus geforderten Versammlungen giebt die officielle Sprache nicht den ernstlichen Namen eines Raths (sowet.), noch den parlamentarischen Titel eines Cahmets. Hussland hat nur ein „Minister-comite" (komitet ministrow), und die Namen sind hiebei nicht unrichtig. Die Minister sind überdies nicht die alleinigen Glieder des Comiles: neben ihnen haben nicht blos der Reichscontroleur und der Ober-procureur des heiligen Synods, der als eine Art von Minister für kirchliche Angelegenheiten betrachtet werden kann, Sitz, sondern auch die Chefs mehrerer Abtheilungen der kaiserlichen Kanzlei, die Präsidenten der verschiedenen Departements des Reichsraths und sogar der Chef des Gestütewesens. Bei einem wirklichen, blos aus den Chefs der Ministerien bestehenden Rath würde dieses sogenannte Ministercomite ein überflüssiges Räderwerk sein. Den Vorsitz führt eine von dem Kaiser selbst ernannte Persönlichkeit, die in der Regel nicht selbst Minister ist. Während des grössern Theils der Regierung Alexanders II. war der Präsident des Comites ein Hofmann ohne Bedeutung und politischen Einfluss, ein General Ignatjew, Verwandter des berühmten Diplomaten von San Stefano. Als Alexander IL ein oder zwei Jahre vor seinem Tode einen der ausgezeichnetsten seiner frühem Mitarbeiter, den Grafen Walujew, successive Minister des Innern und der Domänen, zu dieser Stellung berufen hatte, wurde die Frage aufgeworfen, ob dieser Vorsitz, der bis dahin nur eine Ehrenbezeigung gewesen, in solchen Händen nicht politische Bedeutung gewinnen könne. In Wirklichkeit geschah das nicht, und .Alexander III. hat im Octoher 1881 den Grafen Walujew durch Herrn von Reutern, der lange Finanzminister gewesen war, ersetzt, ohne dass der Vorsitz im Comite mehr geworden wäre, als eine Sine-oure für einen Günstling des Hofes oder eine einträgliche Pfründe für einen frühern Minister, dessen alte Dienste der Kaiser belohnen wollte. Ein an sich scheinbar unbedeutender Umstand dürfte für ein Symptom der Functionen des Präsidenten des Ministercomites gelten; dieser Präsident hat weder ein Hotel noch eine Amtswohnung in der. Hauptstadt; er bewohnt nur eine Villa, eine Datsche, auf den Inseln und könnte das ganze Jahr in seiner Villaggiatur bleiben, ohne dass der Staat es empfände. Die Angelegenheiten müssten — so Hesse sich erwarten — immer im Comite oder Collegium von den Ministern berathen werden; aber die Chefs der verschiedenen Verwaltungen überheben sich häufig dieser Formalität und klopfen direct an die Thür des kaiserlichen Cabinets. Sitte ist es, dass die Minister persönlich ihren Bericht (doklad) dem Herrscher überreichen. Diese Sitte allein könnte den verschiedenen Verwaltungschefs alle Solidarität nehmen. Dem Kaiser allein verantwortlich und auch ihm nur persönlich verantwortlich, sind die Minister in Wahrheit nur die Secretärc, sozusagen die Schreiber des Zaren, aber Secretäre, die — allein auf dem Laufenden der Geschäfte — meist die Entscheidungen des Herrn dictiren, und allmächtige Schreiber, wenn sie das Ohr des Autokraten für sich haben. Die bestangeschriebenen Minister thun sich keinen Zwang an, um über die Köpfe ihrer Collegen weg den Kaiser Massnahmen genehmigen zu lassen, welche diesen unbekannt bleiben. Die verschiedenen Organe der Regierung widersprechen und pnrulysiren sich 5* gegenseitig, statt in Uebereinstimniung zu handeln. Der Graf Woronzow hatte auch dieses Uebel vorausgesehen, noch ehe die Erfahrung es hervortreten Hess. Er hatte nach der Errichtung der Ministerien vorausgesehn, dass hei den persönlichen Vorträgen und den Einzclaudienzen der Minister heim Kaiser Ukase erlassen werden würden, die einzelnen Ministern erst mit dem Publicum zugleich bekannt würden1). Die Wirkungen eines solchen Systems sind klar: der Finanzminister erfährt erst nach geschehener That von den Ausgabe-projecten seiner Collegen vom Innern und von der Justiz, der Kriegsminister weiss vielleicht nicht, ob die Politik des auswärtigen Amts kriegerisch oder friedlich ist. Die erste und die natürliche Folge solcher Isolirung der Minister ist der Mangel an administrativer Einheitlichkeit, die Unordnung, die Verwirrung. Die Minister sind unter sich nicht einig, und im Schosse jedes Ministeriums sind die einzelnen Departements fast ganz unabhängig von einander. Die, Minister können, wenn sie das Vertrauen ihres Herrn haben, viel auf sich nehmen, und unter den Ministern kann jeder hohe Beamte, wenn er die persönliche Gunst des Herrschers besitzt, nach seinem Willen, im Widerspruch oder ohne Vorwissen seiner Collegen und seiner Vorgesetzten handeln. In der innern, wie mitunter in der äussern Politik gelangt man so zu Zusammenhang-losigkeiten und Widersprüchen, die schliesslich der Regierung den Schein eines Doppelwillens geben. Fast immer Eivalen und häufig Feinde, oft entgegengesetzte Bestrebungen und feindliche Coterieen vertretend, — die Alexander II. mitunter systematisch einander entgegenstellte, um sich keiner ganz ergeben zu müssen, — so stehen sich häufig die Minister in geheimem Kriege gegenüber, der manchmal fast zu einem öftentliehen wird8). Unter Alexander II. war bald die Justiz mit dem Innern, bald die Volksaufklärung mit dem Kriege im Krieg. Während der Minister bemüht war. die alten Missbräuche zu entwurzeln und die persönliche Freiheit sicher zu stellen, suchte sein College vom Innern, ein Parteigänger der alten burcaukratischen Willkür, die Thätigkeit der Gerichtshöfe durch administrative Verfolgungen illusorisch zu machen. Die Misshelligkeit der Minister, die ') Brief des Grafen Woronzow an den Fürsten Cznrtoryski 18Ö8. Historiseher Bote. Oct. 1880 (russ.). -) Ich habe nach der ungedruckten Correspondenz N. Milutins merkwürdige Beispiele dieser innern Zerwürfnisse unter Alexander II. angeführt. S. Rev. d. d. Mondes die Studie: En homme d'Ktal russe conteniporain, Oct., Nov., l>ec. 1880 und Febr. 1881. sich am Hofe, in den Salons, selbst in der Presse gegenseitig bekämpften, breiteten sich auch über ihre Untergebenen aus. Alle Regierungsthätigkeit war dadurch gehemmt, in die verschiedenen Zweige der Verwaltung drang Anarchie ein, und diese von einem trügerischen Firniss der Uniformität bedeckte Unordnung gereicht»; nur der revolutionären Propaganda zum Vortheil. Von Weitem geselin, musste ein modernes Volk unter solchem Chaos der Verwaltung nur leiden können. In Russland aber kann man noch fragen, ob unter dem absoluten Regiment die Fehler der Verwaltung nicht für die Zukunft des Landes ebensoviel Vortheile wie Lebelstände bieten. Dies ist keineswegs ein sinnloses Paradoxon. Die administrative Anarchie ist, wie alle grossen fehler der kaiserlichen Bureaukratie, wie Alles was die Allgewalt des Staates schwächt, — nicht ohne manche Compensation; die schwächlichen neuen Freiheiten haben vielleicht mehr Vortheil als Schaden von ihr gehabt. Der öffentliche Geist, der Geist des Fortschritts und der freien Forschung, der in einem autokratischen Staate, bei einem Zusammenwirken der verschiedenen Regierungsorgaue in Gefahr gestanden wäre, vollkommen erstickt zu werden, hat durch die Spalten, welche die Misshelligkeiten und die Uneinigkeit der Minister boten, wenigstens einige Luft zu freierem Athemzuge erhalten. Fan Petersburger Blatt bemerkte einmal: in der Vergangenheit, unter Alexander IL, wie unter Alexander I. hätte eine einförmige Leitung der Regierung in den allzeit in Russland häufigen Reactionsperioden, sich gegen die liberalen Ideeen gerichtet und den Sieg der rückschrittlichen Politik besonders begünstigt: sie hätte zum Beispiel die besten Reformen Alexanders IL ganz beseitigen können. Beim jetzigen System dagegen können unter dem Schutz der Zwiespältigkeiten und Meinungsverschiedenheiten der Minister und Dank der Autonomie der einzelnen Verwaltungszweige die reactionären Ideeen und Bestrebungen in dem einen Ministerium triumphiren, ohne darum in allen andern zu siegen; die liberalen Grundsätze können auch in den trübsten Zeiten eine Zuflucht in einzelnen Departements finden und dort die Rückkehr einer bessern Stunde erwarten. Von allen Seiten betrachtet, Hesse sich also vom patriotischen Standpunct aus eine grössere administrative Einheitlichkeit nur dann wünschen, wenn sie mit neuen Bürgschaften für das Land verbunden Wäre, Sonst käme sie einzig der Bureaukratie, der Centralisation und der administrativen Bevormundung zu gute. Diese Gefahr haben die Russen wahrlich nicht am meisten zu befürchten. Die Regierung wird in dieser Beziehung viel Mühe haben, sich ihres alten Schien- drians zu entledigen. Sie hat sich in den letzten Monaten Alexanders II. und in den ersten Wochen Alexanders LTL viel mit dieser Frage beschäftigt, sie aber nicht lösen können. Es war davon die Rede, das Ministercomite durch einen wirklichen Ministerrath, wenn nicht durch ein Cabinet im Sinne des Westens zu ersetzen, die Minister unter einander solidarisch zu machen, vielleicht sogar einen derselben zu dem Amte und Titel eines Premier zu erheben. Eine solche Veränderung wäre im Allgemeinen von den Liberalen günstig angesehen worden. Ein solidarisches Cabinet, das als Ganzes dem Herrscher verantwortlich ist, bis es einmal auch der Nation verantwortlich sein wird, würde wohl nicht mit l'nrechl vielen Küssen als der erste Schritt auf constitutionellem Wege erscheinen. Das war eine von den Beformen, die man von Alexander III. erwartete, nachdem man sie vergeblich von seinem Vater gehofft hatte. Wenn fast alle Parteien — aus verschiedenen Gründen darin einig sind, grössere Gleichartigkeit in dem Ministerium zu fordern, seist doch eine solche Neuerung schwer mit den autokratischen Traditionen zu vereinen. Ueberau ist es schwierig, ein solidarisches und innerlich gleichartiges Cabinet ohne ein wirkliches Haupt mit überwiegendem Eintluss, ohne einen Präsidenten des Ministerraths oder einen Premierminister zu haben. Nun haben aber die Kaiser von Russland im Gegensatz zu andern absoluten Monarchen niemals Premierminister gehabt. Hierin sind sie instinetiv oder systematisch immer dem Grundsatz Ludwigs XIV. gefolgt, auf die Gefahr hin, bei ihnen — mit grösserem Schaden für den Staat — den Kampf der Colbert und Louvois erneuert zu sehen. Um sicherer Herren ihrer Gewalt zu bleiben, um rechtlich und sachlich ihre ganze Machtfülle zu behalten, wollen die Kaiser ihre eigenen Premierminister sein. Haben sie auch nicht alle die Energie und Befähigung Peter des Grossen, Katharinas 11. und Nikolais besessen, so haben sie sich doch, wie Alexander II. mit eifersüchtiger Sorge bemüht, zwischen ihren Rathgebern eine Art von Gleichgewicht zu erhalten, Einflüsse und Strömungen einander entgegenzustellen, und darauf gewacht, dass keine Meinung, keine Persönlichkeit eine überwiegende Gewalt gewinne. Es hat nichts Geringeren , als der wiederholten Attentate des Nihilismus, als der erwiesenen Ohnmacht seiner Regierung gegenüber den Verschwörungen einer Bande von jungen Leuten bedurft, um Alexander II. dahin zu bringen, dass er in seinem letzten Regierungsjahr alle Gewalten in einer einzigen Hand vereinigte und dem General Loris-Melikow eine Art von Dictatur anvertraute. In dem autokratischen Regiment — so lehrten 1881 die wichtigsten Pressorgane — giebt es für einen Premierminister keinen Kaum. Hierüber scheinen Petersburg und Moskau, die doch sonst in Zwiespalt zu sein pflegen, gleicher Meinung zu sein. „Bei uns", schrieb 1881 eines der ersten Petersburger Blätter, Porüdnk (die Ordnung), „könnte ein Premierminister nur ein Oross-vezier sein". Und das ist richtig: die urnigen Staatsmänner, dir von Araktschejew unter Alexander I. bis auf Loris-Melikow unter Alexander TT. einen überwiegenden Einfluss geübt haben, sind kaum etwas Anderes gewesen. Ein Richelieu oder Bismarck ist in Bussland ebenso wenig möglich, wie ein Cavour oder Robert Peel. Das Reich besitzt einen Kanzler, aber dieser höchste Würdenträger des Staats ist gewöhnlich auf die auswärtige Politik beschränkt und hat nur den Einfluss seiner persönlichen Autorität. Die Autokratie ist eine Sonne, die keine Trabanten duldet, aus Furcht, ihren eigenen Olanz verdunkelt zu sehen. Hussland empfindet bei alledem das dringende Eedürfniss eines homogenen Cabinets, damit der Regierung eine einheitliche Richtung, die ihr bis heute gefehlt hat, gegeben werde. Von hier aus wird vielleicht die politische Umgestaltung des Reichs ausgehn. Ein solches Collegium, mit oder ohne offioielle Präsidentschaft, würde alle Beziehungen des Herrschers und seiner Minister mit Gewalt verändern. Ein solidarisches, als Ganzes verantwortliches Ministerium würde unausbleiblich dem Kaiser gegenüber eine Haltung von Unabhängigkeit annehmen, wie sie bis jetzt noch unbekannt ist; es würde bald mit dem Autokraten verhandeln, wie Macht mit Macht. Um es an der Regierung zu erhalten, müsste der Zar mit ihm rechnen, ihm das Feld freilassen, ihm selbst mitunter offene Vollmacht geben. Das Cabinet würde sich allmälieh vor der Gesellschaft und dem Lande ebenso verantwortlich fühlen, wie vor dem Kaiser. Die öffentliche Meinung wäre für dasselbe eine Art von Parlament in den Ferien, dessen Vertrauen es zu gewinnen versuchen würde. Vereint und auf Grund eines gemeinsamen Programms übereinstimmend handelnd, würden die Minister, mit welchen gesetzlichen Einschränkungen man auch ihre Macht begrenze, aufhören, die einfachen Werkzeuge des souveränen Willens zu sein. Der Zar könnte sich ohne Constitution und Parlament fast auf die Rolle eines constitutionellen Herrschers beschränkt sehen. Diese scheinbar so bescheidene Reform, die Allen so dringend und nothwendig erscheint, schliesst im Grunde eine gewisse Umwälzung in sich: einmal im Prineip angenommen, würde sie jedoch vielleicht ebenso schwer praktisch einzuführen und dauernd zu befestigen sein, wie eine Verfassung oder eine politische Vertretung. Wie man auch wolle, man wird der Verwaltung und der Regierung eine grössere Einheitlichkeit nicht gehen können, ohne mittelbar in die Autokratie einzugreifen und sowohl den persönlichen Rechten des Herrschers, wie denen seiner Minister eine Schranke zu ziehen. Hiezu ist beispielsweise vorgeschlagen worden, den letzteren, und folglich auch ihrem Herrn, das Recht der Entscheidung einer Angelegenheit ohne Zustimmung aller ihrer Collegen zu nehmen; man hat als Prineip aufgestellt, dass die ministeriellen Berichte odei Doklade erst nach einer Berathung im Ministerrath der höchsten Genehmigung vorgelegt werden müssten. Das Verfahren ist höchst einfach; aber wenn es mit keinerlei anderer Reform im Staate verbunden wäre, wenn die absolute Gewalt rechtlich in ihrer ganzen Machtfülle erhalten bliebe, so Hesse sich in der Praxis schwerlich eine wirkliche Durchführung dieser Massregel verbürgen. Wie Hesse sichs denn in Wirklichkeit dem Kaiser verbieten, diese oder jene Angelegenheit mit einem Lieblingsminister zu erledigen, oder wie ihn zwingen, nichts ausserhalb seines Ministerraths zu entscheiden? Diese Frage bot schon im Frühjahr lxxl Anlass zur Auflösung des ersten Ministeriums Alexanders III. Cm alle Kräfte der Regierung zum Kampfe gegen den Nihilismus zu sammeln, um den vielen Bürgerkriegen der Verwaltungen gegen einander ein Ende zu machen, war nach dem erwähnten Prineip beschlossen winden, dass im Widerspruch zu der unter Alexander II. üblichen Praxis die Minister nur noch solche Verfügungen der kaiserlichen Unterzeichnung vorlegen sollten, welche im Conseil von ihren Collegen gutgeheissen seien. Der Kaiser scheint diese Anordnung genehmigt zu haben, das Publicum hatte darüber Kenntniss erhalten; man schmeichelte sich bereits mit der Hoffnung, Russland im Besitz eines wirklichen Ministercabinets zu sehen, als eine Hofintrigue, wie sie jederzeit in einem absoluten Staat gesponnen werden kann, Alles umstiess. Man hatte vergessen, dass die erste Bedingung, einein solchen Prineip Anerkennung zu verschaffen, die Zustimmung und Geneigtheit aller Minister war, diesem Beschluss sich zu fügen. Dies war nun aber im ersten Ministerium Alexanders III. keineswegs der Fall. Man unterschied in demselben nach den Traditionen der vorhergehenden Regierung mindestens zwei Strömungen, die mehr oder minder deutlich hervortraten, denn in Hussland sind die politischen Farben noch weitaus nicht so scharf getrennt, wie anderwärts. Die Anhänger der sogenannten liberalen oder westlichen Ideeen schienen durch Zahl und Einfluss den Sieg davonzutragen. Es waren dies namentlich alte Minister Alexanders IL, der Minister des Innern General Loris-Meli- kow, der Kriegsminister General Dmitri Milutin und der Finanz-minister Abasa. Diese drei Männer bildeten ein Triumvirat, dessen Kinlluss der vorherrschende zu sein schien. Neben ihnen, hesser ihnen gegenüber standen die von dem neuen Kaiser berufenen Männer, die für Vertreter der mehr oder minder unklaren Tendenzen der Nationalpartei oder der Neuslavophilen galten. Da war zuerst der General Ignatjew, früher Gesandter in Konstantinopel, dann Domänenminister, ferner der Oberprocureur des heil. Synods Pobedonoszew, einst Lehrer Alexanders III., Uebersetzer der Nachfolge Christi, ein überaus kirchlicher und conservativer Mann, der in jedem Fall mehr zu Moskau und der Nationalpartei neigt, als zu den in Petersburg herrschenden westlichen Ideeen. Ein aus so entgegengesetzten Elementen bestehendes Ministerium konnte unmöglich der ganzen Politik eine gleich-massige Richtung geben. In dem Augenblick, wo man Russland in den Besitz eines Cabinets treten zu sehen meinte, brach eine Ministerkrise aus, wie sie noch nie stattgehabt. Der Kaiser Alexander TIT. hatte ohne Wissen seiner bedeutendsten Minister den Text seines denkwürdigen Manifests vom 29. April 1881 festgestellt, in dem er zum ersten Male seinen Völkern und dem Auslande Kenntniss von seiner Politik gab. Dieses Manifest, das feierlich und mit einer Art von Ostentation die autokratische Gewalt betonte, war im Geheimen vorbereitet worden von Pobedonoszew und dem General Ignatjew, unter dem Schutz des Grossfürsten Wladimir, des Bruders des Kaisers und mit Hülfe Katkows, des stolzen Redactcurs der Moskauer Zeitung, der nach Gatschina gekommen war, um mit dem Zaren zu berathen. Wenn wir gut unterrichtet sind, so erhielt die Mehrzahl der Minister zum Schluss einer Conseilsitzung einen oder zwei Tage vor der grossen Revue, auf welcher das Manifest verlesen werden sollte, Kenntniss von diesem wichtigen Dooumenl. Die Ueberraschung der Männer, welche die wichtigsten Portefeuilles innehatten, ist erklärlich. Sie hatten Bichs nicht träumen lassen, dass man ohne ihren Rath einzuholen, ja fast ohne ihr Wissen die Politik der neuen Regierung vor Kussland und Europa auf diese Weise binden könne. Gegenüber einem solchen Verfahren war die Haltung der Minister des Innern, des Krieges und der Finanzen vorgezeichnet; sie konnten sich nur noch zurückziehen, was sie einige Tage später auch thaten. In jedem andern Lande hätte die Entlassung der Minister unter solchen Umständen Niemand gewundert, in Hussland war der freiwillige und gleichzeitige Rücktritt der hervorragendsten Rathgeher des Kaisers für viele Leute eine Art von Scandal. Jedenfalls war es ein Novum in den Annahm der russischen Regierung; dies allein bezeichnet einen Fortschritt in den politischen Begriffen und Sitten. Man erzählt, dass der Bey von Tunis einem Minister, der um seine Entlassung bat, in hellem Zorn über diese Wallung des Unabhängigkeitssinnes zugerufen habe: „Ein Sclav hat nicht das Recht, den Rosten zu verlassen, auf den sein Herr ihn gestellt hat''. Der Zar hätte bis vor Kurzem fast dieselbe Sprache zu seinen Käthen sprechen können. In dieser Beziehung warm die Sitten in Petersburg sehr orientalisch gebliehen. Als ergebene Werkzeuge des kaiserlichen Willens hatten die Minister die Befehle des Herrn nicht zu beurtheilen, noch weniger ihre Ausführung zu vereiteln. Jedes freiwillige Ent-lassungsgesuch trägt in sich eine Verweigerung des Gehorsams, ein ßewusstsein der Unabhängigkeit und der Verantwortlichkeit; in diesem Sinne ist es eine Handlung, die sich der Unterthan eines Autokraten schwerlich gestatten darf. Bei den herrschenden bureaukratischen Sitten waren übrigens sehr wenige Minister in der Versuchung, eine ähnliche Freiheit zu beanspruchen; fast alle priesen sich glücklich, so lange in der Leitung der Geschäfte stehen zu können, als es dem Herrscher gefiel, sie zu behalten: die meisten waren nur bemüht, sich nach dem Winde zu richten, der bei Hofe wehte. Kennte Russland auch einige einzelne Entlassungsgesuche anführen, so kannte es doch Collectiventlassungen, die durch einen Act der allgemeinen Politik veranlasst waren, nicht. Unter Alexander III., im Jahre 1881 hat Petersburg zum ersten Male ein solches Schauspiel sich vollziehen sehen, und um ihre ganz ungewöhnlichen Gesuche zur Annahme zu bringen, mussten die Minister, die sich gleichzeitig zurückzogen, dieselben in Abstand von mehreren Tagen einreichen und sich fast alle auf ihren schlechten Gesundheitszustand berufen, als hätte eine plötzliche Epidemie die Ministerhotels heimgesucht. Der freie Rücktritt von drei oder vier Ministern im Jahr IS81 und in Zukunft wie ein Beispiel und ein wichtiger PräcedenzfaE dastehen. Er ist der Markstein der Umwälzung, die trotz aller Hindernisse sich allmälich in den Regierungsgewohnheiten vollzieht. Man empfindet immer mehr, dass die verschiedenen Ministerien nicht getrennt bleiben dürfen, dass sie aufhören müssen, Staaten im Staate zu bilden und jedes auf eigne Faust zu fungiren. Unter den conserva-tivsten Staatsmännern, wie unter den grossten Freunden von Neuerungen verengt sich von Tag zu Tage der Kreis Derer, die geneigt wären, ohne Rücksicht auf die Wahl und die Ansichten ihrer Collegen die Regierung zu führen. Welchem Geiste, welchen Rathschlägen auch die Nachfolger Alexanders II. Gehör geben mögen, die Regierung bedarf vor Allem einer festen Leitung. Bei uneinigen Ministem ohne Solidarität unter einander kann es schwerlich einen Regierungsplan, eine feste Richtung geben, oder was dasselbe ist, es giebt deren mehrere auf einmal. In Russland wie in andern Ländern wird ein Ministerium ohne gemeinsames Programm immer eine Regierung ohne Programm sein. Dies ist so klar, dass ein mit den Verhältnissen seiner Heimath wohlbekannter Russe — eine Eigenschaft, die nicht so häufig ist, als man glaubt — mir gegenüber behauptete, der Kaiser Alexander HL hätte nur Eines zu thun, und zwar einen von den hervorragenderen Staatsmännern, den Grafen P. Schuwalow, den General Milutin, den General Loris-Melikow, den Grafen Ignatjew oder jeden Andern nach eigener Wahl zu berufen und ihm den Auftrag zu ertheilen, ein Ministerium aus vollkommen freier Hand zu bilden, mit dem Vorbehalt für den Zaren, bei etwaiger schlimmer Erfahrung, die Gewalt alsbald wieder in die Hand eines andern Mannes zu legen. „Auf diese Weise'', sagte mir jener Russe, „wäre das Land sieher, ein in sich einiges Ministerium zu erhalten, und der Kaiser, der Verantwortlichkeit für alle Handlungen der Regierung enthoben, würde nicht mehr alle Fehler seiner Beamten auf sich zurückfallen sehn. Die Minister stünden oflen der Nation gegenüber, die Unzufriedenen und die Revolutionäre hätten kein Recht, den Zaren verantwortlich zu machen. Der Gedanke ist gescheidt und hat vor allen in Vorschlag gebrachten Heilmitteln den Vortheil, auf verschiedene Regierungssysteme und die mannigfaltigsten Richtungen angewandt werden zu können. Aber in Wirklichkeit enthält ein solches Verfahren immer eine halbe Abdankung der Autokratie, eine Art von geheimem Constitutionalismus. Auch ist es zweifelhaft, ob dasselbe sich vollkommen ausführen Hesse, wenn der Kaiser Alexander III. selbst auch die Nothwendigkeit, der Regierung mehr innern Zusammenhalt zu geben erkannt zu haben und also geneigt scheint, die Leitung der Geschäfte einem vorherrschenden Einfluss zu überlassen, wie zur Zeit, dem des Generals Ignatjew l). ') Anm. des Uclierset/ers. Die Ueberset/auig folgt dem Text der schon 1882 erschienenen ersten Auflage des zweiten Rande«. Nur der erste Band der ersten Auflage des Originals ist in neuer Bearbeitung erschienen. Drittes Kapitel. Die Provincialverwaltung, die Bureaukratie und das Tschinownikthum. — Gouvernements und Kreise. — Der Gouverneur und seine Befugnisse. — Fehler des russischen Tschinownikthums. - Wirkungen der Rangliste. — Keine Specialbildung. — Die Bestechlichkeit und ihre Ursachen. Inwiefern die Corruption in der Verwaltung den bureaukratischen Despotismus mildern kann. — Schwierigkeil der Bureaukratie, sich selbst zu controhxen. — Alle angewandten Mittel gegen die Bestechlichkeit sind ungenügend. — Formalismus und Missachtung der Verordnungen. Vor den Reformen der letzten Zeit war die ganze Provincialverwaltung nach dem Vorbilde der Centralverwaltung organisirt, mit dem einen Unterschiede, dass die Machtbefugnisse bei jener mehr con-oentrirt, die Autorität mehr in einer Hand war. Die Verwaltungsbezirke Russlands reichen auf Feter den Grossen und mehr noch auf Katharina II. zurück. Der erstere hatte das Reich in acht Gouvernements (gubernii) getheilf; seine Tochter Elisabeth brachte deren Zahl auf sechzehn, Katharina II. auf vierzig. Die Zahl dieser Bezirke ist von Regierung zu Regierung gewachsen, weniger durch die fortlaufenden Eroberungen des Reichs, als um des enormen Wachsthums der Bevölkerung willen. Die ursprünglichen Gouvernements Peters und Katharinens mussten in zwei, mitunter in vier Theile getheilt werden, ohne dass die mittlere Ziller ihrer Bevölkerung geringer wurde. Russland zählt, ausser Unland, Polen und dem Kaukasus, fünfzig und einige Gouvernements; das Königreich Polen, das jetzt seiner besondern Verwaltung berauht ist, hat deren zwölf von bedeutend geringerer Ausdehnung1). Diese administrativen Theilungen sind meist ganz künstlich, ganz conventioneil und mechanisch: sie sind allein nach dem Willen der autokratischen Gewalt gebildet, die nach ihrem Ermessen das Gebiet des Reiches zerlegte, ohne auf historische Traditionen, noch auf den Stamm der Bevölkerung Rücksicht zu nehmen3). In dieser Beziehung gleichen die russischen Gouvernements x) Die officielle Nomenclatur unterscheidet zwischen den eigentlichen Gouvernements (gubernii) und den Gebieten (oblasti), die noch keine vollständige Verwaltung halten oder einige besondere Institutionen besitzen. Die Zahl der nieist an den äussersten Grenzen des Reiches belegenen oblasti nimmt übrigens mit der Entwicklung der Bevölkerung und der Centralisation stetig ab. 2) Die Historiker machen auf die besondere Kleinheit der localen Einheiten im alten Moskowieu und auf die Art und Weise aufmerksam, in welcher aus diesen Einheiten die wunderlichsten Zusammensetzungen geschaffen wurden. den französischen Departements, die Producte desselben Geistes und derselben Principien der Centralisation sind. Die Namen der russischen gubernii haben übrigens nicht dieselbe wissenschaftliche Grundlage, wie unsere Departements; sie sind weit weniger complicirt, da meist jedes Gouvernement nur den Namen seines Hauptortes führt. Ausnahme bilden nur die westlichen und südlichen Provinzen von fremdem Ursprung oder neuerer Erwerbung: Estland, Ehland, Kurland, Podolien, Wolhynien, Bessarabien, Taurien. Diese historischen Namen genügen schon an sich, um eine provincielle Individualität zu bezeichnen, die dem alten Russland in der Regel fremd ist. Die territorialen Bezirke des Reichs unterscheiden sich von den französischen Departements durch einen wichtigen Pun et, durch ihre Grösse. Die russische Autokratie hat nicht, wie die französische Revolution, das Land in kleine Parcellen zu zerstückeln gesucht, um jede Neigung zur Unabhängigkeit des localen Lebens dort unmöglicher zu machen. Der ausgedehnteste Staat hat am wenigsten administrative Theile. Die russischen Provinzen sind an Grösse ausserordentlich verschieden, je nach der Region, dem Klima, der Bevölkerungsdichtigkeit. Die nördlichen und östlichen Gouvernements, Perm. Wätka, Astrachan, Wologda und vor Allem Archangel gleichen oder übertreffen an Bodenlläche die grossen Staaten des westlichen Europa. Die mittlere Ausdehnung jeder Provinz bleibt noch sehr beträchtlich; sie übertrifft die der kleinen Staaten von Mitteleuropa, Belgien, Holland, Schweiz. Die Bevölkerung der russischen Provinzen steht in keinem oder vielmehr fast in unigekehrtem Verhältniss zu ihren Dimensionen; die grössten, welche die Einöden des Nordens oder die Steppen des Ostens in sich begreifen, sind die mindest bevölkerten. Archangel zählt auf 858,000 Quadratkilometer weniger als 300,000 Bewohner. Dagegen leben in mehreren Gouvernements von massiger Ausdehnung, deren Namen im AVesten kaum gekannt sind, fast soviel Bewohner, als in den 22 Cantonen der Schweiz. In dem europäischen Russland beträgt die mittlere Bevölkerungsziffer einer gubernija i.:;on.oi)o bis 1,400,000]). Die russischen Gouvernements, wenigstens die an der Grenze, waren lange in Gruppen von drei, vier oder fünf zu General-Gouvernements vereinigt, die so ausserordentlich weite Gebiete umfassten. Vor S. GradoWBki: System der ljocalverwaltung II. (Revue der Staatswissenschaften. IM. VI. 1878) (russ.). ]) Kursk hat mehr als 2 Millionen Einwohner, Kiew, Poltawa, Tambow, Woronesh je fast 2*/i Million. dem letzen Kriege bestand diese Gruppirung nur noch in Asien und den alten polnischen Provinzen1). Selbst die drei baltischen Provinzen haben neuerdings diesen Beweis der Auszeichnung verloren, um einfach in die Masse der Reichsgouvernements aufzugehen. Diese Vereinfachung ist ein Merkmal des Fortschritts der Centralisation auf dem Wege der administrativen Uniformitäl. Die Gouvernements sind in Kreise (ujesdüi) getheilt, die den französischen arrondements entsprechen. Diese durch die Centraigewalt aneinandergefügten russischen Kreise haben nieist ein älteres Dasein und eine natürlichere Individualität, als die Gouvernements, die sie bildena). Auch bewahren sie eine grössere Sonderart, als die französischen Arrondements. Jedes Gouvernement hat acht, zehn, zwölf, bisweilen fünfzehn Kreise, so dass die Unterabtheilungen, wenn auch bedeutend ausgedehnter, als jene Arrondissements, verhältnissmässig minder gross sind, als die Gouvernements seihst. In diesen Kreisen, die noch immer grösser und in der,Regel bevölkerter sind, als die Arrondissements, besteht trotz der äussersten Centralisation in Russland doch keine Institution, die den französischen souspreiets entspräche. Die kaiserliche Verwaltung ist nur durch einen einfachen Polizeibeamten (isprawnik) vertreten. Freilich hat das Fehlen einer politischen Verfassung dort noch die Brauchbarkeit einer Beamtenelasse nicht fühlbar gemacht, die in Frankreich weniger der Verwaltung, als der Propaganda und Wahlagitation dient. An der Spitze jedes Gouvernements steht ein Gouverneur (guber-nator). Dieser Beamte hat viel Aehnlichkeit mit dem Intendant des alten französischen Regime, dem jetzigen Präfectcn. So lange der Gouverneur alle Gewalten in seiner Band vereinigte, war jede Provinz' ein Russland in Miniatur und gleichsam ein autokratisches Reich im Kleinen, dessen Organisation sie in verkleinertem Massstab besass. Wie das Reich war auch das Gouvernement von einer in der Praxis unbeschränkten Gewalt regiert. Der Gouverneur, dem ein Vice« gouverneur beigegeben war, hatte an seiner Seite ein Regierungs-colleginm, aber dieses Collegium besass, wie der Reichsrath, nur berathende Stimme. Es gab wohl seit den Zeiten der Kaiserin ') Moskau besitzt einen Generalgouverneur, aber das ist nur ein Ehren beweis, der der alten Hauptstadt gezollt wird. Nach den Attentaten von 1879 hat Alexander II. zeitweilig wieder Generalgouverneure mit den ausgedehnt* -n n llcfugnissen in den wichtigsten Städten eingesetzt: in Petersburg, Odessa, Charkow u. s. w., um die revolutionäre Agitation wirksanier zu bekämpfen. 1881 hat Alexander IIT. das alte (Jeneralgouverneinciit von Ulenburg aufgehoben, ■J B. z. B. Cradowski: „Revue der Staatswissenschaften". Bd. V. 1878 (russ.). Katharina periodische Versammlungen des Adels; es gab auch ein Comite der localen Finanzen (komitot semskich powinnostei), das aus Deputirten des Adels und der Städte zusammengesetzt war, aber die Controle dieser Versammlungen und dieses Comites war rein äusser-lich, rein theoretisch. Die meisten Rechte, die den Verwalteten von Katharina II. gesetzlich zugesprochen wurden, waren reine Formalitäten geworden, die Niemand ernst zu nehmen gewagt hätte. Aus der Verwaltung ging die Machtbefugniss des Gouverneurs auf die Justiz über. Hatte Katharina dem Adel die Wahl der Richter erster Instanz überwiesen, so behielt der Gouverneur das Recht ihrer Bestätigung, das Recht sie in Anklagezustand zu versetzen und selbst das, sie ihres Amtes zu entheben. Die Autorität und die Aufgaben des Gouverneurs erstreckten sich auf alle Zweige des öffentlichen Dienstes. Er war und ist heute noch von Comites umgeben, in denen er den Vorsitz führt. Für Steuerwesen, Brückenbau, Gefängnisswesen, allgemeine Versorgung, Unterricht u. s. w. giebt es .solche Comites. Und wozu dient dieser ganze Controlapparat? In der Regel zu gar nichts. Die Mehrzahl dieser Comite*s ist aus Untergebenen des Gouverneurs oder Beamten niedrigeren Ranges gebildet; die bureaukratische Servilität, der Geist des passiven Gehorsams erstickt dort gleichmässig alle Unabhängigkeit. Statt eine Bürgschaft für gute Verwaltung zu bieten, haben alle diese Comites kaum etwas Anderes erreicht, als die Verantwortlichkeit des Gouverneurs zu mindern und dabei den Schein der Theilnahme an derselben zu wahren. Die verschiedensten Arbeiten waren in der Hand dieses Würdenträgers vereinigt, der oft eine Militärperson und aller Verwaltung unkundig war. Die Vielfältigkeit seiner Befugnisse zwingt den Gouverneur zu einem unermessliehen Schriftwechsel: ausser Stande, alle ihm anvertrauten Geschäfte zu führen, überweist er meist nur die ihm aus der Hauptstadt ertheilten Instructionen oder unterzeichnet die in seinen Bureaus getroffenen Entscheidungen. Dieser Mann, der von fern betrachtet mit allmächtiger Autorität bekleidet zu sein scheint, ist häufig auf die Rolle eines einfachen Expedienten von Schriftstücken beschränkt; von der Macht hat er nur die äussern Attribute, die Ehre und die Versuchungen. Die Einsetzung von Provincialversammlungen mit wichtigen Rechten schien die Gewalt der Gouverneure beschränken zu sollen; aber wenn die Autorität der letztern auch vermindert worden ist, so sind doch ihre Befugnisse ebenso ausgedehnt, wie schlecht umgrenzt geblieben. Die eigentliche Reform der Verwaltung, die seit lange im Plane steht, ist noch im Stadium der Vorarbeiten. Unterdoss bettest das (leset/, dem Gouverneur seine alten Befugnisse und Maoht-vollkommenbeiten, wenn dieselben auch nicht mehr mit den Rechten der neuen Wahlversammlungen in Einklang zu bringen sind. Ks besteht hier ein Mangel an Uebereinstimmung zwischen dem Reitdisgesetz und den neuen Institutionen, der leider auch in andern Gebieten zu Tage tritt. Die grossen, in so vieler Hinsicht bewunderns-wertln-n Reformen Alexanders II. haben, wie schon erwähnt, den Fehler, einzeln, ohne gemeinsamen Plan, ohne Grundidee und auf empirische und fragmentarische Weise entworfen worden zu sein, so dass die Institutionen des heutigen Kusslands, statt ein coordinirtee System zu bilden, überall Widersprüche und Regellosigkeiten zeigen. Die neuen Gesetze passen nicht zu den alten, die noch neben ihnen bestehen. Daher ein Mangel an Klarheit, eine Verwirrung, die nicht ohne Antheil an der geringen Wirkung der Reformen ist. Das Russland, das Alexander III. überkam, ähnelt den alten Schlössern, die zu verschiedenen Zeiten gebaut sind, und an denen man die verschiedensten Stilarten neben einander sieht, oder mehr noch den alten Häusern, die Stück für Stück allmälich roparirt wurden sind und niemals die Einheitlichkeit und die Bequemlichkeit der auf einem l'lan und in einem Wurf aufgeführten Bauten besitzen. Was Peter dem Grossen und seinen Nachfolgern fehlte, war. wie schon erwähnt, das Werkzeug der modernen Centralisation, eine gebildete und ehrliche Bureaukratie. Moskowien besass freilich schon lange eine Ciasso von Staatsdienern, aber diese als Adel, dworänstwo, constituirten Staatsdiener hatten um der Form ihres Unterhalts und der Landbelehnung wegen, besondere, egoistische Interessen, die von denen des Staates und zugleich von denen der Gebiete, die sie verwalteten, verschieden waren1). Schon damals war das Volk das Opfer einer zugleich unwissenden und bestechlichen Verwaltung. Russland entbehrte im achtzehnten Jahrhunderte fast durchaus der Stände, aus denen sich in andern Ländern die Staatsbeamten zu ergänzen pflegen. Auch das neunzehnte Jahrhundert hat diese Lücke nicht vollständig ausgefüllt. Dieses scheinbar so bescheidene Ziel, die Schöpfung einer Körperschaft von fähigen und sittlichen Beamten ist seit Peter und Katharina eine der Hauptaugenmerke Russlands und seiner Regierung. Lange Zeit haben die mit grossen Kosten von der Centraigewalt gegründeten Lehranstalten in Russland, ganz wie in ') A. Gradowski: l>ie Systeme der Loculverwallung II. Kevin- der Staats-wisseuschaft VI. 1878 (russ.). China, als erste Aufgabe die gehabt, Staatsdiener und Beamte zu erziehen. So zeigt sich in seiner ganzen Bedeutung das Ziel, das die Autokratie und die Centralisation sich gesetzt hatten. Wenn dieser Verwaltung die Pflicht oblag, die Civilisation Europas an die Ufer der Wolga zu versetzen, so musste sie zuerst sich selbst den Gebräuchen und Sitten, ja dem Geiste der europäischen Cultur zuwenden. Das Hauptmittel, das Peter der Grosse anwandte, der nicht immer zu Ausländern greifen konnte, war der Tschin oder die Rangliste1). Diese Einrichtung, die den Rang und Vortritt von dem bürgerlichen oder militärischen Grade abhängig machte, war vor Allem eine Art von Ergänzung der Staatsbeamten. Für den bei Verlust seiner Hechte und Privilegien zum Dienst in der Armee oder Verwaltung gezwungenen Adel war die Rangtabelle Peters des Grossen eine Art von Conscrip-tion, oder besser gesagt ein wirklicher Dienstzwang. Peter gelangte auf diese Weise dahin, ein zahlreiches Heer von Beamten zu sammeln; aber die so Ausgehobenen mussten für den Dienst gebildet werden, und die Heranziehung einer Armee von Civilbeamten ist weit langwieriger und schwerer, als die einer Armee von Soldaten. Peter der Grosse, dem die letztere Aufgabe gelungen war, vermochte die erstere nicht zu vollenden. Das konnte nicht das Werk einer einzelnen Regierung, selbst nicht das eines Jahrhunderts sein. Die Rangtabelle, welche dazu dienen sollte, die russische Bureaukratie zu ergänzen, war selbst von schlimmem Einfluss auf sie. Der Tschin machte thatsächlich nicht nur in Bezug auf das Avancement, sundern auch auf die Ergänzung, den bürgerlichen und militärischen Dienst einander immer ähnlicher. Diese bureaukratische Rangordnung musste früher oder später zur Förderung der Mittelmässigkeit und des Schlendrians dienen. Jedem Grade, jeder Stufe auf der Leiter des Tschin entspricht eine Reihe von Aemtern; man kann ein höheres Amt nicht ebne einen erhöhten Tschin und somit erst nach langer hureaukratischer Laufbahn erlangen. Die erste Wirkung eines solchen Systems ist, dass in die Verwaltungen eine Masse von Menschen ohne Beruf, ohne Bildung, ohne Geschick hinein gezogen werden, die zweite, dass alle Beamten der Regierung nach ihrem Eintritt in die niedersten Grade, zu dem Durchgang durch alle zwölf numerirte Classen gezwungen werden, in welche die ganze Beamtenwelt getheilt ist. Da das Avancement in der Civilverwaltung wie in der Armee nach der Rangordnung Grad um Grad, meist von drei zu drei Jahren stattfand, ») S. Bd. I, Buch VT, Kap. II. L er o y-B e » u 1 i eu , Reich ii. Kuren n, il. Russen. II. Bd. Ii waren die meisten Aemter mittelbar dem Prineip der Anciennität überliefert, was überall ein Mittel ist, Schlendrian und Trägheit zu er-muthigen. Die Beförderung nach Auswahl ist übrigens nicht immer weiser, als die nach der Anciennität. Intelligenz, Bildung, angeborene oder erworbene Ueberlegenheit sind in den Augen der amtlichen Vorgesetzten, die dadurch in Schatten gestellt werden könnten, ebenso oft ein Anlass zu Misstrauen, wie ein Pfand des Erfolgs. Bei einem solchen System kommt es darauf an, wie früh man den Dienst beginnt. Hat man den Fuss auf der Leiter und dort oben Gönner, die Einem die Hand entgegenstrecken, so erklettern sich die Sprossen der Verwaltung gleichsam von selbst. Nun sind aber in vielen Civil-verwaltungen die niedern Aemter eine schlechte Vorbereitung für die hohem Stellen; für diese bedarf es einer Fülle von Kenntnissen, einer Weite des Geistes, die auf den niedern Stufen des Tschinowmikthums weder geübt noch envorben werden Von dem langen Wege durch die unteren Aemter blieb den Beamten, die am Ziel ihrer Laufbahn angekommen waren, nur ein technisches Wissen, eine bureaukratische Erfahrung übrig. Intelligenz, Kenntnisse, Sinn für Initiative und Unabhängigkeit, die wahren Triebfedern der Ueberlegenheit, wurden dadurch entmuthigt und oft vernichtet. Das Handwerk des Schreibers oder Subalternen war die erste Schule der Männer im Staatsdienst, und für die Mehrzahl der Tschinowniks wrar der Schriftwechsel die Summe der Beamtenpflichten. .Man hat oft den Ausspruch eines jungen Russen angeführt: „Mein Onkel, der General, hatte einen Schlaganfäll, und man machte ihn zum Senator; er verlor das Gesicht, und man machte ihn zum Reichsrath; es fehlt nur noch ein neues Leiden, und er wird als Minister sterben". Dieses Witzwort kennzeichnet selbst in seiner I'ebertreihung die Missstände der Hangliste, rnwissenheit und Unfähigkeit können, auf Geduld gestützt, allmälich bis auf den höchsten I'unct der Leiter *) Nach einer gegen Ende der Regierung Alexanders II. ausgeführten administrativen Enmiete (Bereg, Dec. 1880) war das Niveau der Beamten ausserordentlich niedrig. Auf 100 Provincialbeamte zählte man (mit Ausschluss der Justiz und des öffentlichen Unterrichts) nur 1 oder 2, die höheren Unterricht genossen, ;> oder IS, die einen Cursus in einer Anstalt /weiter t 'lasse durchgemacht, 10 oder 12, die Primärschulen absolvirt hatten. 80% hatten keine Schule durchgemacht und kein Examen abgelegt, sondern ihre Erziehung im Hause erhalten, was in den meisten Fällen nur eine geringe Elementarbildung bedeutet. In Petersburg selbst waren die Ziffern kaum günstiger, und doch giebt es im Reiche acht Universitäten, die von lausenden von Studenten besucht werden, aber für die meisten öffentlichen ('arrieren sind die Univcrsitätsdiplome eher ein Anlass zu Misstrauen, als eine Empfehlung. klimmen. Die Reformen, die aus Russland einen modernen Staat machen sollen, haben glücklicherweise schon begonnen, den Cultus des Tschin zu erschüttern und die Missbräuche desselben abzuschauen. Die Zeit wird ohne Zweifel kommen, da die Anstellung nicht mehr von dem officiellen Rang und der Ciassennummer abhängen, uml da es, statt der Erhebungen zu einem Civilrang, nur noch Ernennungen zu Aemtern geben wird. Doch ist der Tschin allzutief in die Sitten eingedrungen; er ist für die Regierung und für die Minister ein allzu bequemes und zu billiges Belohnungsmittel, um so leicht abgeschafft zu werden, wie oft auch neuerdings davon die Rede war1). Die scheinbar im Staatsdienst so bequeme Rangtabelle hat für die Behörden noch einen andern Xachtheil: sie erleichtert die Vermischung der verschiedenen Amtstätigkeiten. Da ein Mann zu einer Stellung berufen werden konnte, sobald er den für sie erforderlichen Rang hatte, gingen die Beamten von einer Verwaltung zur andern über, ohne besondere Fähigkeiten oder speciolle Kenntnisse mitzubringen. Euter Nikolai und selbst unter Alexander IL war der Civildienst auf diese Weise mit Militärpersonen überfüllt, die Armee war die grosse Vcrwaltungsschule geworden, sie war mindestens die Pflanzschule der hohen Würdenträger. Man schmeichelte sich vielleicht der Hoffnung, bei den Vorgesetzten aus der Armee mehr Rechtlichkeit und Ehrgefühl zu linden, und bildete sieh ein, in Zeiten der Unruhen mit dem Säbel den Revolutionären mehr zu imponiron. Aber abgesehen von den Militärpersonon, konnte man oft einen Mann plötzlich von der Justiz zu den Finanzen, von der Verwaltung zur Diplomatie hin überspringen sehen. Die hierarchische Classification der Beamten führte bis vor Kurzem noch zu rollständiger Rfissaohtung des modernen Principe der Arbeitsteilung und der Specialbildung für die Aemter. In dieser Beziehung haben die Russen eine entfernte Aehnlichkeit mit den alten Römern, die zur Zeit des Kaiserreichs wie der Republik der Reihe nach oder gleichzeitig die verschiedensten Stellen bekleideten. Aber dass diese Verschiedenartigkeit der Aemter, diese Leichtigkeit der Anpassung in IJussland oft zu Reichhaltigkeit der Leistungen oder zu universeller Tüchtigkeit geführt hätte, wie wir sie bei den römischen Magistratspersonen häufig wahrnehmen, das ist nicht ersichtlich. Zwischen dem russischen Tschi-nownikthum und den alten römischen Magistraturen, zwischen der *) Die Missstünde dieses Systeme .sind von Nikolai Turgcnew sehr klar dargelegt, zu einer Zeit, da der Tschin in höchster (iuiist stand. La Kassie et les Russes. II, p. 16—25. Rangliste Peters des Grossen und dem curstis lionurum der römischen Senatoren ist eine andre merkwürdige Aehnlichkoit hervorzuheben. In Russland wie in Rom hätte die bureaukratische Hierarchie wie eine praktische Schutzwehr gegen die Willkür der Kaiser, wie eine Schranke gegen die unbegrenzte Allgewalt des Souveräns betrachtet werden können, der durch sie gezwungen war, die hohen Beamten aus den nach dem Gesetz oder Herkommen bezeichneten Kategorieen zu nehmen]). Die Stufenfolge des Tschin begründet in diesem Sinne eine Art von gesetzlichem Privilegium des Tschinowniks, eine Art von Sicherung der Bureaukratie gegenüber der Autokratie. Leider war die russische Verwaltung so corrumpirt, dass das Volk vielleicht bei den dem freien kaiserlichen Willen durch das Monopol des Tschi-nownikthums gesetzten Beschränkungen mehr zu verlieren, als zu gewinnen hatte. Unwissenheit, Faulheit, Schlendrian sind nur Mängel der russischen Bureaukratie: ihr grosses Laster ist die Bestechlichkeit. Von Peter dem Grossen bis auf Alexander III. sind Verwaltung, Finanzen. Armee, alle Staatsämter eine Beute der Kassendiebstähle, der Erpressungen, des Betruges, der Bestechung aller Art. Das Sprüchwort sagt: soll dich ein Tschinownik verstehen, so sprich Rubel. Beim Volke gilt es für feststehend, dass in Russland Jedermann stiehlt, und dass Christus selbst stehlen würde, wenn seine Hände nicht anKreuz genagelt wären. Aller Zorn des Monarchen, alle Strenge des Gesetzes sind gegen die Veruntreuungen der Vertreter des Gesetzes und der Obrigkeit nutzlos erlahmt. Wie ein Giftstoll', der im ganzen socialen Körper verbreitet ist, hat die administrative Corruption alle Glieder durchdrungen, alle Functionen zerrüttet, alle Kräfte entnervt. Die Bestechlichkeil hat lange Zeit aus den besten Gesetzen einen todten Buchstaben oder eine trügerische Etiquette gemacht, sie hat die Fortschritte des öffentlichen Wohlstandes in seiner natürlichen Entwicklung gehemmt, und den Herrschern wie der Nation traurige Enttäuschungen auf den Sohlachtfeldern bereitet. Unter Xikolai, dem Kaiser, der vielleicht die meisten Anstrengungen zu seiner Bekämpfung gemacht, hat dieses alte Lehel seinen höchsten Grad erreicht, gleichsam als sollte die Unfähigkeit des üespolismus zu seiner Beseitigung bewiesen werden. Das Laster, dem die Autokratie nicht an den Leib konnte, das die Presse anzugreifen das Recht nicht hatte, wurde von einem der volkstümlichsten Schriftsteller Russlands und einem der grössten Humoristen Europas x) S. Hiatoire romaine von Duruy. V, p. 260. auf die Bühne gebracht. Der „Inspiciont" oder „Revident" (rewisor) von Gogo] hat uns in einer Reihe von lebhaft hervortretenden Porträts gezeigt-. welcher Art zu seiner Zeit die Sitten der russischen Bureaukratie waren. Die Beamten einer kleinen Provincialstadt, die seit längerer Zeit die Ankunft eines geheimen Revidenten erwarten, der einen Bericht über ihre Verwaltung machen soll, werden vertraulicher Weise von dem Eintreffen dieser furchterregenden Persönlichkeit in Kenntniss gesetzt. Zu gleicher Zeit findet sich im Gasthause der Stadt ein reisender Abenteurer (du, den Mangel an Geld zum Verweilen zwingt. Die Tschinowniks halten den Reisenden in Nöthen für den angemeldeten Revidenten, und beeilen sich, da ihre Hände nicht ganz rein sind, ihren vermeintlichen Richter durch Geschenke und Unterwürfigkeiten nach Kräften freundlich zu stimmen. Der Abenteurer wahrt sein Incognito um so besser, als er zuerst die Höflichkeiten, deren Gegenstand er ist. durchaus nicht versteht. Die naiven Lobhudeleien seiner Besucher enthüllen ihm jedoch bald das Kathsel; er hört auf, sich zu sträuben, nimmt die Rolle, die ihm angetragen ist, auf sich und empfängt majestätisch die Ehrenbezeigungen und Geschenke der Beamten. Kurz, der Abenteurer zieht nach mehreren Tagen der Ehrenschmäuse und Feste ab, nachdem er einem seiner ofliciellen Wirtho die Ehre erwiesen, sich mit dessen Tochter zu verloben. Im Augenblick, da die Tschinowniks dem Wagen, der den falschen Revidenten wegführt, ihre letzten Bücklinge machen, erscheint plötzlich ein Polizeibeamter, um ihnen das Eintreffen fies wirklichen Revidenten zu melden. Diese Komödie von einer im Grunde herzzerreissenden Komik wurde auf den Theatern Petersburgs und Moskaus vor dem Kaiser Xikolai aufgeführt, der diesem kecken Bilde der kaiserlichen Verwaltung applaudirte. Seitdem ist die administrative Cnrruption einer der üblichen Stoße der russischen Schriftsteller geworden, und wenn die Wunde umzeichnet ist, wenn man ihre Vernarbung hoffen darf, so fällt das Verdienst hievon zum Theil dem Brandeisen der Litteratur zu. Keine Cur war möglich, so lange der Kranke sein Leiden zu verbergen fortfuhr. Die scheusslichen Darstellungen der geheimen Laster des Tschinownikthums dürfen nicht vergessen lassen, dass in dem autokratischen Reiche die Bestechlichkeit vielleicht weniger Xach-theile mit sich brachte, als in den freiesten und cultivirtesten Ländern, wie z. B. in den Vereinigten Staaten Amerikas. Traurig genug, dass die Unsittlichkeit des Beamtenthums bisweilen sogar der Intelligenz und der Sittlichkeit des Volkes zum Vortheil ausschlug. Wie jene offenen WTunden, die durch Eiterung einem geschwächten Körper Erleichterung schaffen, su hat dieses widerliche Uebel mehr als einmal /um ableitenden Mittel für noch ernstere L'ebel gedient. Lange Zeit ist die administrative Käuflichkeit bei dem Mangel einer gleichförmigen Leitung die einzige Milderung des militärischen Despotismus gewesen. Das Geschenk hat so manches Mal die Härte des Gesetzes oder den Druck der Verordnungen gemildert. Trägheit und Unzuverlässigkeit der Verwaltung haben in ihrem Eigennutz ebensowohl schlechte wie gute Gesetze paralysirt. Der Beamte verkaufte dem Einen die Freiheit, dem Andern die Duldung, er verkaufte die Straflosigkeit dem Unschuldigen ebenso, wie dem Schuldigen. Die russischen Schismatiker, die Raskolniks, haben Dank der Nachsicht der reichlich unterstützten Polizei und Geistlichkeit über die zweihundert]ährige Verfolgung triumphiren können. Das russische Geistesleben hat dem schweren Druck der Regierung Nikolais nur unter der wohlbezahlten Nachsicht der Beamten widerstehen können, welche die verbotenen Bücher des Auslands und die revolutionären Zeitschriften Herzens und der Emigration heimlich eirkuliren Hessen. Der Rubel schloss die Augen des Zollbeamten und verstopfte die Ohren des Isprawnik. Der moderne Gedanke wäre hinter vermauerten Kerkerfenstern erstickt, wenn ihm nicht ein wenig freie Luft durch den schmutzigen Kanal, der ihm allein offen stand, von aussen zugegangen wäre. Man hat gesagt, das russische Regiment wäre der durch den Meuchelmord gemilderte Despotismus; vielleicht wäre es richtiger zu sagen: es ist der Absolutismus, gemildert durch die Bestechlichkeit. Woher diese l.'orruption der Verwaltung? Oft wird die Schuld dem Nationalcharakter, einer vermeintlichen russischen Ulisittlichkeit zugewiesen. Das ist eine Phrase und erklärt nichts '). Wenn in Bezug auf das Geld die private Ehrlichkeit in Russland seltener ist, als in Erankreich oder Deutschland, so ist das mehr die Folge, als die Ursache der öffentlichen Verderbtheit. Die Missbräuche der Verwaltung haben dort verschiedene Gründe, von denen einige Russland, andere allen Staaten eigen sind, in denen sich das gleiche Uebel findet. ') Der Satz, aus einem Briefe sah sich die Verwaltung in einem circulus vitiosus, aus dem die Bureaukratie ihr nicht heraushelfen konnte1). Die Verworrenheit der Verwaltung hat in Russland noch eine iindre, noch weniger erwartete Folge gehabt, nämlich die Missachtung der Verordnungen, die allzu zahlreich und allzu unbequem sind, um treu beobachtet zu werden. Weil der Gesetzgeber die Beamten Seh ritt um Schritt führen wollte, hat er sie daran gewöhnt, mit dem Gesetze frei umzuspringen und nur dessen äussere Formen zu achten. In der Thal würde die strenge Beobachtung aller vorgeschriebenen Bestimmungen mitunter zu unerträglicher Schwerfälligkeit führen. Handelt es sich beispielsweise um die Reparatur eines öffentlichen Gebäudes, eines Dachs, einer Mauer, eines Ofens, so fordert das Gesetz endlose ') Eine der ersten Sorgen des Kaisers Alexander IG. war. wie die Zahl der aiiiten durch Vereinfachung der geschäftlichen Formalitäten und der Seiner freien zu veiTinp.ru sei; aber die Durchführung dieser liel'orm kann noch m,ge ein i.iun, desiderium bleiben. Formalitäten: vorgängige Untersuchung, Bericht an ein Comitö, Bericht an das Ministerium, nochmalige Untersuchung, Voranschlag der Reparatur, Sachverständigengutachten, Beglaubigungen aller Art. Wollte man allen den gesetzlich vorgesehenen Umständlichkeiten genau nachkommen, so hätte das Dach Zeit, zusammen zu brechen, und die Mauer, einzustürzen. Wie wird also praktisch verfahren? Man beginnt damit, die Reparatur auszuführen und die Formalitäten: Untersuchungen, Berichte, Sachverstündigonaussagen linden meist Hinauf dem Papier, in den Bureauconoepten statt. Sind die Papiere in Ordnung. SO ist Alles gut. So verbündet sich der Formalismus, dieser häufige Fehler der Bureaukratie, oft mit der Missachtung und dem Vergessen der vorgeschriebenen Formen. Das Uebermass an Keglementirung lehrt die Beamten, auf die Verordnungen kein Gewicht legen. Auch die gewissenhaftesten Beamten hätten es schwor, diesen in allen Stücken zu gehorchen. Wie es den heutigen Israeliten fast unmöglich ist, das Gesetz des Moses mit seinen vielfältigen Vorschriften ganz zu beobachten, so sind die Verordnungen über die russische Verwaltung mit ihren Ansprüchen, Alles vorauszusehen und Alles zu bestimmen. oft von einer so ermüdenden Kleinlichkeit, dass der Tschinownik ihnen nicht gerecht zu werden weiss und oft ganz unbewusst Regelwidrigkeiten begeht. l'ehrigons haben sich die Verwalteten keineswegs immer darüber zu beklagen. In Russland wäre Derjenige der unerträglichste Beamte, der sich immer an seine Reglements und Verordnungen halten wollte. Das macht oft die Tschinowniks deutscher Abkunft so verhasst, selbst wenn sie au Kenntnissen. Ehrlichkeit, Pünktlichkeit über ihren slavi-schen Collegen stehn. Beim russischen Beamten wird die anderwärts kostbarste Eigenschaft zum Fehler; die pünktliche Pflichterfüllung, der Gehorsam gegen die Verordnungen entartet fast unausbleiblich zu nörgelnder Tyrannei. Auch ist noch heute der Tschinownik der alten Zeit, der gutmüthige Kerl, der fünf gerade sein lässt und unter dessen aufgeknöpfter Filiform der Hausrock sich zeigt, der populärste aller Beamten. Durch die unausgesetzte Xöthigung, von den gesetzlichen Vorschritten abzugehen, verlieren die Beamten jeder Rangstufe allmälich den Respeot und die Verehrung des Gesetzes. — Der Sinn für Gesetzmässigkeit, der den Werkzeugen der Regierung abgeht, dürfte sich kaum in der Gesellschaft linden, die der Leitung dieser Werkzeuge unterstellt ist. Alle Vorsichtsmassregeln der Gesetzgebung wenden sich also gegen ihren eigentlichen Zweck. Die engen Bande, mit denen die Regierung ihre Beamten umwickelt, zerreissen oder lockern sich bei jedem ihrer Schritte, so dass die Beamten nur von nutzlosen Hindernissen beschwert erscheinen. Einer von den Umständen, die mich in Russland immer am meisten überrascht haben, ist das geringe Mass moralischen Einflusses der Verwaltung und der Beamten. Die Sünden der kaiserlichen Bureaukratie erklären diese in einem solchen Lande anerwartete Erscheinung. Der Russe — Bauer oder Städter — der so lange das Opfer uralter Missbräuche gewesen, glaubt fest, dass im heiligen Russland Geld der Schlüssel sei, der alle Thore öffnet, Von den Beamten der Regierung, von dem Werkzeuge des Gesetzes geht das Misstrauen des Volkes auf das Gesetz selbst über. Daher bei einem im Allgemeinen zur Verehrung der Obrigkeit so sehr geneigten Volke der Mangel an Respect vor den Behörden, der Mangel an Respeot v«»r dem Gesetz. Der halbreligiöse Cultus, den die Massen noch dem Zaren widmen, wird auf seine Vertreter und die Verweser seiner Gewalt nicht ausgedehnt. PÜT diese letztern giebt es nur Misstrauen und Argwohn. Während das Gesetz den Zar zum Haupte der zahllosen bureaukratischen Armee macht, will das Volk von der Solidarität der Autokratie und der Verwaltung in der Regel nichts wissen; es hat für die letztere fast ebensoviel Abneigung, als Liebe und Verehrung für die erstere. Tu dieser Beziehung entspricht das politische Gefühl des Mushik seinem religiösen Gefühl. Er trennt in Gedanken und Geranien den Zar von den Tschinowniks, wie er Gott von der Geistlichkeit trennt, und bewahrt für den Herrscher die Ehrfurcht, die er V(,r dessen Beamten nicht hegt. Dank dieser Unterscheidung bat die Popularität der Autokratie bei allen Leiden und Enttäuschungen des Volkes fortbestanden; in der Meinung dieses ist das Tschinownik-thum für alle Uebel verantwortlich. Diese Neigung des Mushiks und des städtischen Handwerkers hat einen Nachtheil, der unter Umständen zu einer Gefahr werden könnte. So gross ist das Misstrauen gegen die Verwaltung, dass die Massen nicht immer ihrem Worte glauben, wenn sie ihnen die Befehle des Zaren mittheilt Der Mushik redet sich gern ein, die Beamten hätten sich verbunden, ihn zu betrügen. Das Volk hat eine Neigung iUI der Echtheit der kaiserlichen Willensäusserungen zu zweifeln, wie ihm auf den gesetzmässigen Wegen mitgetheilt werden; es kann felglich zuweilen das Opfer der gröbsten Betrüger werden. So erklären sich einige der merkwürdigsten und bedrohlichsten Erschei-»migen des russischen Lebens. 1HS1 bei Anlass der Judenhetzen im Süden, wie zwanzig Jahr früher hei der Freigebung der Leiheigenen, beriei sich das niedere Volk der Städte und des flachen Landes auf vermeintliche geheime Befehle des Kaisers, blieb taub für die Belehrungen der amtlichen Vertreter des Staats und bezichtigte Verwaltung und Polizei, sich an die Juden verkauft zu haben, wie es unter Alexander IT. sie anklagte, an die Gutsbesitzer verkauft zu sein '). Ks giebt heute wie zur Zeit der Leibeigenschaft — nach Samarins schon angeführter Bemerkung — für den Bauer keine andere Bürgschaft noch einen wirklichen Beweis für den Allerhöchsten Willen, als die bewaffnete Macht und die Entfaltung von Truppen; eine (iewehrsalve bleibt in seinen Augen die einzige Bestätigung und sozusagen das einzige echte Siegel der kaiserlichen Befehle. Bedarf es noch des Nachweises, wie sehr dieses eingerostete Misstrauen gegen die gesetzmassigen Beamten der Regierung die Kluft verbreitert, die zwischen dem Mushik und dem Zar, zwischen dem Volk und der Autokratie besteht?51) Bedarfes eines Nachweises des Gewinns, den in der entscheidenden Stunde aus diesem argwöhnischen und naiven Bauerzweifel gewissenlose Agitatoren ziehen konnten, die stets bereit sind, lügnerische Gerüchte in der leichtgläubigen Menge zu verbreiten? Von allen Völkern der Gegenwart ist das russische noch seinem Herrscher am tiefsten ergeben; aber sein geringes Vortrauen in die Verwaltung macht es zu Erhebung und Rebellion aus Gehorsam fähig, fähig, aus Unwissenheit sich zum blinden Werkzeug der schlimmsten Feinde derselben Gewalt herzugeben, die es aufrichtig verehrt. Viertes Kapitel. I de Polizei. — Ihre Wichtigkeit in einem absoluten Staate. — Die gewöhnliche Polizei. — Ihre Fehler, ihre Tyrannei. — Gründe ihrer hüuügen Ohnmacht, hie Stadlpolizei und die Dworniks, Die Landpolizci und die Urädniks. — Der Pnsszwang. Seine Nachtheile, seine Wirkungslosigkeit. Alle Mittel der Controle, welche der Herrscher Umsicht zu erfinden, der Bureaukratie Scharfsinn zusammenzustellen wusste, haben den ') S. Bd. I, Buch VU, Kap. II. In einigen Flecken haben 1881 Bauern, «Helie die Plünderung jüdischer Häuser begonnen hatten, die Behörden ganz unbefangen um Frlaubniss gebeten, morgen beendigen zu dürfen, was sie heute nicht fertig gebracht hätten. Sie glaubten au das Bestehen eines „Papiers", das die Israeliten zu solcher Behandlung bestimme. ■) S. Buch I, Kap. I. Missbräuchen in der Verwaltung kein Ende machen können. Unter den Zügeln, die dem Tschinownikthum angelegt worden sind, ist einer, dessen hier nuch nicht erwähnt wurde, der aber einer besondern Aufmerksamkeit werth ist, ich meine die Polizei, In einem absoluten Staat hat naturgemäss die Polizei eine sehr hohe Wichtigkeit, sie wird gewöhnlich das Hauptstück im Regierungsmechanismus. Ihr fällt es zu, die politischen Rechte, die Presse, die vertretenden Körper dort zu ersetzen, wo weder Wort noch Feder das Recht haben, über Missbräuehe zu klagen. Ihre Aufgabe ist selbstverständlich um so grösser, je beschränkter die des Landes ist; das Werk der Controle, der Berichtigung, der Kritik, das nicht bei hellem Tage von der öffentlichen Meinung oder den Vertretern der Nation geübt werden kann, soll im Geheimen von den Beamten der Polizei gethan werden. Ausserhalb dieser Alternative: Öffentliche Freiheiten oder geheime Polizei giebt es nur Unordnung und Anarchie. In Russland, wie in jedem absoluten Staat hat die Polizei eine doppelte Rolle spielen müssen, sie hat zugleich das Volk und die Beamten, die Verwalteten und die Verwaltenden zu überwachen i sie ist nirgend mächtiger gewesen, als hier. Unter dem Kaiser Nikolai konnte man die Polizei das wirkliche Hauptrad in der Staatsmaschine nennen; unter Kaiser Alexander IL, nach zwanzig Jahren liberaler Beformen hat sie ihre alte Bedeutung sich bewahrt oder wieder erworben. Eine der Hauptsorgen der Regierenden ist seit zwei Jahrhunderten die Vervollkommnung dieser Regierungsmastdune gewesen. Um ihre Kraft, und Thätigkeit zu mehren, hatte man sie gelheilt, •''n- das Russland Nikolais und Alexanders IL genügte Eine Polizei mcht; es besass ihrer zwei, die unabhängig von einander waren. Die erste, die gewöhnliche, ordentliche Polizei war dem Ministerium des 'nnern untergeordnet, die zweite, die politische oder Staatspolizei, war iuisserhalb jedes ministeriellen Ressorts gestellt und allein vom Kaiser abhängig. Die ordentliche Polizei hat eine Organisation, wie sie sie mehr uder minder in den Staaten des Westens erhalten hat, Was sie bis vor Kurzem noch auszeichnete, war die Herrschaft, die sie dort führte, wo sie nur Dienste zu leisten gehabt hätte. Statt die bescheidene ttülfsgenossin und gleichsam die Dienerin der Verwaltung und Justiz Zl' bleiben, war die Polizei ihre Lehnsherrin geworden. Da, wo wir in westlichen Ländern einen Justiz- oder Verwaltungsbeamten hinstellen, setzen die Russen nicht selten einen Polizeiofficier hin. So ist in den Kreisen, die den französischen arrondissements entsprechen, die Regierung statt durch einen Untergouvemeur, der dem franzö- sischen sous-prefet entspräche, durch einen Polizeimeister, den isprawnik, vertreten, der an den Hauptorten Commissionäro unter sich hat, die den Titel stanowoi pristaw führen. Der Isprawnik, der heute noch der erste Beamte des Kreises ist, wurde seit Katharina IL von dem Adel gewählt. Diese gewählten Beamten genossen darum doch nicht besseren Hufes; sie galten nur selten für unbestechlich und waren der Parteilichkeit und Schwäche gegenüber den einflussreicheren unter ihren Wählern verdächtig. Nach der Freigebung der Leibeigenen konnte die Wahl von Beamten, die in ununterbrochener Berührung mit allen ('lassen der Nation standen, nicht einer einzigenClasse überlassen bleiben. Die Ernennung des Isprawnik wurde also dem Gouverneur überwiesen, die Bevölkerung hat hiebei jedoch mehr ein illusorisches, als ein wirkliches Recht verloren. Die Polizei ist jeder Zeit eines der Aemter gewesen, wo Erpressungen und Missbräuche aller Art am häutigsten vorkamen, weil sie am Leichtesten waren. Trotz der Aufmerksamkeit, die ihm die Begierimg immer gewidmet hat, trotz wirklicher Verbesserungen, ist dieser Dienst, auf dem die andern ruhen, bisher einer der mangelhaftesten geblieben. In den Städten, zumal in den Hauptstädten, WO sie unter den Augen der höchsten Behörden amtirt, lässt die Polizei äusserlich wenig zu wünschen übrig; sie ist aufmerksam, gefällig, höflich, wenn auch nicht immer ehrlich. Ein Ausländer, der sie nach dem Aeussern beurtheilen wollte, würde sie in Petersburg für vollkommen halten; doch die lange straflose Keckheit der Nihilisten und die unglaublichen Erfolge der Verschwörer haben nur zu sehr ihre Nachlässigkeit und Ungeschicklichkeit enthüllt. Diese überraschende Ohnmacht der Polizei hing besonders mit den gewöhnlichen Fehlern der russischen Verwaltung zusammen, von deren Zweigen die Polizei der ungesundeste und mindest geachtete ist; sie hing vor Allem mit der Unwissenheit, der Sorglosigkeit, der Bestechlichkeit zusammen. Nach einer Untersuchung, die der damalige Polizeichef von St. Petersburg General Baranow 1881 unter Alexander IBT. veranstaltete, war ein grosser Theil der Polizeibeamten der Stadt und ihres Weichbildes ausser Stande ein Protokoll aufzunehmen, viele konnten nicht einmal ihren Namen richtig schreiben. Unter ihnen gab es viele, welche die Gesetze und Verordnungen nicht kannten, die sie in Anwendung bringen sollten, und der .Massstal) ihrer Moraliläf überstieg den ihrer Bildung nicht. Man schliesse hieraus auf die Polizei in den entlegenen Gouvernements! Die Unzulänglichkeit des Personals erklärte sieh aus der Unzulänglichkeit seines Gehalts, uinso-niehr, als die Missachtung, die in Kussland Alles trifft, was mit der Polizei in Verbindung steht, nicht gerade geeignet ist. die Ergänzung der Ein ken zu erleichtern. Im Jahr L881 hatten die St. Petersburger Commissäre, die sich au ihre tiage hielten, kaum zu leben; die niedorn Beamten, die policemen, hätten Hungers sterben müssen, wenn sie nicht von den Kneipen und Herbergen eine Ergänzung zu ihrem kärglichen Gehalt in natura oder in Gehl vorwegerhoben hätten. Euter einem so zusammengesetzten Personal, das durch seine Dürflagkeil auf unerlaubten Erwerb angewiesen ist, konnte es den Revolutionären nicht schwer fallen, Gefälligkeiten, wenn nicht gar Mitschuldige ZU erkaufen. Auch war es eine der ersten Sorgen des von Alexander III. mit der Reorganisation der Polizei betrauten General Baranow, den Gehalt der Beamten und zugleich ihre Zahl zu erhöhen1). Nicht zufrieden damit, Zahl und Tüchtigkeit der Aufsiehtsbeainten zu mehren, hat die Regierung seit ihrem Kampfe mit dem Nihilismus 'Ion Gedanken gefasst, ihnen auf Kosten der Privaten llülfstruppen zn geben. Sie hat diesen Gedanken in den grossen Städten, namentlich in der Residenz mit Hülfe der Hausbesitzer ausgeführt, die sie '»ei Strafe der Sequestration für ihre Miether und für alle ungesetzlichen Handlungen verantwortlich gemacht hat, die in ihren Häusern vollzogen werden, als da sind: geheime Versammlungen, heimliche Zusammenkünfte, Niederlagen von verbotenen Büchern, Wallen oder Sprengstoffen und dergl. m. Und wie der Bausbesitzer zum Bürgen gemacht wurde für Alles, was im Innern des Hauses geschah, so wurde der Hausknecht, der dwornik, in einen Beamten verwandelt, welcher Alles, was ausserhalb des Hauses geschieht, zu veranl-vvorten hat: d. h. darauf zu wachen, dass keine revolutionäre Pro-°temation an die Mauer geklebt, kein gefahrlioher Gegenstand aus den Penstern geworfen werde, die Personen, die ein- und ausgehen, zu OOntroliren, der Polizei Beistand zu leisten bei der Verhaftung von ln,|'viduen, die Hieben oder Widerstand bieten wollen-). Die hierauf ') Man hat 1881 eine t'ommission gebildet, welche die Beschwerden de« ''"bliciuus gegen die J'olizeibeamten entgegeiinelin.cn soll, und was noel. sell-SilllK'r ist, man hat gleichzeitig von dm Bewohnern Petersburgs ein Colleguni, w»lden lassen, das mit der Polizei gemeinschaftlich über die Sicherheit des ''«'^chers wachen soll. Wir werden später, bei Besprechung der Stadtbeliorden, 'lK'He euriose Institution zurückkonnnen. *) Bekanntmachung des Polizeimeisters betreffend die Ergänzinigsmassregeln z,,ni »Zustand der Schutzwehr", Sept. 1881. Nach Anhang II dieser Bekanntmachung m{m der 1)wornik mVht bi08 die Ein- und Ausgänge überwachen, bezüglicher vom General Gurko unter Alexander II. erfundenen Vor-Bichtsmassregeln sind unter Alexander Tl I. vom Genend Koslnw wieder aufgenommen worden. Der dem Dienste des Hausbesitzers und der Miether entrissene Dwornik muss die Wache vor dem Hause beziehen; und diesen Sehildwuidien, die dem Reichsschatz nichts kosten, legt die Verordnung einen Dienst auf, Wie man ihn kaum von einem Soldaten oder Gendarmen fordern dürfte. Der Dwornik im Dienst darf seinen Rosten um keinen Preis verlassen; es ist ihm ausdrücklich verboten, zu schlafen, verboten selbst, sich unter dem Thorweg gegen Regen und Schnee zu schützen '), und der Dienst dieser Unglücklichen ist ofliciell für die sechs Wintermonate auf 16 Stunden täglich, von 1 Uhr Nachmittags bis 8 Uhr Morgens festgesetzt. Mau kann sich denken, was bei dem Petersburger Winter aus diesem Dienste wird. Wie gross auch die russische Ausdauer sei, hier könnte der Binzeine kaum genügen. In diesen Dworniks hat die Regierung jedem Hause der Stadt') einen oder zwei Nachtwächter gegeben, die für die Besitzer eine um so schwerere Last sind, als sie im Innern des Hauses durch Thürhüter ersetzt werden mussten. Als hätte die Polizei Bich unfähig gefühlt, die Ordnung in den Strassen der Hauptstadt zu sichern, hat sie den gewiss echt russischen Gedanken gefasst, eine Classe von Einwohnern damit zu belasten, die so einer neuen Art von Proline unterworfen wurden. So scharfsinnig diese Vorsicht s-massregeln auch scheinen, so haben sie doch bis jetzt nur einen unbedeutenden Erfolg gehabt. Einer der Gründe für die Nachlässigkeit und Unzulänglichkeit der russischen Polizei ist die grosse Zahl von Verrichtungen, die ihr übertragen sind. Wenn auch schon unter Alexander III. wesentlich beschränkt, sind diese Befugnisse doch noch jetzt über alles Mass ausgedehnte. Nachdem sie so lange das Lieblingswerkzeug der Regierung gewesen, fährt die Polizei auch jetzt fort, auf Kosten ihrer besonderen Aufgaben in eine grosse Zahl von mehr oder minder ihrem Zwecke fremden Angelegenheiten einzugreifen. Der „Golos" bemerkte 1.881, dass die Reichsgesetze nicht weniger als 5,075 Artikel über die Befugnisse der Polizei enthalten. Um alle ihm obliegenden Pflichten sondern mich in dem Fall, dass Fremde erscheinen, sich überzeugen, zu wem sie gehen, und was sie hinführt, wie auch die Polizei davon unterrichten, sobald ihm Jemand verdächtig scheint. ') Anhang II zu der Bekanntmachung vom Sept. 1881. *) Hier muss noch hervorgehoben werden, dass die Häuser in St. Petersburg gewöhnlich sehr gross sind und zuweilen mehrere hunderte von Wohnungen in «ich fassen, was die Ueberwaehung sehr viel schwieriger macht. zu erfüllen, musste ein Sicherheitsbeamter zugleich Gesundheitspolizist, Chemiker, Architekt, Censor, Gerichtsdiener, öffentlicher Anklager am Friedensgericht, Acciseinspector, Aufseher .der Rekruten uml der Reservemannschaften und endlich jederzeit disponibel sein für die Ausführung der Verfügungen aller Behörden. Diese Fülle ron verschiedenen Aemtern verwandelt die Beamten der Polizei in Aller-weltsdiener und zieht sie natürlich von ihrer Hauptaufgabe, von der Sorge um die öffentliche Sicherheit und Gesundheit ab. Indem ihre Sphäre erweitert wurde, wurde ihre Thätigkeit geschwächt. Die politischen Befürchtungen haben in den letzten Jahren diesen TJebelstand Hoch grösser werden lassen. Der Kampf gegen die Revolution, der alle Aufmerksamkeit und alle Talente der Polizei in Anspruch nahm, zog sie von minder wichtigen Sorgen ab; weil sie über die Sicherheit des Staates wachen musste, verlor sie die Sicherheit der Privaten aus dem Auge. Die Jagd auf Verschwörer und geheime Gesellschaffen kam den Mördern und Dieben zu statten, deren einfache Aufgreifung Dicht zu demselben Eifer begeistern, noch dieselben Vortheile bringen konnte. So zogen die Verbreeher aus dem Kriege zwischen Regierung "nd Nihilismus ihren Nutzen, und die der Polizei ertheilten ausser-"i'dentliehen Hechte kommen nicht der öffentlichen Sicherheit zu gute. In den kleinen Städten und auf dem Lande, wo jede Controle ,l"d jeder Rückhalt unmöglich sind, zeigen sich am deutlichsten die Mängel der Polizei, dort erlaubte sie sich die meisten Missbrauohe und Amtsüberschreitungen. Bauern, Arbeiter, kleine Leute haben oft genug von der Habgier, von der Willkür, von der Grobheit des Isprawnik, des Stanowoi und ihrer Untergebenen zu leiden. In einem so ausgedehnten Lande, bei durchschnittlich so dünner Bevölkerung lst es natürlich schwer, eine gute Polizei zu unterhalten. Bas ist namentlich auf dem flachen Bande schwer; zur Zeit der Leibeigenschaft hielt die Autorität der Gutsbesitzer und ihrer „Comptoirs" die Ordnung aufrecht. Die Emancipation hat den Bemühungen des hohen Adels zum Trotz die herrschaftliche Polizei abgeschafft, ohne immer eine andre an ihre Stelle zu setzen. Eines der bedeutendsten Glieder der Redactionscommission, Fürst Tscherkaski gestand in seiner Privatoorrespondenz, dass die Unzulänglichkeit der Strafgewalt auf dem Lande ein grosser Fehler der neuen Organisation sei1). Diese Lücke hat oft die alte Gutspolizei vermissen lassen, welche wiederholte Bemühungen eines Theiles des Adels nicht wieder haben her- ') Eingedruckter Brief des Fürsten Tscherkaski an N. Milutin (38. Juli IHol). s- Un homme d'etat u. s. w. Rev. d. d. M. 1. Oct. 1880 bis 15. Febr. 1881. stellen können. Die Regierung hal deri Comptoirs der Gutsbesitzer die Gemeinden der Bauern vorgezogen, aber trotz der dem Starost und Starsobina ertheilten Befugnisse, trotz des der Polizei eingeräumten Aufsii htsreehts über die (icmeindeverwaltungeii haben die letzteren Mühe das Land gegen Vagabunden. Trunkenbolde, Diebe, Brandstifter zu schützen. Für die Sicherheit in den Dörfern war so schlecht gesorgt, dass ich fast zwanzig Jahr nach der Freigebung mehrere (nits-besitzer in Uebereinstimmung mit der Moskauer Zeitung das Hache Land für unbewohnbar erklären hörte. Auch hat die Regierung in der letzten Zeit Alexanders II. die Errichtung einer speciellen Landpolizei beschlossen. Diese noch ganz junge Institution verdient eine kurze Betrachtung, weil sie ein typisches Beispiel dafür bietet, was in Kussland die scheinbar besten Neuerungen hervorbringen können. Polizeiagenten, etwa ."> bis 0000 an Zahl, wurden über das Hache Land im Innern des Reichs ausgebreitet. Man bewaffnete sie, machte sie beritten, gab ihnen guten Gehalt und ausgedehnte Hechte. Diese neuen 1K7N eingeführten ländlichen Wachen zu Pferde beissen uräd-niki von uräd, Ordnung). Sie unterscheiden Bich von den französischen Gendarmen und den italienischen Carabinieri daiin, dass sie jeder einen bestimmten Bezirk haben, statt in Regimenter oder Brigaden ZUSammengefassl zu sein. IS7S u. 1870 wusste man kein Ende zu machen in Lobeserhebungen über diese ausgezeichnete Institution. Die Semstwo's verlangten um die Wette nach I'rädniks, die Zeitungen beklagten einstimmig, dass die Bedrängniss des Budgets nicht eine Verdoppelung oder Verdreifachung ihrer Zahl zulasse. Ein oder zwei Jahre später, INNO u. INN] lauteten die Meinungen über dieselbe Gendarmerie mit Einstimmigkeit umgekehrt; die Presse deckte laut, soweit wenigstens die Censur es gestattete, Missbräuche auf; das Publicum forderte allgemein ihre Aufhebung. Ist auch das ein Beispiel von der russischen Unbeständigkeit? Nein; dieses Volk, das keine Enttäuschung für neue Hofl'nungeii unzugänglich machen kann, hatte nur eine schlimme Erfahrung mehr gemacht. Es hatte nur weniger Monate bedurft, um diese neuen Hüter der öffentlichen Sicherheit in kleine Locultyraniion zu verwandeln, die ihrer Habgier, Laune und Ohmassigkeit freien Lauf Hessen. Mit der Macht bekleidet, alle Verdächtigen zu verhaften, wurden die Lrädniks der Schreck des Landes, das sie schützen sollten. Die gebildeten Leute vergleichen sie mit den lin>tern opritsi hniki [oans des Schrecklichen; der Bauer, das Opfer ihrer Grobheit und ihres Raubsystems hat sie in volkstümlichem Wortspiele: Ivurädniki. d. h. Hühnerdiebe getauft. Hohe Beamte, selbst die Gouverneure haben geglaubt, ihre Räubereien zur Anzeige bringen zu müssen. Dies ist also ein noch ganz junges Srliutzinstitut, das die Gewuhnheiten der Willkür, der Unordn.ung. der Bestechlichkeit, verbunden mit dem Eifer für die Jagd auf die Nihilisten in zwei oder drei Jahren in ein neues Werkzeug der Qualerei und der Unterdrückung verwandelt haben. Die öffentliche Meinung, die ihre Sympathiecn zuerst so wenig zu massigen wusste, sieht jetzt das Heilmittel nur noch in der Unterdrückung der Orädniks; dii^e vergeblich vom General Loris-Melikow in den letzten Monaten Alexanders II. erwartete Massrege] wäre eine der populärsten gewesen, die Alexander TIT. hätte ausführen können. Die Landwaeht. die den Dörfern die Wohlthaten der Gensdarmerie bringen sollte, hat gezeigt, dass in einem autokratischen Staat das Land mitunter mehr unter seiner Polizei, als unter der Abwesenheit der Polizei leiden kann. Wie zur Zeit der Leibeigenschaft wird auch heute die Controle von der ordentlichen Polizei besonders durch Pässe geübt. Der Pa8S bat in Russland eine Bedeutung, die er vielleicht in keinem Lande des Westens je gehabt In dem Reiche und ausserhalb des Reiches erinnert er die Unterthancn des Zaren fortwährend an die eifersüchtige Vormundschaft der Verwaltung. In Russland dient der Pass ebensowohl als Steuer - wie zur Polizoicontrole. Vor der Freigebung war er ein Halsband, das ausserhalb des herrschaftliehen Dorfes niemals vom Halse des Leibeigenen abgelegt wurde, und in echten Schriftzügen den Xamen des Herrn trug. Nachdem die Bauern frei geworden. blieben sie doch solidarisch der Steuer unterworfen; aus diesem Grunde haben Staat und Eisens ein Ilderesse daran, die Hauern überall wiederzuerkennen und lassen sie darum nicht ohne das alte Halshand frei circuliren. Die Pässe werden übrigens zu einer wirklichen Steuer und zwar ZU einer von denen, die noch den ursprünglichen Charakter der Steuern in Russland tragen1). Diese Abgabe bringt jährlich bis zu Millionen Rhin, ein (1x79), d. h. ungefähr ebensoviel als das oonregistrement" vor etwa 12 Jahren eintrug. Ausländische Pässe lösten SO Rbl., ja, sie stiegen unter dem Kaiser Nikolai auf 250 Rbl.. ,L b- UtOO Frcs. ä Person8). Im Inlande betrug diese Steuer neuer- ') 8. die Studie des Verfassers: Lc Systeme nuancier de la Russie. Revue (|- d. Mondes, 15. Dec. 1876 und 1. Jan. 1877. *) Auin. des l'ebersetzers: Hier sei eine kleine Berichtigung cingefloehteii. Die hisse ins Ausland waren zu des Kaisers Nikolai Zeit auf f> Rbl. also 8000 Pres, jährlich erhöht worden, was dem Verbot einer Heise über die Grenze "'die kam. Diese Bestimmung hielt sieh nur kurze Zeit. Unter Alexander II. Wurde die Steuer für den ausländischen Pass auf 5 Rbl halbjährlich, 1<> Rbl. dings 85 Kop. für 6 Monate, 1 Rbl. 45 Eop. jährlich1), und eines Fasses bedarf jeder Händler, Bauer, Arbeiter, der sich auf mehr als HO Werst oder 7 bis 8 Lieues, über etwa 32 Kilometer von seinem Wohnsitz enfernt. In einem Lande, in dem die Entfernungen das Reisen in jedem Stande so häutig machen, in dem ein grosser Theil der Bevölkerung durch Klima und Arniuth des Bodens gezwungen wird, die eine Hälfte des Jahres ausserhalb der Heimath zuzubringen, ist die Passpflicht im Innern ganz besonders lästig. Weder Polizei noch Fiscus seihst ziehen alle Vortheile daraus, die sie erwarten. Die Strenge des Pass-reglements hat der grossen Zahl von Vagabunden (brodägi), aus denen sich die seltsamsten Seeton ihre Ersatzmannschaft holen, niemals Eintrag thun können. Die Fabrikation oder Fälschung von Pässen ist zu aller Zeit eine sehr verbreitete Industrie gewesen und zwar in dem Masse, dass die Pässe die Untersuchungen der Polizei oft auf Irrwege gelenkt haben, statt ihnen zu dienen. Her russische Pass ist nicht blos eine Erschwerung für den freien Verkehr, für die Geschäfte und Vergnügungen der Bevölkerung, er ist auch ein Himlerniss in der freien Wahl des Wohnsitzes und des Gewerbes, ein Himlerniss der freien Gruppirung der Bevölkerung muh den Bedingungen der Bodenergiebigkeit. Mit Hülfe dieses Bandes, dem die Polizei ihre Marke und der Staat sein Siegel aufgesetzt, halten die Landgemeinden ihre Glieder in ihrem Schoosso zurück und heften sie an die Scholle. Die Abschaltung des Passzwanges wäre eine bedeutende Reform von bescheidenem Aussehn: erst wenn Bussland das Recht erhalten hat, zu gehen und zu kommen nach Belieben, wird es sich wahrhaft freigegeben nennen dürfen. Das Bedürfniss, die jetzt bestehenden Passregeln zu ändern, wird von Allen anerkannt: mehrere Commissionen sind schon zu diesem Zwecke ernannt gewesen, — aber, wie es in Petersburg und anderwärts oft geht, aus ihren Arbeiten ist nichts geworden, oder die von ihnen ausgearbeiteten Entwürfe haben die Allerhöchste Genehmigung nicht erhalten. Leider berührt diese Fragt; die der directen Steuern. Für den Fiscus und die Gemeinden ist der Pass eine Waffe gegen die schlechten Steuer- jährlich festgesetzt, und soviel wird noch jetzt, im Januar 1884 gezahlt. Dass eine bedeutende Erhöhung der Steuer für Auslandspässe in Aussicht genommen ist, wird bekannt sein. Her erste F.utwurl'stellte eine -.. aii-sernrdeiitlieho Steuer in Aussieht, dass er scheitern musste. :'j Die Kopeke ist der hundertste Theil eines Rubels; wenn dieser al pari steht, :dlt die Kopeke l Centimes. Zahler; es wäre schwer, ihn jenen zu nehmen, so lange der Bauer der solidarischen Steuerhaft unterlieg! 1 . Das ist der unumgängliche Zusatz und gleichsam die Krone der Kopfsteuer, und wie diese selbst, wie die Solidarität der Personalsteuer, ein Ucberbleibsel aus der Zeit der Leibeigenschaft, eine letzte Vorsichtsmassregel des Fiscus, der lange den Steuerpflichtigen an die Scholle gebunden hatte und nun, seit dessen Freigebung, sieh an seine Taschen hängt. Demgemäss haben auch die unter Alexander 11. geprüften Entwürfe keineswegs die Bevölkerung von diesem unbequemen Joch befreien wollen, sondern den Passzwrang für die Bauern und selbst für die Kleinbürger, in ■ (ditschane, d. h. für diejenigen Volksolassen aufrecht erhalten, die am meisten unter ihm leiden. Jedenfalls ist dies eine der Reformen, welche die revolutionäre Agitation noch vielleicht auf lange hinaus verschoben hat. Die Verfolgungen der Nihilisten seitens der Regierung haben gezeigt, wie wenig Hülfe alle diese Vorsichtsmittel der Polizei bieten. Als Alexander II. gegen Ende seiner Regierung zu Gewaltmassregeln griff, und der grössere Theil des Reiches in eine Art von Belagerungszustand gesetzt wurde, da zeigte es sich, wie oft das Passreglement Unerfüllt geblieben war. Man entdeckte, dass es in den grossen Städten immer — Dank der Sorglosigkeit oder dem Einvorständniss der Polizei — eine zahlreiche Bevölkerung von Vagabunden aller Art ohne irgend welche Legitimationspapiere gebe. Die Regierung erfuhr in dieser Beziehung die traurigsten IJeberraschungen. Als die Polizei von Tiflis 1879 den Befehl erhielt, alle passlosen Leute in der Stadt zum Zwecke ihrer Ausweisung zu arretiren, gab es unter den Arbeitern, Kleinhändlern, Kutschern, Dienstboten eine allgemeine Flucht, so dass die wohlhabende Bevölkerung sieh durch den plötzlichen Ausfall an Arbeitskräften und Dienenden in der grössten Verlegenheit fand, otatl der Polizei zu gehorchen, waren Tausende entflohen, um nicht auf dem Schub in ihre Heimathörter befördert zu werden, wie das Oesetz es vorschreibt. Die passlos betroffenen Individuen werden thatsächlich sofort, auf ihre Kosten, zu Fuss, par etapes (etäpom), wie Soldaten oder vielmehr wie Verurtheilte nach der Gemeinde ') -Man darf übrigens nicht übersehen, dass der Pa.ss oft auch — vom fis-e.'diselieu Standpunete — seinem Zweck widersprechende Folgen hat. Die '"eisten Bauern verlassen ihre (iemeinden, um anderwärts soviel zu erwerben, ■lass sie ihren Theil der Steuer bezahlen können. Ihnen einen Pass verweigern, weil sie i,„ Steuenückstande sind, heisst unter Einständen, sie in einer Oertlich-k,,it zurüekhalten, wo ihr Erwerb ungenügend ist, und dadurch sie unfähig "lu,'hen, ihre Steuern zu bezahlen. S. Bd. 1 Buch VI Kap. IV und V. al igr Cr rügt, in der sie ihren gesetzlichen Wohnsitz hüben: Gold nilein kann in solchem Falle der Härte des Gesetzes gegenüber Aufschub oder Erleichterungen erreichen. Die Fahrlässigkeit der Tilliser Polizei stand nicht vereinzelt da. In dem europäischen Hussland gab es Städte, in welchen die Verordnungen wohl noch weniger beachtet waren, als in Transkaukasien. So stellte beispielsweise die Stadtbehörde von Odessa in drei Wochen 10,000 Pässe aus, als im April desselben -Jahres 1S71I die Behörden sich anschickten, die Verordnungen wirklich durchzuführen. Es waren also in dieser Stadt mindestens 10,000 Auswärtige ohne Pass ansässig gewesen. Ausserdem hatten die Bureaux der thiartierpolizei in der gleichen Zeit 60,000 Personen in ihre Register einzutragen; mit andern Worten, allen Gesetzen zum Trotz hatte Odessa 60,000 Einwohner, also fast die Hälfte der ansässigen Bevölkerung, deren Namen in die Bücher der Polizei nicht eingetragen waren. End was in Titiis und Odessa geschah, das wiederholte sich mehr oder minder in allen grossen Stallten l). Da die Pässe theuer sind, machen die armen Teufel gern Oekonomie mit ihnen. Dergleichen Züge erklären sehr wohl scheinbar unglaubliche Thatsachen. Wenn die polizeilichen Vorschriften nach der Ergreifung strengerei' Massregeln grössern Gehorsam finden, so kann die Art und Weise, in welcher die P&ese • ■etheilt und unterzeichnet werden, doch mitunter zu eigenthünilicheii Unordnungen Anlass geben. Hier ein Beispiel dafür. Im Winter von 1 s7D auf 1SS0, als der Krieg gegen den Nihilismus und die Strenge der Bolizei in Blüthe standen, bedurfte einer meiner russischen Freunde, der von Odessa an die Efer des mittelländischen Meeres sich hegeben wollte, eines Passes für das Ausland. In solchem Falle ist natürlich verordnet, dass der Passsuchende sich in Person vorstellt Unser Beisender hatte Eile. Ein Cummissionär versicherte ihn. er werde ihm für ein Trinkgeld von 2"> Rbl. die Mühe ersparen. Aus Eile oder Trägheit oder wie er mir erzählte — aus Neugier und Wunsch, darüber eine Erfahrung zu machen, nahm der Beisende das Anerbieten an. Am andern Morgen reiste er mit einem voll- 'I Ich linde den Beweis hiefür in den Erträgen des Reichsschatzes. Die Pässe, deren Ertrag nach dem Resultat der früheren Erfahrungen in dem Voranschlag des Itudgets für 1S7Ü auf 2,,:>11.'.»iM Rbl., also ein Mehr von IM)",,, was beweist, wie häufig auf diesem (Jebiete der Retrug gewesen ist. (Berieht des Reiehscontroleurs über das definitive Budget ete. tsT'.i. Wesselowski, .lahrhiirh der russ. Finanzen lSSl |. kommen richtigen Pass nacli KonstantinopeL In gewöhnlichen Zeilen hätte ihm diese kleine Gefälligkeit wühl nur den halben Preis gekostet. Die politischen Processe haben gezeigt, dass viele Unglückliche durch den Mangel eines Passes oder durch den Verlust ihrer Papiere zur anarchistischen Partei und zu geheimen Verbindungen verschlagen wurden. Vielleicht die Hälfte der in den nihilistischen Verschwörungen compromittirten Bauern und Arbeiter hat einem derartigen Zufall den Beginn ihrer revolutionären Laufbahn zu danken. Ist ihm einmal der Pass verloren oder gestohlen — denn Diebstahl dieser Art ist nicht selten — so hat der Bauer oder Arbeiter vom Lande bei einem Aufenthalt in der Stadt eine langwierige und bisweilen kostspielige Mühe, einen andern zu erhalten, und die Person, die einige Wochen ohne Pass lebt, weiss, dass sie allen Verfolgungen der Polizei ausgesetzt ist, und immer Sibirien vor sich hat. So ohne eigenes Verschulden in einen Vagabunden verwandelt und zu der Stellung der outlaws niedergesunken, wird der seiner Papiere beraubte Mann aus dem Volke leicht die Beute der Revolutionäre, die ihm Arbeit schaffen «»der ihm einen falschen Pass besorgen. Mehrere Staatsverbrecher begannen auf diese Weise ihre Laufbahn. Diese den russischen und ausländischen Reisenden so unbequemen Passvorschriften lasten auf gewissen Ständen und namentlich auf den untersten Classen besonders schwer. In dieser Beziehung Wären die Bauern noch die Parias des Reiches, wenn die Juden aller Classen nicht von noch drückenderen Bestimmungen betroffen wären. Die vielen Mushiks, die ihren Wohnsitz in Städten haben, linden oft Mühe, ihre P apiere von den Dorfgemeinden erneuern zu lassen. Langsamkeit oder schlechter Wille der Gemeindebehörden, die sie oft mir mit Hülfe des Geldes besiegen, setzen sie in Gefahr, aus den Städten, in denen sie arbeiten, ausgewiesen zu werden, denn ein Arbeiter ohne Papiere findet nur mit Mühe oder zu herabgesetztem Lohn einen Platz. Die Sorge und Angst der Betheiligten ist zuweilen 80 gross, dass Bauern darüber krank geworden und sich sogar ans Leben gegangen sind. So tödtete sich 1879 in Petersburg eine 18jährige Bäuerin aus dem Gouvernement Smolensk, weil ihr Pass nicht rechtzeitig erneuert war und die Herrschaft, in deren Dienst sie si,,b befand, sie nicht länger behalten wollte1)- ^üv üie Leute aus ') Nowoje Wremä 22./10. Febr. 1870. 0m dergleichen Fällen vorzubeugen «t freilich neuerdings die Autorität der Landgemeinden über ihre entfernten Glieder vermindert worden. S. Buch I, Kap. III. Lo roy - B oaul i o u , Reich d. Zaren u. d. Küssen, II. Bd. 8 dem Volk, namentlich für den Mushik ist der Pass ein Gegenstand unausgesetzter Angst, wie ein Anlass zum Verbrechen; für die Gemeindeverwaltungen, wie für die kaiserliche Polizei ist er eine Quelle unerlaubten Erwerbes und ein steter Vorwand zu Willkür und Missbräuchen aller Art. Fünftes Kapitel. Die Staatspolizei, - Die frühere Dritte Abtheilung der kaiserlichen Kanzlei und die Gendarmerie, — Ihr Verfahren und ihre Täuschungen. — Ursachen der Aufhebung der Dritten Abtheilung. — Vereinigimg beider Polizeien. — Was Publicum und individuelle Freiheit dabei gewonnen haben. — Der „Zustand der Schatzwacht'' unter Alexander ITT. — Wirkungen der Allmacht der Polizei auf den russischen Charakter. — Wie die Dritte Abtheilung und die geheime Polizei den revolutionären (Jcist grossgezogen haben. Hierin, wie in mehreren andern Fragen Nachahmer Napoleons, hatte Alexander 1. einige Jahre lang ein eigenes Polizeiministerium errichtet. Der Kaiser Nikolai tbat mehr, er hatte zwei Polizeien, von denen eine mit den ausgedehntesten Machtbefugnissen ausgestattet war und zur besondern Aufgabe erhielt, die Sicherheit des Staats zu verbürgen und alle Verwaltungen und öffentlichen Beamten zu überwachen. Gereizt durch den Aufstand von 1825, der seiner Thronbesteigung sein Zeichen aufgedrückt hatte, schuf dieser Fürst 182(5 im Schatten des kaiserlichen Thrones eine neue Institution, die mit der politischen und der geheimen Polizei zugleich betraut war. Dies war die III. Abtheilung der Allerhöchst eigenen Kanzlei des Kaisers, die später von Alexander II. in seinen letzten Tagen wenigstens dem Namen nach abgeschafft wurde und bis vor Kurzem noch die höchste, wie die go furch totste Behörde des Reiches war. Unter dem bescheidenen Namen der Dritten Abtheilung bildete die Staatspolizei ein wahres Ministerium, das von allen andern unabhängig und in vielen Beziehungen ihnen übergeordnet war. Unter diesem seltsamen, scheinbar ganz unschuldigen Namen hatte Nikolai für mehr als ein halbes Jahrhundert die alte, allmächtige Staatsinquisition Peters des Grossen und seiner Nachfolger mit Erweiterung ihrer Machtsphäre wiederhergestellt. Die Allmächtigkeit der Staatspolizei ist in Russland alt. Unter verschiedenen Formen und Namen hat dieses Reich mit seltenen Pausen seit Jahrhunderten unter einer Art von polizeilicher Aufsicht gelebt. Es ist das eines der traurigsten Kapitel seiner Geschichte. Die Küssen behaupten oft, im alten Moskowien habe es nichts der Dritten Abtheilung der letzten Kaiser noch der geheimen Inquisition Peters des Grossen Aehnliches gegeben; viele sprechen es auch den Slavophilen nach, dass es in dem Kussland der alten Zaren, in welchem der Herrscher in directer Verbindung mit dem Volke gestanden wäre, keinen Kaum für geheime Kanzleien gegeben hätte. Das ist einer der Gemeinplätze des moskowitischen Patriotismus, den die Thatsachen Offenbar durchaus nicht bestätigen. Für die unheilvollen, fein berechneten Maschinerieen, die Peter der Grosse und Nikolai aufgestellt, lassen sich die groben und rohen Vorbilder unter den ersten Romanow*, ja selbst unter den letzten Nachkommen des Rurik finden. Das grste Vorbild derselben reicht mindestens auf Joann den Schrecklichen zurück, der seine persönliche Sicherheit der opritschina anvertraut, das Land der Willkür dieser privilegirten Garde überantwortet und damit über Russland eine Schreckensherrschaft ausgegossen hatte. Der Zar Alexei, der Vater Peters des Grossen, besass Bchon für die politischen Processe und die den Hof betreffenden Angelegenheiten eine geheime Kanzlei, die mit Hecht von den Zeitgenossen gefürchtet wurde, wenn auch einige Historiker von heute sie vertheidigen wollen. Was Peter den Grossen betrifft, so besass er zweifellos unter dem Namen des „Prikas von Preobrashensk" ') eine wirkliche Staatsinquisition. Man begreift die Schöpfung eines solchen Werkzeugs der Spionage und des Drucks zu einer Zeit, wo die plötzlichen Veränderungen, die Peter eingeführt hatte, in allen Schichten 11 Nation soviel stummen und eigensinnigen Widerstand hervorge-r,'ten hatten. .Man kann sich denken, welchen Gebrauch das achtzehnte «ahrhundert davon machte, wo jede Regierung mit einer Revolution und mit der Verbannung oder der Ermordung des Herrschers von gestern begann. Unter den Namen „geheime Untersuchungskanzlei" anter Katharina II. und Paul L, und „Dritte Abtheilung der Kaiserlichen Kanzlei" unter Nikolai und Alexander IL ist die politische In(püsition bis auf unsere Tage der charakteristische Zug der russischen Regierung gewesen, wie bis vor Kurzem die kirchliche Inquisition der panischen Regierung eigen war. Feierlich und ..für alle Zeit" im Jahre 1762 von Peter III. aufgehoben, nicht weniger feierlich von _ *) Etymologisch bedeutet Preobrnshenie Verwandlung, Verklärung, aber hier "«■zieht es sich durchaus nicht auf die Reformen des grossen Monarchen; es ist der Name des Dorfes (bei Moskau), in dem die geheime Kanzlei ihren BW« hatte. Alexander T. unterdrückt und öffentlich als demoralisirend und ver-derblich gebrandmarkt, ist diese innner wieder sieh erhebende Institution ein drittes Mal von Alexander II. aufgehoben worden, der sieh selbst ihrer lange Zeit bedient hatte. lauer der Gründe der Dauer und der wiederholten Neubelebungen dieser Staatsinquisition war für die kaiserliche Regierung der Wunsch, die Corruption und die Willkür in der Verwaltung zu zügeln, das Bedürfniss, den Mangel an Freiheit und Oefi'entlichkeit durch die Ueberwaehung ihrer Beamten zu ergänzen. Ein Instrument der Controle, das selber ohne Controle war. musste diese politische Inquisition in den Händen der Machthaber und der Tagesgünstlinge, in den Händen des Hasses, des Ehrgeizes oder der Furcht in ein Werkzeug der Herrschaft, der Verfolgung, der Vertilgung verwandelt werden. Von Beter dem Grossen bis zu den letzten Tagen Alexanders II. hat keine Maschine des Despotismus und der Bedrückung, vielleicht nicht einmal die spanische Inquisition, soviel Menschenleben dahin-gemäht, soviel Existenzen zermalmt, und keine hat je so geräuschlos und heimlich gearbeitet. Es gäbe kein so langes Märtyrervorzeichniss, als das der Staatskanzlei. Die Zahl ihrer Opfer jeden Standes, jeden Alters und Geschlechts ist um so grösser und um so schwerer zu bestimmen, als sie nicht öffentliche Autodufö's für sie errichtete, sondern sie fast immer mit einem Geheimniss umgab und in den schweigenden Schnee-gelilden Sibiriens begrub. Sie konnte sich ihrer ohne Blutspuren an der Hand entledigen, ihren Schrei nicht hören und hegte daher keine Bedenken und kein Mitleid. Die Dritte Abtheilung Nikolais und Alexanders II. war nicht blos eine Staatspolizei, die von geheimen Agenten bedient wurde, ein Institut, auf das keine Regierung vollkommen verzichten könnte; sie war eine besondere Macht in der Regierung, eine unabhängige, privile-girte Behörde, die ausserhalb und über der Sphäre der normalen Thätigkeit der andern Behörden, ausserhalb und über den Gesetzen stand, deren Aufrechterhaltung zu überwachen sie bestimmt war. Der Chef der Dritten Abtheilung, auch Chef der Gendarmerie genannt, war kraft seines Amts Mitglied des Ministorceniit.es, Mann des Vertrauens beim Kaiser, mit dem er in ununterbrochenen Beziehungen blieb. Alles hing mittelbar von ihm ab, selbst die Ernennung der Beamten, da er auf die Auskünfte seiner Polizei hin Einsprache erheben konnte. Er übte über alle Angelegenheiten und über alle Personen eine rücksichtslose Controle. Er besass das Hecht, zu verhaften, zu interneren, zu deportiren, verschwinden zu lassen, wen ihm gut schien. Die Ho formen Alexanders II. schienen der Regierung der Polizei ein Ende machen zu seilen. Etwa zehn Jahre lang war der Glanz der Dritten Abtheilung scheinbar für immer erloschen; aber das Attentat auf den Zar von Karakösow im Jahr 1806 gab dein Lieblingsinstitut Nikolais all seine alte Macht wieder. Die Leitung der Dritten Abtheilung wurde damals dem Grafen Peter Schuwälow übertragen, der später Gesandter in London und Bevollmächtigter des Zaren am Berliner Congross war. Das war in der That ein charakteristisches Merkmal für den politischen Zustand Russlands, dass einer der wichtigsten und angesehensten Posten der des Chefs der geheimen Polizei und der Gendarmerie war. Aus den Händen des Grafen Schuwälow ist das Seepter der Polizei in die Hände zweier Genend,• übergegangen, die es jedoch nur kurze Zeil geführt haben. Als die Dritte Abtheilung durch den Revolver Solowjews wiederum die wahre Beherrscherin des Boichs geworden war, zeigte sie sich auffallenderweise schlecht ihrer Aufgabe gewachsen; sie hat den am hellen, lichten Tage begangenen Attentaten weder zuvorzukommen, noch sie zurückzuhalten gewusst. In Petersburg, Kiew, Odessa, Charkow, in allen grossen Städten hat sie ihre Ohnmacht glänzend an den Tag gelegt, da sie ebensowenig verstand, sich gegen die Rächeaete der Agitatoren ZU schützen, als die Schuldigen zu entdecken und zu verhaften. Ehe sie ihre Schüsse auf Thron und Zar richteten, hatten sich die Revolutionäre an der hohen Polizei und den Gendarmenchefs versucht. Zwischen dem Nihilismus und der Dritten Abtheilung hatte sich gegen 1878 eine Art von Duell entsponnen, in dem die Polizei der kaiserlichen Kanzlei ihre Ungeschicklichkeit, die Hiebe ihres unsichtbaren Gegners zu pariren, vor Aller Augen darlegte. Die Drille Abtheilung unterlag; die bitter enttäuschte Kegierung gab sie dein Zorn der "Heulliehen Meinung preis. Von ihren beiden letzten Chefs ist der eine, General Mesenzew in den Strassen Petersburgs von dem Doleh nm's Unbekannten gefallen; auf den andern, den General Drenteln wurde mitten am Tage von einem jungen Mann zu Pferde geschossen '); nahm nach dem zweiten nihilististdien Attentat auf den Kaiser ünbetrauerl seinen Abschied. Die Dritte Abtheilung hatte sich ebenso unfähig erwiesen, das Leben des Kaisers, wie das ihrer Chefs zu schützen, General Drenteln erhielt keinen Nachfolger: das Amt eines Gendarmenchefs, das ebenso gefährlich geworden war, wie das fos Herrschers selbst, wurde abgeschafft und die Dritte Abtheilung aufgehoben, um zweifellos unter diesem verabscheuten Namen nie ') Der junge Mirski, damals KS Jahre alt, viel später verhaftet und zu Zwangsarbeit in Sibirien verurtheüt. wieder hergestellt zu werden. Ihre Herrschaft hatte von lSJii Inno, länger als ein halbes Jahrhundert gedauert1). „Man sagt oft, die Attentate hülfen nichts", sagte mir eine russische Dame, „Dolch und Kugeln haben uns indess von der Dritten Abtheilung befreit". Die Revolutionäre hätten sieh in der That eines grossen Sieges rühmen, die Parteigänger der Gewaltmittel, die Terroristen Petersburgs, hätten sich beglückwünschen können, einen unschätzbaren Dienst dem Vaterland geleistel zu haben, wenn der Ükas vom August 1 SSO wirklich Alles unterdrückt hätte, was in dem Namen der Dritten Abtheilung zusammengefasst war. Die Zerstörung einer Institution, die mit Hecht für das Hauptorgan des autokratischen Regiments galt, hätte als die Morgenröthe einer neuen Zeit und als das Vorzeichen einer neuen Freigebung hegrüsst werden können. Leider sollten dies die ('onseijuenzen des l'kases Alexanders II. nicht sein. Als der Befreier der Leibeigenen die Dritte Abtheilung seiner geheimen Kanzlei unterdrückte, hatte er die Absicht nicht, seine 1 nlerthanen aus der Knechtschaft, der geheimen Polizei zu lösen. Wenn auch in einer Zeit scheinbarer Windstille unterzeichnet, bewies diese zwischen zwei Attentaten ergriffene Massregel keineswegs, dass der Herrscher seiner Regierung und seinem Volke genügend vertraue, um auf die Schutzwacht seiner Staatspolizei verzichten zu können. In Wirklichkeit wurde die Dritte Abtheilung mehr ihres Hauptes beraubt, als unterdrückt, mehr umgeformt, als aufgehoben. Der Act, der die Autokratie ihres Lieblingswerkzeugs zu berauben schien, war nicht in der Absicht vollzogen, die Staatsgewalt zu entwaffnen. Keineswegs; Alexander II. hat bei der Streichung der Staatspolizei aus seiner eigenen Kanzlei ihr keinerlei Recht noch MachlbefugnisS, kein Mittel der Action genommen, die Nikolai ihr zugewiesen halte. Statt einer Massnahme der Nachgiebigkeit, des Rückzuges, der Abrüstung war die Aufhebung der Dritten Abtheilung für die Staatsgewalt nur eine Sammlung und Zusammenfassung ihrer Kräfte. Der Zar hat einfach seine beiden Polizeien vereinigt. Man stand im Sommer 1880, der Kampf gegen den Nihilismus war in vollem Gange, wenige Monate vorher war die Kxplosion auf dem Moskauer Bahnhof erfolgt, wenige Monate nachher sollte die im Wintorpalais erfolgen; der Kaiser hatte Bussland unter ') In diesen f>ö Jahren haben das Amt des (icndarmcnchcfs nach einander bekleidet: Graf Renkemiorf, Bruder der berühmten Fürstin hieven; Graf, später Fürst Orldw, Vertreter Russlands am Pariser Congress und Vater des Gesandten des Zaren in Frankreich; Fürst Wassili Dolgorükow, Graf Peter Schuwälow; die (ieneralc Potapow, Mesenzew und Drenteln, dem Namen von General-Gouvernements in 5 oder <> militärische Satrapieen getheilt und sich entschlossen, um der socialen Y< i-theidigung grössere Einheitlichkeit zu gehen, dem General Eoris-Melikow unter dem bescheidenen Titel eines Chefs der Exeeutiv-oommission eine wahre Dictatur anzuvertrauen. Diese neue administrative Dictatur kennte eine unumschränkte, allmächtige, rivalisirendo Gewalt neben sich nicht vertragen. Eine der beiden Behörden musste die andere in sich aufnehmen, das erkannte Alexander IE Statt dem letzten Gendarmeriechef einen Nachfolger zu geben, unterstellte er, zuerst zeitweilig, bald darauf endgültig die Staatspolizei dem General Loris-Melikow, der zu derselben Zeit Minister des Innern wurde. Die Inhalier dieses Ministeriums sind auf diese Weise Chefs der Gendarmerie gewurden; sie verbinden beide Aemter und können, je nach ihrem Charakter oder nach den Bedingungen des Moments das eine '»der das andre vorherrschen lassen. Die hohe Polizei bildet im Ministerium des Innern ein neues Departement, das der Staatspolizei. Es verbarg sich also, wie man sieht, unter dem Ckase vom August 1880, den die öffentliche Meinung so beifällig aufnahm, eine Verschmelzung der Gewalten, deren Trennung olfenbar ihre Schwäche gewesen war. Heute hält der Minister des Innern die Zügel beider Polizeien in der Hand, von denen jede, als sie noch getrennt geleitet wurden, nach verschiedener .Richtung zog. Man hoffte, dem Sicherheitsdienst des Staats auf diese Weise Einheit der Richtung, und Leichtigkeit der Executive zu geben, Avas bei der Vereinfachung des Mechanismus dessen wirkliche Kraft verdoppeln müsste. Diese Verschmelzung war durch die grausamen Enttäuschungen beider Polizeien in ihrer gemeinsamen Campagne gegen den Nihilismus unbedingt nothwendig geworden. Die ThaUuhcn hatten bewiesen, dass die Vielheit in diesem Falle keineswegs eine Kraft, sondern eine Schwäche war. In den grossen Städten, namentlich in der Residenz 8*h es dreifache Polizei: die des Ministeriums des Innern, die der kaiserlichen Kanzlei, die der Stadt, und da diese drei Polizeien, besonders die beiden ersten unabhängig und jede für sich handelten, vyi'wirrlen und lähmten sie sich gegenseitig, statt einander zu stützen. Unter ihrer Obhut erfuhr der Staat nach dem russischen SpruehwOrl Qie Unfälle des Kindes mit den fünf Wärterinnen. Es kam mitunter v<>r, dass die beiden rivalisirenden Polizeien sich gegenseitig auf falsche Fährte leiteten und ihre Zeit darüber verloren, gegenseitig auf einander .Jagd zu machen. Ihre Beamten, die sich nicht kannten, waren einander verdachtig, überwachten und kreuzten sich gegenseitig. Einer der Minister des Kaisers Alexander 11. erzählte mir in Peters- bürg, er habe mitten in der nihilistischen Krise die beiden Polizeien einander verfolgen und die Gendarmen — im Wahn einen wichtigen fang zu thnn, — ihre unbekannten Collegen vom Ministerium des Innern als Verschwörer verhaften sehn. Man kann sich den Aerger der höchsten Gewalt über diese Komödienverwirrung in so tragischem Zeitpunct vorstellen. Indess die Spürhunde der beiden Polizeien sich die Fährte abschnitten, tummelte sieb das Wild frei oder ruhte still in seinen Höhlen. Alexander II. setzte solchen Mystificationen ein Endo, indem er beide Meuten zu einer Koppel vereinigte und der Leitung Eines Piqueurs übergab. Die von Kaiser Nikolai ersonnene doppelte Polizei taugte kaum zu Anderem, als zur Mehrung der Denunciationen und der Spionage. Diese seltsame Combination hatte übrigens noch einen Fehler, den der Nihilismus ins Licht setzte. Damit die dritte Abtheilung immer von allen andern Verwaltungen unabhängig hätte handeln können, hätten ihr besondere Actionsmittol gewährt sein müssen: ihr Personal von Gendarmen und geheimen Agenten konnte ihr nicht immer solches bieten. Sie war z. B. gezwungen, sich der kaiserlichen Posten, der Telegraphen des Ministeriums des Innern zu bedienen; besass sie auch einmal einen eigenen Telegraphendraht, so ging derselbe vielleicht durch Bureaux, die nicht unmittelbar von ihr abhängig wanm, und oft wurden ihre Depeschen von Beamten anderer Ressorts Überwacht. die weniger sieher, als die ihren waren. Einige ihrer Misserfolge sind auf den Mangel an Mittelbeamten zurückzuführen. Trotz der nie bestrittenen Cnhestechliohkeit ihrer Chefs, waren doch viele ihrer geheimsten Instructionen im Voraus zur Kenntniss der Verschwörer gelangt, so dass man sich zu der Frage versucht fühlt, ob nicht diese letztere Fühlung bis in ihren inneisten Kern hätten l). Ein Heispiel sei hier angeführt. Gegen das Ende der Regierung Alexander IL war ein höherer Gendarmerieoflieier oonfidentioll nach einer Fabrikstadt im Innern geschickt worden: er reiste natürlich incognito und glaubte ganz unerwartet unter die Einwohner treten zu können. Man denke sich seine Ueberraschung. als er hei seiner Ankunft um Mitternacht das Stadthaupt und die höchsten Beamten zu seinem Empfang auf dem Bahnhof versammelt fand. Vorgänge dieser Art zeigen, wie die Vorsichtsmassregeln der Indien Polizei vereitelt werden konnten, wie sie oft das Nest leer und die Verdächtigen ausgeflogen Die Ermordung des Obersten Sudeikin im Dec. 1888 in ßt. Petersburg bat neue Beweise Rh* die Beziehungen der Revolutionäre zu der geheimen Polizei gebracht. Anm. des Uebersctzers. fand, wenn sie ihr Netz geworfen hatte und einen Fang zu thun erwartete. Eine Institution, wie die Dritte Abtheilung konnte sieh nur durch Unbestechlichkeit und Unfehlbarkeit legilimiren. Sobald sie nicht mein* über jedem Verdacht stand, sobald sie nicht mit Glück operirte, hatte die Staatspolizei kein Recht auf Existenz als unabhängige Behörde. Was die hohe Polizei bei ihrem Üebergaug aus der geheimen Kanzlei des Kaisers in das Bessort des Ministeriums des Innern verloren hat, das ist ihre Unabhängigkeit, ihre Individualität, ihre Persönlichkeit. Hierin liegt die Wichtigkeit dieses Ressortwechsels. Wenn sie auch den l'nterthauen des Zars gegenüber ihre ausserordentlichen Rechte und Privilegien sich bewahrt, so hat sie doch ihre alte Autonomie, ihre alte Obergewalt über die Regierung und die andern Ressorts des Staats nicht mehr. Einmal von der kaiserliehen Kanzlei gelöst, ist sie nicht mehr eine Privatsache, eine eigne und ausschliessliche Domain» des Souveräns; von einem Minister abhängig, statt direct von dem Herrscher, sinkt sie zum Range der andern Verwaltungen herab und kann ihre Thätigkeit kaum mehr ohne deren Vermittelung üben. Euter dem Namen der Dritten Abtheilung war die politische Polizei die grosse, treibende Kraft im Staate; heute ist sie nur noch eines seiner Räder. Insofern wäre es also ungerecht der Veränderung, die von Alexander II. in seinem letzten Regicrungsjahr in aller Stille vollzogen wurde, jede Wichtigkeit abzusprechen. Auch nachdem die Staatspolizei von der kaiserlichen Kanzlei getrennt, wurden ist, hat sie das Recht behalten, nach ihrem Ermessen gefänglich einzuzielm, in das Innere des Reichs zu verbannen, nach Sibirien deportiren zu lassen. Sie hat vielleicht nienials von ihren Rechten ausgiebigeren Gebrauch gemacht, als seit der Veränderung 'brer Henennung; der grosse Unterschied ist. dass ihre Befehle einen andern Kopf und ein anderes Siegel I ragen. Unter Alexander III. wie unter Alexander II. bleibt die hohe Polizei souverän, unabhängig v«n der Justiz und den Gerichtshöfen, frei von jeder Rechenschafts-ablage, als die an ihren Chef oder den Kaiser. Die Abschaffung dieser Rechte der Verwaltung wäre eine wirkliche Umwälzung; sie käme einer Art Abdankung der Autokratie gegenüber den ordentlichen Gerichten gleich. So lange das autokratische Regiment dauern wird, ui,'d auch der Verwaltung die Freiheit bleiben, über die Gesetze hinwegzugehn. Der Zar braucht dies nicht zu thun, die Autokratie '•bor wird, so lange sie ungebrochen besteht, sich dieses Rechtes nicht begeben dürfen, ohne sich endlosen Dementis auszusetzen. Die russi- srlic Hastille ist noch nicht geschleift, und wenn ihre Thore noch geschlossen scheinen, so werden sie Bich endlich doch öffnen müssen, wenn erst die Hände, in denen die Schlüssel ruhn, nicht mehr allmächtig sind. Alexander III. hat der Verwaltung die dilatorischen Befugnisse, mit denen sie unter seinen Vorgängern bekleidet war, keineswegs genommen; er hat sich nur angelegen sein lassen, die anzähligen Massregeln für das öffentliche Wohl, die in den letzten Jahren Alexanders IL eilig erlassen und ohne innern Zusammenhang waren, zu ordnen und zu codificiren. Unter dem Regime, das General Ignatjew die verstärkte Schutzwacht (usilännaja oohrana) nannte, haben die Gouverneure das Recht, nach ihrem Ermessen die industriellen Anstalten zu schliessen, den Binzeinen den Aufenthalt in dieser oder jener Stadt zu verbieten, die Abziturtheüenden den ordentlichen Gerichten zu entziehe1). Unter diesem Regime sind die Chefs der Polizei und der Gendarmerie berechtigt, jedes in dem Verdacht des Staatsverbrechens oder der Theilnahme an verbotenen Gesellschaften stehende Individuum zu verhaften und ins Gefängniss zu setzen: sie können liberall und zu jeder Stunde Haussuchungen vornehmen und provisorisch jede Art Eigenthum mit gerichtlichem Siegel belegen lassen. Dieser Zustand der verstärkten Schutzwacht, dem der Minister des Innern die Gouvernements des Reichs unterwerfen darf, ist sanft und freisinnig im Vergleiche zu dem Zustande der „ausserordentlichen Schutzwacht", (tschres-wüitschainaja ochräna) welche die Regierung im falle der Noth auf einfachen ministeriellen Reschluss eintreten lassen kann. Bei diesem neuen Zustande, der den grossen Belagerungszustand in Preussen noch übertrifft, werden die Provincial-gouverneure mit allen Rechten ausgestattet, die einem Oberbefehlshaber in Feindesland zustehn. Sie können auf administrativem Wege Strafen bis zu 3000 Rbl. und drei Monaten Gefängniss gegen Individuen verhängen, die solcher Gesetzesübertretungen schuldig sind, welche ..sich nicht ohne Nachtheil der Justiz überantworten lassen". Sie können alle Zeitungen und periodischen Schriften suspendiren, alle Lehranstalten durch einfachen Befehl schliessen lassen. Endlich haben sie das Recht, die Güter und Einnahmen von Privaten zu sequostriren, nicht blos, wenn der Besitzer gegen die Sicherheit des Staats Anschläge macht, sondern auch, „wenn die Nachlässigkeit, der 'i Ukas vom \. Sept. 1881. Diese für die Dauer eines Jahres erlassenen Bestimmungen gelten li'ir die wichtigsten Städte des Reichs und etwa zehn (louvernements, er sich in der Verwaltung seiner Güter schuldig macht, gefährliche Folgen für die öffentliche Ordnung haben kann". Mit diesem Rechte war bis 1881 die Verwaltung noch nie gesetzlich bekleidet. Das Eigenthum — man sieht es — ist nicht sicherer, als die persönliche Freiheit. Unter Alexander III., wie unter Alexander IL, bleiben beide der Gnade der Verwaltung und der Polizei anheimgegeben. Die Aufhebung der Dritten Abtheilung hat das Verfahren und die Rechte der Regierungsbeamten kaum verändert. Die Wallen, über die sie verfügte, und die so oft in ihren Händen gebrochen waren, hat die Regierung Alexanders III. nicht rosten lassen; sie hat sich bemüht, sie in Stand zu setzen, sie hat sie polirt und die Schneide gewitzt zu neuen Kämpfen gegen ihre unsichtbaren Feinde. Unter allen Kriegswatten dieses Arsenals von Strafgesetzen hat Alexander IH. nur eine seinen I'eainten genommen, oder richtiger ihre Anwendung beschränkt; sie war freilich barbarischer, mörderischer und grausamer gemissbraucht als alle andern: die Deportation. In diesem Puncto bietet der auf „den Zustand des ausserordentlichen Schutzes" sich beziehende l'kas eine wirkliche Besserung gegenüber dem alten Verfahren der dahingegangenen Dritten Abtheilung. Die Verbannung ?On Verdächtigen auf administrativem Wege kann nur noch auf Genehmigung einer Specialcommission stattlinden und darf nicht länger als fünf Jahre dauern. Der Gerichtshof, der über das Schicksal der Individuen zu entscheiden hat, deren Entfernung die Verwaltung oder die Polizei fordert, besteht aus je zwei Delegirten der Ministerien des Innern und der Justiz. Statt den Angeklagten zu verurtheilen, ohne 'bn gehört zu haben, wie es den Traditionen der geheimen Polizei entsprach, kann diese gemischte, halb administrative, halb richterliche ( ommission den Angeklagten kommen lassen und seine Vertheidigung wenigstens in all den Fällen hören, in denen sie die von den Verwaltungsbehörden angestellte l'ntersuchung für ungenügend hält. Ks sind freilich nur schwache Garantieen, die dieses neue Verlähren und 'bese n(>ue Instanz bieten; in den Stunden des Zorns und der Bestürzung, wie sie den grossen Attentaten folgen, werden die Formabtäten zum Schutz sich wohl als ganz illusorisch erweisen. Die mittlere Jahresziffer der Verschickten wird kaum dadurch viel geringer worden1), Auch liegt der wirkliche Fortschritt, den der Ukas V(»m September 1881 bezeichnet, wohl nicht in den Beschränkungen, °ie das Recht der Verschickung betroffen haben. Was Russland bei ) Feber die administrative Verschickung, über Zahl und Lage des Depor- Ürten s. Buch IV, Kap. vi und VI II. der Gesetzgebung Alexanders III. gewonnen hat, ist weniger eine unklare Beschränkung der Polizeibefugnisse, als der Umstand, dass die Regierung diese — noch immer übermässig ausgedehnton Befugnisse dem Lande als zeitweilige und provisorische Ausnahme vorlegt. Während in der Dritten Abtheilung die Allgewalt der Polizei normal und sozusagen ein organisches Gesetz des Eeiches war, sind der Zustand der verstärkten Schutzwachl und der Zustand des ausserordentlichen Schutzes wesentlich vorübergehende, unregelmässige Massregeln, die aufzuheben das Reich sich moralisch verpflichtet hat, sobald die Wiederherstellung der Ordnung es ihm gestatte. Scheint dieser Unterschied auch mehr theoretisch, als praktisch, so ist er doch nicht ohne Wichtigkeit. Russland tritt dadurch den andern europäischen Staaten näher, die — ob liberal, oder autoritär — ihrerseits auch, wie Deutsehland gegen die Soeialisten und England gegen Irland zu Ausnahmsmitteln, zu Belagerungszuständen und Zwangsbills genöthigt werden können. Der grosse Unterschied ist der, dass bei den Traditionen der russischen Regierung und bei dem Mangel an Controle des Landes alle diese zeitweiligen, auf 6 Monate oder auf ein Jahr festgesetzten Massregeln ins Ungewisse fortzudauern drohen. So lange kein Wechsel im politischen Regime eintritt, können Provisorium und Ausnahme zur Regel werden, und die Hegel zugleich mit der Herrschaft des Gesetzes nur Ausnahme bleiben. Wie zu den Zeiten der Dritten Abtheilung wird die speeiello Controle der geheimen Polizei durch das Gendarmeneorps besorgt, welches bis auf den Namen mit der französischen Gendarmerie nichts gemein hat. In jeder Gouvernementsstadt, in jeder Stadt von einiger Bedeutung residirt ein Oberst oder Capitan der Gendarmerie, dereine hellblaue Iniform trägt, die geftirchtotste, vielleicht die geachtetste Uniform in ganz Russland. Diese Offiziere, denen kein Öffentlicher oder privater Salon verschlossen ist, sind, wie alle Welt weiss, zur Ueberwaehung der localen Behörden und zugleich der Ortsbewohner aller Stände beordert. Sie sind oft aus guter Familie und von gesellschaftlicher Bildung; sie bilden, sozusagen, die Inquisition in weissen Handschuhen. Sie haben geheime Agenten im Dienst, die sie von Allem, was um sie her geschieht, was gesagt, was gedacht wird, unterrichten müssen. Sie müssen Alles wissen: von einem Ende des Reiches zum andern halten die Berichte der Gendarmen die hohe Polizei auf dem Laufenden alles dessen, was ihre Sorge oder ihre Neugier beschäftigen kann. Xach dem Plan des Stifters der Dritten Abtheilung sollte diese Gendarmerie Unrecht, das im Geheimen geschehen, wieder gutmachen, und Verbrechen strafen, die das Gesetz nicht erreichen kann. Als der Chef der Gendarmen eines Tages den Kaiser Nikolai um Instructionen bat, gab ihm — 80 wird erzählt — dieser Fürst statt jeder Antwort sein Taschentuch, womit er ohne Zweifel sagen wollte, die Aufgabe der neuen Polizei sei, Thränen zu trocknen. Wahr oder unwahr, diese Anekdote klingt wie bittere Ironie. Die geheime Polizei bat die ihr ofliciell anvertraute Rolle der Vorsehimg und des unsichtbaren Schutzengels der Unterdrückten nicht zu erfüllen vermocht. Die Gendarmen haben weniger Thränen getrockent, als iiiessen gemacht, Die Strenge der Dritten Abtheilung gegen pflichtvergessene Beamte oder gegen Gutsbesitzer, die ihre Macht über ihre Leibeigenen missbrauchten, hat die Gunst der Gesellschaft nicht gewinnen können. Ihre uncontrolirte Gewalt diente ebenso dem Schlimmen, wie dem Guten. Wie die allen lettres de cachet, die ja auch zum Schutze der Familienehre und zur Sicherheit des Staats verwandt worden sind, war das Einschreiten der Dritten Abtheilung nicht selten der Preis der Intriguc und des Geldes. Mancher persönliche Feind, mancher galante Verführer, mancher ungeduldige Erbe hat sich der allmächtigen Hülfe der Gendarmerieoffiziere zu versichern gewusst. Wenn eine hochgestellte Persönlichkeit daran verzweifelte, eine Angelegenheit in den gesetzlichen Formen nach ihrem Willen erledigt ZU sehn, so rief sie die Polizei zur Hülfe. Mehr als eine Trennung oder Ehescheidung ist auf diese Weise, durch Entfernung oder Einschüchterung eines unbequemen Ehemanns zu Stande gekommen. Die Russen Avissen von der Dritten Abtheilung viel zu erzählen. Unter all diesen Erzählungen von plötzlich verschwundenen Männern and Frauen die Sage von der Geschichte zu trennen ist schwer. Was aber der Beobachter überall wahrnehmen kann, das sind die praktischen Wirkungen dieser langen Herrschaft der Polizei, die deutlichen Spuren, die sie der russischen Gesellschaft und dem russischen Charakter aufgeprägt hat. Die Dritte Abtheilung hat bei den Russen den Geist des Misstrauens, folgüch den der Frivolität grossgezogen. Die Besorgniss, Bloh zu compromittiren, die alle gesellschaftlichen Beziehungen ver-(*Wb, hat lange Zeit dazu beigetragen, dass die Studien, die Gespräche, die ernsten Gedanken geflohen wurden. Daher zu grossem '•'bi'ile die Leere einer Gesellschaft, die um sich sicher zu fühlen, nichts sagen durfte; daher die geistige Trägheit und moralische Apathie uer Menschen, die gezwungen waren, sich nicht allzusehr um ihr Land zu bekümmern, wenn sie sich nicht unnützen Gefahren aus-8etzen wollten. Einer der dem slavischen und russischen Charakter sehr häufig vorgeworfenen Fehler fällt also auch auf das politische Regime zurück. In der Berreiungsära Alexanders II. war der offentliche (leist zugleich freier und ernster geworden. Man sprach, man plauderte in Russland frischweg vom Herzen, und das war keiner der geringsten Fortschritte der letzten zwanzig Jahre. Inmitten dieser ganzen Bewegung zeigten sich doch trotz der kecken Worte, die hier nnd da Helen, noch vor den spätem Bedrückungsmassregeln viele Züge der alten Aengstlichkeit und des alten Misstrauens. Ich will als Beispiel hierfür eine Anekdote mittheilen, die mir zum Beweise des Gegen-theils erzählt worden ist. „Sie glauben vielleicht, wir hätten nicht genügende Redefreiheit bei uns", sagte mir 1873 in Tillis ein liberaler Russe, der mir sein Vaterland in günstigstem Lichte zeigen wollte. „Ein Schüler einer der grossen Kronsschnlen hatte sich im Gespräch mit seinen Kameraden über die Reformen Alexander II. herausgenommen, den Kaiser einen Schneider zu nennen, womit er sagen wollte, dass der Kaiser zu grosses Vergnügen an Veränderungen der militärischen Uniformen linde. Die Polizei grill' das Wort auf und es gelangte bis zu den Ohren Seiner Majestät; der thörichte Jüngling wurde durch Allerhöchste Ordre in das kaiserliche Palais befohlen. Seine Eltern glaubten ihn schon auf dem Wege nach Sibirien. Und was war seine Strafe? Der Kaiser liess ihm von sich aus eine ganz neue Uniform überreichen". — Dieser Zug ist — die Wahrheit der Geschichte vorausgesetzt — nicht ohne Witz; es war die Rache eines Herrschers, aber die naive Bewunderung des Erzählers stand in keinem Verhältniss zu der spöttischen Grossmuth des Monarchen. „Sic sehen", wiederholte er, „welche Freiheit wir gemessen. Den Kaiser aber auch einen Schneider zu nennen!" Das schien ihm eine Art von Majestätsvorbrechen, und er fragte mich, ob eine solche Missethat nicht in Frankreich ganz anders bestraft worden wäre. In den ruhigsten Stunden der Regierung Alexanders II. fühlte mau doch bei dem seiner grösseren Freiheit frohen Volke das Ungewohnte und Unsichere dieser neuen Freiheit durch. Unter dem Schutze der Polizei und der blauen Offiziere kann es nur eine Freiheit der Duldung geben. Seit der langen Reihe von Attentaten, die 1878 begann, und der Wiederherstellung der Allgewalt der Gendarmen ist das alte Misstrauen wieder allgemein geworden. Der Geist des Argwohns verdüstert und verdirbt alle Beziehungen der Gesellschaft und der Familie. Man wagt unter Freunden, unter Verwandten selbst, kaum mehr zu sprechen. Nach den beissenden Schilderungen des grossen Humoristen Schtsehedrin hat man nie die ernsten Stoffe so sehr vermieden, und wenn man sie berührt, ist es nur um gekünstelte Plattheiten loszulassen.1) Um ungefährlieh zu sein, wird die Unterhaltung unbedeutend und systematisch frivol. Kino schwere Wolke lastet auf der moralischen Atmosphäre Kusslands. Selbst im Auslände bewahren die Unterthancn des Zaren eine Art Beklemmung, als hätten sie die Gewohnheit des freien Athmens verloren, im vorigen Winter sprach ich in Monaco, einem der europäischen Länder, wo man am meisten Bussen sieht, mit einem Gutsbesitzer vom Ufer des Don über sein Vaterland; wir waren allein gewesen. Ein Unbekannter trat hinzu, und sofort wechselte mein Russe das Gesprächsthema; er redete von Theater, Concerten u. dergl., denn er glaubte an der Haltung und den Zügen des Hinzukommenden einen Landsmann zu erkennen. Aehnliebes Misstrauen ist mir in Russland, wie im Auslande oft aufgefallen: mehr als einmal sah ich alte Bekannte mich geflissentlich vermeiden oder dem Gespräch über Politik und andere mich, zumeist interessirende Gegenstände ausweichen. Auf diese Weise sind die Zeiten der Krise, die für den Beobachter die interessantesten scheinen müsston, diejenigen, in denen es am schwersten ist, in Russland von Russland etwas zu erfahren. Freilich haben in solchem Falle Zwang, Ausweichen und selbst Schweigen ihre eigene Beredsamkeit Wenn man in der Unterhaltung und im mündlichen Wort fast überall Misstrauen durchfühlt, so ist es in der Literatur und Cor-respondenz noch ganz anders. In dieser Beziehung ist Russland noch den alten Irrthümern treu geblieben, es ist vorzugsweise das Land des schwarzen Cabinets. Nirgend weckt die Post soviel Verdacht; Private und Staatsmänner schreiben, so weit möglich, auf privatem Wege, durch Gelegenheit, wie man sagt. Das geringe Vertrauen zur kaiserlichen Post trägt wohl fast ebensoviel zu der vergilt nissim'issigen Niedrigkeit der Briefzahl bei, als die Unbildung der Massen und das Ucborwiogon der ländlichen Bevölkerung. Viele Briefe gehen nicht durch die Postcomptoirs. Was die ausländische Korrespondenz betrifft, so lassen die Leute, die sich frei unterhalten Wollen, ihre Briefe bis zur ersten deutschen oder österreichischen Station bringen; wenige Reisende überschreiten die Grenze, ohne derartige Aufträge von ihren Freunden auszuführen. Es besteht, wenn lch nicht irre, ein Gesetz, das die Verwaltung berechtigt, die Cor- ') S. z. I?. die Satire: Briete an meine Tante. Vaterl. Amalien, .luli !K81 (niss.i. respondenz, die sie vermittelt, zu erbrechen, und wenn sie von diesem Recht Gebrauch macht, giebt sie sich oft kaum mehr Mühe, ihre Einsichtnahme zu verbergen, als Eltern oder Lehrer, welche die Briefe ihrer Kinder oder ihrer Zöglinge lesen. Man könnte übrigens vielleicht sagen, das sei ein Ueberbleibsel des väterlichen oder patriarchalischen Regiments. Die hohen Würdenträger selbst theilen in Bezug auf die Post die Posorgnisse der Masse. Zur besten Zeit Alexanders IL vermieden seine Minister und Rathgeber sieh durch die Post zu schreiben, weil sie fürchteten, einen Dritten in ihr Vertrauen treten zu sehen.1) Die Diplomaten, die unklug genug sind, nicht immer durch besondere Gouriere zu correspondiren, entgehen naturgemäss solcher Ueberwaehung nicht. Hin französischer Botschafter in Hussland erzählte mir: als er dem Pürsten Gortschakow einmal eine Xote seiner Legierung vorgelesen, habe der Kanzlei- ihm lächelnd gesagt, er vergesse, ihm die Commentare mitzutheilen, mit denen der Minister die Xote in einem Privatbrief begleitet habe. Was kann die Wirkung solcher Kiinsfgrifie sein, die seit Generationen in ein System gebracht sind? Line allzu strenge Erziehung, die jeder freien Bewegung beraubt ist, macht die Kinder verschlossen, lügnerisch, tückisch. So ist es in vieler Beziehung durch alle diese polizeilichen Scheerereien und steten Quälereien den Russen gegangen. Misstrauen und Verstellung sind die gewöhnliche Zuflucht der Opfer dieses Regiments des Verdachts und der Spionage geworden. Die pedantische Vormundschaft der Polizei hat bei den Einen Gleichgültigkeit gegen das öffentliche Wesen und endlich Kleinmuth, hei den Andern Entrüstung und Zorn und schliesslich den Geist der Empörung erzeugt, Nichts hat zu dem Aufschwung der revolutionären Ideeen mehr beigetragen. Durch den Hass, den sie wachgerufen, durch die Gewohnheiten der VersteUung und der Geheimthuerei, die sie grossgezogen haben, sind die alte Dritte Abtheilung und die Polizei En allererster Leihe für die nihilistische Propaganda verantwortlich. Man kann sieh kaum das Mass der Erregung und Erbitterung denken, bis zu welchem eine derartige Behandlung oft edel angelegte Naturen treiben kann. „Sie haben es leicht", sagte mir hierüber ein junger Busse . „die Heftigkeit unserer Revolutionäre zu ver-urtheilen, uns Geduld und Mässigung zu rathen; aber wären Sie, wie wir, Jahre lang diesem System von Schrecken und Angeberei unterworfen, fühlten Sie immerfort das Damoklesschwert der Deportation 1) S. des Verfassers Studie: Iii Iiomuuc il'Ktat russe etc. Rev. ie freiwillige und die oflicielle Polizei müssten sehr bald sich gegenseitig verdächtig werden, und die Regierung sähe sich gezwungen, ihre 'mprovisirten Hülfstruppen zu verabschieden1;. Die Staatspolizei, die das Reich so schlecht gegen die revolutionäre Ansteckung bewahrt hat, hat kaum hesser verstanden, die von Bureaukratie und Tschinownikthum verpestete Luft zu reinigen. Man könnte fast sagen, dass sie in beiden Aufgaben gleichmässig Schiffbruch erlitten hat. l) W;is mittlerweile schon geschehen ist. Anin. des l'eberset/ns. Die russische Verwaltung hat aus der Ueberwaehung der Dritten Abtheilung den Nutzen nicht gezogen, den Kaiser Nikolai erhofft hatte. Gut bezahlt und sorgfältig auserlesen, waren die Gendarmerie-offiziere die ehrlichsten unter den Beamten des Ileichs; jeder Missbrauch des in ihn gesetzten Vertrauens bringt den Gendarm in Gefahr, seine Stelle zu verlieren. Die in seinen Reihen aufrechterhaltene Ehrenhaftigkeit hat dieses Elitecorps leider nicht in demselben Grade den unter seine Controle gestellten Verwaltungsbehörden mitzutheilen vermocht. Um alle rings um sie her vorgehenden Missbräuche zur Anzeige zu bringen, um alle angezeigten Missbräuche zu unterdrücken, dazu hatten die Gendarmen viel zu viel zu thun. Die blauen Offiziere erlangten gewöhnlich dadurch Nachsicht für die ihnen zugewiesene Rolle, dass sie für die kleinen Sünden der ihrer Controle unterworfenen Beamten kein Auge hatten. Für diese Hüter der öffentlichen Moral und Sicherheit war es eine undankbare und ruhmlose Aufgabe, den Sünden der Verwaltung nachspüren und die bureaukratischen Schmutzflecke aufzudecken. Wenn man einem frühem Beamten der Dritten Abtheilung, Sgotow, der sich zum Lobredner dieser aufgeworfen, glauben will, so hätte sie oft Privatleute vor der Willkür oder Habgier hochgestellter Persönlichkeiten geschützt und mehr als einmal die Abberufung pflichtvergessener Gouverneure durchgesetzt. Das mag wahr sein, doch sind derartige Fälle nicht sehr zahlreich gewesen. Die Dritte Abtheilung behielt sich in der Regel ihre Ueberwaehung für weniger unschuldige Vorkommnisse vor, für Verbrechen, deren Entdeckung ihrem Scharfsinn grösseren Ruhm brachte; sie sparte ihre Härten für Leute auf, deren Grundsätze oder Ideale die Ruhe des Staats bedrohten. Wirkliche oder vermeintliche Verschwörungen aufzuspüren, Liberale oder Revolutionäre zu entlarven, die Spuren geheimer Gesellschaften zu verfolgen, das war die Hauptsorge der Gendarmen. Statt einer Schranke für die bureaukratische Bestechlichkeit und für die Willkür der Beamten zu sein, war die pedantische Vormundschaft der Polizei eine Barriere gegen die Ideeen und Freiheiten, deren Triumph allein die Bestechlichkeit und die Missbräuche hätte zähmen können. Russland hat die Unzulänglichkeit aller bureaukratischen Mittel, aller Behördenweisheit zur Beseitigung der alten Fehler seiner Verwaltung erfahren. Unfähig, dies ungeheure Heer ihrer Beamten selbst zu controliren, hat sich endlich die kaiserliche Regierung entschlossen die Hülfe des Landes, die Hülfe der Provinzialversammlungen und der Decentralisation in Anspruch zu nehmen. Drittes Buch. Die locale Selbstverwaltung. Provinzialstände und städtische Behörden. Erstes Kapitel. Wahlversammlungen. — Adelsversiunmlungen. — Ilire gegenwärtige Iiedeutmig. Prnvinzialstjindr oder Semstwos. Ihr Ursprung, ihr Wahl modus, ihre Zusammensetzung. Wie Hauern und frühere Herren sieh in ihnen trelTen. — Ihre gegenseitigen (iefiihle. - Uebergewicht der (Jutsbesitzer. — Provinzen mit Semstwos, Provinzen ohne solche. Der Krimkrieg hat die Sünden der kaiserlichen Verwaltung vor den Augen Rnsslands, wie vor denen Europas aufgedeckt. Hei der Thronbesteigung Alexanders II. war es Allen klar geworden, dass keine Verwaltungsreform ohne die Hülfe und Mitwirkung der Bevölkerung möglich sei, die so lange unter der Allgewalt der Beamten gelitten hatte. Das Regiment des Kaisers Nikolai hatte genügend gezeigt, ('ass alle empirischen Recepte, alle behördlichen Heilmittel des Tschinownikthums und der Polizei ausser Stande waren, das eingewurzelte Uebel der bureaukratischen Corruption zu heilen. Die Regierung musste sich entsohliessen, zu dem einfachsten Mittel zu greifen, das den alten Tschinowniks das gefährlichste war, zu der Decentralisation und zu der Freiheit. In Erkenntniss ihrer Unfähigkeit, Alles von den Ufern der Newa aus zu leiten, zu entscheiden, ZU controliren, wollte die kaiserliche Regierung die Sorge um die localen, provinciellen und städtischen Angelegenheiten auf ihre Untertanen abwälzen, deren Leitung so lange nur von oben her besorgt worden war. So hat das Repräsentativsystem in dem autokratischen Reich Einlass gefunden; ist es heute auch nur noch auf die localen Interessen beschränkt, so wird es sich dereinst, vielleicht noch vor dem Ablauf dieses Jahrhunderts, über die allgemeinen Interessen des Reiches ausdehnen. Welcher Art auch die Entwickelung der staatlichen Freiheit in Russland sei, die neuerdings den Gouvernements und Städten ertheilten Rechte werden den Ausgangspunct derselben bieten. Die Formen der jetzigen localen Selbstverwaltung können sogar der politischen Freiheit zum Vorbild und Typus dienen. Hierin liegt sehen die Bedeutung dieses Versuchs eines Repräsentativsystems auf so neuem Boden. Kaiser Alexander II. war nicht der erste, der seinem Volke, den Städten und den Provinzen, einen Antheil an der Verwaltung geben wellte. Seit langer Zeit empfand man die Missslände der Centralisation, seit lange hatte die kaiserliche Regierung in Eezug auf ihre Beamten die Hülfe und die Controle der Administrirten angerufen. Schon vor der französischen Revolution hatte die grosse; Katharina der Bevölkerung Antheil an der Leitung ihrer eigenen örtlichen Angelegenheiten geben wollen. Bei keinem Volke des Continents waren die Rechte der Entert hauen den Beamten gegenüber nach dem Gesetzes-buchstaben so ausgedehnt und auf so festen Grund gesetzt, bei keinem waren sie in der Wirklichkeit so beschränkt und so wenig anerkannt. Die Allgewalt des von Peter dem Grossen nach deutschem Vorbild und auf Rath Leibnitzens geschaflenen Tschinownikthums beging zu grosse Fehler, als dass diese dem Blick der Frau entgehen konnten, die jenes Werk fortsetzte und verbesserte. Sei es um die absolute Macht der Bureaukratie zu beschränken, sei es um dem Geiste des Jahrhunderts zu schmeicheln, Katharina II. theilte den beiden Ständen, die sie zu (Korporationen organisiren wollte, — dem Adel auf dem Lande und der Bürgerschaft wie den Kaulleuten in den Städten, — in der localen Verwaltung wie in der localen Justiz eine bedeutende Rolle zu1). Der Ukas von 1785 ist in seinen Hauptzügen bis 1864 in Geltung geblieben. Dem Adel, dworänstwo, hatte die Zarin die wichtigsten Rechte verliehen. Und das nicht aus besonderer Gunst, für aristokratische Vorurtheile. In dem Russland der Leibeigenschaft war der Adel der einzige gebildete, europäische Stand, fast die einzige ('lasse von Freien. Um ihn mit so grossen Vorrechten zu bekleiden, hatte Katharina versucht, ihn nach dem Vorbild des westeuropäischen ■) S. Bd. I, Rudi V, Kap. II. Adels zu organisiren. Den Provincialedelleuten wurden beträchtliche, ja ausserordentliche Rechte ertheilt. Halle die Dworänstwo in ihrem Grundwesen einige Kraft, einige eigene Autorität besessen, so hätte sich die Autokratie nie so sehr zu ihren Gunsten ihrer Kochte entledigt'). Diese Rechte waren von zweierlei Art: die obersten Beamten und die örtlichen Richter wurden rom Adel ernannt, und wenn dieser nicht auch die Provincialgouvemeure ernannte, so übte er doch eine Controle über sie ans. Hie eigentliche Verwaltung, Justiz, Polizei, Finanzen, Alles, was die Interessen des Kreises oder des Gouvernements betraf, stellte das Gesetz unter die Mitarbeiterschaft des Adels -'). Der Adel hatte die Acte der Regierungsvertreter zu überwachen, der Adel die Verwendung der Provinoiulcinnalmien zu prüfen. Die Gewohnheit der Anitsverletzung und die geistige Apathie der Landbewohner, der Mangel an Zusammenhang und an Gemeinsinn indem mit solchen Aufgaben bekleideten Stande, erklären allein, wie es möglich war, dass der Adel drei Viertel-Jahrhundert lang diese Reihte besass, ohne sie zu eigenem und des Randes Resten auszunutzen, ohne die Bureaukratie und die Centralisation im Geringsten zu beschränken. Der Adel übte seine ausgedehnten Rechte nur der Form muh; er ernannte die Isprawniks und die örtlichen Richter, behielt aber keinerlei Mach! über die Gewählten, welche nach wie vor Beamte des Staates, nicht die des Adels blieben. Dieser Stand entbehrte so sehr einer innern, eingeborenen Festigkeit, dass das seit Katharina II. gesetzlich constituirte Recht der Controle in seinen Händen nichts als eine reine Kietion blieb; weder Beamte noch Private haben es je ernst damit genommen. Der Adel versammelte sioh feierlieh in gewissen Fristen, wählte seinen Vorstand und die Commissionen zur Entgegennahme der Berichte des Gouverneurs, Hess aber nie ein Wort des Tadels oder unbescheidener Neugier hören. Fr vollzog mit Anstand eine Art oflicieller Feierlichkeit, um nach mehr oder minder glänzenden Gesellschaften and mehr oder minder grossen Gast malern wieder ') S. Bd. 1, Buch VI, Kap. IV. 2) Der Adel ernannte hiernach den Isprawnik oder Kreispolizeichef', den Vorsitzenden und zwei Beisitzer der Criminul- und Civilgerichte, den Magazin antseher, den Curator der Bildmigsanstalten u. s. w. Diese Krncnnungeii bedurften freilich einestlicils der Bestätigung des Herrschers, andern theils der des Gouverneurs. S. Schedo-Ferroti (Baron Fircks): Ktudcs sur l'avenir de la Etuiue. Da noblesse. auseinanderzugehen, ohne in seinen Sitzungen Jemand beunruhigt oder beruhig! ZU haben. In diesen Versammlungen, die alle drei Jahr stattfanden, übte der Adel jedes Gouvernements die wichtigen und illusorischen Prärogative, die ihm die Gnade Katharinens II. und ihrer Nachfolger geschenkt hatte. Diese Versammlungen besteben heute noch; noch vereinigen sie sieh zu regelmässigen Sitzungen, obgleich die neuen Provmzialinstitutionen ihre Aufgabe und Befugniss zu Gunsten von Versammlungen aus allen Ständen ausserordentlich beschränkt haben. Um an ihnen Theil nehmen zu dürfen, genügt es nicht, Edelmann zu Bein; es bedarf hiezu heute wie früher noch einer andern, doppelten Eigenschaft: man muss in dem Kreis oder Gouvernement Gutsbesitzer seiti und einen Hang, einen bürgerlichen oder militärischen Tschin, oder was dafür gilt, einen gelehrten Grad besitzen r). In diesen Adelstagen linden sich so die beiden historischen Grundzüge, die entgegengesetzten Gesichter des russischen Dworänin wieder, der Beamte und zugleich der Gutsbesitzer. Es bestellt für die Adelsversammlungen ein Wahlcensus, der früher auf die Zahl der Leibeigenen, jetzt auf den "Werth des Grundbesitzes gestützt ist. Aber dieser Census, der ursprünglich das Niveau der Versammlungen erhöhen sollte, ist zu Gunsten der Tschinowniks und der hohen Würdenträger bedeutend herabgesetzt worden. Ueberdies besitzt der Adel das Recht nicht, sich von der Ehrenhaftigkeit der in seinem Schoosse sitzenden Personen zu vergewissern. Bestechliche Beamte nehmen so inmitten der Zeugen, ja mitunter der Gpfer ihrer Amtsuntreue ihren Sitz ein. Dergleichen Schauspiele waren wenig geeignet, die Würde des ersten Standes im Reiche und die Bedeutung seiner Verhandlungen zu erhöhen. Die Adelsversammlungen hatten früher den Hauptzweck, die Beamten und obrigkeitlichen Personen zu ernennen, deren Wahl ihnen olilag. Gegenwärtig scheinen sie fast keinen praktischen Zweck mehr zu halien. Es bleibt ihnen nur die Wahl ihres Vorsitzenden, des Adelsmarschalls (predwoditel dworänstwa) und die Entscheidung über Angelegenheiten von ganz geringer Wichtigkeit, wie über Vormundschaft adliger Kinder und Führung der Adelsregister. Nichtsdestoweniger fahren die adligen Gutsbesitzer fort, ihre periodischen Sitz- '] Gegenwärtig genügt schon ein Studienzeugniss von einer Mittelschule oder ein Zeugniss darüber, ein Wählamt bekleidet zu haben, Friedensrichter, Mitglied einer f'rovinzial- oder Stadtverordnetenversammlung u. s. w. gewesen zu sein. ungen zu halten, auf die Gefahr hin, dass ihre Versammlungen zu Cunferenzen von Dilettanten oder zu freien Akademieen für Verwaltung und Nationalökonomie werden. Lässt sich dort auch nichts entscheiden, su lässt sich doch Alles discutiren, denn das Gesetz berechtigt den Adel, Alles, was in weitem oder engem Sinne seine Interessen berührt, zu borathen. Dem ersten Stande des Reichs bleibt also nur das Recht der Vereinigung, und dieses zwar auf bestimmte, kurze Zeiten beschränkt, aber immerhin gesetzlich gewährleistet und durch das Herkommen verbürgt. In einer oder zwei dieser Versammlungen, namentlich in der von St. Petersburg, sind aristokratische Versammlungen aufgetaucht, die selbst in solchem Kreise in Russland überraschen. Die Grossgrund-besitzer, die in diesen Zusammenkünften naturgemäss einen überwiegenden Kinlluss üben, haben mitunter die Neigung gezeigt, einige der Vorrechte, welche die Freigebung ihnen nahm, wiederzuerwerben. Ho ist für den Adel und den Grossgrundbesitz die Verwaltung des Hachen Landes und der Rauerangelegenheiten, die Ernennung zu Richter- und Verwaltungsämtern in Gemeinde und Kreis beansprucht worden, was einem Monopol auf die Leitung des gesammten Provin-ziallebens gleichkäme1). Rei Kundgebung solcher Forderungen verfassen Adel und Grossgrundbesitz, welchen traurigen Gebrauch sie so lange von den ihnen durch Katharina II. ort heilten Rechten und Vorrechten gemacht hatten. Heute, wie vor der Freigebung ist der Ade] schlecht vorbereitet für eine Rolle, die ein Theil seiner Glieder nnklugerweise für ihn verlangt. Mag er der gebildetste, der best-unterriehtete, der best-befähigte Stand der Nation sein, so fehlt es ihm doch an tüchtigen Verwaltungsmännern, und wo solche vorhanden, da zeigen sie wenig Lifer, sich den bescheidenen Aufgaben zu widmen, (bo für sie beansprucht werden. Wie die andern ('lassen der russischen Gesellschaft hat auch der Adel für unbesoldete Aemter immer nur geringe Vorliebe gezeigt; dies allein wäre ein genügendes Binder-niss, der Pronvincialverwaltung eine aristokratische Form zu gebena). Der Adel thut besser, wenn er sich über den engen Kreis seiner Sonderinteressen erhebt und seine Rechte dazu benutzt, das Organ l) 8. Juri Samarin und F. Dmitriew, Der revolutionäre (Jonservativis-mua (russ.). a) Um dieser Schwierigkeit vorzubeugen, müssen die Schriftsteller von aristokratischer Tendenz zu einer Art von obligatorischen] Dienst oder Verwaltungszwang greifen, den man den Grundbesitzern auferlegen musste. So der Fürst "faechtechersld („Zur Ueberführung der Zeit". lN7u) und der anonyme Verfasser der Ürochure: „Was thut dem Volke noth? 1881 (beide Schriften russ.). der allgemeinen Bedürfnisse des Landes zu werden. Dies hat er gegen Ende der Regierungszeit Alexanders TL in mehreren Gouvernements versucht. So gewannen die Adelsversammlungen im Winter von 1.880 auf 1881 ein Leben und ein Interesse wieder, die ihnen fast seit zwanzig Jahren, seit den heissen Verhandlungen der Eman-cipationsperiodc, abgegangen waren. In kritischen Stunden sind es allein die Adels Versammlungen, die mit einiger Freiheit ihre Stimme erheben können, denn sie allein sind im Besitz des einzigen, im Reiche anerkannten politischen Rechts, des Rechtes der Petition. Der Adel hatte dieses prineipiell auf die Interessen der Kaste beschränkte Recht seit der Zeit fast aufgegeben, da eine oder zwei Versammlungen gewagt hatten, als Ersatz für die Freigebung der Leibeigenen politische Freiheiten und eine Verfassung zu verlangen. Die Unzufriedenheit der Regierung mit selchen Wünschen, die strengen Massregeln der Verwaltung gegen die Anstifter derselben hatten seither den Adel diesem verbotenen Gebiet ferngehalten. Einige von diesen Versammlungen, richtiger einige ihrer Glieder setzten sieh in der Session von 1880 auf 1881, während der kurzen liberalen Aera des General Loris-Melikow aufs Neue dieser Gefahr aus. In Kursk und St. Petersburg trug der Adel keine Scheu, die Aufhebung der administrativen Verbannung zu verlangen; in Twer, Kasan und namentlich in Petersburg verhandelte er in mehr oder minder deutlichen Worten über die Mittel, die Gesellschaft an der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten theilnehmen zu lassen. Der Adelsmarschall von Zarskoje Selo Platonow, ein Veteran des Petersburger Adels, der schon 1862 eine Verfassung verlangt hatte, antwortete im Februar 1881 einem seiner Collegen, der neue Vorrechte für den Adel forderte: „Es wäre massig, Veränderungen an den Privilegien vorzunehmen, die ihren Dienst geleistet haben und deren weiteres Hinausziehen in dem engen Kreise ihrer jetzigen Geltung keinen Nutzen brächte. Nicht Privilegien sollen wir verlangen, solidem Bürgschaften für die Freiheit Aller, Bürgschaften, ohne die das Leben nicht mehr möglich ist". Und der Redner schloss mit dem Hinweis auf Einland, das im Besitze von Rechten sei, welche die Regierung Russland verweigere, und mit der Erklärung, dass eine Controle der Kegierungsacte seitens des Landes unumgänglich nothwendig sei. Diese, wenig Tage vor dem betrübenden Ende Alexanders II. gesprochenen Worte sind vielleicht die kühnsten, die seit lange in Hussland erschallten. Vielleicht gehen Jahre vorüber, bis der Adel ähnliche wieder hört. Eine solche Sprache ehrt in jedem Fall die Versammlungen, die ihr Beifall zollen; wenn der Petersburger Adel auch nicht wagte, sich ihr durch einen Beschluss anzuschliessen, so hat er doch auf Antrag seines Marschalls, des Grafen Bobrinski, die Wiederherstellung eines Gesetzes verlangt, das dem Adel das Recht der Einsprache gegen Vervvaltungsmissbräuche gewährt, ein Recht, das er fast nie geübt hat, und dessen er doch entkleidet worden war. Mit dem Privilegium des Güterbesitzes musste der Adel auch das alleinige Recht auf die Provincialvertretung verlieren. Das war eine der natürlichen Folgen der Freigebung. Den ausschliesslich aus dem Adel gebildeten Versammlungen folgten Versammlungen, in denen alle Grundbesitzer und die früheren Leibeigenen neben ihren früheren Herren vertreten sind. Die Freigebung, die den Mir des Mushik als autonome Gemeinde aufgerichtet und die Verwaltung auf dem Hachen Land von Grund aus verändert hatte, führte nethwendig zu einer gänzlichen Umgestaltung der Provincialverwaltung. Die Erheber der grossen Grundreform hatten das wohl eingesehen. Seit 1.860, also noch vor dem Erlass des Manifests vom 19. Febr., hatte das von dem Grafen Lanskoi oder vielmehr von dessen Gehülfen Nikolai Milutin geleitete Ministerium des Innern ein ganzes System von Verwaltungsreformen beantragt. Milutin und sein Minister planten die Einführung des Selfgovernment in den Provinzen, wie sie es durch die Freigebung in den Bauergemeinden eingeführt hatten1). Ihrer Meinung nach standen die beiden Reformen in engem Zusammenhang, und in der That bilden sie gleichsam die beiden Hälften desselben Werkes. Die Ungnade, m die plötzlich N. Milutin und die Elauptredacteure des Emancipations-erlasses fielen, schob die Errichtung der neuen Provincialversamm-Inngen um zwei oder drei Jahre hinaus. Die Frage wurde erst 1864 entschieden, nicht ohne Hin- und Herschwanken seitens der Regierung, ') Am 22. Febr. 1861, drei Tage naeli der l'roclamntion des Froigebungs-ttlaasee schrieb Nikolai Milutin, in Antwort auf eine im Namen des Gross-Inrsten Konstantin gestellte Frage dem Herr G . . . Folgendes: „Wir haben zwei I'rovincialinstiiutionen im Auge: 1) Die Gouverncmentsregierung (guberns-koje prawlenije) unter dem Vorsitz von Gouverneuren für die polizeilichen und (,xeeutiven (rasporäditelnüija l Angelegenheiten; 2) die Landeseommission (seins-koje prissudstwije) oder Landeskammer (semskaja pal&ta) unter dem Vorsitz der Adelsmarschälle oder einer andern gewählten Persönlichkeit für die Führung der wirtschaftlichen Angelegenheiten, der Geschäfte von loealem Interesse, der Wohlthätigkciteanstalten u. s. w. Wir beabsichtigen der Landeskammer alle mögliehe Unabhängigkeit unter der Controle von gewählten Männern der verschiedenen Stände und in einzelnen Fällen unter Ueberwaehung des Gouverneurs u"d des Ministeriums zu verleihen. S. Un hommc d'Etat russe, Rev. d. d. Mondes vom 1. Od, 1880 bis 1. Febr. 1881. die damals von der polnischen Insurrection in Anspruch genommen war. Mehrere von den Rathgebern Alexanders II. neigten dahin, die Adelsversammlungen einfach zu erweitern, beispielsweise die nichtadligen Grundbesitzer und Delegirten der Bauern zu den Berathungen der früheren Herren zuzulassen. Nach vielem Zögern entschloss sich die Regierung, neben den alten Versammlungen der Dworänstwo neue Versammlungen zu schaffen, die aus Vertretern der verschiedenen Stände zusammengesetzt wurden. Diese neuen Provincialstände tragen den Namen der Semstwo, das heisst der Landesversammlung J). Dieser Name, den die Etymologie dem deutschen „Landtag'1 nahestellt, wurde nicht ohne einiges Widerstreben angenommen. In den Augen Liniger hatte er den grossen Fehler, an die semskaja duma, an die alten Generalstände Moskowiens im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert zu erinnern: Alexander II. scheint gefürchtet zu haben, dass seine Unterthancn darin eine gewisse Vorausverkündigung einer demnächstigen politischen Constitution sehen könnten a). Hat der Name Semstwo über diese naturgemässe Abneigung den Sieg davongetragen, so geschah das, weil er den russischen Traditionen am besten entsprach, die der Regierung oder dem Herrscher immer das Land gegenüberstellen. Dieser Name hatte auch den Vorzug, das Ueber-gewicht zu bezeichnen, das in den Provinzialständen dem Lande und dem Grundbesitz vorbehalten war. Die Semstwo vereinigt die verschiedenen Stände der Bevölkerung, welche die Gemeindeverfassung noch auseinander hält. Die Deputirten des Adels und des persönlichen Grundbesitzes begegnen sich dort mit den Delegirten der Bauern und des Gemeindebesitzes; die Städte linden dort ihre Stelle neben dem flachen Lande. Im Gegensatz zu der Landgemeinde und der Landwolost, in deren engem Rahmen nur ein Stand Raum hat, umfasst die Semstwo alle Stände; sie ist der Mittelpunct, in dem sie alle sich treffen und sich über ihre gemeinsamen Interessen verständigen sollen. Diese Vereinigung der verschiedenen Classen zu einer einzigen Versammlung ist der schärfste und modernste Zug der Semstwos *■) semstwo von semlä, Land. *) Die Grossfürstii) Helclene schrieb Nik. Milutin, dieser Name semstwo errege an höchster Stelle Sehrecken (ungedruckter Brief vom 2G. Jan. — 7. Febr. 1861.) Zum Theil, um diese Gedankenverbindung hervortreten zu lassen, ist hier den Semstwo's promiscue der Name Land- oder Provinzialstände gegeben. ») In ihrer synthetischen Sprache bezeichnen die Russen diese Eigenschaft mit einem Worte: wsessoslownüi — idlständisch, ein Wort, das in den Verhandlungen über die Formen der Repräsentation häufig vorkommt. Um bei diesem, so lange durch Gesetz und Herkommen in getrennte Schichten und gesellschaftliche Stufen getheilten Volke etwas Aehnlichos zu finden, muss man in das alte Moskowien zurückgreifen, zu jener semskaja duma des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, die mehr oder minder den Generalständen der alten französischen Monarchie analog war. In den Kreissemstwos treten die Repräsentanten der verschiedenen Stände zu gemeinsamer Berathung zusammen; aber jeder Stand hat seine besonderen Repräsentanten. In dieser Beziehung erinnern die neuen russischen Provinzialstände an gewisse Provinzialstände des französischen ancien regime. Die Glieder der Semstwo zerfallen in drei Classen, die Deputirten der Städte, die Deputirten der Bauergemeinden, die Deputirten der Gutsbesitzer1). Die Vertheilung der Sitze unter diese drei Gruppen muss ihrer numerischen Zahl, oder besser — ihrem unbeweglichen Besitz entsprechen. In einem ackerbautreibenden Lande, wie Russland, haben naturgemäss die ländlichen Classen das Uebergewicht; die Vertreter der Städte, von den Kaufieuten und Hausbesitzern gewählt, bilden weitaus die geringere Zahl. Die Bauerdelegirten gehen aus einer Art allgemeiner Wahl hervor, aber einer Wahl in drei oder vier Stufen. Die Wahlmänner für die Kreissemstwo werden durch die Wolost- oder Bezirksausschüsse gewählt, die ihrerseits wieder von den Gemeindeversammlungen, d. h. von allen Familienhäuptern gewählt werden ■). Diese Wahlmänner (wüiborschtschiki) treten zur Wahlversammlung zusammen, um die Wahl ihrer Deputirten (glassnüijc B) zu vollziehen. Die Bauern können ihre Vertreter aus ihrem eigenen Kreise, wie aus den Gutsbesitzern und Geistlichen des Kreises wählen, ohne dass Gutsbesitzer und Geistliche das Recht hätten, den Wahlversammlungen der Bauern beizuwohnen. Dieser Wahlmodus mag wrohl rationell scheinen, die Vortheile, die von ihm erhofft wurden, hat er jedoch nicht gebracht. Die Bauern, deren Autonomie zu schützen das Gesetz beflissen war, haben bisher ') In den Kreisen, iu welchen Nebenclassen, wie die Colonisten, in genügend grosser Zahl vorhanden sind, haben dieselben eine ihrer Bedeutung entsprechende Vertretung in der Semstwo. s) S. oben Buch I, Kap. II. ■) Die Geschäftsordnung der Semstwos wies ursprünglich den Vorsitz dieser Wahlversammlungen dem Friedensrichter zu; später wurde diese wichtige Function auf den Friedensvermittler übertragen und, nach dessen Aufhebung, aüf das ständige Glied in der Commission füi Bauerangelegenheiten (Buch 1, Kap. IV). in ihren Wahlen wenig Beweise von Klarheit, Eifer und Unabhängigkeit geliefert. In vielen Kreisen scheint die Dclegirtcnwah] der Bauergemeinde nichts als eine leere Formalität. Wie könnte das bei der geringen Bildung und Helfe des Mushiks Wunder nehmen, der meist ganz ausser Stande ist, sich für Dinge zu interessiren, die ausserhalb des engen Rahmens seiner Gemeinde liegen? Der Chef der Localpolizei und der Vorsitzende der Wahlversammlung, der Isprawnik und das ständige Glied des Comites für Hauerangelegenheiten lenken die Stimmen der Bauern nur aUzuleicht nach ihrem Belieben. Bisweilen lassen sie Gutsbesitzer wählen, die von ihren eigenen Standesgenossen zurückgewiesen und gleichgültig gegen die Interessen ihrer Wähler sind. Branntwein und Bestechung bleiben diesen ländlichen Wahlen nicht immer fern. Im Allgemeinen sind jedoch die Vertreter der Bauern einfache Dörfler1). Meist ist der Aelteste des Bezirks, der Starschina der Wolost, der Gewählte, den die administrativen Verordnungen heutzutage in eine grosse Abhängigkeit von der Polizei setzen, so dass diese Genieindevertreterin Wahrheit oft von der Verwaltungsbehörde, die sie zu oontroliren berufen sind, bezeichnet sind. Die Bauergemeinden scheinen so dem Drucke ihrer früheren Herren nur eidzogen, um unter das schweren; Joch des Isprawniks und des niedern Beamtenthums zu gerathon. Um diesem Missstande vorzubeugen, ist der Vorsehlag gemacht worden, den Communal- wie den Staatsbeamten das passive Wahlrecht für die Semstwo zu nehmen; es ist davon die Hede gewesen, die Wahlbezirke so zu beschränken, dass die Bauern in der Lage seien, die Candi-daten zu kennen. Die Frage war, ob nicht beispielsweise die Repräsentanten der Bauern direct von den Wolostversamnilungen gewählt werden sollten, was durch Vermehrung der Wähler die Einflüsse von aussen hätte schwächen können: freilich auf die Gefahr hin, die Macht der Gemeindeschreiber und Kneipwirthe zu mehren und die Thür der Semstwo den Kulaki und Landfressern zu Öffnen, die schon oft genug in der Zahl der Gewählten liguriren. Zu welcher Reform im Kleinen auch gegriffen werde, es dürfte schwerlich eine administrative Massregel dem Uebel ganz vorbeugen, dessen Hauptursache die Unwissenheit und Gleichgültigkeit des Bauern in Verbindung mit der eingewurzelten Uebermacht der Polizei ist. Die Wahl persönlicher Grundbesitzer bietet nicht immer viel bessere Resultate, und auch hier liegt wohl die Schuld weniger an *) Die „Material. 7.ur Erforschung der gegenw. Lage der Eaudwirthsch." 1880, p. 4 (niHs.) bieten hiefür interessante Belege. dem Wahlmodus, so seltsam derselbe auch scheint, als an den öffentlichen und privaten Sitten, an der durch andauernde administrative Bevormundung grossgezogenen Gewohnheit uer stumpfen Gleichgültigkeit. Was die Gutsbesitzer mit persönlichem Eigenlluim betrifft, ist der Wahlmodus zur Semstwo dem Wahlmodus der Adelsversammlungen nachgebildet, der auf Katharina II. zurückreicht. Ein grosser Unterschied besteht jedoch darin, dass das Wahlrecht zu den neuen Versammlungen nur dem Grundbesitz ohne Rücksicht auf Geburt und Tschin zusteht. Edelleute, Beamte und Kaulleute sind in dieser Beziehung zu einer Classe verschmolzen, zu der Gruppe der Grund-eigenthümer, wenn auch das numerische Eoborgewieht gewöhnlich dem Adel verbleibt, der bis zur Kmancipation allein das Recht auf herrschaftlichen Grundbesitz hatte. Der immer auf Grundeigenthum gestützte Wahlcensus wechselt natürlich nach der Lage der Provinzen und dem Bodenreichthum. In den fruchtbaren Gegenden der Schwarzerde beträgt er ungefähr 20(1—.'100 Hektare, in den abgelegenen Hegionen des Ostens und Nordens ist er weit hoher. Alle Grund-eigenthümer, die das durch den Census bestimmte Minimum zu eigen besitzen, sind von Rechtswegen Wähler. Die übrigen haben nur eine Collectivstimme; sie ernennen unter sieh eine Anzahl von Wahl-niännern, die dem Gesamtmass ihrer vereinigten Ländereien entspricht. Frauen, Minderjährige, Abwesende können durch Bevollmächtigte an den Wahlen Theil nehmen. Alle so bestimmten Wahlmänner werden unter dem Vorsitz des Kreisadelsmarschalls zur Wahlversammlung vereinigt. Ein Grundbesitzer kann zwei Stimmen abgeben, die eine als Person, die andere als Bevollmächtigter. Die Versammlung, welche das .Mandat ihrer Glieder selbst prüft, darf nicht länger als drei Tage dauern. Die Grundbesitzer eines Kreises haben durchschnittlich 20 bis 30 Beügirte für die Kreissemstwo zu wählen. Jedes active Wahlrecht bringt das passive mit sich. Statt nach Sectionen oder Listen zu wählen, wird der Reihe nach, gewöhnlich in alphabetischer Folge der Stimmabgabe der Name jedes Gliedes der Wahlversammlung beigefügt. Dieses namentliche Scrutinium kommt auf ein Scrutinium (ler Eliminirung heraus. Der Vorzug dieses Systems ist der, dass der Intrigue weniger Raum gegeben ist, sein Mangel der, dass viel dem Zufall anheimgestellt wird. In den Versammlungen, in welcher die Zahl der Stimmenden oft nur zwei- bis dreimal grösser ist, als die Zahl der zu wählenden Delegirten, ist die Reihenfolge der zur Wahl zugelassenen Namen nicht ohne Einfluss auf das Resultat der Wahl, Da viele Sitze zu vergeben sind, zeigen sich die Wähler, die zu grösstem Theil zugleich Candidaten sind, anfänglich anspruchslos; ihre Anforderungen wachsen mit der Zahl der zugefügten Namen. Mit Rücksicht auf ihre eigenen Chancen werden die Letzten der Liste immer schwieriger. Es werden dann die zur Wahl stehenden Namen systematisch verworfen. Dagegen zeigt sich ganz zum Schluss, wenn noch eine grosse Zahl von leeren Plätzen zu besetzen sein sollte und die Wähler sich ihrer eigenen Wahl vergewissert haben, oft eine Wendung zu grosser Nachsicht. Es ist übrigens der Eifer der Gutsbesitzer für die Wahlversammlungen und die Sitzungen der Semstwo nach Regionen und Zeitläufen sehr verschieden. Bisweilen übersteigt die Zahl der in der Wahl erscheinenden Wahlmänner durchaus nicht die der zu wählenden Deputirten, sondern bleibt noch hinter derselben zurück. In diesem Falle bemühen sich die versammelten Wahlmänner nicht, Abwesende zur Wahl aufzustellen, sondern geben sich gegenseitig ihre Simmen und haben sich dann nur mich als Gewählte zu proclumiren. Diese Kreissemstwos, die also aus den Vertretern dreier verschiedener Stände zusammengesetzt sind, haben eine ganz andere Physiognomie, als die Provinzial verbände des Westens von Europa. Man sieht in ihnen neben einander reichgewordene Kaufleute aus den Städten, Grossgrundbesitzer vom Lande, Bauern vom Dorfe. Der Mushik sendet nicht nur Deligirte seiner Wahl in die Versammlungen, er tritt in der Regel selbst in sie ein mit seinem langen Barte, mit schwieligen Händen und in langem Kaftan, mit all seiner Unwissenheit, seinen Vorurtheilen und seinen praktischen Erfahrungen. Man begegnet in diesen Semstwos häufig noch vollkommen analphabetcn Gliedern, und mitunter sitzt hier der frühere Leibeigene Ellbogen an Ellbogen mit dem frühern Herrn, der ihn noch hat peitschen lassen. In dieser Beziehung bringen die Classenwahlen demokratischere Resultate zu Tage, als die von gewissen Demokraten verlangten Wahlen ohne Classenunterschied zu thun vermöchten. Das jetzt geltende System allein kann den Bauern eine directe Vertretung sichern. Bei einem Volke, das von Natur weniger conservativ und von weniger Ehrfurcht gegen die alten traditionellen Gebräuche erfüllt wäre, hätte eine so rasche Erhebung der Freigegebenen zu der Machtstellung ihrer Herren von gestern wesentliche Missstände mit sich bringen können. Eine Gleichstellung von Menschen, die so verschieden an Geist und Bildung sind, eine Vertretung nach Ständen und socialen Bedingungen von so verschiedenem Interessenkreise wäre in jedem andern Lande wohl nicht ohne Gefahr gewesen. In Russland dagegen konnten die verschiedenen Stände in derselben Versammlung ihre besondern Delegirten haben, ohne dass auch nur eine Spur von Classenkampf entstand. Die Zukunft wird lehren, ob ein solcher Wahlmodus nicht den socialen Frieden gefährdet, ob Kussland dem natürlichen Widerstreit des Herrn und des Bauern, des Bariii und des Mushik, des persönlichen und des communalen Grundbesitzes entgehen kann. So lange diese beiden Formen des Besitzes neben einander bestehen und den Grund und Boden fast gleichmässig unter sich theilen, schiene es in jedem Falle ungerecht, wenn nicht jeder von beiden in den Hrovinzialständen seine besonderen Vertreter hätte. Der Dualismus der ländlichen Vertretung ist nur eine der natürlichen Folgen des Dualismus des Grundbesitzes. *) Einer der Gründe dafür, dass in diesen, aus so verschiedenartigen Elementen zusammengesetzten Versammlungen doch Friede herrscht, ist, dass die beiden wichtigen Stände, die Gutsbesitzer und die Bauern sich dort im Gleichgewicht halten, oder richtiger, dass das [JehergeWicht dort gewöhnlieh dem gebildeten Stande, den Gutsbesitzern zufällt.a) Die Zusammensetzung der Semstwos verändert sicli natürlich nach Landstrichen und muh dem Massstabe der Vertheilung des Landes zwischen Adel und Gemeinden, zwischen der einen uml der andern Form des Bodenbesitzes. Alles in Allem: in ganz Kussland gehört die Majorität der Landesversammlungen den Gutsbesitzern, die an sich fast die Hälfte aller Glieder bilden, während Kauern und Städter den Rest machen.3) Die Semstwos der grossen nordöstlichen Gouvernements, wie Wätka und Herrn, wo der Adel nie hat Wurzeln fassen können, und die adligen Gutsbesitzer in verschwindender Minorität sieh belinden, sind fast noch die einzigen, wo die Majorität den Hauern bleibt, obgleich das Verhältniss der letztern durch ihre Landkäufe überall zu steter Besserung sich neigt. ') S. Bd. I, Buch VIII. *) Man hat den Gutsbesitzern auch wohl vorgeworfen, dass sie ihren Eile thiss missbraucht und von den Semstwos Massrogcln in ihrem Sonderinteresse, ohne Nutzen für die Bauern, hätten votiren lassen. „Das Decennarium der russ. Semstwo" 1877 (russ.). Mir scheint, dass nur wenige Landes Versammlungen gegenwärtig diesen Vorwurf verdienen. 3) Vor wenigen Jahren wurden unter 13,000 Glassnüjen oder Semstwo-deputirten in :):) Gouvernements 0,204 Gutsbesitzer, 6,171 Bauern, 1,649 Stadtvertreter gezahlt. In vielen (iouvernements des Innern zählt eine Krcisvn-sammlung etwa 80 Gutsbesitzer, 27 oder 28 Bauern und 1 oder 6 städtische Kautlente. Dieses Verhältniss kann :ils das mittlere angenommen werden, J' t- ro y . n u a u i ; e „ ( Ra|0|, ,1. Zaren 11. d. Bl»»«a. II. Bd, Iii Das Uebergfewicht des Adels in den Semstwos hängt übrigens nicht allein von der Zahl seiner Vertreter ab, sondern auch von der Ueberlegenheit seiner Bildung und Cultur. Der Mushik erkennt diese Ueberlegenheit des Barin gern an, der neben ihm sitzt; er ist voll Ergebenheil gegen seinen frühern Herrn. Die Bauern wohnen nur zu oft den Sitzungen als Statisten oder stumme Figuranten bei, ohne Bich recht Idar zu werden, welche Rolle sie hierbei spielen. Für viele ihrer Deputirten ist die Verpflichtung, die Semstwo zu besuchen, eine Art Frohne, die um so drückender ist, als sie unbesoldet ist. Em diese Institutionen den Mushiks genehmer zu machen, haben verschiedene Schriftsteller, wie Kosehelew, vorgesehlagen, die Gemeinde-delegirttn zu suhventioniren. Wenn der praktische Sinn und die Erfahrung dieser einfachen Dörfler in diesen kleinen Frovinzialparln-menten sich auch nicht durchaus unnütz erweisen, wenn sie all-mälioh sich auch einen weitern Raum schaffen müssen, so kommen die Redner, die „leaders" der Semstwo, jetzt doch nur immer ans den Reihen der Gutsbesitzer. Der Adel hat um so weniger Grund, sieh über die gegenwärtige Verfassung der I'rovineialvertretung zu beklagen, als er bis jetzt in ihr eine unbestrittene, auf Gesetz uml Herkommen sich stützende Vorherrschaft übt. Er hat es sich nur selbst, seiner Sorglosigkeit, seiner geringen Neigung zum Landleben, seiner Flucht vor Wahlämtern zuzuschreiben, wenn er oft den that-säcblichen Einfluss in die Hände reichgewordener Kaulleute, geringer Emporkömmlinge und Speculanten gerathen lässt, für welche die Semstwo nur ein Trittbrett ist, und deren Verwaltung nicht selten zu Skandalen Veranlassung giebt. Das Gesetz, das den Adel in den Semstwos mit den andern Ständen verschmilzt, ortheilt ihm dort zugleich ein wichtiges Vorrecht. Der Vorsitz der Provincialstande gehört dem von den all-dreijährigen Adelsversammlungen gewählten Adelsmarsehall (predwo-ditel).') Auch wenn die Hräsidentenwürde zur Wahl gestellt wäre, wie es dereinst nothwendig sein wird, und wie es schon in mehreren Semstwo gefordert worden ist. würde der Vorsitz doch selten in andere Hände Übergehn. Der Adelsmarschall ist in der Regel der angesehenste Mann seines Kreises oder seines Gouvernements. Kaiser Alexander II. hat in der zweiten Hälfte seiner Regierung noch die Aufgabe des Frodwoditel erweitert, indem er ihm den Vorsitz im Collegium des öflentlichen Unterrichts, in der Revisions- ') In den < ioiivernemonts und Kreisen dos Nordens, wo der Adel nicht vorhanden ist, ernennt die Iterierung den Vorsitzenden der Semstwo. commission und endlich in der Kreisverwaltung für bäuerliche Angelegenheiten übertrug. So fällt auf allen den Gebieten, wo die Regierung die Unterstützung der Bevölkerung in Anspruch nimmt, die erste Rolle dem in seinem gewählten Haupte vertretenen Adel zu; wäre er nicht im Besondern die gebildete Classe, so könnte man diese gesetzlichen Vorrechte schon für übermässig halten. Die Befugnisse des Adelsmarschalls sind so vielfältig geworden, dass die Semstwos ihm oft eine Schadloshaltung in Geld oder einen Gehali zugestehn. Noch grösser als in den Kreissemstwos ist das Ue berge wicht des Adele in den Gouvernementssemstwos. Die letzteren sind von den ersteren gewählt, der Stand, der in jenen den grössern Kinlluss hat, muss auch in diesen die Mehrheit haben. Die Gouvornementsver-sammlung ist nur die Versammlung von Delegirten der verschiedenen Kreissemstwos des Gouvernements. Jede Kreissenisl wo ist in den Gouvernementssemstwo durch eine bestimmte Zahl ihrer Glieder — durchschnittlich sieben bis acht — vertreten. Da die russischen Gubernii gewöhnlich acht, zehn, zwölf Kreise umfassen, so bestehen die Provinzialbestände aus (10, 80 bisweilen L00 Delegirten. Die Wahlen zu den Gouvernementssemstwos werden nicht nach Ständen, sondern nach Personen vollzogen. Jedes Glied der Kreisversammlung, Gutsbesitzer, Bauer und Kaufmann, ist wählbar: gewöhnlich gehört die Mehrzahl der Gewählten dem eisten dieser drei Stände an. Dein Hauer liegt wenig an diesem unbesoldeten Amte; er lässt gern Gutsbesitzer zu demselben wählen, die er für fähiger dazu hält, als sich selbst. Unter den Gliedern des Gouvernementssemstwos sieht man häufig Heute, die als einstige Gegner der Freigebung bekannt sind, so unbeeinflusst sind die früheren Leibeigenen von Hass oder Groll gegen Diejenigen, die ihre Herren waren. Wenn in den meisten dieser Versammlungen einige Bauern mitten unter den Adligen sitzen, so danken sie dies dem Liberalismus oder der Iirossmüthigkeit der Gutsbesitzer, die ihre liberalen Ideen bisweilen um so lieber an den l'ag legen, je weniger ihr wirklicher Kintluss darunter leidet. In der Gouvernementssemstwo führt der Gouvernementsadels-marschall den Vorsitz, wie' in der Kreissemstwo der KreisadelsmarschalL Heide Ver Sammlungen besitzen seil ihrer Errichtung (1804) was die französischen Generalrüthe eist 1871 erlangt haben: einen permanenten Anssehuss, semskaja aprawa, dem ein wichtiger Antheil an der Localverwaltung zufällt. In Hussland wird dieser Ausschuss nur alle drei -Jahr erneuert, was ihm nach der Meinung Einiger allzu grosse 1 nabhängigkeil von der ihn wählenden Semstwo verleiht. Sein Vor- 10* sitzender wird gewählt, muss aber vom Minister des Innern bestätigt werden. Die Glieder des Ausschusses erhalten, wie in Belgien, in der Regel einen Gehalt, dessen Höhe die Versammlung bestimmt. Diese Gage steigt bis auf etwa 1500 oder 2000 Rubel. Dies Beispiel zeigt abermals, wie sehr das demokratische Prineip der Besoldung-aller Aemter vom Anfang an in die Vorstellungen und Rechtsgewohnheiten der Russen eingedrungen sind. Die Glieder der Semstwos wären vielleicht in Versuchung, sich selbst eine Schadloshaltung zu gewähren, wenn der Gesetzgeber ihnen das nicht unmöglich gemacht hätte. Das Gesetz verbietet zwar die Forderung eines Gehalts nicht, aber derselbe müsste in diesem Fall von den Wählern der Delegirten, nicht von der Versammlung der letzteren bewilligt werden. Da sie nicht besoldet werden, glauben die Glieder sich nicht zu grosser Pünktlichkeit verpflichtet. Mehrere ProvinzialVersammlungen klagen über die Theilnahmlosigkeit und Gleichgültigkeit derer, welche die Ehre haben, ihnen anzugehören. Um gültig zu sein, müssen die Beschlüsse der Semstwo bei Anwesenheit von mindestens einem Drittel der Glieder gefasSt werden; so niedrig aber dieses gesetzliche Minimum scheint, kommt es doch bisweilen vor, dass eine Versammlung nicht vollzählig zur Beschlussfassung ist. Nicht selten hält der Vorsitzende zum Zweck der Abstimmungsfälligkeit Glieder mit Gewalt zurück, deren Theilnahme an den Angelegenheiten nur eine nominelle ist. Der Besuch ist so gering, dass ganz ernsthafte Blätter gefordert haben, die Beschlussfähigkeit der Versammlung möge von einem Drittel auf ein Fünftel der Glieder hinabgesetzt werden. Man ist in gewissem Sinne noch weiter gegangen. Zur Zeit des bulgarischen Krieges wurde beschlossen, dass die Semstwos über gewisse, sogenannte dringliche Fragen ganz abgesehn von der Zahl der anwesenden Glieder Beschlüsse fassen könnten, selbst wenn zu einer aus mehr als 00 Delegirten bestehenden Versammlung weniger als neun zusammenkämen. Diese eine Thatsaohe beweist, wie matt in den meisten Provinzen das öffentliche Leben ist. Auch in Petersburg und Moskau setzen die vielen Lücken in den Reihen der Delegirten zu den Provinzialversammlungen den Ausländer in Erstaunen. Die .Männer, die regelmässig den Sitzungen beiwohnen, kommen zumeist weniger als Vertreter der localen Interessen, wie als Candidaten zu Friedensrichter- und andern besoldeten Aemtern, über welche die Semstwo verlügt. So sind die üeissigsten Besucher der Versammlung nicht immer die eifrigsten Arbeiter für das Wohl des Landes. Viele sehen in den Öffentlichen Angelegenheiten nur das Mittel, ihre eigenen zu fördern, so dass diese Gruppe top „Männern der Semstwo" (semskije ludi) den Politikern Amerikas und gewisser europäischer Staaten sehr ähnlich sieht. Die Gegenwart solcher SteEenjäger hält nur zu oft die tüchtigsten und ehrenhaftesten Männer zurück, so dass die Leitung der localen Geschäfte leicht gierigen Intriganten in die Hände fallen kann. Die Saat des Uehels, über welche reifere Länder im politischen Leben klagen, hat auch schon in dieser bescheidenen und jungen Selbstverwaltung der Provinzen ihre Keime getrieben. In mehr als einem Kreise halten sieh Männer, die zumeist zur Leitung der allgemeinen Angelegenheiten berufen wären, systematisch bei Seite. Diese Art von Enthaltung oder moralischem Fernbleiben ist eine der Ursachen des bösen Rufes gewesen, der in den letzten Jahren Alexanders IL die neuen Landesinstitutionen traf. Die Provinzialstände, von denen die Abschaffung aller Missbräuche der bureaukratischen Verwaltung erwartet worden war, blieben nicht immer fest gegen die Uebel, die sie beseitigen sollten. Mehr als einmal wurden ihnen sträfliche Speculationen, Fälle der Amtsuntreue und Vergeudung nachgerechnet. Hin und wieder sind aus den Gewählten und Beamten der Semstwo Tschinowniks einer neuen Art geworden. Statt die Verwaltung zu säubern und die Bureaukratie zu desinficiren, haben sie deren mephitische Luft nicht ungestraft eingeathmet und die Krankheit bisweilen selbst in sich aufgenommen, die sie zu bekämpfen berufen waren. Wenn auch auf gleiche Weise gebildet, unterscheiden sich diese Landesvcrsammlungon übrigens sehr von einander. Sie tragen je mieh den verschiedenen Provinzen ein sehr verschiedenes Gepräge. Gft bedarf es nur eines Geringen, eines Mannes mehr oder weniger, um sie zu verändern, ihre Apathie zu erschüttern und sie zu neuem Leben zu wecken. Nirgend ist der Gährungsstoff persönlicher That-kraft nothwendiger noch wirksamer. Diejenigen Kreissemstwos, die am meisten gewirkt haben, danken dies in der Regel einer kleinen localen Gruppe oder einer thätigen und hingebenden Persönlichkeit. Andererseits versinkt eine Semstwo, die sich jahrelang durch ihren ftifer auszeichnete, plötzlich in Gleichgültigkeit und Dunkel, als hätte sie mit ihrem leader auch ihr Leben verloren J). So unvollkommen diese Landesversammlungen auch sind, so besitzen die Provinzen, in denen sie eingeführt sind, doch einen unbestreitbaren Vorzug gegen diejenigen, die ihrer ermangeln. Es sind fhatsächlich nicht allen Gouvernements des Reiches gleichzeitig solche *) Mordowzew, Das Decennarium der russischen Semstwo. Europ. Bote 1881 (russ.). Provinzialstände verliehen worden. In Bezug auf Urformen und Institutionen wird in Hussland nicht wie in Frankreich nach dem Prineip verfahren, dass die gleichen Massregeln an demselben Tage in allen Theilen des Staats eingeführt werden. Die kaiserliehe Regierung behält das Recht, die Reformen, die ihre Hand über das Reich verbreitet, zu vertheilen wie einzuführen; sie wendet sie an. wo sie es für gut erachtet. Tu einem so ausgedehnten und complioirten Staat könnte es kaum anders sein. Diese Methode hat einen Vorzug: sie gestattet es, auf einem beschränkten Gebiete die neuen Institutionen zu erproben and sie erst dann auf das ganze Reich auszudehnen, wenn sich ihre Wirkung in den bestvorbereiteten Provinzen an den Tag gestellt hat. Jetzt, wo die Semstwos sich auf dem russischen Boden aeclimatisirt zu haben scheinen, wird der Augenblick wohl gekommen sein, ihre Wohlthat allen Theilen des Landes, wenigstens dem ganzen europaischen Russland zuzuwenden, wenn nicht auch dem Kaukasus und dem westlichen Sibirien, deren Entwicklung derartige Institutionen auf das Wirksamste fördern würden. Während der Dauer von 10 Jahren genossen nur 29 oder 30 Gouvernements von Gross- und Keinrusslamt die Wohlthat dieser örtlichen Selbstverwaltung. Es giebt ihrer jetzt (1882) etwa 35 ]). Ausser dem allen Königthum Polen, das den Gouvernements des Reichs nur nominell, unter der Bedingung gleichgestellt ist. das ihm das Bonetizium aller der für Hussland erlassenen liberalen Gesetze vorenthalten bleibt, giebt es noch in Europa etwa 15 Gouvernements ohne diese nützlichen Institutionen; es sind meist die Grenzprovinzen, die in Nationalität und Traditionen am wenigsten russisch sind. Diese Gebiete, wie die alten litthauischen und polnischen Provinzen. leiden gerade am meisten von der bureaukratischen Willkür und der Petersburger Ceu-tralisation*). Nachdem die Regierung und das russische Volk einen ') In den .'Jö Gouvernements mit der Semstwo wurden mehr als 4iou beauftragt, die Befugnisse der Semstwo festzustellen und die BrovinzialVerwaltung entsprechend umzugestalten. S. weiter unten Kap. III. gung des Gouverneurs nicht: es bedarf dazu auch der Bestätigung des Ministeriums des Innern: so, beispielsweise, bei den wichtigsten Steuern und bei grossen Anleihen. Aber nicht allein die wichtigen Angelegenheiten sind ähnlichen Beschränkungen und ahnlichen Verzögerungen unterworfen. Alle Beschlüsse der Provinzialstände müssen unmittelbar dem Gouverneur mitgetheilt werden, der diesen Versammlungen gegenüber das Recht des suspensiven Veto besitzt. Der Gouverneur muss in acht Tagen Antwort geben: erhebt er Widerspruch, so ist die Semstwo zu einer neuen Verhandlung verpflichtet. In diesem Falle ist ihre Abstimmung endgültig, doch bleibt dem Gouverneur das Recht. die Ausführung zu verhindern und an den Minister zu berichten. Die Differenzen zwischen den Beamten der Krone und den Provineialständen müssen sogar vor den Senat, also vor die höchste Gerichtsbehörde des Reiches gebracht werden. Man könnte ein Gesetz nicht tadeln, das die Rolle des Schiedsrichters dem höchsten Gerichtshof zuweist, wenn die Contiictsfälle mehr begrenzt wären und die meisten der den Semstwos obliegenden Angelegenheiten nicht einer raschen Erledigung bedürften. Da alle Beschlüsse der Provinzialstände durch ein Veto des Gouverneurs aufgehalten werden können und diese Versammlungen in der Regel nur eine Session im Jahre haben, ist die Verwaltung im Stande die Ausführung eines ihr missliebigen Beschlusses wenigstens um ein Jahr zu verzögern. In dieser Beziehung hat der Wille der kaiserlichen Beamten keine Schranke; das Gesetz macht sie zu Richtern über die Abstimmung der Semstwo, indem es dem Gouverneur das Recht zuspricht, sich jedem Beschluss zu widersetzen, der ihm ..diu wahren Interessen des Reichs zu widersprechen" scheint. Eine so unklare Wendung genügt, um die Provinzialstände von dem guten Willen der Beamten abhängig zu machen. Mit einer gewissen Vertauschung der Rollen sehen sich so die Landesversammlungen, die scheinbar zur Controle der Bureaukratie und des Tschinownikthums ins Leben gerufen wurden, unter die Vormundschaft der Verwaltungsbehörden gesetzt. Die Provinzialstände sind nicht einmal der Macht sicher, welche Oeffentlichkeit und allgemeine Meinung den berathenden Körpern sonst geben. Die Verhandlungen der Semstwos sind öffentlich; aber die Sitzungsberichte dürfen nur mit Genehmigung des Gouverneurs gedruckt werden. Ist das Wort auch frei, so darf es doch nicht aus den Wänden der Semstwo hinaus dringen, ohne dem Joch der Censur sich zu beugen1). ') Mehrere Semstwos haben die Veröffentlichung von Zeitschriften oder Jahrbüchern begonnen, welche die Berichte über ihre Arbeiten enthalten, aber Der Gouverneur schiebt sich bestündig zwischen die Landesversammlungen und die Centraigewalt, wie zwischen jene und die Bevölkerung. Im Gegensatz zu den Adelsversammlungen besitzen die Provinzialstände das Petitionsrecht nicht. Wenn sie mit Bezug auf Localinteressen Gesuche an die Regierung richten wollen, können sie das nur durch die Vermittelung des Gouverneurs. Derartig vorgebrachte Desideria haben auf die öffentliche Meinung weniger Kinlluss, als die der französischen Generalräthe, und nicht grösseren Credit bei den Centraibehörden. Man rechnete 1881, dass auf tausend Gesuche der Provinzialstände kaum hundert geprüft und etwa zwanzig herüeksichtigt wurden. Die ohnehin in der Praxis so beschränkten Rechte der Semstwos sind in den letzten Reglerungsjahren Alexanders II. noch gesetzlich gekürzt worden. Vor Allem um die Kräftigung des Anselms ihrer Beamten besorgt, war die Regierung bemüht, die Macht ihrer Gouverneure gegenüber den localen Vertretungen zu mehren. Wenn sie auch nicht offen den Semstwos die Wahl gewisser Beamten und Magistratspersonen nahm, so setzte sie die Gewählten doch in unmittelbare Abhängigkeit von dem Gouverneur, der das Recht hat, sie zu suspendiren, wie sie zu bestätigen, so dass solche Wahlen häufig mehr Schein als Wirklichkeit sind. Vielleicht sind aber alle diese gesetzlichen Beschränkungen nicht das Haupthinderniss für die Thätigkeit der Semstwos. Das Recht des Veto gehört nicht zu denen, von denen Gouverneur oder Herrscher allzuhäufigen Gebrauch oder Missbrauch machen dürften; es wird für grosse Gelegenheiten reservirt. Gefallen sich die Tschinowniks darin, den Arbeiten der Semstwo Hindernisse zu bereiten, so geschieht das baldiger aus formellem Widerspruch gegen die Beschlüsse der Versammlung, als aus bösem Willen oder aus Nachlässigkeit in ihrer Ausführung. Die Provinzialstände verfügen thatsächlich über kein Mittel zur Ausführung der Massnahmen, die sie zu beschliessen das Recht haben; sie haben keine anderen Grgane noch Beamte, als die der Centraigewalt. In Bezug auf die Vollstreckung der meisten ihrer um der Beschränkungen durch das Gesetz und der Gleichgültigkeit der Gesellschaft willen haben die meisten dieser Publicationen nur wenig Loser. Kbenso ist es mit einem „Jahrbuch der Semstwos", das von der Ökonomischen Gesellschaft in Petersburg zu dem Zwecke gegründet ist, alle die Provinzialstfir.de betreffenden Nachrichten zu sammeln. Der erste Band hat nur 300 Käufer gefunden, während es doch mehr als 400 GouvernementB- und Kreissematwoa giebt, die zusammen tausende von Mitgliedern zählen. Auch kann dieses Jahrbuch nur durch Unterstützung des Finanzministeriums dauernd erscheinen. Beschlüsse bleiben sie in voller Abhängigkeit vom Gouverneur, und auf diesen selbst einzuwirken, fehlen ihnen die Mittel, welche die Politik den französischen Generalräthen ihren Präfecten gegenüber an die Hand giebt. Doch ist das noch nicht die einzige Verlegenheit der Semstwos. Es giebt zwar Beamte, die um das Gemeinwohl besorgt genug sind, um ihnen eine loyale Beihülfe zu erweisen; aber wenn sie auch von den Vertretern der Centraibehörde aufrichtig unterstützt werden, so sehen die Landesversanimlungen doch eine höhere, noch unübersteiglichere Schranke sich vor ihnen erheben: das Budget, den Mangel an Mitteln. Das Missverhältniss zwischen den Obliegenheiten der Semstwos und den ihnen verfügbaren Mitteln ist arg. Ihr Arbeitsgebiet, das alle [ovalen Interessen umfasst, ist weit ausgedehnter, als ihre finanziellen Hülfsquellen. Das Gesetz weist den Provinzialstänilen einen Theil der Grundsteuern zu, aber diese Auflage (semski sbor) ist nachweislich ungenügend. Der Eisens hat den neuen Landesversammlungen einen Theil der Steuern, die früher der Eocalverwaltung überlassen waren, abgenommen. So schienen die Semstwos von ihrer Einrichtung an dazu verurtheilt, in Aermlichkeit sich hinzuschleppen. Als sie in Thätigkeit traten, verfügten sie nur über lächerlich kleine Mittel. In vielen Fällen deckten die ihnen zugestandenen Einnahmen kaum die Hälfte der ihnen auferlegten Lasten. In einer grossen Anzahl von Gouvernements stiegen die Yerwaltungskosten jährlich auf 80,000 bis 100,000 Rbl., während die Einnahme zwischen 40,000 und 50,000 sehwankte. Unter den traurigen Aussichten des Deficits musste das neue Selfgovernment beginnen. Um die Provinzialversammlungen aus den Verlegenheiten solcher Geldnoth zu befreien, hätte der Staat in der Eage sein müssen, ihnen einen Theil seiner Einnahme abzutreten, unter dem Vorbehalt, einige seiner Verpflichtungen auf sie zu übertragen. Es giebt olfenbar verschiedene Abgaben, deren Erhebung sich wirtschaftlicher und logischer durch die Semstwos, als durch den Fiscus vollziehen Hesse: auch verschiedene Verwaltungen giebt es, welche die Provinzialstände besser und billiger besorgen könnten, als die Centraiverwaltung. Es Hessen sich aus den Erfahrungen der letzton Jahre Beispiele hiefür anführen, die wrohl Beweiskraft haben. So haben mehrere Semstwos, unter andern die von Nowgorod und Saratow, von dem Staate die Hostverwaltung im Innern des Gouvernements übernommen und in wenig Zeit in diesen Gebiete beträchtliche Ersparnisse gemacht, *) ') Golowatschew! „Zehn Jahre der IbTonnen". paö und d;is Journal de St. IVtersbourg IHM], No. 15G. Initiative, statt immer wieder vom Staate, gegenwärtig von den Landes-versammlungen ausgeht, welche weder soviel fordern, noch solche Tyrannei üben. I'ni die ganze Thätigkeit der Semstwos zu schildern, musste man dieser kurzen Uebersioht ihrer Arbeiten die Einführung von Sparkassen, den Unterhalt der localen Posten, die Eröffnung neuer Chausseeen oder neuer Eisenbahnen, die Versuche der Trockenlegung von Morästen oder der Wiederbewaldung der Steppen hinzufügen. Haben sie nicht Alles, was sie unternommen, in Ausführung bringen können, so haben sie doch die Ausführung durch Vorarbeiten und statistische Erhebungen vorbereitetl). Nach diesem flüchtigen Bilde wird man den Semstwos nicht vorwerfen können, müssig oder unnütz gewesen zu sein; sie haben, unseres Erachtens, Alles gethan, was ihnen ihre beschränkten Mittel erlaubten. Und was ist die Hauptsorge dieser Versammlungen gewesen, in denen fast überall die Gutsbesitzer und Edelleute überwiegen? Vor Allem die Wohlfahrt und der Fortschritt der niedern Volkselassen. Die Semstwos haben sich die Intelligenz des Mushik durch den Volksunterricht, seine Gesundheit durch die Organisation der medicinisohen Beihülfe, sein Haus durch die gegenseitige Versicherung angelegen sein lassen. Sie haben ihm mehr als einmal Vorschüsse zum Landkauf gemacht, sie haben sich angestrengt, ihm Volksbanken zu schaffen, um ihn von der schweren Knechtschaft der jüdischen und orthodoxen Wucherer zu befreien. Dasselbe Streben findet sich in allen Arbeiten dieser Landesversammlungen wieder. Dank ihren Bemühungen sind die Naturalabgaben, die Frohnen und Leistungen, deren Last allein auf den kopfsteuerpfiichtigen ('lassen ruhte, als Grundsteuern auf alle Classen repartirt worden. Die Semstwos haben die Basis für eine Grundsteuer geschaffen, die der Staat einst an die Stelle der Kopfsteuer der Hauern setzen muss, und als man in den Regierungskreisen über die Frage der directen Besteuerung verhandelte, haben die Landstände sich einmüthig für die Unterwerfung aller Stände der Gesellschaft unter die Steuer ausgesprochen. In diesen Versammlungen, in denen das bäuerliche Element in der Minderzahl ist, haben sich der Geist der Gleichheit und der demokratische Geist der Nation laut kundgegeben. '] M:in weiss, wie gross die Schwierigkeiten für die Statistik in einem solchen Reiche sind, und kann sieh denken, wie unvollkommen die ofticiellen Docuniente sind. Es ist nicht das kleinste Verdienst der Semstwos, zur Kenntniss des wirklichen Xustamles von dem Lande, von den < iouvcriicmcnts und namentlich von den bäuerlichen Verhältnissen mehr als jeder Andre beigetragen zu haben, Drittes Kapitel. Wie die Landständc zuerst masslose Hoffnungen erregt, dann aber vielfach Enttäuschung verursacht haben. Gründe dieser Enttäuschung. — Die locale Selbstverwaltung kann schwerlich ohne politische Freiheiten bestehen. — Haltung der Semstwos während der nihilistischen Krise. l'ngerechtigkeit des gegen sie erregten Misstrauens. — Auf welche Weise die Eandstände leicht in Generalstände verwandelt werden könnten. - Die von Alexander III. berufenen ^xpertencommissionen. — Notwendigkeit der Decentralisation. — Einmüthig-keit der Russen über diesen l'unct. — Die locale Selbstverwaltung und die Autokratie. Demjenigen, der Alles zusammenfasst, was die Semstwos mit S(J kargen Mitteln in etwa 15 Jahren erfüllt oder erstrebt haben, muss es scheinen, als ob eine wohl berechtigte Volkstümlichkeit sie '"iischweben müsste. In Wirklichkeit ist das nicht immer der Fall. Die öffentliche Meinung hat in Bezug auf sie die seltsamsten Wandelungen von Begeisterung und Entzauberung durchgemacht. Die Land-Stände hatten in ihrem Beginn die höchsten Hoffnungen erregt. Einer (bir Gründe der plötzlichen Wendung der öffentlichen Meinung war gerade die Uebertreibung des ersten Zutrauens, die Kühnheit der msionen und der Träume, die sich an die neuen Provinzialrechte nupften. Hussland forderte von den Semstwos um so mehr, je mehr es Von ihnen erwartete. Der Volksgeist und zumal der russische ist raeoh bereit, das Zukünftige zu überschätzen, und rasch wieder bereit, ZU unterschätzen. In ihrer Freude über die neuen und weiten <■-s,1"unten Zwecken zu verständigen. Man darf sich über dieses Misstrauen nicht wundem, wenn die Departemente in Frankreich, die acht- bis zehnmal kleiner zwei- bis dreimal weniger bevölkert sind, als die russischen (Jouvernements, "y^tcniatiseh in Isolirung gehalten wurden, und die französischen Generalräthe * 1871, und dann noch in beschränkter Weise, das Recht erhielten, gemein-a»'e Massregeln zu gemeinsamen Interessen zu ergreifen. ) Der Text dieses Beschlusses, den damals mir die russische Presse im j ! u"de wiederzugeben wagte, wurde dem russischen Publicum erst etwa ein "' später unter dem Ministerium des General Loris-Meükow bekannt. 12* Niederlagen vor Plewna, zwischen dem Vertrage von San Stefano und dem von Berlin, als man einen Krieg mit England fürchtete, während der nihilistischen Krise, als Alexander IT. mit dem General Loris-Melikow geneigt schien, zu einer liberalen Politik zurückzukehren, endlich nach dem Tode dieses Herrschers und der Thronbesteigung Alexanders III.: — in solchen Zeiten hat man sich immer wieder der Hoffnung geschmeichelt, dass sich der Zar im Wunsehe nach einer recht augenscheinliche!] Vorbindung mit seinem Volke unter der einen oder andern Form an die Semstwos wenden und von ihnen für diese oder jene Massregel eine Art nationaler Bestätigung oder Weihe heischen werde. Um eine Vertretung des russischen Volkes zu erhalten, bedürfte es kaum mehr, als eine Delegirung von den verschiedenen Landständen zusammenzurufen. In schwierigen Lagen, wie im Falle eines unglücklichen Krieges oder einer nationalen Gefahr, oder hei einer tumultarischen Minderjährigkeit oder einer bestrittenen Regentschaft könnte die Regierung ohne Verfassungsacte und seihst ohne Wahlen eine Versammlung von Bevollmächtigten des Landes impro-visiren. Zur Noth würde es genügen, in Petersburg oder Moskau die permanenten Ausschüsse der Semstwos der verschiedenen Gouvernements zusammenzurufen '). Seit dem bulgarischen Kriege bin ich mehr als einem Russen begegnet, der sich damit schmeichelte, sein Vaterland auf diese Weise mittelbar in den Besitz einer Art von Nationalvertretung gelangen zu sehn. Ks bedürfte einer drohenden Gefahr, um die autokratische Gewalt dahin zu bestimmen, dass sie auf diesem Wege die Landstände in Generalräthe, die Semstwo in den Semski Sobör verwandele. Bin derartiges Kxperiment. das schon dem Kaiser Alexander II. offenkundig widerstand, seheint auch bei Alexander III. nicht mehr Gunst gefunden zu haben. Statt die Delegirten der Semstwos zu berufen, die mit mehr oder minder Recht sich dessen rühmen konnten, die Vertreter des Landes zu sein, zieht die kaiserliche Regierung es vor, von Zeit zu Zeit nach eigener Wahl einzelne Glieder der Landstände oder städtischen Kürporschafton zu einer ihrer zahlreichen und ungefährlichen Commissionen zu versammeln, die sich unmöglich als Vertreter der Nation betrachten können. Hierzu hatte schon Alexan- ') Als die Russen 187S während des Berliner ('ongresses einen Conflict mit England fürchteten, schlugen mehrere der einflussreichsten Pressorgnne — wie z. B. der dolos — vor, durch die Semstwos ausserordentliche Steuern zu neuer Bewaffnung auferlegen zu lassen. Das wäre ein verhülltes Mittel gewesen, von Volksvertretern einen Theil der erforderlichen Kriegskosten bewilligen zu lassen. der IL tili oder zwei Jahre vor dem letzten orientalische!] Kriege das Beispiel gegeben, als er eine Art von wirtschaftlichem Congress zur Beruthung der Arbeiterfrage und des Verhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammenberief. Ein Gleiches scheinI derselbe Herrscher in anderem Massstab und für brennendere Fragen im Frühjahr 1881 beabsichtigt zu haben, in dem Augenblick, da er selbst den wiederholten Angriffen der Revolutionäre erliegen sollte; ein Gleiches hat auch Alexander III. wiederholt ausgeführt, namentlich im Herbst 1881, und dasselbe hofft man, ihn in Zukunft zur Ko'gierungspraxis erheben zu sehen. Im September 1881 versammelte Alexander HL in Petersburg «me Commission von 32 Männern, meist Gliedern einer Semstwo oder ^iner Stadtverordnetenversammlung, zu dem Zweck, zwei Fragen zu studiren, die sehr oft in Russland behandelt worden sind und beide natürlich der Politik gleich fern stehen: die Frage der Schänkwirth-schaften und die der häuerliehen Auswanderung. Diese Commission, die mit dem bescheidenen Namen einer Expertencommission bezeichnet wurde, zählte unter ihren Gliedern Adelsmarschälle und Vorsitzende der Provincialsemstwos, neben denen Bauern, einfache Starschinas, sassen. Was diese Commission vor allen frühern auszeichnete, war, dass sie lediglich aus Vertretern der Gesellschalt gebildet war, dass ,n ihr das Tschinownikthum ganz fehlte, und dass sie ihren Bc-rathungen ganz unabhängig von jedem Beamteneinfluss oblag. Nicht Weniger neu war, dass diese ihre Berathungen, statt zum Geheininiss der geschlossenen Thüren verdammt zu sein, in den Zeitungen frei wiedergegeben werden durften. Wochenlang war die russische Presse "dt den Ausführungen verschiedener Redner über die Branntweins-ßden und die besten Mittel, die Trunksucht zu beschränken, angefüllt, ^'jchenlaiig hatte Russland so die Illusion eines Parlaments im Kleinen, aber eines Parlaments, dessen Verhandlungen und Befugnisse über die Wände der Scbänken nicht herausgingen, obgleich das tragische Ende Alexanders II. ganz andre Fragen auf die Tagesordnung zu setzen schien. Die Unterthanen des Zaren sind im Allgemeinen ]n ihren Wünschen bescheiden; es bedurfte nicht mehr, um eine grosse Zahl derselben zu befriedigen und alte Hoffnungen bei ihnen wieder anzufachen, So beschränkt uns das Gebiet derselben erseheine, war doch die Einsetzung ähnlicher Versammlungen offenbar ein Fortschritt für das an-tokratische Reich. Doch darf man deren Wichtigkeit nicht übertreiben wollen. Neben dem engen Felde ihrer Stoffe, neben dem Mangel an Gewicht ihrer Berathungen hat eine derartige Commission noch den Fehler, ein repräsentativer Körper in Wirklichkeit nicht zu sein. Diese Oonferenzen von Sachverständigen (sweduschtschije ludij hätten einen andern Werth, wenn ihre Glieder nicht von der Regierung nach ihrem Ermessen ernannt, sondern von den Semstwos gewählt wären. Freilich entspricht nach den Theorieen der Slavophilen dieser Modus der kaiserliehen Ernennung von Männern aus der Mitte der gewählten Vertreter der Nation mehr dem Nationalcharakter und der slavischen Tradition: das sei ein Mittel, die so viel gerühmte Verbindung zwischen Zar und Volk zur That zu machen. Nach den Lehren gewisser Politiker müsstc auch der Semski Sobör, die legitime Vertretung der Nation aus der Ernennung des Zaren und nicht aus der directen Wahl hervorgehen l). Es giebt Vertheidiger dieses Verfahrens, die hinzufügen, dass man die Volksvertreter nicht von den Semstwos wühlen lassen dürfe, da diese bei der Verschiedenartigkeit ihrer Zusammensetzung nicht das Land, sondern nur eine bestimmte Classe verträten8). Wie dem auch sei, wenn die Regierung bei dieser neuen Praxis beharrt, wenn — wie General Ignatjew es der Expertencommission vom Sommer 1881 versprach — alle diese Lebensfragen künftig mit Beihülfe von „Männern des Landes" entschieden worden sollen, so werden doch derartige Versammlungen, wie oft man sie berufen mag, wie frei man sie sieb denke, niemals mehr als berathende (Kommissionen sein. In allen Fragen wird das letzte Wort, wie bisher, der Verwaltung und dem Tschinownik znstehn. Auch abgesehen von dem Fortfall der Wahl, darf man in diesen Conferenzen nur das Abschlags-geld für legislative Kammern sehen. Ihr einziger Vorzug ist, wenn sie nicht systematisch purificirt sind, dass sie der Stimme ihrer Glieder das Hecht geben können, von Zeil zu Zeit bis an das Ohr des Zaren und Selbstherrschers zu dringen. '. Die Regierung Alexanders III. hat übrigens hierbei einen Beweis von Weitsichtigkeit geliefert. Sic hat im Allgemeinen ausgezeichnete Männer, ohne Rücksicht auf ihre oll sehr verschiedenen Tendenzen auserwälilt. Unter diesen Experten sah man den Nestor derselben, E. Gordejenko, den Haupturheber der Charkower Semstwoadresse an Alexander II., die ohne die Bemühungen des Generalee Loris-Melikow, der damals Gouverneur in Charkow war, den Unterzeichnern leicht die Reise nach Sibirien hätte eintragen können. S. oben. -) So z. B. die „Russ" Aksakows im Oct. 1881. Die Meinung der Semstwos ist das nicht, von denen mehrere 1881 und 1882 die Hoffnung aussprachen, künftig die Experten für die kaiserlichen Commissionen wählen zu können. Eine von ihnen, die von Nowgorod, hat sogar die Glieder ihres Ausschusses ersucht, keine Ernennung in irgend eine Commission ohne Mandat ihrer Collegen anzunehmen. Als die ExpertencommissiOD von 1881 ihre Sitzungen sehloss, beriet Alexunfler TU. im Winter von 1881 auf 1882 eine andre Commission zu weit ausgedehnterer Aufgabe, zu der Reform der Verwaltung. Im Gegensatz zu der Conferenz über Getränke und Schänken, war die neue Commission aus Beamten zusammengesetzt; Glieder der Landstände hatten nur als Zeugen Zutritt. Diese Commission, welche die senatorische Untersuchung von 1880 und 1881 ihren Arbeiten zu Grunde legen muss, soU die Bevision aller localen Institutionen des Reiches, der Gouvernements und der Kreise vorbereiten. Es scheint eine allgemeine Umwandlung des ganzen Werks seines Vaters zu sein, was Alexander III. sich vorgesetzt hat. In dieser wichtigen Reorganisation der Verwaltung sollen die Semstwos den ersten Platz einnehmen. Die Regierung wird ihre Competenz vor. Neuem bestimmen müssen, indem sie die Befugnisse der Vertreter der Localinteressen scharf von denen der Vertreter der Centralgewalt scheidet. Was die allgemeine Meinung für die Semstwos verlangt, was mehrere von diesen selbst in den Jahren 1880, 1881 und 1882 schüchtern erbeten baben, das sind in vieler Beziehung weniger neue Rechte, als die Wiederherstellung alter, die das Gesetz ihnen früher zuertheilt, die Bureaukratie aber ihnen dann genommen oder bestritten hat, Alles beweist, wie unrecht die Regierung handelte, als sie die Landstände in Verdacht nahm. Nicht ihr droht von dieser Seite die Gefahr. Nur die Bureaukratie, das Tschinownikthum, die Centralisation haben die Entwicklung jener Institutionen zu fürchten. Das Misstrauen der Obergewalt gegen die Landes- oder Stadlversammlungen erscheint ■indisch; nicht die Semstwos werden je das Organ oder Werkzeug der Revolution sein. In dieser Beziehung ist die Haltung der gewählten Körperschaften andauernd durchaus vorwurfsfrei. Weit davon entfernt, in einer systematischen Opposition oder in falsch angebrachten Hetzereien sich zu gefallen, weit davon entfernt, Conflicte irgend welcher Art hervorzurufen, haben die Landstäieh-, Wie die Vertretungen der Städte immer nur der Regierung und den Beamten gegenüber eine ganz besondere Klugheit, Umsieht und Bescheidenheit an den Tag gelegt. Sind Ausschreitungen vorgekommen, so waren es mehr Ausschreitungen nach der Richtung der Unterwürfigkeit, der Lenksamkeit, der übertriebenen Höflichkeit hin. *B keinem Lande der Welt sind die berathenden Körperschaften strenger bemüht gewesen, sich des Missbrauchs der ihnen überwiesenen Rechte zu enthalten und selbst den Schein der Ueber-schreitung der ihnen gezogenen Grenzen zu meiden. Zu keiner Zeit sind gewählte Versammlungen so beflissen gewesen, die Obergewalt und ihre Beamten nicht eifersüchtig zu machen. Diese Provinzial-und Municipalcollegien haben mitunter einen Geist der Initiative gezeigt, der Hussland Ehre macht: aber nie haben sie den Localbe-hörden, noch viel weniger der Centraigewall ehrerbietige Willfährigkeit versagt. Dadurch haben die neuen Institutionen sich andauernd das Vertrauen des Herrschers verdient, wie das des Landes. Wenn der revolutionäre Geist in Bussland unstreitig Verheerungen angerichtet hat, so befanden sich sein Sitz und sein Arbeitsfeld nicht in den Vertretungskörpern, sondern in den geheimen Gesellschaften und versteckten Zusammenkünften, die über die exaltirten Köpfe und Gemüther junger Leute um so grössere Macht gewannen, je geringer die Autorität der gesetzlich gewählten Versammlungen war. In Hussland wäre, wie vielleicht überall, die beste Waffe gegen den revolutionären Geist der liberale Geist. Will man der Jugend und allen rechtschaffenen Leuten die dunkeln Complote und unterirdischen Agitationen verleiden, so gestatte man nur den Leuten, die von Liebe zum Gemeinwohl ergriffen sind, sich diesem am hellen Tage, ohne Furcht und ohne Störung zu widmen. Für das nordische Kaiserreich sind die IVevinzialrechte in der Gegenwart ebenso ein physisches, wie ein moralisches Bedürfnis*, ebenso eine wirtschaftliche Notwendigkeit, wie ein politisches Erforderniss. Hat die Centraigewalt den russischen Staat geschaffen, so können nur Decentralisation und Selbstverwaltung ihn materiell und moralisch entwickeln, seine natürlichen Hülfsquellen flüssig machen, seinen Reichthum und seine Civilisation in das rechte Verhältniss zu seiner territorialen Grösse heben, kurz ihm das rechte Leben verleihen. Die Ausdehnung des Heu Iis, die Verschiedenartigkeit seiner Bevölkerungen, die Mannigfaltigkeit seines Bodens, die wechselnde Form des Grundbesitzes machen die centralistische Bureaukratie dort unerträglicher und unfruchtbarer, als in minder ausgedehnten Staaten mit dichterer und gleichmassigervertheilterBevölkerung. In einem solchen Reich ist es schon schwer, für alle Gouvernements gleiche Gesetze zu erlassen, unmöglich aber, dieselben Verordnungen auf alle anzuwenden. Wie complicirt auch Gesetze und Verordnungen seien, su kann die Centraigewalt doch nicht alle Ausnahmen voraussehn und überall den localen Bedürfnissen Rechnung tragen. Statt das Reichsgesetz mit unzähligen Einzelheiten und Unterschiedlichkeiten zu überladen, die oft schlecht auf die Oertlichkeiten und die Thatsachen passen, müsste die Gesetzgebung den örtlichen Behörden einen gewissen Spielraum lassen, und wenn dabei nicht der Willkür Vorschub geleistet werden soll, kann solches allein durch Vertreter der Gesellschaft, durch gewählte Körperschaften, zumal durch die Semstwos gesehehn. Vom baltischen Meer bis zum Kaspisee — alle Welt empfindel das heute. Die bureaukratische Centralisation, die zwei Jahrhunderte hindurch den Vorsitz in der europäischen Erziehung Russlands inne gehabt, ist fast überall für das langsame Wachsthum und die schwachen Fortschritte ihres Zöglings verantwortlich gemacht worden. Wie ein Lehrer, der den Anspruch erhebt, einen jungen Menschen ewig in seiner Zucht und trotz der Jahre in enger Vormundschaft zu halten, so erregt das Tschin«.wnikthum den Hass und die Empörung des Mündels, das es wie ein Kind leiten will, ohne ihm noch etwas lehren zu können. Für die meisten Russen ist die Bureaukratie der Feind. Sie haben nur den einen Wunsch, sich von dem Joch derselben zu befreien. Nach einem der Wissenschaft entnommenen Lüde, das ihnen zu einem landläufigen Axiom geworden, muss an die Stelle des mechanischen Drucks des Tschinownikthums die organische Thätigkeit des Landes gesetzt werden. Der Bureaukratie gegenüber sind die beiden Parteien oder Richtungen, die um Hussland im Streite liegen, in der Regel einig. Petersburg und Moskau scheinen hierin gleichen Sinnes. Liberale im Sinne des Westens, die ihr Vaterland gern in die Bahnen Constitution eller Freiheiten eintreten sehen möchten, und Neu-Slavophilen, die aus Ueberzeugung das autokratische Regiment preisen, verständigen sich hierüber zu Gunsten foi localen Selbstverwaltung. Die enteren sehen in derselben die beste Vorbereitung zum schwierigen Versuch mit den politischen Freiheiten; die letzteren entdecken in ihr den Ersatz und gleichsam die Ablösung für diese gefahrvollen Freiheiten, von denen sie für ihr l^and nichts wissen wollen. Statt von zwei sich entgegenstehenden Kräften in entgegengesetztem Sinne hin- und hergezogen zu werden, werden Kussland und seine Regierung so von zwei rivalisirenden Richtungen, die unter sich die Leitung der allgemeinen Meinung theilen, in dieselbe Bahn gedrängt. Die Regierung kann dessen sicher seni, dass sie dem allgemeinen Wunsehe der Nation folgt, wenn sie diesem doppelten Linfluss nachgiebt. Besonders merkwürdig ist in dieser Beziehung die Haltung der '""^Tvativen Moskauer Nationalen. Sie sind entschiedene Gegner der Bureaukratie, glühende Anhänger der Semstwos und der provin-ciellen Selbstverwaltung. In demselben Masse, als sie Abneigung und Verachtung gegen die trügerischen und unfruchtbaren politischen Freiheiten des Westens predigen, zeigen sie Eifer für die bescheidenen und fruchttragenden localen Freiheiten. In ihren Augen liegt hierin die Zukunft und das Ideal Russlands. Durch diese Freiheiten kann allein der offenkundige Gegensatz zwischen der Volksfreiheit und der zarischen Autokratie aufgehoben werden, l'm ihr Lieblingsdognn von der Einigkeit und innigen Verbindung des Herrschers mit dem Volk zur That zu machen, braucht man nur die Bureaukratie verschwinden zu lassen, die sich zwischen Thron und Volk drängt, die beide hindert, sich zu sehen und sich kennen zu lernen und beide in gegenseitiger Entfremdung erhält. Fordern sie die locale Selbstverwaltung, so geschieht das nicht aus .Misstrauen gegen die oberste Gewalt, nicht als ein Zugeständniss oder eine Minderung der kaiserlichen Macht; es geschieht aus Liehe zur Autokratie, um sie zu kräftigen, um sie von Allem zu befreien, was sie helleckt und com-promittirt, um sie einer undankbaren Mühe und niederer Sorgen zu entheben und sie auf ihr natürliches Gebiet, das der allgemeinen Interessen, zurückzuführen, den Bevölkerungen aber, den Gouvernements, den Städten und den Gemeinden die Sorge um die localen Interessen zu lassen. Das sich local selbstverwaltende Land mit einem Zaren an der Spitze — das ist die Schulformel, welche den Anspruch erhebt, die nationalen Traditionen und Ideale zum Ausdruck zu bringen. Für sie sind die provinziellen und communalen Freiheiten keineswegs eine Beeinträchtigung der Autokratie, sondern das beste Mittel, sie stark und dauerhaft zu machen1), Ich will hier nicht weiter ausführen, wieviel Illusion wohl in dieser moskowitischen Theorie liegt. Sicher ist, dass sie zahlreiche, intelligente, aufrichtige Anhänger hat, und in dem Interesse des Volks wie des Herrschers wäre es wünschenswrcrth, sie praktisch zu erproben. Wie chimärisch uns auch eine solche Combination erscheine, so ist sie doch für die Autokratie die einzige Möglichkeit, sich zu verjüngen und ihr Dasein zu verlängern. Misslänge der Versuch, so hätten weder Kussland noch der Zar dabei etwas zu verlieren. Kann die locale Selbstverwaltung nicht ausgedehntere Freiheiten schaffen, so kann sie doch auf solche vorbereiten und deren Vorenthaltung weniger empfindlich und schädlich machen. In jedem Falb1, welches auch der von der Regierung verfolgte Weg sei, ob Hussland noch lange in den bescheidenen provinziellen und municipalen Freiheiten verharre, oder ob es in den geräuschvollen Strom politischer Freiheiten gezogen werde, so bleiben doch die Landstände — mit mehr oder minder Veränderungen — die natürlichen Organe der Gesellschaft und des J) Diese Behauptung wird mit entschiedenem Talent von Aksakow und seinen Freunden in der Russ verfochten; so z. B. No. 26, 1881. Öffentlichen Lebens. Die Semstwo ist der Kokstein aller künftigen Institutionen des Reichs; was Vernünftiges und Dauerhaftes gebanl werden soll, kann allein auf diesem Fundamente ruhen. Viertes Kapitel. Die Städte und die Stadtverwaltung. — Einfluss und Gegensatz der beiden Hauptstädte. Die Ueberführung des Regierungssitzes von Petersburg nach Moskau. — Die Stadtverwaltungen haben eine ganz andre Organisation, als die Landgemeinden. — Gründe dieses Unterschiedes. — Einführung des Censufl In die städtischen Wahlen. — Wählerclassen und Interessenvertretung. — Resultate des bestehenden Wahlmodus. — Gleichgültigkeit und Wahlenthaltung. — Vorwiegen der Kaufleute in der Verwaltung, — Missbräuche und Bestechlichkeit. Das Gesetz, das die Selbstverwaltung der Städte regelt, ist jünger als dasjenige, welches die Selbstverwaltung der Landgemeinden und Gouvernements einführte. Die Organisation der Landstände ging der der Stadtverwaltungen voran. Der Grund hiervon ist einfach; er liegt 'n der kleinen Zahl und in der Armutb der russischen Städte. Physikalische, ökonomische, historische Ursachen haben in Kussland die Bewegung aufgehalten, die bei allen modernen Völkern nach An-^mmlung der Bevölkerung in Stadtgebieten strebt1). Die verhältniss-niässige Seltenheit und Kleinheit der russischen Städte dürfen deren Bedeutung nicht misskennen lassen; in gewisser Beziehung ist ihre Dichtigkeit sogar grösser, als im Westen. In diesem ausgedehnten, geschlossenen Lande, das erst vor so kurzer Zeit von der europäischen Zivilisation colonisirt ist, erscheinen die Städte als die natürlichen Heerde der modernen Bildung. Mehr als in irgend einem andern ^nnde vertreten sie das Prineip der Bewegung, der Initiative, des l'urtsehritts, und sie haben um so mehr zu schaffen, je schwerer die l^ast des flachen Landes ist, die sie sich nachschleppen müssen. Wenn au-ch nach Bevölkerungszahl, Bildung, Lebensweise der Mehrzahl ihrer wohner viele Kreis- ja selbst Gouvernementsstädte die Bezeichnung oiner Stadt wenig verdienen, so besitzt Russland doch ausser seinen beiden Hauptstädten einige grosse Provinzstädte, wie Odessa, Kiew. ') S. Bd. 1, Buch V, Kap. II. Gegenwärtig gehören die grossen russischen Städte, besonders Moskau und Odessa zu denjenigen, in denen die Bcvölkerungs-% er ai» raschesten wächöt. — INS — Kasan, Charkow, die ein weites Gebiet für ihron Einfluss haben und in Wirklichkeit Regionalhauptstädte sind. Obgleich die russischen Städte nur den neunten oder achten Theil der Gesammtbevölkerung des Reichs in sieh zählen, so dürfen sie doch den Anspruch erheben, dass sie den Geist des Landes personificiren und die allgemeine Meinung machen. Darum können wir die Leute nicht begreifen, die aus Furcht vor den revolutionären Umtrieben seit dem Tode Alexanders Fi. eine ganz bäuerliche Politik predigen. Nirgend in der Welt gilt die Meinung des Hachen Landes weniger. In dieser Beziehung könnte man sagen, ganz Russland sei in etwa zehn Städte zusammengedrängt, die mitten in der Vereinzelung und allgemeinen Stille allein eine Gesellschaft und allein eine Stimme haben. Man müsste vielleicht gar sagen, ganz Russland sei in seinen beiden Hauptstädten. In jedem centralisirten Lande übt die Hauptstadt eine beträchtliche und oft übertriebene Macht über die Geister und Sitten der Nation aus. Durch die starke Anziehungskraft einer einzigen Stadt droht die Centralisation in eine Art von Hypertrophie des Haupts auf Kosten der Glieder überzugehn. in Russland übt die Hauptstadt keine geringere, keine bedingtere Gewalt aus, als Paris in Frankreich J aber in Russland ist diese Herrschaft eine doppelte. Die Macht der Hauptstadt ist zwischen zwei rivalisirenden Städten getheilt, die um den Einfluss streiten. Wie der Adler im russischen Reichswappen, hat Russland zwei Köpfe von annähernd gleicher Bedeutung. In keinem andern Einheitsstaat giebt es zwei Städte1), die eine so wichtige Stellung einnehmen und sich so im Gegengewicht halten. Wenn die eine die ofücielle Hauptstadt ist, kann die andre sich rühmen, immer noch die natürliche Hauptstadt zu sein; geniesst die eine den Vorzug, der Sitz der Regierung, des Hofes, der Ministerien, d,000 bis 700,000 K. zählen, Petersburg besass nach üer Zählung vom Dec. 1881 861,020 Seelen, von denen 475,000 männl., nur 386,000 weibl. Geschlechts. (Anm. des Uebersetzers; Die leizte für Mockau angeordnete Volkszählung misslang; für Petersburg ergab die Zählung von 1881 nach Mittheilungen des Prof. Jansson in der kais. russ. geographischen Gesellschaft vom 11. Jan. 18Ht in der Stadt allein 861,303, in der Stadt mit den Vorstädten 928,016 E., von denen nur 252,047 in Petersburg geboren, die (ihrigen dort eingewandert waren.) — ISO — gerichtet sind, die heilige, die Mutterstadt Der Russe nennt Moskau das „Mütterchen Moskau", ..niatuschka Moskwa". Und wenn Moskau &uch seit anderthalb Jahrhunderten verlassen, eine Art slawischen Roms oder Jerusalems geworden ist, so ist es doch keineswegs nur eine entthronte Königin, noch eine in Trauer und Erinnerungen versunkene Witwe. Es ist nicht allein die Stadt der Vergangenheit, der Bojaren und Altrussen: in seinem Handel und seiner Industrie bat Moskau einen Reichthum und eine Jugend, eine Macht und ein Königthum wiedergefunden, die ihm keine Gewalt nehmen könnte. Wenn das ausgedehnte Oanalnotz des Reiches auf die Newa hinausläuft und Petersburg zum Haupte und Lndpunct des Flusssystems macht, so haben die langen Bahnlinien, die Finland mit dem Kaukasus und Polen mit dem Ural verbinden, ihren Mittel- und Knoten-pnnet in Moskau und machen dasselbe zum natürlichen Stapelplatz, z"m Emporium für das innere Hussland. Wie die beiden Köpft; des Reichsadlers scheinen die beiden rivalisirenden Städte nach entgegengesetzten Richtungen gewandt, die e*ne <•■,.,, Westen, die andre gen Osten, die eine nach aussen, die andre nach innen. Mit seinen classischen Baudenkmälern und seinen pfeilergetragenen Palästen, mit seinen holländischen Canälen und ltalienischen Säulengängen, mit seinen breiten, fächerartig auslaufenden Perspectiven ist Petersburg, die Stadt mit deutschem Namen im finnischen Sumpf, eine ganz westliche, ganz moderne, ganz europäische Stadt; es ist das lebendige Bild der Regierung, die es gegründet hat, 'he würdige Hauptstadt einer Dynastie, deren Beruf es ist, das alte -^loskowien zu europäisiren. Petersburg ist nach dem Worte des Dichters das Fenster, durch welches das Licht des Westens in das ""geheure Reich dringt: mehr noch: es ist der Spiegel, der die Strahlen Kuropas sammelt, um sie über Russland leuchten zu lassen. Moskau \<\ die Stadt der Erinnerungen und der Ueberlieferungcn gerieben: es ist der Zulluchtsort der russischen Sitten und der An-"liehe auf slavisehe Eigenart, es überlässt der Residenz an der Newa gern, was es den Petershurger Kosmopolitismus nennt, Mit 8©inem Kreml, dessen gothische Ringmauer mit ihren spitzbogigen Phürmen goldküppelige byzantinische Kirchen umschliesst, mit seinen v,'isohiedenen Gorods oder Stadttheilen, die wie concentrische Ringe 111)1 den alten steinernen Kern sich legen, mit seinem Gürtel von Klöstern, die wie detachirte Forts rings um die orthodoxe Metropole 81cb hineinziehn-. Moskau fühlt sieh immer als das Herz Russlands: 's isl stolz auf seine Vergangenheit und will sein selbst bleiben, auch *enn es Fremdes nachahmt; es wachl eifersüchtig auf seine Nationa- lität und setzt was darein, alles Russische und Slavische zu preisen und geringzuschätzen, was vom Westen kommt, was romanisch oder germanisch ist. Geist und Kinlluss dieser beiden Hauptstädte sind eben so verschieden, wie ihre Geschichte und ihre Denkmäler. In ihnen gewinnen die beiden Richtungen Gestalt, die seit Peter dem Grossen um Russland ringen, die beiden Genien, die, den allegorischen Gestalten des Dichters vor dem jugendlichen Herkules ähnlich, dem jungen Russland zwei entgegengesetzte Wege weisen. Für das Wohl des Reichs und für die Ruhe der Welt wäre es wünschenswert!], dass diese beiden rivalisirenden Einflüsse sich immer ein Gegengewicht hüten, dass Petersburg und Moskau sich die Wage hielten, dass das eine den Triumph der liberalen und fortschreitenden europäischen Civilisation sicherte, das andre aber den werthvollen Schatz der Nationalität wahrte. In den letzten Jahren hat der Geist Moskaus wiederholt das Uebergewicht erhalten. Moskau war es, das das russische Volk zu Gunsten seiner Brüder am Balkan aufrief, als in der Stadt Peters des Grossen noch fast Niemand an Bulgaren und Serben dachte. Moskau ist von je der Sitz der Slavophilen und Panslavisten gewesen, wenn es in Russland Panslavisten giebt; Moskau lenkt bei jeder Gelegenheit die Sympathie, wenn nicht den Ehrgeiz der Russen auf den Südosten von Europa, auf jene slavische Welt, die es wie seine eigene Welt betrachtet, und als deren Centrum es sich selber ansieht. Im Jahre 1867 vereinigte Moskau in seinen Mauern einen Congress von Slaven aller Lander, und es bewahrt als Erinnerung daran ein ethnographisches Museum, in dem alle zerstreuien Glieder der grossen slavischen Völkerfamilie in ihrer Volkstracht dargestellt sind. Eines Tages beschloss die Moskauer Stadtverwaltung, eine Glocke nach Prag, dem tschechischen Moskau, zu senden, und neuerdings trat die alte Hauptstadt an die Spitze der russischen Zeichnungen für die serbischen Freiwilligen. Auf dem Kreml war es ferner, wo Alexander II. unter den Beifallsrufen eines ganzen Volkes den Slaven des Balkans feierliche Versprechungen gab. Moskau kann sich rühmen, an dem letzten Orientkriege und an der Beunruhigung Europas weitgehenden Antheil gehabt zu haben. Jedes Mal, wo Russland einer nationalen Regung nachgiebt, kann man dessen sicher sein, dass der Anstoss dazu von Moskau kommt, und der Kinlluss der alten Metropole wird sicherlich nur dahin wirken, die politische Entwicklung der Nation zu mehren. Die Bomben, die in den Strassen Petersburgs den Befreier der Leibeigenen niederwarfen, haben Moskaus Stern mächtiger, als je gemacht. Der Kaiser Alexander IH. hat immer den Stimmen aus der alten Hauptstadt williges Ohr geliehen, und mehr als ein Conser-vativer hat schon vorgeschlagen, der Newaresidenz zur Strafe dafür, dass sie mit dem Blute des „Märtyrerzaren" besprengt wurde, den Sitz der Regierung zu nehmen und den Kaiser in die Stadt der Joanns, in den Schutz der zinnengekrönten Mauern des Kreml zurückzuführen. Moskau, so sagen dessen Lobredner, ist in allen Dingen Riter (volkstümliche Abkürzung für St. Petersburg) überlegen; es hegt mehr im Mittelpunct, ist gesünder, ist weder den Nebeln der Ostsee, noch den späten Thauwinden des Ladogasees ausgesetzt; es bat sich nicht, wie dies nordische Palmyra, an die Grenzen einer Einöde verloren, ist nicht in Gefahr, von den Gewässern der Newa überüuthet zu werden, die der Westwind und die Wellen des Golfs zurückstauen. Moskau ist an Temperament und Traditionen so conser-vativ, wie national, während Petersburg durch seine Entstehung, «eine Geschichte, seine Lage an den Thoren Europas so revolutionär, wie kosmopolitisch ist. Die Hauptstadt konnte an den Ufern der Newa bleiben, solange Moskau und Hussland noch halbasiatisch waren, solange das Reich noch nicht durch Eisenbahnen mit Europa verbunden war, sondern nur durch die Ostsee und die Kanäle der Wolga mit der westlichen Civilisation commvmicirte. Jetzt hat Petersburg aufgehört, die natürliche Vcrmittelung zwischen Russland und Europa 2n- sein; seine historische Rolle ist ausgespielt. Die Stunde ist gekommen, die „Petersburger Periode" zu schliessen und im Herzen des ■Reichs eine neue moskowitische Periode zu beginnen, die zugleich der Bureaukratie nach deutschem Muster entledigt und frei von der Evolutionären Ansteckung sein wird. In allen Betrachtungen dieser Art sind Wahrheit und Irrthum ^'•niischt. Um in Verbindung mit Europa zu bleiben, bedarf Russ-land Petersburgs nicht mehr; man könnte das von Peter dem Grossen geöffnete „Fenster" schliessen und vermauern, ohne die europäische Zivilisation im Reiche zu schädigen. Aber sich einbilden, durch Entfernung der kaiserlichen Residenz nach dem Osten hin den Thron vor Evolutionären Anschlägen zu schützen, das wäre ein leerer Wahn. Dergleichen Ideeen entstammen dem Hange vieler Russen, den Grund der inneren Verlegenheiten auswärts zu suchen. Da sie die Schuld lln den politischen Attentaten nicht dein Auslande zuschieben können, Wälzen gewisse Patrioten sie der neuen Hauptstadt, dem „Petersburger Rnssland", das halb entnationalisirt ist, dem Kosmopolitisniiis und 'hu- europäischen Corruption zu, die lange schon die neblige Atnio-BPhäre der Newa verderben. Sie vergessen die Explosion in Moskau uml reden sich ein, dass man den Zar nur in den Schatten des Iwan Weliki zu stellen brauche, um ihn vor Verschwörungen zu schützen, als hätte die Luft an der Moskwa die Kraft, politische .Miasmen zu verzehren. Die Bevölkerung Moskaus ist. im Ganzen genommen, censervativer, mehr dem Kaiser ergehen, als die Petersburgs, obgleich die niederen Classen in Petersburg in ihrer weit grössten Masse dem Zaren ebenso treu sind: aber im Gefolge der Regierung und der Verwaltungsbehörden würden auch die revolutionären Elemente nach Moskau ubersiedeln, von wo aus ihre Thätigkeit leicht auf das Innere lies Reiches wirken könnte. Diesen Punct lassen die Parteigänger Moskaus aus dem Auge und nicht ihn allein. Schon jetzt fast ebenso bevölkert, wie St. Petersburg, schon jetzt die commerzielle und industrielle Hauptstadt Russlands, würde Moskau, wenn es wieder politische Hauptstadt würde, mit unerhörter Geschwindigkeit wachsen. Ks würde in weniger als einem halben Jahrhundert eine von den Grossstädten der Welt werden. Die Bevölkerung würde sich schon durch ihr Wachsthum selbst verändern. Russland hätte nur noch Bin Haupt, und in dem Augenblick, wo eine Revolution in Moskau möglich würde, wäre sie es auch für Russland. So scheint für Denjenigen, der die Zukunft ins Auge zu fassen weiss, die Verlegung der Residenz nach Moskau weit davon entfernt, ein Schutz für das Land und die Dynastie zu sein. Dennoch kann diese leberführimg vielleicht einmal geschehen. Verschiedene Erwägungen können zu gegebener Zeil die Regierung und das Kamt dahin drängen; aber viele öffentliche und private Interessen setzen sich dem entgegen. Die Aufgebung Petersburgs würde die einflussreichsten Familien der hohen russischen Gesollschaft halbwegs ruiniren. Für die Regierung selbst und das kaiserliche Haus wäre der Wechsel der Residenz eine der theuersten Unternehmungen, denn der Zar kann nicht durch einen Ukas all seine Schlösser und Ministerien von Petersburg nach Moskau übertragen, noch sieh seine prachtvollen Luftschlösser von Zarskoje, Perterhof und Gatschina folgen lassen. Wenn Städte so grossen Kinlluss auf ein Volk üben, wäre es schwer, den Versammlungen, welche sie vertreten, keine Bedeutung beizulegen. Goch sind zur Zeit diese Stadtverwaltungen keineswegs im Rositz des moralischen Anselms, das in einem noch aller politischen Vertretung entbehrenden Lande die gewählten Repräsentanten der Städte gemessen müsston. Dieser zu Tage tretende Widerspruch entspring! zum Theil aus den Sitten, zum Theil aus der Städteordnung und aus der Zusammensetzung der Stadtverordnetenversammlungen, die noch nicht als eine wirkliche und vollständige Vertretung aller Interessen und aller Stände erscheinen. In den Landständen oder Semstwos berathen die Delegirten der verschiedenen Volksclassen gemeinsam, aber jede Classe hat ihre besonderen Vertreter. Bei (hui städtischen Verwaltungen ist es anders. Jederlei Standesunterschied ist bei den Wählern wie bei den Gewühlten verwischt; die mit der Geschäftsleitung der Stadt betrauten Männer sind nicht Delegirte einer bestimmten Classe, sondern Gewählte der Stadt ohne Unterschied der Kaste oder des Berufs. Ein Boleher Gegensatz in zwei, fast gleichzeitig geschaffenen Institutionen kann nur Diejenigen überraschen, welche Gewohnheiten und Verfahren der russischen Regierung nicht kennen. Er ist nur ein neues Beispiel der zusammenhanglosen und fragmentarischen Art, in welcher die zahlreichen Reformen Alexanders II. vorbereitet und ausgeführt sind. Nichts war ihnen weniger eigen, als systematischer Geist und einheitlicher Grundplan. Sie mögen Schwestern und gleichen Alters sein, aber als Töchter desselben Vaters erscheinen diese neuen Institutionen aioht, so sehr fehlt ihnen der gemeinsame Familienzug. Unter seineu beiden grossen Reformatoren, unter Alexander IL, wie unter Peter dem Grossen, macht das russische Volk uns oft den Eindruck als ob ('s Experimenten unterworfen sei. Russland besitzt so zwei verschiedene Arten von Vertretung, die es gleichzeitig Probe bestehen '&8st. Ks wäre voreilig, entscheiden zu wollen, welches von diesen beiden Systemen den Sieg davon tragen wird, wenn dereinst das autokratische Reich zu politischen Wahlen gelangt. In mehreren Ländern, namentlich in Frankreich, sind die städti-s'dien vniil die ländlichen Gemeinden nach derselben Grundform 0rganisirt, als wenn sie sich nur nach ihrer Ausdehnung und der Bewohnerzahl unterschieden. In Russland ist es anders, und in keinem Lande ist eine solche Verschiedenartigkeit besser berechtigt. Zwischen Städten und Dörfern, zwischen städtischen und ländlichen Gemeinden besteht in allen Stücken ein Gegensatz. Während die letzteren das ausschliessliche Gebiet einer Classe, das besondere Gebiet des Bauern bleiben, sind die städtischen Gemeinden allen gesellschaftlichen Ständen ohne Unterschied geöffnet. In Russland hat die Verschiedenartigkeit ^Organisation ihren Hauptgrund in der Verschiedenheil der Bodenbesitzform. In den Städten giebt es nicht, wie auf dem Lande, zwei v,,rschiedene Arten von Grundeigenthum, noch einen Stand, der vom ( '»nimunalhesitz lebt und auf ihn ein ausschliessliches Recht hat. '" den Städten unterscheiden sich die Einwohner nur durch den Grad Vermögens und der Bildung von einander: da sie nicht durch Ji«r»j - it « au 11 ■ u, a«lofa lle, die Stallte des alten Moskowiens noch unter sich ihre Steuern; dem ^ "jewuden war es verboten, über ihr Vermögen zu verfügen, "der sieh in ihre ™ »bleu einzumischen. ') Im Jahn 1840* unter Nikolai 1. hatte schon ein von N. Milutin au.sge-:"'"'üetes Statul in liberalen] sinne «Iii* Verwaltung Petersburgs umgebildet, und dieser erste Versuch municipaler Autonomie hatte den Widerstand des ^•hinowniktl iiims hervorgerufen. S. In liomme dEtat u. 8. w. a) Die Verwaltung der 3 grossen Städte hat gewisse Eigenthümlichkeiten '"'W;'lnt. Noch ist das (leset/, nicht überall eingeführt. In den Städten der O*taeeprovincen gilt es seit 1878; das Königreich Polen und mehrere Städte der Westlicher» Provinzen Indien noch keine Stadtverordnetenversammlungen. 13* selben Rechte linden sich in bescheidenerem Masse bei den übrigen Ständen: alter die Versammlungen dieser machen wenig von sich reden. Man beschränkt sich in denselben auf Angelegenheiten, welche die eigene Genossenschaft betreffen. In einem Lande mit grösserem politischen Leben und grösserem Eifer der Bürger, sich aller ihnen belassenen Einflussmittel zu bedienen, könnte eine solche, fast hundertjährige Einrichtung den verschiedenen Gruppen der Bevölkerung zugleich grösseren Zusammenhalt und grössere Kraft verleihen. In Russland geschieht das nicht; der Rahmen einiger dieser Corporationen ist übrigens ganz künstlich und schon veraltet. Weit entfernt davon, Staaten im Staate oder Städte in der Stadt zu bilden, begnügen sich die Verbände der Kaufleute, der Kleinbürger und der Handwerker gewöhnlich damit, Unterstützungen für ihre nothleidenden Mitglieder uder Leistungen zu patriotischen Sammlungen zu bewilligen. Statt sie zu fürchten, bedient sich die Verwaltung ihrer als eines bequemen Werkzeugs, um administrative Verordnungen über Handel und Gewerbe zur Ausführung bringen zu lassen J). Wie sie jetzt bestehen, können diese Corporationen ohne eigenes Leben Keinem Besorgniss erregen; ihrer Ungefährlichkeit und Bedeutungslosigkeit haben sie ihr Fortbestehen zu danken. An die Stolle der Vertretung durch Classen und Corporationen hat das Statut von 1870 die Vertretung des Eigenthums und der Interessen gesetzt. Die städtischen Steuern verleihen das Wahlrecht bei den städtischen Wahlen. Jeder Grundbesitzer, jeder Eigentümer oder Leiter eines gewerblichen oder commerciellen Betriebes, jeder Inhaber eines Patents, das zu Gunsten der Stadt besteuert ist, ist Wähler. Wie in England und wie in den Landesversammlungen können die Krauen durch einen Bevollmächtigten an den Wahlen 1 heil nehmen. Ist das Wahlrecht auch auf die Stcuerrolle gestützt, so giebt es doch im eigentlichen Sinne des Worts keinen Wahlcensus. kein gesetzlich bestimmtes Minimum der Steuer: Die russischen Städte sind so verschieden an Wohlstand, viele von ihnen sind so arm, dass es schwer gewesen wäre, für alle ein gleiches Mass zu linden, oder auch nur eine Stufenleiter festzusetzen. So hat man ein anderes System gewählt. Jede zu Gunsten der Stadt erlegte directe Steuer ertheilt den Stadtbewohnern das Wahlrecht, aber der ') Jedes Handwerk, das eine zech, Innung, bildet hat einen gewählten Starschi, Aeltermann, und alle Aeltcrmänner wählen einen Aeltesten, renies lennüi golowii, der die Ausführung der zahlreichen Verordnungen über die Arbeit, da« LehrlingsweHen u. s. w. zu überwachen hat. Antheil der Wähler an der Wahl ist ein sehr verschiedener. Die Steuerpflichtigen sind nach der Höhe ihrer Steuerzahlungen geordnet, die Höchstbesteuerten vornan in die Wählerlisten eingetragen. Sind die lasten hergestellt, so werden die Wähler in drei Classen getheilt, von denen jede zusammengenommen die gleiche Steuersumme zahlt und eine gleiche Zahl von Vertretern wählt. Jeder Wähler ist in jeder der drei Classen wählbar. Die erste Classe, die der Höohstbe-steuerten, wählt ein Drittel der Glieder der Stadtverwaltung, die mittlere das zweite, die dritte Classe, die der Mindestbesteuerten, das letzte Drittel. Der Unterschied liegt also in der Zahl der WTähler jeder Classe. Da jede der drei an Zahl durchaus verschiedenen Kategorieen auf die gleiche Zahl von Vertretern ein Recht hat, so besitzt natürlich die Stimme jedes Gliedes der ersten Classe weil mehr Gewicht, als die eines Gliedes der zweiten oder gar der dritten. 5al auch jede Gruppe die gleiche Vertretung, so haben die Niedrigst-besteuerten persönlich doch im Verhältniss zu den Höchstbesteuerten 1UT einen ganz geringen Theil an der Abstimmung l). Diese Theilung der Wähler in drei Gruppen kommt sonnt auf 'nif Art stufenweisen Wahlrechts nach der Besteuerung und dem Vermögen heraus. Russland hat dieses System Preussen entlehnt. w<> dasselbe für die Wahlen zum Landtag, wie zur Stadtvertretung ln Geltung ist, und Preussen hatte wiederum bei seiner Einführung die alten römischen Ccnturien im Auge. Diese Form der verhältnissmassigen Interessenvertretung zählt überall Anhänger: auch in Frankreich ist sie in den Commissionen der alten Nationalversammlung a's (hls beste Mittel gepriesen worden, die Uebermacht der Majorität zi> beschränken, ohne das Wahlrecht dem Linzeinen zu nehmen. En Frankreich würde aber nach der langen Handhabung des „suffragi universel" jeder Versuch, die Wähler in verschiedene, aufsteigende blassen zu theilen, gegen das lebhafteste, empfindlichste Gefühl des Landes, gegen die Gleichheit Verstössen2). Auch in Russland, wo ') 187o* ergaben die Wählerlisten in Petersburg 224 Wähler 1. Ct., 887 VV. G. OL und 17,471» W. III. Gl. So wog eine Stimme der ersten soviel wie 4 der zweiten und 80 der III. ('lasse. 2) Dies ist der Grund dafür, dass alle Vorschlag« in diesem Sinn in den ' ""unissionen der Nationalversammlung verworfen wurden, trotz des offen ans gesprochenen Bestrebens, das französische Wahlsystem zu relbrmiren. „Die Einwohner derselben Stadt muh ihrem Vermögen in (Massen Iheilen, in denselben Wahlkörpern die Gewählten einiger Reichen und die Gewählten der grossen Mehrzahl zusammen tagen lassen, das schien Alles zu übersteigen, was unsre Sitten mit sich bringen". Batbie in einem Bericht vom 21. Mai 1874. doch die Eintheilung nach Rangstufen das Älterthum und die Gewohnheit für sich hat, war die öffentliche Meinung einer solchen Classi-ficirung der Wähler abgeneigt. Die Presse hob hervor, dass mit Hülfe dieser drei Kategorieen die Städteordnung mittelbar die ständische Scheidung wieder einführe, welche sie ofliciell aufhebe und die Städte denselben Einflüssen unterwerfe, wie das frühere Gesetz. Der ganze Unterschied liegt darin, dass die Wähler nicht mehr nach Geburt oder Beruf, sondern nach dem Vermögen classilicirt werden; aber gerade diese Neuerung hat vor dem öffentlichen Urtheil keine Gnade gefunden. Man wirft diesen Censusclassen vor, dass sie ein wu<^ Prineip, ohne Präcedens in der nationalen Geschichte, ohne innere Berechtigung in den wirtschaftlichen und politischen Bedingungen des Landes in das russische Leben einführen. Man beschuldigt sogar diese conservative Vorsichtsmassregel, dem Zwecke des Gesetzes mitunter direct entgegenzuwirken, indem sie die höhern gesellschaftlichen Einflüsse isolirt und die weniger gebildeten und weniger an der Ordnung interessirten Classen sich selbst überlässt. Nach der Meinung mehrerer Publicisten würde ein solches System, wenn es triumphiren und weitere Anwendung erfahren sollte, für die Zukunft zu einer ernsten Gefahr werden, da ein Classenkampf zwischen Kapital und Arbeit daraus entstehen könnte Wie bei den Landständen tritt jede Wählerclasse in einer Wahlversammlung zusammen, die unter dem Vorsitz des Stadthaupts die Wahlen öffentlich vollzieht, Gewöhnlich ist der Eifer der Wähler nicht sehr gross und nimmt von der ersten zur letzten Classe ab, die sich mehr oder minder von den beiden andern lahmgelegt fühlt. In der Hauptstadt selbst zählt die Versammlung der Höchstbesteuerten mitunter nur ein Drittel der Berechtigten, die der zweiten ('hisse weniger als ein Viertel, die der kleinen Steuerzahler weniger als ein Zehntela). Eine solche gewohnheitsmässige Enthaltung bewirkt, dass die Gewählten nur die Vertreter einer unbedeutenden Minorität sind. Wenn schon in der Residenz der Eifer so gering ist, was kann denn — so fragt man sich — eine Wahl in den kleinen Städten bedeuten? Die zu- ') S. Golowatschew: Zehn Jahre der Reformen, p. 228, 220. a) Im Jahre 1873 waren beispielsweise 18,590 Wähler in die Listen von St. Petersburg eingetragen. In der ersten Kategorie stimmten bei 224 Wählern nur 86, in der zweiten bei 887 eingeschriebenen Wählern nur 117, in der dritten endlich bei 17,470 Wählern nur 1148, also kaum Vir,- Ueber die letzten Wahlen stehen mir keine zuverlässigen Angaben zu (lehnte, doch glaube ich nicht, dass die Zahlen wesentlich andre sind. gleich primitive und doch, complicirte Weise der Stimmabgebung ♦ rklärt zum Theil die Trägheit der Bewohner in der Handhabung der ihnen gesetzlich zustehenden Rechte. Bei den städtischen Wahlen müssen, wie bei den provinoieUen, alle Wähler der gleichen Classe ohne Rücksicht auf die Zahl soviel Vertreter wählen, als ihrer Gruppe zugetheilt sind. Derartige Wahlen sind um so schwieriger, als das Gesetz unter dem Vorwande, den Ernst und die Freiheit der Wahl zu sichern, weder vorbereitende Versammlungen noch Wahlcomites, noch Discussionen in den Wahlversammlungen gestattet1). WTie gross kann die Verwirrung bei einem wichen Scrutinium sein, da in einigen Städten, wenigstens in Petersburg, jede Classe und somit jeder Wähler mehr als achtzig Delegirte zu wählen hat! Man weiss, was eine Listenwahl bedeutet, wenn soviel Namen in Frage kommen: die Stimmen zersplittern sich ganz willkürlich; die Wähler bleiben vor einer solchen Reihe von oft unbekannten Namen gleichgültig oder scheuen die Arbeit der Aufstellung einer so langen Liste. Die Classe der HÖchstbesteucrlen, die wenig Glieder zählt, lässt sieh gewöhnlieh von Fanülieneinilüssen und persönlichen Beziehungen bestimmen. Die der Mindestbesteuerten, die trotz aller Wahlenthaltungen noch zu gross bleibt, wird eine Beute der Unordnung und Verwirrung. So verbinden dieselben Wahlen zwei entgegengesetzte Mangel. Da die Zahl der zu wählenden Verordneten sehr gross ist, «ifl der Wählenden verhältnissmässig klein bleibt, zeigt sich in diesen städtischen Comitien dieselbe Erscheinung, wie in den Versammlungen der Grundbesitzer zu Provinzialwahlen. Es kommt mitunter vor. dass Wenigstens in der ersten Classe ebensoviel Wahleandidaten wie anlesende Wähler sind. So hatten sich 187:1 in Petersburg in der Classe der Höchstbesteuerten 86 Wähler versammelt, um 8-1 Stadtverordnete zu wählen. Wenn in den andern ('lassen das Fernbleiben v"o der Wahlurne nicht genügt, um diese absonderliche Gleichheit zwischen Wählern und Gewählten zu Stande kommen zu lassen, so Z('igt sich dort eine nicht weniger überraschende Erscheinung. Es bnden sich oft mehr vorgeschlagene Candidaten, als an der Abstimmung teilnehmende Wähler2). Das erklärt sich aus der That- ') Anm. des Uebersetzers. Durchaus verboten sind die Vorversammlungen "u'ht, doch bedürfen sie der Genehmigung des Gouverneurs. Oandidatenlislen dürfen unter der gleichen Bedingung veröffentlicht werden. Daraus erklärt sich die verschiedenartige Handhabung des Wahlrechts in verschiedenen Städten. 2) In demselben Jahre 1873 waren in St. Petersburg in der ersten Classe in der zweiten 208, in der dritten 1010 Candidaten eingetragen, so dass sachc, dass es im Gnuide keine Candidaten giebt. dass die Namen der anwesenden Wälder unter die Stimmzettel gesetzt werden müssen, und dass eine gewisse Anzahl von Namen Abwesender hinzugefügt wird. Die Wähler jeder Kategorie würden gewiss mehr Kii'er zeigen, wenn sie nicht zu einer einzigen, grossen Versammlung zusammen-oethan, sondern in besonderen nach den Stadttheilen getrennten Versammlungen stimmen würden. Die Vertretung nach Stadttheilen. wie sie in andern Ländern üblich ist, könnte mit Nutzen an die Stelle der Grurtpenordnumi der Steuerzahler gesetzt werden. Sie hat überdies nichts, was dem Buchstaben oder Geiste der jetzt bestehenden Classenwahl widerspräche. In allen etwas grösseren Städten scheint wenigstens für die zweite und insbesondere für die dritte Classe, die mehrere tausend Wähler zählen kann, eine solche Theilung anentbehrlich. Durch Beschränkung der Wahlversammlungen, durch Herbeiziehung einer grössern Zahl von Wählern und durch Serabsetzung der Zahl der Wahlen würde man den Werth des Scrutiniuma nur heben. Das wäre eines der einfachsten Mittel. das öffentliche Interesse den Wahlen zuzulenken. Besonders in den grossen Städten, namentlich in den beiden Hauptstädten, deren verschiedene Quartale wie ebensoviel Städte mit besonderer Einwohnerschaft, besonderem Charakter und besonderen Interessen betrachtet werden könnten, vermag eine einzige Liste nicht eine wirkliche und vollständige Vertretung zu verbürgen. Für so ausgedehnte und oft so verschiedenartige Agglomerate ist es schon genug, dass sie eine einzige Verwaltungsbehörde haben. Die kaiserliche Regierung, die einen steten Hang nach Experimenten zu hegen scheint, hat unter Alexander III. einmal in der Hauptstadl den Versuch der Wahlen nach Stadtbezirken gemacht und zwar in vollkommener Cnabhäiurigkeil von den Bestimmungen der Städteordnung Alexanders II. Das geschah in Anlass einer berathenden Commission, die im März 1SK1 dem Polizeichef beigegeben wurde. An dieser Wahl war Alles neu und unerwartet, der Modus der Wahl, wie die Art der Stimmensainmlung. Kein Unterschied der Classen. der Hoch- und der Niedrigbesteuerten, der Patentirtcn und der Nicht-patentirten. Die Wahl wurde nach Bezirken vollzogen, und alle Grundbesitzer und Miether der Stadt waren Wähler. Das Scrutinium hatte nur zwei Grade. Das war einfach und liberal und konnte allen frühem die (iesanmitzahl der Candidaten llööö die Zahl der dir Waldrecht ausübenden Wähler (1411) überstieg. Wahlformen gegenüber als ein Fortschritt begrüsst werden. Leider verdarb die Weise, in welcher bei der Wahl vorgegangen wurde, Alles. Man hätte sagen können, dass bei diesem neuen und vorübergehenden Collegium die kaiserliche Regierung sich bemüht ha he, die allen russischen Wahlen innewohnenden Mängel noch besonders hervortreten zu lassen, noch besonders zu übertreiben, nämlich den Mangel an Oeffentiichkeil und Vorbereitung, den Mangel an Verständigung unter den Wählern, den Mangel an einer Candidatenlistc und somit die Zufälligkeit des Ergebnisses. Am ld. März 1881 alten Stils veröffentlichte der Regierungsanzeiger einen vom Tagt1 vorher datirten Krlass, welcher die Bildung eines Polizeiraths anordnete und den Wahlmodus vorschrieb. Dem Erlass war eine Kundgebung des Ober-polizeimeisters beigefügt, welche die Wahlen für denselben Tag ansetzte uml die Einwohner aufforderte, am Nachmittag zu Hause zu bleiben, um die mit der Kinsammlung der Stimmen von Haus zu Haus beauftragten Commissäre zu erwarten. An demselben Tage von Uhr Nachmittags bis Mitternacht durchliefen Polizeicommissare und Quartaloffiziere die Häuser und Wohnungen der 228 Bezirke Petersburgs und trugen, dem kaiserlichen Ukase entsprechend, die Wahlen der Einwohner, jede Wahl mit dem Namen des Wähleis unterzeichnet, in ihre Listen ein. Das Wahlprotocoll wurde in der Nacht aufgestellt; die 228 Wahlmänner des zweiten Grades, einer für jeden Bezirk, wurden durch den Telegraphen zusammengerufen und schritten am 20. .März früh in offener Sitzung zur Bezeichnung von 50 Candidaten, unter denen der Kaiser die 25 wirklichen Glieder des neuen Collegiums wählte, die unmittelbar darauf von dem Oberpölizeimeister versammelt wurden '). In zwei Tagen war dieses Collegium geschaffen, gewählt und einberufen: es tagte schon, noch bevor alle Einwohner der Residenz von seinem Bestehen etwas erfahren hatten. Lm solch ''inen Gewaltstreich auszuführen, bedurfte es einer autokratischer Regierung, welche die Wahlen anbefehlen kann, wie eine Volkszählung "der eine militärische Aushebung. Diese erste Schöpfung Alexandeis III., die einer ohnehin complicirten Verwaltung ein neues Bad einfügte, hat übrigens nur ein kurzes und ergebnissloses Dasein gefristet. Von einer l'resse. die sich selber zu schmeicheln liebt und dazu vorurtheilt ist, um ihrer Existenz willen Alles zu preisen, mit lärmenden Loheserhebungen begrüsst, verschwand dieses Collegium, das der Polizei die Stütze und die Controle des Publicums Behauen sollte, nach wenigen Wochen. Die Regierung hat es nicht aufgehoben: sie hat sich damit begnügt. Das Stadthaupt und fünf Stadträthe, die von ihren Collegen gewählt wurden, waren ausserdem Glieder des Collegiums. es nie*h( mehr zusammenzurufen. Der Oberpolizeimeister hatte diese wohlwollende Controle unbequem gefunden. Die Stadtbehörde, die Dach dem System von 1870 gewählt war, ist die einzige Vertretung der Residenz geblieben. Die Reformen Alexanders II. haben den städtischen Institutionen das Leben und die Thatkraft nicht einflössen können, deren sie unter dem frühern Regime berauht waren. Nicht blos. weil die Gesetzgebung die Macht nicht besitzt, den Institutionen Leben einzuhauchen, sondern weil auch mehrere Bestimmungen des neuen Gesetzes die Wirksamkeit desselben stören oder aufheben. Seit der Veränderung des Wahlmodus bat die Städteordnung von 1870 die Zusammensetzung der Stadtverwaltung nicht wesentlich verändert. Einigt1 Städte haben jetzt einen Edelmann oder einen frühern Beamten zum Stadthaupt, aber in fast allen ist das Uebergewicht, wie früher, bei den eigentlich städtischen ('lassen, vor Allem bei den kupzüi, den Kaufleuten, verblieben. In den meisten grossen Städten zählen die Stadtverordnetenversammlungen zwar in ihrem Schosse Vertreter aller Stände, Edelleute and Beamte, Kaufleute und Ehrenbürger, Kleinbürger, Handwerker und Bauern — denn bekanntlich besteht in vielen russischen Städten ein grosser Theil der Arbeiterelasse aus Bauern, die drum nicht aufhören, Glieder ihrer Heimathsgemeinde zu sein. Doch giebt es nur sehr wenige Stadtverwaltungen, wo der Adel, noch heute der gebildetste Stand der Nation, vorherrscht. In der Gesammtzahl der städtischen Wahlen beträgt das Verhältniss der Edelleute kaum 15 bis 20 °/0 J). Ich könnte Stadl Verwaltungen nennen, in denen die nietlern, kaum lesenskundigen Classen, Mosehtsehane, Bauern. Handwerker den Edelleuten und gebildeten Ständen gegenüber die Mehrzahl bilden Ueberau aber ist die Zahl der Kaufleute beträchtlich; in den meisten Versammlungen haben sogar die kupzüi an sieh die Majorität, so dass sie nur einig zu bleiben brauchen . um die Angelegenheiten der Stadt und alle Steuerfragen zu ihren eigenen Gunsten zu entscheiden. Das war nicht der Zweck des Statuts von 1870, das die Stadtverwaltungen der ausschliesslichen Herrschaft der Kaufleute, ') Die 1SSI gewählte Stadtverordnetenversammlung — der Municipalrath Petersburgs — war fblgendermassen zusammengesetzt: 13 Edelleute, <>ö Keanile im Dienst oder im Abschied (beide sind wählbar), 11 Offiziere, 5 Gelehrte, 7 Architekten, ■! Ingenieure, 1 Journalisten, S Medicincr, 2 Advokaten, 94 Kaufleute, 41 Ehrenbürger, 4Kleinbürger u. 3 Handwerker. Die wenigsten Municipal-räthe haben eine so binde Zusammensetzung. der Kupzüi mit dem geriebenen und berechnenden Verstände, wie Ostrowski sie in seinen Komödien so trefflich zeichnet, entziehen wollte, um Leuten von grösserer Bildung den Zugang zu öffnen. Ein Wahlsystem, das dazu bestimmt war, den höhern Classen das Ueber-gewicht zu sichern, ist in vielen Fällen dahin gelangt, die gebildeteren und zur Leitung geeigneteren (Tassen auszuschliessen oder unterzuordnen. In Russland steht thatsächlich die Bildung weniger als irgend anderswo im Verhältniss zu dem Vermögen oder der Verstand im Verhältniss zu der Steuerquote. Dieses Uebergevvicht einer oft noch wenig gebildeten, bisweilen der europäischen Cultur feindlichen ('lasse bezeichnet den Kinlluss, den Handel und Industrie in Russland zu gewinnen beginnen. Man konnte darin einen Beweis von jener Verschiebung des Vermögens und Einflusses zu Ungunsten des alten Adels erkenuen, auf die wir schon wiederholt hinzuweisen Gelegenheit hatten. Die Kaufleute besitzen schon den Einfluss, den der Reichthum überall verleiht. Die Rolle dieses lange gering geachteten Standes kann aber noch mit der Entwicklung der Selbstverwaltung und besonders mit seiner eigenen Ausbildung wachsen. Heute jedoch steht niedrige Bildung der meisten Handeltreibenden vielfach der Achtung und dem Ansehn im Wege, wie sie sonst der Reichthum geniesst'). Wie jedes auf dem Census, also auf dem Besitz und den directen Beuern beruhende Wahlsystem scheint auch das Statut von IS70 übersehen zu haben, dass der Hausbesitzer und der kraft eines Patents bandeltreibende Kaufmann im Grunde nur Vermittler zwischen dem Publicum und dem Staatsseckel, nur Erhober von Steuern sind, die ihnen wenigstens zu einem Theile von den Miethern und Consumenten eingezahlt werden. Ein Gesetz, das nur dem unbeweglichen Besitz "nd dem Handel das Stimmrecht zuertheilt, bat den fehler, viele v'on den zur Leitung der öffentlichen Angelegenheiten tüchtigsten Leuten ausserhalb des Wahlkörpers zu lassen. Da die russischen Städte noch keine Miethsteuer haben, bleiben die Staatsbeamten, Aerzte, Professors, Künstler, Schriftsteller, Militärpersonen, selbst die Rentiers, die meisten Angehörigen der liberalen Professionen ausserhalb des engen Kreises der Wähler3). Durch diese untorbedachte ') Von H5W Immobilien, die Petersburg zählte, besessen KauHcute 1171. Adlige 27u5, Bauern 631, der Rest gehörte Kleinbürgern und andern niedern "tandeo, die gleichfalls in der Regel Handelsleute sind. Golos 1. Juni 1877. a) Anm. des Uebers. Die Städteordnung bietet unter gewissen Bedingungen dir Möglichkeit zur Einführung neuer Steuern, also zur Ausdehnung der Steuer- Ausschliessung sind die meisten Stadtverwaltungen — nach den etwas eifersüchtig klingenden "Worten gewisser russischer Schriftsteller — einer Geldaristokratie oder Plutokratie überlassen, die oft unwissend, unsittlich und intrigant ist r). Auf diese Weise werden die Geschäfte gewöhnlich nicht sowohl im Interesse der Stadt geführt, als in dem Interesse eines Theiles ihrer Einwohner. Die Rücksichten auf den Handel bestimmen alles Uebrige, und in Russland findet man, wie in den Vereinigten Staaten, grosse Städte in den Händen einer Gruppe von Speculanten und Börsenspielern, welche die städtischen Angelegenheiten unbedenklich für sich ausbeuten. Um mit den Städten zu verhandeln, muss man die Beihülfe ihrer gewählten Verwaltung erkaufen. Gegen Ende der Regierung Alexanders II. wrurde die Residenz selbst von einer festen und solidarischen Gruppe verwaltet, die man bedeutungsvoll genug mit dem Namen der „schwarzen Compagnie" (tschornaja sotna) bezeichnete. Unter der Leitung dieser meist aus Kleinhändlern, Rostauratouren oder Kneipwirthon bestehenden Rande war das Petersburger Stadtcollegium zu einer Art von Kaufhaus geworden, wo man in cynisoher Weise die Interessen der Stadt verhandelte. In den Provinzen ist das Uebel kaum geringer aj. Die pflichtigkeit und des Wählerkreises. Dem oben gerügten Mangel der Städte -ordnung hat man in den baltischen Städten dadurch abzuhelfen gesucht, dass eine läcultativc „ läteratensteuer" eingeführt wurde, welche den „liberalen Professionen" die Theilnahme an den Wahlen und den Eintritt in die Stadtverwaltungen ermöglicht. In mehreren russischen Städten soll der gleiche Weg beschritten worden sein, doch muthmasslirh mit anderem Erfolg, da die „Literaten" oder liberalen Professionen in den meisten derselben weniger zahlreich sind und sich weniger interessirt an den öffentlichen Angelegenheiten zeigen. Ueberhaupt gilt die Schilderung im Text nur den russischen, nicht den baltischen Städten. ') Einige Hussen gebrauchen das Wort „Plutokratija" mit Vorliehe, weil es in ihrer Sprache zu einem , für die moskowitischen Oösusse wenig schmeichelhaften Wortspiele Anlass giebt. „Plut" bedeutet: Spitzbube, Betrüger. ;' Anm. des Uebersetzers. Folgendes Beispiel aus der neuesten Zeit möge die Darstellung des Verfassers belegen. In Kiew schlössen am 1. Januar 1884 zwanzig grössere und bessere Restaurationen ihre Locale, weil sie erklärten, bei der hüben Steuer unmöglich bestehen zu können. Die Höhe der Steuer für derartige Locale wird nach der Städteordnung von 1870 in folgender Weise bestimmt: sämmtliche Inhaber von Restaurationen, Gastwirthschaften undTrink-hausern wählen einen Ausschuss, der nach bestem Wissen und Gewissen den Steuersatz für die einzelnen Geschäfte der Art bestimmt. Die Mehrzahl in der allgemeinen Versammlung haben meist die Inhaber kleiner Wirthschaften und Schaaken. So geschah es denn in Kiew, wie schon früher in andern Städten, dass der vertretende Ausschuss nur aus kleinen Kneipwirthen bestand. Dieser meisten Städte befinden sich in den Händen einer wenig scrupulösen Clique; in vielen Kreisstädten ist der Stadtrath kaum mehr als eine Sucoursale der localen Bank, deren Leitung ihre Freunde und Creatoren zu Leitern der Stadt macht *). Ein Mittel, diese schon eingewurzelten Missbräuche zu lu'kämpfen, wäre, durch den Census der sogenannten Capacität Bahn zu schaffen. Es bedürfte hierzu nur einer neuen Steuer, die den grossen Städten besonders Noth thäte, der Micthsteuera). Der Eisens könnte hier das Gesetz ergänzen. Es ist keinesfalls zu wünschen, dass das Wahlrecht vorzeitig auf die niedern Schichten der städtischen Bevölkerung ausgedehnt werde. Nicht etwa weil die russischen Städte ein revolutionäres, der Ordnung und der Gesellschaft feindliches Proletariat in sich bärgen. Trotz der emsigen Propaganda einiger jungen Leute beiderlei Geschlechts, isl doch von dieser Seite aus, von dem untern Volke, noch nichts zu furchten. Die Fehler der städtischen Plebs liegen wo anders: Unwissenheit, Mangel an Bildung, Verständnisslosigkeit für die wichtigsten Ausschuss suchte nun von Jahr /u Jahr die Steuern zu seinen eigenen Gunsten auf die majorisirten Inhaber der grossen liestaurationen abzuwälzen. Der Vorsitzende desselben, ein Besitzer von drei Schänken, hatte es so ermöglicht, dass er vor zwei Jahren 70, vor einem Jahre 60, und in diesem Jahre 60 Rbl. für seine drei Kneipen zahlte. Dem entsprechend stieg die Besteuerung der wenigen grossen Restaurationen auf tausende von Kübeln. Die Einstellung des Geschäfts betriebe« der letzteren hätte allein nicht geholfen. Jener Ausschuss bestimmt nicht blofl die städtische, sondern auch die Kronssteuer für dieses (Je werbe. Die Kronssteuer musste in ihrer ganzen Summe gezahlt werden; da jene zwanzig in Wegfall kamen, hätten die kleinen sie in höherem Masse tragen müssen. Das Stadthaupt von Kiew verlangte die Vertheilung des Steiieraustall-auf die Schänken. Das wirkte: eine neue allgemeine Versammlung von Gast-und Schänkwirthen fand statt, die Inhaber der Kabaks entschlossen sich zu gerechterer Vertheilung, und dem Publicum wurden Wieder die anständigeren Kestaurationslocale geöffnet. Dieser Vorgang aus neuester Zeit ist in mehr als einer Beziehung lehrreich für die Handhabung der Selbstverwaltung in den fussischen Städten. (Zeitung f. St. u. L. vom 24. Jan., 5. Febr. 1884.) ') Es giebt augenblicklich nahe an 800 städtische Banken, deren Operationen * itclich unter Bürgschaft der Stadt vollzogen werden, einer Bürgschaft, die "n Falle einer Katastrophe sich oft. als illusorisch erweisen würde. Diese gesetzlich unter die Controle der Stadtverwaltungen gestellten Banken, deren Directore von diesen Verwaltungen ernannt werden, halten gewöhlich die Kaufleute in Abhängigkeit und beherrschen durch diese wieder den Stadtrath, der UM den Einnahmen der Bank interessirt ist. (S. Skopin , W'ilebsk. u. m. a. Communale Banken im Jahr 1883. Anm. des Uebers.) ') In Petersburg ist die Frage einer städtischen Miethsteuer schon verhandelt worden, aber bisher erfolglos. Bedingungen der Civilisation machen sie noch für lange Zeit hinaus unfähig, einen wirksamen Antheil oder selbst ein lebhaftes Interesse an der Stadtverwaltung zu nehmen. Unter dem Classensystem nach dem Census verräth sich diese Gleichgültigkeit schon allzu deutlich bei der Abstimmung der Mindestbesteuerten, die nur in so kleiner Zahl an der Wahlurne erscheinen. Das niedere Volk der Städte hat nicht, wie der Mushik des flachen Landes, die Uebung, allgemeine Angelegenheiten selbst zu betreiben. In dieser Beziehung ist kein Vergleich zwischen dem Bürger der Städte und dem Bauer des Mir möglich. Die enge Sphäre der Bauergemeinde gestattet dem Einen, was das weite Gebiet der Stadtverwaltung dem Andern versagt, selbst wenn sie beide nur ein und derselbe Mensch sind, wie es in Kussland oft vorkommt '). Fünftes Kapitel. Die städtischen Versammlungen. — Die Duma oder Stadtverordneten Versammlung; Oeff'entlichkeit ihrer Sitzungen. — Grosse Zahl der Stadtverordneten. — Die Uprawa oder der Stadtrath. Versuch einer collegialen Verwaltung. I »as Golowa oder das Stadthaupt. Folgen der Wahl der Golowas. Stadtverwaltungen und Gouverneure. — Wirthschaftliche Lage der Städte. — Ergeb-nisse der localen Selbstverwaltung. Die Municipalversammlung trägt in Hussland den alten Namen der duma (gorodskäja düma>, der früher dem höchsten Rath des moskowitischen Staats, dem Bojarenrath (hojärskaja duma) gegeben war'). Die Dauer des Mandats für diese Versammlungen beträgt vier Jahre. Die russischen Dumen sind in der Regel weder auf periodische Sitzungen, noch auf regelmässige Sessionen beschränkt; sie treten nach Erforderniss der Geschäfte, auf Berufung des Stadthaupts oder auf das Verlangen einer bestimmten Anzahl von Deputirten zusammen, ohne einer Genehmigung der Oberverwaltung zu bedürfen. ') Man muss sich dessen erinnern, dass thatsächlich die Bewohner russischer Städte vielfach nur Bauern mit dem Wohnsitz in der Stadt sind, und das Stimmrecht, das ihnen die Städteordnung in der Stadt versagt, in der Land' gemeinde beibehalten, in der sie ihren Winkel Krde und meist ihre Familie zurückgelassen haben. ■) In seiner ursprünglichen Bedeutung bezeichnet im Grossrussischen duma: Gedanke, Idee, vom Zeitwort dumat, denken, im Kleinrussischen bedeutet esI Volkslied. Die Petersburger Duma hatte bis vor Kurzem die Zahl ihrer Sitzungen auf zwei in der Woche festgesetzt, aber hierin blieb sie ihrem Beschluss nicht ganz treu; in den Provinzialstädten versammeln sich die Dumen weitaus nicht so oft. In Frankreich ist ein überstürzter Beschluss. durch den die l^eputirtenkammer in erster Lesung das Prineip der Oeffentlichkeil der Municipalräthe annahm, einer der Gründe oder richtiger gesagt: oiner der Yorwände zu dem fruchtlosen Beschluss vom 16. Mai (1881) nnd zu der Auflösung der Kammer der 363 gewesen. In Hussland, wie in vielen andern Ländern — z. B. in Preussen und Italien — sind die Stadtversammlungen immer öffentlich. Ks ist richtig, dass die Oeffentlichkeit der Sitzungen in kleinen Landgemeinden grosse Nachtheile haben könnte, und auf den russischen Dörfern giebt es keinen Municipalrath; da alle Familienhäupter rechtlich an der Cremeindeversammlung theilhaben, ist die Oeffentlichkeit auch vom Mir unzertrennlich '). Hussland scheint sich den Grundsatz ganz zu eigen gemacht zu haben, dass die Gewählten immer unter den Augen der Wähler ihre Berathungen abhalten müssen. Begegnet die Veröffentlichung der Duma- und Semstwoverhandlungen in der Presse enger Beschränkung, so bleibt meines Wissens die Oeffentlichkeit der Sitzungen selbst doch unangetastet. Wie die Kreis- und Gouvernementssemstwo steht die städtische Duma jederzeit dem Publicum offen. Im Anfange zogen diese Versammlungen mitunter die Elite (|,'<' Gesellschaft an, und sobald eine wichtige Frage verhandelt wurde, dingte sich eine aufmerksame Menge hinzu. In einem Lande, das m,r eine Städtische und eine provinzielle Vertretung besitzt, kann das von diesen einfachen Organen des Öffentlichen Lebens erregte Interesse bisweilen um so grösser sein, je weniger die Aufmerksamkeit des Landes von höheren Kämpfen in Anspruch genommen wird. Die Verhandlungen dieser localen Versammlungen linden mitunter grössere * Brhreitung und mehr Widerhall, als ähnliche in Ländern, die reicher •nit Freiheiten ausgestattet sind. Auch haben sich im engen Kreise Uer Duma oder der Semstwo von Moskau Männer, wie Jtiri Samarin, W|'-kljchen Rednerruhm erworben. Leider haben die Zeit und die ''''dtäuschungen das Interesse des Publicums für Institutionen wesentlich abgestumpft, die — sei es Schuld des Gesetzes oder Schuld der Gouachen — weit hinter den Hoffnungen ihrer ersten Zeit zurückgeblieben sind. Die Duma führt ihre Verhandlungen jetzt meist ohne Zuhörerschaft. In Petersburg seihst habe ich der Versammlung nur ') S. oben Buch 1, Kap. III. ein oder zwei Individuen beiwohnen sehen, die ihrem Aeussern nach Für Polizeiagenten gehalten werden konnten. Die Zahl der Stadtverordneten (glässnüje) hängt von der Zahl der städtischen Wähler ab. In den Städten von weniger als 300 Wählern ist die Duma nur aus 30 Gliedern, je 10 aus jeder Classe zusammengesetzt. Sind der wahlberechtigten Steuerzahler mehr, so werden für je 150 Wähler drüber 6 Glieder mehr gewählt, bis zum Maximum. Die Städte von 30,000 und 40,000 Einwohnern besitzen so eine Duma, die fast eben so gross ist, als der Pariser Munieipal-rath. Manche finden indess die Zahl von 72 zu niedrig; sie wird in den drei grössten Städten des Reiches, St. Petersburg, Moskau und Odessa Überschritten, die in gewissen Puncten besonderen Regeln unterliegen. Wenn die Odessaer Duma auch noch nicht mehr als 75 Verordnete zählt, hat die Moskauer 180, die Petersburger 252, also dreimal mehr als der Municipalrath von Paris, Ein Ergänzungsparagraph der Städteordnung bestimmt, dass in keiner Duma die Zahl der nichtchristlichen Verordneten ein Drittel der gesammten Versammlung übersteigen darf. Diese, gegen die religiöse Freiheit oder vielmehr gegen die religiöse Gleichheit gerichtete Beschränkung bezieht sich auf die Juden im Westen und auf die muhamedaniscben Tataren im Osten. Juden und Tataren bilden in mehr als einer Stadt den grössern oder den reichern Theil der Bevölkerung. Die nichtchristlichen Gemeinden sind in der Regel sehr gut. organisirt und von einem Corpsgeist erfüllt, der ausserhalb derselben nur allzu selten ist. Sie bilden überdies innerhalb der sie umgebenden Bevölkerung, von der sie sich ebenso an Sitten und Geist, wie in Glaubenslehren unterscheiden, eine besondere Classe oder Kaste, ein Volk für sich. Da Juden und Tataren sich meist dem Handel widmen, hat die Gesetzgebung geglaubt, um so mehr Vorsichtsmassregeln gegen sie ergreifen zu müssen, da sie im Uebrigen die Leitung der Angelegenheiten den Kaufleuten überlässt. Wo aber die Juden, wie in manchen Städten der westlichen Provinzen, die grosse Mohrzahl der Einwohner bilden, ist es wenig billig, sie in der Stadtduma in der Minorität zu erhalten. Man musste ihnen wenigstens die Hälfte der Sitze zugestehn, aber die kaiserliche Regierung scheint unter Alexander III., wie unter Alexander IL weniger darum besorgt, die Rechte ihrer israelitischen Unterthanen sicher zu stellen, als „ihre orthodoxen Unterthanen gegen die Herrschaft und Ausbeutung der Juden zu schützen". *) ') Diese Frage ist übrigens sehr complicirt; sie soll in dein III. Bde. dieses Werkes bei Betrachtung der religiösen Luge des Reiches behandelt werden. Die russischen Dumen halten gewöhnlich wenig Sitzungen ab, und die meisten ihrer Glieder legen nicht viel Verlangen nach diesen Sitzungen an den Tag. Es ist schwer zu entscheiden, ob die grosse Zahl der Glieder den Zweck hat, den Mangel an Eifer zu ersetzen, oder ob nicht umgekehrt der Eifer der Dumaglieder durch die grosse Zahl selbst abgekühlt wird. Sicher ist, dass die Gewählten oft eben so wenig Begeisterung für den Besuch der Duma zeigen, als die Wähler für den der Wahlversammlungen. In Petersburg selbst sind schon die ernstesten Beschlüsse in Anwesenheit von nur einem Drittel oder einem Viertel aller Glieder gefasst worden, und nicht selten wird die Abstimmung über die dringendsten Angelegenheiten vertagt, weil die Versammlung nicht stimmfähig ist. Und doch fordert das Gesetz in den beiden Hauptstädten für die laufenden Geschäfte nur die Anwesenheit von einem Fünftel der Dumaglieder. Von 252 Stadtverordneten in Petersburg sind kaum HO in jeder Sitzung zugegen, ja, es ist vorgekommen, dass nicht 60 zusammenzubringen waren1), Eine derartige Nachbissigkeit in der Hauptstadt lässt auf den Zustand in den kleinen provinziellen Stadtverwaltungen schliessen. Es giebt Städte, in denen die Versammlungen aus Mangel an Theilnehmern keine Beschlüsse bissen können2). Wie in den Semstwos folgen die regelmässigen Besucher der Sitzungen oft nur persönlichen Interessen; die Stadt u'ii*d von einer kleinen Clique verwaltet, die nur ihren eigenen Vortheil Auge hat, Die Stadtdumen zeigen uns vielleicht mehr noch, als die Landes-V|,isammlungen, wie wenig Sinn die Hussen für öffentliche Angelegen-beiten, wie wenig Geschmack sie an Wählämtern, wenigstens an unbesoldeten Aemtern haben. Die städtischen Kaufleute scheinen sich in dieser Hinsicht nicht sehr von den ländlichen Gutsbesitzern, das tAtnn. des rebers. Ks darf hier wohl daran erinnert werden, dass Obiges vor ''•'Ii dudenhetzen des letzten Jahres gesehrieben ist.) ') Anm. des Uebers. Nachdem die .Moskauer Duma wiederholt Sitzungen /Ur Wahl eines Stadthaupts anberaumt hatte, die aber zum Theil um de» Stangen Besuche willen nicht stimmfähig waren, (and am 19./81. Jan. diese« • Jdires, 1884, abermals eine Sitz.ung statt, in welcher 50 Stadtverordnete (von 18< >| ^'■'«ammelt waren, die Wahl jedoch aus andern Gründen wieder nicht zu Stande Ks gaben nur 42 überhaupt ihre Stimmen ab. *) In einem der wichtigsten Häfen des Südens, Nikolajew, wenn ich nicht ^re' konnte man zur Zeit der I'est an der untern Wolga die Duma zur ^ **athung der gegen die Epidemie erforderlichen .Massregeln nicht zusammen->ri'igen. Kein einziges Glied hatte der Einladung des Stadthaupta Folge getastet Ofroy-Beaul ieu, Rnlch d. Zaren u. n oder zwei Beamte, die fast ebenso wie jener dem Einfluss des Gouverneurs unterliegen und die selbst als Präsidenten gewisser Vmvaltungszweige vielleicht allerlei Streitigkeiten mit der Stadtverwaltung abzuwickeln haben. Endlich der Vorsitzende des Ericdens-UGriohts, der Vorsitzende des permanenten Ausschuss der Landstände und das Stadthaupt der Gouvernementsstadt, drei Persönlichkeiten, auf deren Unabhängigkeit sicherer zu rechnen ist, aber von denen ,m' beiden letzteren durch ihre Aemter leicht selbst in einen Conllict mit der Stadtduma gerathen und folglich auch in die Lage kommen kennen Richter in ihrer eigenen Angelegenheit zu sein. Ein derartiger Gerichtshof scheint den Rechten der Städte wenig Bürgschaften zu bieten; der Gesetzgeber hat jedoch gefunden, dass er öOch zu wenige der Regierung biete. Der Gouverneur hat das Recht erhalten, von den Entscheidungen eines Collegiums, in dorn er selbst so viel Einfluss besitzt, an den Senat zu appelliren, und da den Städten natürlich dasselbe Appellationsrecht zusteht, wirkt dieses Tribunal, das den Städten die Langsamkeit eines Reeurses an den Senat ersparen sollte, nur dahin, den Verwaltungsprocess durch eine meist unnütze Instanz noch mehr zu compliciren. Die Macht der Centralverwaltung und der Bureaukratie ist nicht die einzige Schranke, die der freien Initiative der Stadtverwaltungen gesetzt ist. Die letzteren begegnen oft einem andern Hinderniss in den andern Vertretungskörpern, in den Kreis- und Gouvernementssemstwos. Die Machtbefugnisse dieser Versammlungen erstrecken sich in mancher Beziehung auf die Städte, die sie zu gewissen Diensten und Steuern zwingen können. Es ist das für die Stadtverwaltungen eine Abhängigkeit, die der Gesetzgeber glücklicherweise auf die grossen Städte des Reiches nicht ausgedehnt hat. Petersburg, Moskau und Odessa sind nicht mit dem Kreis und Gouvernement, in dem sie liegen, zusammengeworfen, sondern für sich selbst zu Kreissemstwos constituirt. Von dem Lande unabhängig, gemessen sie so einer grösseren Autonomie. Dieses System gerechter Berücksichtigung der städtischen Individualität ist das gerade Gegentheil des in Frankreich in den Cantonal-und ol't auch in den Wahlbezirken so häufig geltenden Systems. Statt, wie es in Frankreich geschieht. die Städte in Stücke zu schneiden, und eines von diesen mit einem Stück des Hachen Landes zusammenzubinden, sichert die russische Gesetzgebung den städtischen Einheiten eine besondere Vertretung in den Landesversammlungen zu. Für die bedeutenderen Städte thut das Gesetz noch mehr; indem es sie zu Kreissemstwos macht, verleiht es den wichtigsten Dumen Rechte, die den kleineren versagt bleiben. Es ist das ein ganz anderes Verfahren, als die französische Methode, die alle Communalkörper des Reichs künstlich einander gleichstellt. Die Erhebung der grossen Städte zu Semstwos hat nur den einen Fehler, dass sie eine Ausnahms-massregel ist. Das Benelizium einer solchen könnte vielen Städten ertheilt werden; Kiew und Kasan besitzen beispielsweise Eigencharakter genug, um ein solches Vorrecht zu verdienen. Die Rechte einer Krcissemstwo könnten thatsächlich den meisten Gouvornementshaupt-städten ertheilt werden. Wie England, so könnte auch Hussland wenn auch in anderer Weise die Städte von den Grafschaften und das städtische Element von dem landischen trennen. In jedem Lande ist dies das beste Mittel, den Städten, wie dem Hachen Lande die gleiche Unabhängigkeit und eine richtige Vertretung zu verbürgen, de beste Mittel die Bedrückung des einen Theils durch den andern zu hindern. Wenn sich in Russland die Stadtbevölkerung an Geist and Sitten viel weniger von der Landbevölkerung unterscheidet, als das im Westen der Fall ist, so unterscheidet sie sich doch schon Wesentlich von ihr in Bedürfnissen und Hülf'squellen. Die Zusammensetzung der Semstwos selbst, in denen die ländlichen Einflüsse und der Grundbesitz vorwiegen, ist ein Grund, die Städte den Kreissemstwos zu entziehen, die versucht sein könnten, sie höher zu besteuern. Diese Trennung der beiden Hauptelemente der Bevölkerung dürfte übrigens nicht zu einer Vereinzelung derselben führen, weil Städte and Landkreise für die allgemeinen Bedürfnisse des Gouvernements einen gemeinsamen Boden in der Gouvernementssemstwo finden. In dieser Beziehung bietet der Dualismus dieser provinziellen Versammlungen einen werthvollen Vortheil: er gestattet die Bande zu lösen, durch welche die Städte an die Kreise geknüpft sind, und macht dadurch die Selbstverwaltung der Städte, wie die der Semstwos leichter. Die gesetzlichen Beschränkungen sind nicht immer das einzige Rinderniss der Freiheit und Unternehmungslust der Stadtverwaltungen. Fs steht noch ein anderes Hemmniss ihrem Fortschritt im Wege, das weder Gesetz noch Regierung mit ihrem Willen beseitigen können. Die Städte sind meist durch dieselbe Schranke beengt, Wie die Landstände, durch den Mangel an Geld. Nicht das Gesetz ]st hieran schuld: es erkennt ihnen das Recht der Selbstbesteuerung zu. - sondern die ökonomische Lage des Landes und zum Theil Klima und Himmel. Bei schweren Lasten und grossen Bedürfnissen haben die russischen Städte grösstentheils sehr geringe Einkünfte. Die gewöhnlichen Sorgen des Magistrats: die Erhaltung llnd Reinigung der öffentlichen Bauten und Denkmäler, der Öffentlichen Strassen, der Abzugskanäle und der Wasserleitungen, die Pflasterung, selbst die Beleuchtung werden durch das Klima dringlicher und zugleich kostspieliger gemacht, als anderswo. In jedem Lande ist die Stadt ein Sieg über die Natur, und die russische Natur ist vor Allem widerspänstig und feindlich gegen das Werk des ansehen. Die Hindernisse, die Bich der öffentlichen Wegeverwaltung dnroh die Dauer und Strenge des Winters, durch Eis, Schnee und Miaiiuetter bieten, vereinigen sich mit den Schwierigkeiten, die in «er Ausdehnung der meisten russischen Städte selbst, in der Breite der Strassen und in der Grösse der Plätze liegen. Daher erscheint 111 vielen sogenannten Städten am Don und an der Wolga Manches, was in unsern alten Städten des Westens eine Notwendigkeit ist. als ein Luxus. Noch erleuchtet keineswegs alle Hauptstädte der Kreise das uns gewohnte Gaslicht, und die meisten Hauptstädte der Gouvernements haben nur wenige gepflasterte Strassen1). Bei solchem Mangel an Gehl für die primitivsten Bedürfnisse, bleiben wenig Mittel für die grossen Arbeiten der Hygiene und der Verschönerung. Wie die Semstwos haben auch die Städte Ausgaben, die ihnen das Gesetz auferlegt, und die oft den grössten Theil der Kinnahmen verschlingen: so der Unterhalt der Polizei und der Gefängnisse, die Kasernirung der Truppen, die Beisteuer für die localen Gerichtsbehörden. In Petersburg verzehren derartige Ausgaben ungefähr den dritten Theil des stadtischen Budgets. Es sind ferner die Hospitäler der Stadt überwiesen, und diese fordern in der ungesunden Newastadt sehr beträchtliche Kosten. Die Stadtverwaltungen hätten gern einen Theil der Lasten, die ihnen der Staat aufladet, diesem wieder zugeschoben, aber der Staat selbst ist zu bedürftig, um Ausgaben wieder auf sich zu nehmen, die er einem Andern übertragen konnte. Die Armutb der meisten Städte ist ausserordentlich; fast alle sind verschuldet und wenige linden noch ein Darlehn. Einige von diesen sogenannten Städten hatten vor etwa zwanzig Jahren nur einige hundert Rubel Einkünfte*). Es ist erklärlich, dass solche Städte ihr Stadtrecht nur mühsam aufrecht erhalten können. Das Einkommen der Gouvernementsstädte ist natürlich grösser, aber es bleibt doch weit unter dem der Städte gleicher Bedeutung im Westen. Gleiches findet sich bis in die grössten und reichsten Städte, bis in die Hauptstädte hinauf. Unter dem alten Städtegesetz hatte Wilna (04,271 E.) beispielsweise vor kaum 12 .fahren nur ein Budget von b'0,000 Rbl., Nishninowgorod (44,100 E.) 150,000, Kasan (86,261 E.) 210,000, Kiew (70,77:? E.J 225,000, Odessa (130,402 E.) 510,000, Moskau (G01TDGG E.) 2,000,000 ') Mangel an Steinen bildet in vielen Gegenden ein Hindernis» für die Pflasterung und den Unterhalt der Strassen und Wege. Harum hat man in mehreren Städten, besonders in Petersburg, seil, lange die Holz- und selbst die Kiseiipfhistermig versucht. J) In mehreren überstieg die Einnahme nicht 300, ja kaum 200 Rbl., also weniger als 1000 Eres. Eine grosse Zahl von Kreisstädten hatte noch 1870 nur 8000 oder 4000 Rbl. Einkünfte, einige sogar weniger als 1000. Statislisehes Jahrbuch v. 1871 (russ.), und Petersburg (667,063 E.) 3,000,000 Rbl.1). Alle diese Ziffern bähen sich gehoben, aber die Einkünfte der Städte sind nicht in demselben Masse gestiegen, wie ihre Schulden und ihre Bedürfnisse. Gegen Ende der Regierung Alexanders II. gab es ausser den beiden Hauptstädten noch zwei Städte, deren Einkünfte eine Million Rubel überstiegen: Odessa und Riga, nur vier oder fünf bei mehr als einer halben Million (Kiew, Kasan, Sarätow). Die Einnahmen Petersburgs, die um 1865 nur auf 2lf* Mill. stiegen, erreichten um 1875 fast 4-l/s Million und 1881 fast 6 Mill. Das ist ein bemerkenswerter Fortschritt und ein Zeichen des wachsenden Reichthums der Hauptstadt, aber was sind diese 6 Millionen Rbl. gegenüber den 300 Mill. Francs des städtischen Budgets von Paris? Petersburg, das mehr als ein Drittel der Einwohner von Paris zählt, hat noch nicht den dreizehnten oder vierzehnten Theil der Einkünfte von Paris, Noch beute hat die Hauptstadt Russlands kaum den vierten Theil der Einnahmen von Wien und den dritten der von Berlin. Daher hat St. Petersburg trotz des normalen Wachsthums seiner Einnahmen doch Mühe, sein Budget im Gleichgewicht zu erhalten. Bis jetzt ist es der Stadtverwaltung nur gelungen, den Ausfall ihrer Kesten durch Reservefonds zu decken, die jetzt aber schon fast erschöpft sind. Im Vergleich zu der Lage mehrerer anderer grosser Städte des Reichs ist die der Hauptstadt trotzdem eine gute. Die meisten Gouvernementsstädte haben die neue Freiheit benutzt, um sich Luxus-und Verschönerungsarbeiten hinzugeben , die oft schlecht berechnet waren und sie in Schulden zogen, ohne ihre Einnahmen zu mehren. Die erste Sorge vieler Dumen war, nach dem Beispiel der grossen Städte des Westens grosse und theure Stadthäuser zu bauen. Daher ausserordentliche Ausgaben, Fehlrechnungen und Delicits, welche der Magistrat zuerst durch Künste der Rechnungslegung verdeckte, dann durch Verkauf von Land und Immobilien der Städte mehrte. So sind Kiew, Kasan, Saratow, Odessa, die reichsten Municipien des Reichs, im Wetteifer mit den Städten Deutschlands, Frankreichs, ') Mit Abzug der ausserordentlichen Einkünfte, welche sich aus der Reali- Wrting voi, Kapitalien oder aus LiegeiiHchaftsverkäufen ergeben. Viele Städte besitzen ausser den Einnahmen durch Steuern andre aus Kapitalien oder Grund- l,l's'tz. Saratow besass /. Ii. vor einigen .Jahren 1,<*r Grund hiefür ist einfach. Das geschriebene Gesetz ist — nach der Bemerkung Le Play's — „die Autorität, welche von den Modernen dazu gebraucht wird, um von der Richtung, welche Sitten und Gewohnheiten geben, abzulenken*'. Die russische Regierung, die fasl zwei Jahrhunderte lang sich üeissig darum bemüht hat. die Sitten ihrer Unterthanen umzubilden, hat nicht verfehlt, sict dieses Werkzeugs rücksichtslos zu bedienen. Unter dem Namen von Gesetzen besitzt Russland endlich nur eine unförmliche Masse von unzusammen-hangenden Verordnungen, Erlassen, fjkasen, Statuten. .Jeder Herrscher veränderte die Gesetzgebung und stürzte sie unbedenklich um, jede Regierung stellte die Gesetze, wie die Institutionen der vorhergehenden Regierung in Frage, so dass bei dieser steten Rewoglichkeit die Kenntniss des Gesetzes selbst zu verschwinden schien. Fs ist in der That schwer, einem Haufen von Hefehlen und Gegenbefehlen, von entgegengesetzten Fntscheidungen und widerspruchsvollen Verboten, die unausgesetzt sich gegenseitig verändern und aufheben, jenen Namen zu geben. Eine so verworrene Gesetzgebung forderte entschieden eine Codi-bcation, aber die Aufgabe wurde um so schwieriger, je noth wendiger *ic wurde. Katharina II. hegte diesen Plan; sie war zu seiner Ausführung vielleicht befähigter, als alle ihre Vorgänger und Nachfolger, ') S. Bd. I, Buch IV, pag. 258. denn sie trug meist eine Conseqnenz in ihre Gesetze hinein, wie sie sonst dem russischen Gesetzgeber fremd zu sein pflegt. Zum Zwecke der Vorarbeiten für die Herstellung eines Gesetzbuchs versammelte die Zarin 1767 in Moskau Vertreter aller Gouvernements, aller Stände, aller Raoen und Bekenntnisse des Reiches. Die Kriege mit der Türkei und Polen lenkten die Thätigkeit der Kaiserin von diesem grossen Werke ab: aber in ihrer berühmten „Instruction" finden Entwurf des neuen Gesetzbuchs hatte Katharina IL offizielle Rechtsgrundsätze festgestellt, die unter solcher Schutzherrschaft nicht ohne Früchte bleiben konnten. Die Pläne der Codification wurden von Kaiser Alexander I. wieder aufgenommen, aber erst unter dessen Bruder durch Speranski ausgeführt. So ist der Kaiser Nikolai der Justinian Russlands und der Popensohn Speranski dessen Tribonian. Wie Katharina, hatte Nikolai zu diesem Werke die Wahl zwischen zwei Metboden, zwischen der Redaction eines einheitlichen und rationellen Gesetzes, wie es der code Napoleon ist, und der einfachen Sammlung und Classificirung der unzähligen bestehenden Gesetze. Der Kaiser Nikolai beschränkte sich auf die leichtere Aufgabe und machte auf den Ruhm keinen Anspruch, um den sich nach einander Katharina und Alexander I. beworben hatten 1). Er hatte vielleicht den weisem Weg gewählt; man konnte Russland wohl kaum in den Rositz eines neuen und endgültigen Gesetzbuchs setzen, bevor die Aufhebung der Leibeigensehaft dem Lande eine neue Physiognomie gegeben. Die Sammlung der von Speranski auf Refehl Nikolais zusammengestellten Gesetze (sobränije sakönow) bildet fünf und vierzig Räude in Quart, in denen die Reichsgesetze von der Uloshenije Alexeis an in chronologischer Ordnung eingetragen sind. Diese oft nicht übereinstimmenden Gesetze sind gedrängt und systematisch geordnet in einer Art Summarium des russischen Rechts, genannt der swod sakönow, der den Codex vertritt und allein im Gebrauche steht. Der Swod ist aber keineswegs ein wohlgeordnetes systematisches Gesetzbuch, wie etwa der code Napoleon. Er ist nur eine Compilation der Gesetze aus verschiedenen Zeiten und verschiedenen Anschauungen, eine Nebeneinanderstellung von Erlassen und Verordnungen, die nur zu oft ohne innern Zusammenhang noch Uebereinstimmung sind. Aber was auch '] Alexander I., hierin Nachahmer seiner Grossmutter, hatte die Redaction eines Civil-, eines Straf- und eines Handelsgesetzbuchs begonnen, wovon ein grosser Theil sogar schon im Reichsrath zur Verhandlung gelangte. Nik. Tur-genen Russl. und die Russ. III, p. 178. ihre Mängel sein mögen, 80 hat diese provisorische Gesetzsammlung doch eine gewisse Einheit in die rassische Gesetzgebung gebracht: wenn das Studium der letztern auch noch schwierig bleibt, so ist es doch möglich geworden. Der Swod umfasst mehr als 60,000 Artikel, die in mehr als 1500 Kapitel getheilt sind; er bildet fünfzehn dicke Bände, in denen die einzelnen Gesetze nach der Materie zusammengestellt sind. So enthält der erste Band die Civilgesetze, der fünfzehnte die Strafgesetze. Keiner dieser Bände dürfte ein abgeschlossenes Ganzes sein; trotz ihres verhältnissmässig neuen Ursprungs sind einige von ihnen schon mehre Male umgearbeitet, durch Ergänzungen vervollständigt oder durch neue Sammlungen ergänzt1). Dieser umfangreiche Codes enthält ausserdem durchaus nicht alle Reichsgesetze; in einigen Provinzen besteht für gewisse bürgerliche oder geistliche Angelegenheiten eine ganz besondere Gesetzgebung, die man anderswo suchen muss. Auch heute noch ist es daher schwer, sich in diesem Chaos zurechtzufinden. Gewisse Zweige der Gesetzgebung, beispielsweise die den Juden geltende, sind noch immerein wahres Labyrinth. Man muss Specialist sein, um sich hier nicht zu verlieren. Kurz, die Gesetze sind oft so verworren und complicirt geblieben, dass das Land nicht allzuklar weiss, was ihm versprochen wird, wenn man ihm die Hoffnung auf die Herrschaft der Gesetze eröffneta). Wenn ein autokratisches Reich auch im Besitz eines Gesetzcodex ist, kann es darum dauernde und dieses Namens würdige Gesetze haben? Die Frage kann zweifelhaft erscheinen, in einem Staate, wo der Monarch das lebendige Gesetz ist, scheint die Gesetzgebung ein allzeit offenes Buch, in dem der Herrscher, ohne an seine Bestimmungen von gestern gebunden zu sein, nach seinem Ermessen dieses oder jenes Blatt füllen oder auch ausstreichen kann. Die Idee ') Die erste Ausgab«- des Swod stammt von |xf>7; eine revidirte und verbesserte Ausgabe erfolgte lM7ti, ein Supplement 187!». ln'e Ausgabe von 1S7«) unterdrückt gegen 30,000 Artikel und fügt etwa 12,(XK> neue hinzu. - Unsere Aufgabe Ul es nicht, au dieser Stelle vom russischen Civilreeht zu handeln; einige wesentliche Züge desselben haben wir bei Besprechung der gesellschaftlichen Classen, Bd. I, Buch V und VI gegeben und freuen uns, den Leser auf einen unserer früheren Landsleute, den Elsässer E. Lehr, jetzt Professor in Lausanne, verweisen zu können: Elements du droit civil russe. Plön. 1877. Polen besitzt noch den code Napoleon, die Ostseeprnvinzen ihre alten deutschen Gesetze; aber unter dem Vorwand der Gleichheit und Einheit ist, davon die Rexle, alle diese Unterschiede abzuschaffen, auf die Gefahr hin, jene als Unterthanen Russlands offenbar schlechteren und ihren Gewohnheiten widersprechenden Gesetzen zu unterwerfen. der Festigkeit und der Dauer scheint schwer vereinbar mit dieser Gewalt, durch ükase Alles zu ändern. Alles zu bestimmen. Ks isl wiederholt ausgesprochen worden, dass der erste Artikel des russischen Gesetzes, der dem Herrseher das Hecht der Umänderung nach seinem Ermessen zuerkennt, alle andere Artikel aufhebe. Wo die höchste Autorität gesetzlieh die Macht hat. die Sehranken des Gesetzes zu überschreiten, da, Hesse sieh behaupten, giebt es keine Gesetze. In Bezug auf Russland wäre dies aber in der Gegenwart eine starke Uebertreibung. In den menschlichen Institutionen liegt nicht immer eine so strenge Folgerichtigkeit, dass man die festesten Principien einer Regierung bis zu ihren letzten (Jonsequenzen führen dürfte. In Russland steht der Herrscher über dem Gesetze, oder vielmehr, er ist die Quelle des Gesetzes, das ganz allein aus seinem Willen hervorgeht; aber in der Praxis kann das tiesetz nicht ohne gewisse Formalitäten, nicht ohne bestimmte Vorarbeiten noch ohne die Retheiligung bestimmter geschlossener Körperschaften verändert werden, so dass in dieser Beziehung die Lage des modernen Russlands nicht so sehr von der der andern europäischen Staaten abweicht, als es auf den ersten Blick erscheint. De jure hängt die ganze Gesetzgebung von einem Ukas ab und lässt sich in das alte Wort, das so lange im Westen gelehrt wurde, zusammenfassen: „Quod principi plaouit, legis hafiet vigorem". De facto dagegen ist die kaiserliehe Gewalt heutzutage selten in der Versuchung, jenes Vorrecht zu üben, da sie wenig hderesse daran hat, sich seiner anders als in politischen Fragen zu bedienen, wo die Form der Regierung selbst jedes bindende Versprechen verbietet. Was das Uebrige, das Civil- und Criminalrechl betrifft, so ist die Gewalt des Herrschers über die Gesetzgebung im Grunde nur die allgemein anerkannte Gewalt des Gesetzgebers über das Gesetz. Wenn das autokratische Regime, bei welchem die legislative. Gewalt in einem Menschen eoncentrirt ist. in dieser Hinsicht wenig Bürgschaft für die Stätigkeit bietet, so ist es nicht die einzige Regierungsform, die diesem schweren Mangel unterliegt. Die Geschichte zeigt in allzuviel Beispielen, dass derselbe Vorwurf in Bezug auf die tiesetze und Stätigkeit auch mit gutem Rechte ganz anderen politischen Systemen gemacht werden kann. Neben den Gesetzen bedarf es der Richter, die das Gesetz aus den Spalten des Codex in das wirkliche Leben hinüberführen. Die Reform der Gerichte, die Alexander 11. vorbehalten war, war ebenso schwer, als nothwendig. Im Beginn seiner Regierung war die Rechtsprechung nicht weniger mangelhaft, als die Verwaltung. Sie litt an denselben Uebeln, und die Regierung hatte vergeblich versucht, die- selben Heilmittel anzuwenden. Die russischen Gerichte arbeiteten im Dunkeln und in der Stille, dem Publicum unzugänglich, fern von den Ohren der Kläger und den Augen des Angeklagten. Für Criminal-wie für Civüsachen galt geheimes, schriftliches Verfahren. Die Richter traten nur hervor, um ein Urtheil oder Erkenntniss auszusprechen. Bemerkenswerth ist, dass dieses inquisitorische Verfahren, das unseren Rechtsverhältnissen seither so fremd geworden ist, zu den Zeiten von Alexei Michailowitsch und Peter dem Grossen unter dem Einfluss des westlichen Europas hier eingeführt worden ist. In Russland hatte das geheime Verfahren hauptsächlich die Wirkung, das russische Grundübel, die Bestechlichkeit zu pflegen. Das im Dunkeln schaltende Gericht war zu einer Art von Comptoir geworden, in dem man ungescheut mit Gütern und Freiheit der Menschen Handel trieb. Die Sachwalter oder Advokaten (sträptschi), welche die Parteien zu vertreten hatten, waren kaum mehr als die Makler zwischen den Richtern und den streitenden Theilen. Die Fit heile waren auf den Meistbot gestellt, die symbolische Wage der Gerechtigkeit diente weniger dazu Recht und Unrecht, als die Angebote und Geschenke der Parteien zu wägen. Bei dem geheimen Verfahren wären dem Reiche aufgeklärte und unbestechliche Richter noth gewesen, die russischen Gerichtspersonen aber waren weder das Eine noch das Andre. Wie die Mehrzahl der Beamten, waren die meisten Richter zu schlecht besoldet, um ehrlich von ihrem Gehalt leben zu können; sie mussten Nebeneinnahmen, Casualien haben. Die allgemeine Meinung empörte sich dagegen nicht; es schien billig, dass die Börse der Rechtsuchenden die vom Staate schlecht besoldeten Gerichtshöfe unterhielt. Das gehörte zu den Gerichtskosten, die in jedem Lande auf die Prozessirenden lallen. Ein unbescholtener Richter war derjenige, der mit beiden Händen und von beiden Seiten empfing, ohne seine Entscheidung nach der einen oder andern Seite hin zu verkaufen. Dank solchen Gepflogenheiten gaben die russistdien Gerichte zu den seltsamsten Vorgängen und den überraschendsten Geschichten Anlass. Ich will nur eine, die ich für authentisch halte, anführen. Ein Gutsbesitzer hatte einen Proccss, seine Sache stand ausgezeichnet, der Vorsitzende des Gerichts war sein Freund und überdies ein so geachteter Mann, wie ein Richter es nur sein konnte. Der Kläger wagte es nicht, die Hand des Richters zu „schmieren*', der ihm immer wieder sagte: „Fürchten Sie nichts, Ihre Sache unterliegt keinem Zweifel." Der Tag kommt, an dem das Urtheil gesprochen werden soll: unser Gutsbesitzer wird verurtheilt. „Mein lieber Freund," sagt der Richter beim Verlassen der Sitzung, „Ihre Sache ist so gerecht, dass wir Ihrem Gegner wohl das Vergnügen lassen können, sie in erster Instanz gewonnen zu haben. Sie sind der Appellationsinstanz sicher.'* (legen diese Bestechlichkeit der Gerichte, die durch das geheime Verfahren der Controle des Publicums mitzogen waren, hatte die Regierung Seit Katbarina II. ein Heilmittel angewandt, das man für wirksam hätte halten können. Die locale Bevölkerung, die am meisten an einer guten Rechtspflege interessirt war. sollte selbst die Männer, die ihr «las grösste Vertrauen einflössen, zu Richtern oder Beisitzern der Gerichtshöfe wählen.1) Die "Wahl war bei der Krnennung der Richter noch freier, als bei der der Verwaltungsbeamten, aber einen bessern Erfolg hatte sie auf dem ersteren Gebiete nicht, als auf dem letzteren. Diese Richter, zumeist von dem Adel und aus dem Adel gewählt, waren gewöhnlich kleine, dürftige Gutsbesitzer ohne juristische Bildung, ohne berufliche rrtheilsfähigkcit. Diese in der Regel wenig geachteten und schlecht besoldeten Aemter übten nur auf Leute von geringem Anselm und geringer Tüchtigkeit Anziehungskraft aus. Bei dem geheimen Verfahren konnte keim1 ernste Controle der Gewühlten durch die Wähler stattfinden. Ks war vergeblich, dass die Wahlen in kurzen Fristen von drei zu drei Jahren sich wiederholten. Die Mehrzahl der gewählten Richter und Assessore hatte nicht einmal die Zeit, sich mit ihrem Amte bekannt zu machen: sie bestätigten nur die Entscheidungen und unterzeichneten die Crtheile der Richter von Fach oder der Secretäre des Geriohts. Alle diese, dem Anscheine nach so liberalen Institutionen der Kaiserin Katharina und ihrer Nachfolger liefern Beweise dafür, wie gering die praktische Wirkung des Wahlsystems dort ist, wo die Sitten und der öffentliche Geist es nicht unterstützen. ITm die Unwissenheit und die Bestechlichkeit der niedern Gerichte zu neutralisiren, fiel die Regierung darauf, die Instanzen und mit ihnen die Formalitäten und Schreibereien zu vermehren. Ks war wieder das System von Zügeln und Gegengewichten, das in der Verwaltung angewandt war: e> trug in den Gerichten keine besseren ') In jedem Hauptort des Gouvernements bestanden zwei Gerichtshöfe, der • ine für Civil-, der andre für (Yiminalsachen , beide aus einem vom Adel ge-wahlten Präsidenten, einem von der Regierung ernannten Hath und vier Assessoren zusammengesetzt, von denen der Adel und die städtische Bürgerschaft je zwei wählte. In jeder Kreisstadt gab es ein Gerieht erster Instanz für Civil- und ('riminalsachen, dessen Glieder vom Adel gewählt wurden. Frücht©, als in der Bureaukratie. Durch Vervielfachung der Instanzen erreichte man nur eine Verlängerung des Verfahrens und eine Ver-tangsamung, wie eine Vertheuerung der Justiz. Es gab mitunter fünf bis sechs Instanzen, in gewissen Fällen sogar mehr, und soviel Gerichtshöfe , soviel Verfahren, soviel Bichter zu gewinnen für beide Parteien. Bei jedem Gerichtshof hatte der Parte gleichsam einen « fgezoll zu entrichten, um über ihn hinwegzukommen. Die Dauer des Verfahrens war eine solche, dass man sich weniger oft in die * ersohleppnngen der Justiz, als in ihre Bestechlichkeit fügte. Die Richter waren durch kleinliche Vorschriften gebunden, die ihnen in den kleinsten Einzelheiten der Zeugensehaft und aller auf 'Ii'' Streitfrage sich beziehenden Dinge die genaueste I'rotocollführung znr Pflicht machten. Das schriftliche und formalistische Verfahren war somit die Folge, das theure und wirkungslose Correctiv des geheimen Verfahrens. Die Aetenstösse häuften sich von Instanz zu Instanz, ohne dass diese ganze Masse von Schriftstücken und Dooumenten, welche die Controle erleichtern und sichern sollte, Anderes bewirkte. ;l's diese zu erschworen und illusorisch zu machen. Die Schreiber "nd Secretäre der Gerichtshöfe, welche die Arbeit des Richters vorbereiten und den Inhalt der Acten prüfen sollten, konnten allein in diesem Labyrinth von Schriftstücken sich zurechtfinden, und die Art, 'n Welcher diese ebenso wenig gewissenhaften wie schlecht besoldeten Beamten dem Gericht die Sache darstellten, bestimmten gewöhnlich (|<'ssen Urtheil. Ein solcher Zustand der Dinge war erklärlich, so lange Millionen Renschen jeder Rechtsprechung gesetzlich beraubt und durch die besetze selbst der Willkür einiger Tausende von Mitbürgern unterworfen waren. Nach der Freigebung der ländlichen Bevölkerung musste das anders werden. Eine unbescholtene und unabhängige Rechtsprechung, die Allen gleichen Schutz gewährte, war die Ergänzung, wenn nicht, das unentbehrliche Vorspiel der Aufhebung der Leibeigenschaft. Nach dem Urtheile sehr competenter Kenner hätte die Justizreform der Emancipation vorangehen sollen, damit Richter vorbanden seien, das Gesetz anzuwenden und zwischen dem frühem Leibeigenen und dem frühern Herrn zu entscheiden l). Aber Alexander 11. war vor Allem beflissen, den alten Makel der Leibeigenschaft fort- ') l>i* Regierung hat keinen andern Weg wählen können, als durch Ein-aetzung einer zeitweiligen Gerichtsbarkeit, der Kriedensverniittler, mirowüje pesredniki), die im Besonderen beauftragt waren, die durch die Emancipation entstehenden Streitigkeiten zu ordnen. S. Bd. I, Buch VII, Kap. II. zusohaffen und wagte nicht, beide grosse Reformen gleichzeitig in die Hand zu nehmen. In Wahrheit waren heule gleich schwierig. Sobald man an die Verbesserung der .Justiz himmtrat, erkannte man. dass die bestehenden Gerichtshöfe von Grund aus mangelhaft und unheilbar verdorben seien. Ks schien unmöglich, etwas vom alten Bau zu behalten oder auf seinen alten Fundamenten ein neues solides Gebäude zu errichten: man musste Alles niederreissen und auf die Benutzung des alten Materials verzichten. Ks zeigte sich bei dieser Gelegenheit. welcher Freiheit die rassische Regierung in der Einführung von Reformen sich erfreut Heute noch kann, wie zur Zeit Peters des Grossen diese monarchische und traditionelle Regierung mit einer Vergangenheit von mehreren Jahrhunderten, nach revolutionärer Methode mit gewaltigen Althieben die bestehenden Institutionen zerstören und dem Roden gleich machen, um nach ihrem Relieben auf dem freigewordenen Grunde, nach neuem Flau ihr Haus aufzuführen. In Hussland ist eben die Regierungsgewalt durch keinerlei üeberlieferung beschränkt, durch keinerlei Bräcedenzfall gebunden, und das giebt ihr die Macht, Alles zu erneuern, Alles zu improvisiren. muh ihrem Gutdünken zu experimentiren, wie am Morgen nach einer Revolution, die nichts Altes bestehen liess. Der Reformator stösst doit nicht auf die Schranken, die anderwärts ihm Half gebieten vor altgewordenen, BChwachen und überlebten Institutionen, die aber durch Alter, Gewohnheit oder Vnrurtheil. durch die Verehrung oder Anhänglichkeit der Völker geheiligt sind. Ausser der orthodoxen Kirche und der Landgemeinde besass das Russland des neunzehnten Jahrhunderts keine Institution, die in den Sitten und den Gefühlen des Volkes Wurzeln gehabt hätte. In dieser Beziehung hatte der sociale Zustand Russlands einige Achnliehkeit mit dem russischen Boden selbst: die Nation bot der Regierung eine ebene, einförmige und glatt*' Fläche, aus der sich nichts von sich aus erhob, sondern wo der Gesetzgeber nach seinem Belieben oder nach den Regeln der Kunst bauen konnte: eine wahre tabula rasa. Weder an Lehren der Wissenschaft, noch an Winken der Erfahrung fehlte es den Begründern der Justizreform. Um Beispiele und Vorbilder zu finden, hatte Russland nur über seine Grenzen hinaus, auf den Westen zu blicken, den seine Bublicisien wiederhol! so geringschätzig behandelt haben, und dessen Kehren und lange Erfahrung ihm doch viel Herumtappen, Irrthümer und Fehlrechnungen ersparen können. Line besondere Commission wurde beauftragt, die Gerichtsorganisation des Auslands, namentlich Frankreichs und Englands, zu studiren. Aus den Berichten dieser Commission wurde die neue russische Organisation gleichsam ausgezogen, denn bei ihrer Freiheit, Alles zu thun und Alles zu versuchen, hatte die Petersburger Regierung diesmal ihren Ehrgeiz nicht darin gesetzt, Neues zu schatten. Die Reform ihrer Gerichte war weniger eine originelle Schöpfung, als ßine Combination und Anpassung verschiedener Grundzügo, die fast alle den entwickeltsten Völkern Europas entlehnt sind. Diese Abstammung vom Westen ist der neuen Justizverfassung von Anfang an zum Vorwurf gemacht worden.1) Es giebt bekanntlich in Russland und namentlich in Moskau eine Art moralischen Schutzoder Prohibitivzollsystems, das überall das Kindringen von Ideeen oder Producten des Westens fürchtet und ebenso wenig die Einfuhr ausländischer Gesetze wie die ausländischer Esswaaren dulden mag. Daher hat die Veröffentlichung der neuen Gerichtsordnung ihrer Zeit Sahireiche Enttäuschungen hervorgerufen. Das Organ der Slavophilen. der „Den", nun hie aus seinem Aerger kein Geheimniss. Unmittelbar nach der Freigebung und dem Landesstatut, wo die Regierung sich von andern Principien hatte leiten lassen, erwartete man Anderes. Diese beiden in so kurzer Zeit nach einander unternommenen uml durchgeführten Reformen2) wurden eben von verschiedenen Commissionen, unter verschiedenen Einflüssen ausgearbeitet. Man kann Sich darum kaum über die Kälte wundern, mit der in gewissen Kreisen, namentlich in denen der damals meist in Ungnade gefallenen Redacteure des Freigebungsstatuts, die neue Gerichtsinstitutionell aufgenommen Wurden8). Ks lässt sich nicht läugnen, dass in dem Geiste dieser 1 im sie gegen diesen Vorwurf/u vertheidigen, suchen die Lobredner der ■liistizrefonn im Einzelnen den Nachweis zu liefern, dass die Nachahmung weder Sl» vollständig noch so knechtisch sei, wie man gewöhnlich annimmt. So z. I>. ftüBskaja Starina, Febr. 1H80. Die Freigebungsacte ist am Ii). Febr. 1M1 erlassen, die Grundlagen des neuen Gericht«Verfahrens wurden vom Kaiser im Sept. 1N(J2, die Gerichteordnung Beibat am 20. Nov. 1864 bestätigt. ;i ,1. Samarin und der Kürst Wladimir Tscherkaski verbargen vor einander licht, dass sie vor diesem Werke Alexanders II. wenig Bewunderung hegten. Ich selbst habe sie ihr Crtheil aussprechen hören und habe dasselbe in der Korrespondenz "Miliitins wiedergefunden. „Sagen Sie Ihrem Gemahl", schrieb Samarin der Frau des letzteren, ,,dass das llnuergesetz beim Vergleich mit »lein Entwurf der Landesinstitutionen oder mit dem Gesetz der Gerichtsreform nichts verlieren kiinn. In Bezug auf dieses letztere Erzen gniss haben Tscherkaski und 1('h Ausrufutigszeichen und Fragezeichen ausgetauscht. Cnd das Seltsamste ist der Ernst, mit dem alle diese Ginge übers Knie abgebrochen werden. Fiid man bildet sieh ein, das sei der Eckstein einer organischen Justiz". Ungedruckter "rief von J. Samarin vom Ende 1862. Einer der Gründe der Abneigung der Redacteure des Fm:mei|>ationsstatUtB gegen die neue Geriehtsorganisation war, beiden, fast gleichzeitigen Werke ein offenkundiger Missklang bestellt. Der Grund ist nicht ausschliesslich in dem Mangel an einem Programm des kaiserlichen Reformators, noch in dem Mangel eines duininirenden Einflusses unter Alexander II. zu suchen. Russland besass eine so besondere, nur ihm eigene ländliche Verfassung, dass es bei Aufhebung der Leibeigenschaft sich nicht auf eine Nachahmung Europas einlassen konnte. Aber mit den Gerichtsinstitutionen war es anders. Auf diesem Gebiete ist für die civilisirten Völker nicht viel Raum zu grosser Mannigfaltigkeit. Die Erfahrung hat gelehrt, was überall die ersten Bedingungen einer guten Justiz sind, und wenn Russland bisweilen seine Vorbilder zu genau copirt hat, so hätte es sich doch schwereren Enttäuschungen ausgesetzt, wenn es durchaus hätte originell sein wollen. Russland hat im Ganzen wie im Einzelnen seines Geriehtssystenis Frankreich und England nachgeahmt, dem einen diesen, dem andern jenen Zug entlehnt; aber es hat sich nicht begnügt, das nach Kräften zu verschmelzen, was es dem Auslande entnommen, es hat nicht allein diejenigen copirt, die es als seine Lehrmeister ansehen konnte, sundern ist auf die abstracten Vorstellungen zurückgegangen, welche seine Vorbilder geleitet haben. Die kaiserliche Regierung hat die Grundsätze des öffentlichen europäischen Rechts, die Principien des modernen Rechts selbst sich zur Richtschnur genommen. Wenn die Justizreform von allen grossen Reformen des Kaisers Alexander IL mit dem weitesten Blick erfasst und mit der grössten Entschiedenheit durchgeführt ist, so ist es nicht, weil sie sich auf erfahrungsmässige Thatsachen und Convenienzen des Augenblicks stützt, sondern weil sie eine rationelle Basis hat und zugleich auf allgemeinen Grundgedanken, die von allen modernen Völkern anerkannt sind, und auf der Praxis der civilisirtesten Staaten beruht. Daher besitzt diese Reform trotz der wiederholten Schwankungen einer Regierung, die jederzeit zu sehr zur Rückwandlung ihrer eigenen Gesetze geneigt war, das, was den ihr gleichzeitigen Reformen abgeht: die innere (Konsequenz, die Einheitlichkeit. Welche Principien liegen der neuen Gerichtsordnung zu Grunde? Zuerst die Trennung von Justiz und Verwaltung, die In abhängigkeil der Richter und der Gerichtshöfe vom kleinsten bis zum höchsten dass diese Letzteren sie für einen Theil ihres eigenen Werkes, für die Gerichte fürchten machten, welche das Statut vom H>. Fein-, inet den Bauern zugestanden hatte. Samarin spricht sieh hierüber in einem Briefe vom 28. Jan. 1868 gegen Milutin ans. S. das folgende Kapitel d, Buchs. hinauf. Dann die Gleichheit aller Unterthanen des Zaren ohne Unterschied der Geburt und Stellung vor dem Gesetz, die Aufhebung der •Stände und Kasten vor dem Gericht. Ferner die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens, da die Gerichtshöfe, die bis dahin geschlossen waren, jetzt weit geöffnet stehn, um unter der Controle der öflentlichen Meinung und der Presse ihres Amts zu walton. Endlich die unmittelbare Theilnahme des Volkes an der Justiz, sei 6S durch das Geschworengericht, sei es durch die Wahl der Richter. Für uns Europäer des Westens haben die meisten dieser Prinzipien weder etwas Neues, noch etwas Besonderes; in Hussland, das eben erst aus der Leibeigenschaft hinaustrat, riefen sie vielfaches Erstaunen, Zorn und Furcht hervor und weckten den Widerstand aller der Einflüsse, die an der Aufrechterhaltung der alten Corruption und der alten Confusion interessirt waren. Dergleichen Grundsätze trugen freilich eine wahre Umwälzung in das nationale Leben hinein: wären sie in der Praxis immer befolgt und geehrt worden, sie hätten den bösen Geist des Reiches, die bureaukratische Willkür ins Herz getroffen. Vornehmlich eine Neuerung war es. die den alten Tschinowniks besonders revolutionär und verderblich schien: die Trennung des Gebietes der Justiz von dem der Verwaltung, oder die Eman-zipirung der Justiz von jedem Eingriff der Regierung und ihrer Beamten. Allen Anhängern der Vergangenheit schien diese Theilung der Gewalten eine Schwächung der Regierung, die dadurch ihrer Waffe gegen das Volk beraubt werde. Und von ihrem Ktandpunet "iis waren die Klagen solcher Pessimisten begründet. Die Theilung der Gewalten ist überall die beste Bürgschaft für das Einhalten der ihnen gestellten Grenzen. Indem die Reform den Tempel der Justiz der Verwaltung und den Beamten verschloss, beschränkte sie die bisher unbegrenzte Macht des Tsehinowniklhiinis und des Günstling-Wesens. Wie das Gesetz und besser als das Gesetz, war die Unabhängigkeit der Gerichtshöfe an sich für die Regierung und ihre Beamten, für die zarische Allgewalt selbst schon Schranke und Zügel. Wenn die Autokratie die Justiz von der Vormundschaft der Verwaltung befreite und sich selbst jeder Einmischung in die Rechtspflege begab, war das nicht ein stillschweigendes Verzichten darauf. Wie Macht in ihrer Hand zu behalten? Wahrte sie sich auch die gesetzgebende und ausführende Gewalt, so entkleidete sie sich doch Zl> Gunsten der Gesellschaft der richterlichen, und wenn sie sich durch <«e Ernennung der Richter einen Theil derselben vorbehielt, so war es nur, um ihre Ausübung einer Autorität zu überlassen, deren Unabhängigkeit sie anerkannte Von diesem Tage an hörte das Zarenreich auf, im Sinne Montesquieu^ ein despotischer Staat zu sein, und wurde eine Monarchie, Der Herrscher hatte für sich und seine unmittelbaren Diener auf das alte Recht der Justiz, auf die bequemste und furchtbarste Waffe des Despotismus verzichtet. Von nun an erschien der autokratische Monarch auf der Höhe des Gebäudes der Gerechtigkeit nur als höchster Hüter des Gesetzes. So neu war diese Rolle für die kaiserliche Regierung, dass sie sieh lange nicht in sie zu finden vermochte und dass sie gezwungen war, auf Seitenwegen und durch Ausnahmegesetze einen Theil der Rechte, die sie eben aufgegeben, wieder zurückzunehmen. Man hatte geglaubt, die europaische Justiz in allen Stücken auf den alten autokratischen Boden verpflanzen zu können, aber dabei war vergessen, dass die Gerichtshöfe und das Geschworenengericht Europas neben der Willkür der Verwaltungsbehörden und der Allmacht der Polizei nicht unbeschädigt bestehen können. Das neue Prineip der Theilung der Justiz und der Verwaltung musste, obgleich es wichtige Beschränkungen erlitten hatte, noch eine zweite Folge haben, die gleich wichtig für das Land, gleich widerwärtig für das Tsehinownikthum war. Die Vermischung der Gewalten war bis in die letzte Zeit von einer Vermischung der Aemter begleitet, wie sie die Rangordnung des Tschin mit sich brachte. Vor der Reform des Kaisers Alexander IL gab es in Russland weder berufsmässige Richter noch Verwaltungsmänner; es gab nur Tschinowniks verschiedenen Ranges, die in der Regel Alles zugleich oder nach einander waren und von einem Ressort zum andern übergingen, ohne mehr Vorkenntniss oder Geschicklichkeit für das Amt von heute, als für das von gestern zu haben. An die Stelle dieser gleichzeitigen oder successiven Häufung der verschiedensten Aemter sollte das moderne Prineip der Berufsthätigkeit und der Berufslaufbahn treten. Von nun an begann Russland in seinen Tribunalen Richter sitzen zu sehen. Nach den strengsten Principien des modernen Rechts errichtet, besitzen die Gcriehtsinstitutionen Russlands eine strenge Ordnung und eine vornehme üebereinstimmung. Ks ist daher sehr beklagenswert h, dass Parteistreitigkeiten ihr Gesammtbild zu entstellen begonnen halien. Es giebt wenige Organisationen dieser Art, die eine so klare Ordnung zeigen. Der Stil mag wohl verschiedenen Ländern entlehnt sein, der Grundriss aber giebt dem Gebäude eine vollkommene Einheit, Die Originalität des Plans besteht in der Theilung der Justizämter in zwei von einander unabhängige und in der Art der Richterwahl wie in der Ausdehnung der Competenz sich unterscheidende Gruppen. Ks giebt, wie in vielen andern Ländern, zwei Arten von Gerichtshöfen, die Friedensgerichte und die ordentlichen Gerichte, jene auf Bagatellsachen beschränkt, deren Entscheidung wenig juristische Kenntnisse verlangt, diese zur Rechtsprechung über wichtige Fragen, in denen es sich um Vermögen, Freiheit, Leben der Bewohner handelt; in Russland sind aber diese beiden Gerichtsbehörden nicht über einander gestellt, sondern sie bilden zwei parallele, durchaus getrennte Gerichtsbarkeiten, von denen jede ihren eigenen Appellhof und ihre eigene oberste Instanz hat. Diese beiden, einzeln für sich dastehenden Gerichtssysteme treffen nur in ihrer Spitze, in dem Senat zusammen, der das Amt hat, über die Hochhaltung des Gesetzes in allen Gerichtshöfen zu wachen, sie alle zu einem Ganzen verbindet und so der Schlussstein im Gewölbe des ganzen Baus ist. Zweites Kapitel. Ständische Justiz. — Bauer- oder Wolostgerichte. — Grand ihres Bestehens. — Gewohnheitsrecht und geschriebenes Recht. — Zusammensetzung und Competenz der Bauergerichte. — Die Ruthenstrafe auf dem Lande. — Eine Sitzung des Dorfgerichts. — Andre ständische Gerichtshöfe. — Kirchliche Tribunale. Einer der wichtigsten Grundgedanken der Justizreform ist die Gleichheit aller Unterthanen des Zaren vor dem Gericht. Die neuen Gerichtshöfe sind für alle Rewohner des Reiches da, ohne Unterschied der Geburt noch des Berufes1). Diese Regel hat eine Ausnahme, welche den beträchtlichsten Theil des Volkes trifft. Unterhalb der doppelten Reihe von Gerichtsinstanzen, welche die Justizordnung einsetzte, giebt es noch einen älteren Gerichtshof, der den ständischen Charakter beibehalten hat. Ks ist das Wolostgericht (wölostnüi sud.), d;is durch die Freigebungsacte errichtet und speoiell für die Hauern bestimmt ist, die allein dort Richter und auch allein dessen Gerichtsbarkeit unterworfen sind. Woher diese Anomalie, durch die scheinbar mehr als drei Viertel d'T Nation dem gemeinen Rechte entzogen werden? Warum ist der zahlreichsten und mindest gebildeten Classe eine besondere, unab- ') Früher war das anders. In Criminalsachen sassen beispielsweise neben dem Präsidenten und einem Rath, die beide von der Regierung ernannt waren, 'Megirte der Classe, der der Angeklagte angehörte. L u r l. als dieses. So bleibt nach dem tiesetz das Vermögen des .Mannes von dem der Frau geschieden, aber das Herkommen lässt die (lallen in Gütergemeinschaft leben, wenigstens so lange sie zusammen wohnen, in Widerspruch zu dem von den Vorfahren ererbten Gewohnheitsrechte. Dieser Gegensatz zwischen der ofliciellen Gesetzgebung und dem nationalen Herkommen trägt viel dazu bei, in der Landbevölkerung das Ansehn des Gesetzes zu mindern. Ein hervorragender slaviseher Jurist, Boshisic, bemerkt in seinen Studien über das Gewohnheitsrecht der Südslaven: ein Gesetzbuch, das den Volks-instinct und die herkömmlichen Rechtsbegriffe verletze, drohe den Rechtssinn selbst zu zerstören. Der Mann aus dem Volke fügt sieh nur mit Widerstreben Gesetzen, die er nicht liebt, noch begreift, und sucht sich auf alle Weise ihrem Joch zu entziehen. Wenn die Wolostgerichte keinen andern Nutzen brächten, als dass sie dem Herkommen eine gesetzliehe Zuflucht und eine authentische Inter-pretion gäben, so wären sie doch keineswegs überflüssig, sondern winden an sich schon der Wohlfahrt und der Sittlichkeit der Dauern wichtige Dienste leisten. Den Gewohnheiten und Rechtsbegriflen entsprechend gestattet das Herkommen, das nicht, wie das Gesetz unbeweglich und an bestimmte Formeln gebunden ist, den Richtern einen gewissen Spielraum und ermächtigt sie, in Erbschaftsangelegenheiten und Familientheilungen, wie bei den Gemeindetheilungen, der Verschiedenartigkeit der persönlichen Verhältnisse Rechnung zu tragen. Die Freigebung hat in dem letzten Vierteljahrhundert die Aufmerksamkeit der Regierung und des Publicums auf diese bäuerlichen Sitten gelenkt, die zur Zeit der Leibeigenschaft fast ganz missachtet wurden. Im Herzen Russlands öffnete sich den Entdeckungen der Patrioten und der Neugierigen, der .Juristen und der Ethnographen eine unbekannte, eigenartige Welt. Es hat ihr an Forschlustigen nicht gefehlt; die Untersuchungen wurden durch die Regierung und gelehrte Gesellschaften ermuthigt, namentlich durch die russische geographische Gesellschaft i). Resondere Expeditionen wurden in verschiedene Gegenden gesandt, lange Monographieen wurden den Gewohnheiten der einzelnen Gouvernements gewidmet, weite Fragebogen, die sich immer weiter ausdehnten, bereiteten durch peinliche Erforschung der localen Recbtsgebräuche eine vollständige Sammlung des nationalen Gewohnheitsrechts vor. Für diese Arbeiten boten die Wolostgerichte mit ihren wühlbeglaubigten Auskünften ein solides Fundament; um die Rechtsbegriffe des russischen Volkes kennen zu l) S. Jahrbuch der Kais. russ. geogr. Gesellschaft. Ethnographische Abtheilung, besonder- IM. VIII, redigirt unter der Leitung von Malwejcw (mss.) 1876. lernen, hat man nur die Entscheidungen dieser Bauergerichte zusammenzustellen 1). Aus diesen Werken haben mehrere Schriftsteller interessante Studien über die Volkssitten und die bäuerlichen Vorstellungen von Recht, Eigenthum, Familie, Ehe geschöpft2). Die Urteilsspruche dieser bescheidenen Dorftribunale enthüllen uns in ihrer Wahrheit und Finfachheit alle Rechtsbegriffe und folglieb die sittlichen Begrub' der Mushiks. Trotz der provinziellen Verschiedenheiten giebt es im Gewohnheitsrecht Grossrusslands, wie in der russischen Nation selbst, eine unbestreitbare innere Einheitlichkeit. Die Gegenden, welche die verschiedensten Eigentümlichkeiten und die originellsten Gebräuche zeigen, sind in der Regel solche, bei denen Bevölkerungen fremden Stammes, Finnen und andere, in den Sitten und in dem localen Leben die meisten Spuren hinterlassen haben3). Lieber den ethnologischen und historischen Fragen, welche die Weisthümer des Volkes nahelegen, steht die juristische Frage. Welche Stelle kann das Gewohnheitsrecht in den Gerichtshöfen einzunehmen beanspruchen? Dies ist für den Gesetzgeber eines der wichtigsten und zugleich der schwierigsten Probleme. Die ersten Congresse russischer Juristen haben sich mit ihm beschäftigt. Die Regierung hat seine Wichtigkeit nicht verkannt. Ein Artikel (38) der Frei-gebungsacte bestimmte schon ausdrücklich, dass in Bezug auf Nachfolge und Vererbung die Bauern ermächtigt seien, den localen Gebräuchen zu folgen. Die Zeit ist vorüber, in welcher das Gewohnheitsrecht als eine Beeinträchtigung der Macht des Gesetzgebers betrachtet wurde. Das Gesetz von 1864, das die neue Justizordnung 'j Dies hat die „Commission für die Umgestaltung der Wolostgerichte" gethan. Sie hat IST 1 das Resultat ihrer Studien in sechs Bänden unter dem Titel: „Arbeiten der Commission" u. s. w. (russ.) niedergelegt. Wie es oii geschieht, bieten diese Ergebnisse der Commission den Gegnern, wie den Anhängern der Wolostgerichte Beweismaterial. Tschubinsky und Miltebrand haben ebenfalls eine Sammlung von Entscheidungen dieser Bauergerichte in Kleinrussland herausgegeben: „Rechtsgewohnheiten des Volkes nach den Entscheidungen der Wolostgerichte'' in den „Arbeiten der ethnographisch-statistischen Enquete in Wcstrusslaiid. Südwestliche Section" (russ.). a) Es seien hier noch die Schriften von Tschubinsky, Kistjakowsky, Efimenko, Matwejew, Jakuschkin, Fachmann angeführt. Der letztere hat das Civilgewohn-heitsreeht in einer Art von Handbuch in zwei Bänden zusammengestellt: „Das bürgerliche Gewohnheitsrecht in Russland" 1877—79 (russ.). a) So z. I). die < iouvernements von Olonetz, Wätka, Kasan, Fensa, Samara. Von den Eingeborenen des Kaukasus und Sibiriens, die ebenfalls Stoff zu zahlreichen Untersuchungen geboten, kann hier nicht die Rede sein. einführt, macht es den Friedensrichtern zur ['dicht, dem geltenden Herkommen Rechnung zu tragen; aber da der Gesetzgeber für die Fälle des Conflicts zwischen dem geschriebenen Recht und dem Gewohnheitsrecht keine Vorsorge getreffen hat. so wird das letztere gewöhnlich geopfert oder nur angewandt, wenn kein geschriebenes tiesetz vorhanden ist1). In den Wolostgerichten allein herrscht das Herkommen unbedingt, und von ihnen allein werden die Hauern nach ihren eigenen Rechtsbegriffen gerichtet. Die C'ompetenz dieser Wolostgerichte ist freilich auf Streitobjecte von weniger als 100 Rbl. beschränkt, und ihre Zuverlässigkeit, wie ihre Unparteilichkeit bieten nicht genügende Bürgschaft, um das Gebiet ihrer Rechtsprechung auszudehnen3). Ueber 100 Rbl. hinaus seheint der Rositz der Bauern also dem Gewohnheitsrecht entzogen und dem Bereich des geschriebenen Gesetzes anvertraut zu sein. In der Praxis wird das aber keineswegs immer eingehalten. Die Mehrzahl der bäuerlichen Sachen, die nicht vor ein Gericht gelangen, werden nach dem localen Herkommen geordnet; auf Streitsachen selbst, die vor die gewöhnlichen Gerichte kommen, können die Richter oft nur mit Schwierigkeit ein Gesetz anwenden. Wo der Gemeindebesitz herrseht, sind die Rechte der Familien in demselben Dorfe und die Rechte der Glieder derselben Familie oft zu schlecht umzeichnet, rechtlich zu schlecht begründet, um die Basis eines Urteilsspruchs sein oder die Anwendung des gewöhnlichen Gesetzes ermöglichen zu können. Wenn endlich der Gesetzgeber den Wolostgerichten nur Streitigkeiten von weniger als 100 Rbl. Werth zuweist, so genügt doch die Einwilligung der beiden Theile, dass auch wichtigere Dinge vor diese bescheidenen Tribunale gebracht und durch deren Richtspruch gesetzlich entschieden werden. So ist das Gebiet des Gewohnheitsrechts und der bäuerlichen Gerichtsbarkeit weniger eng umgrenzt, als es auf den ersten Blick scheint. 1| Tin diesem .Missslande und der allzugrossen Freiheit vorzubeugen, die derartigen Urtheilen anhaltet, ist wiederholt die Codification der häuerlichen Rechtsgewohnheiten unter der Form einer bäuerlichen Gerichtsvcrlässung gefordert worden. Das wäre, wie der Senateur Kalatschow sagte, ein Mittel, die Ywlk gebrauche in das Gesetz einzuführen und vielleicht nach Bcdürfniss auch auf andre Stände auszudehnen. Dieser Flau stösst leider auf ein grosses Hinderniss in der Verschiedenheit der localen Gewohnheiten nach Hoden, Klima, Bevölkerung, Bitten, S. Kalatschow: „Von dem Verhältniss der Rechtsgewohnheiten zur Gesetzgebung" (russ.). Mem. der russ. geogr. Ges. Ethnogr. Bd. VII1. -2j Es handelt sich auch nur um Processe, die sich auf Mobiliarvermögen °der Gemeindebewilligungen beziehen. Sireiligkeiten um Immobilien, die ausserhalb der Gemeindequote erworben sind, gehören vor die ordentlichen Gerichte. Die Competenz der Wolostgerichte ist nicht auf Civilsachen allein begrenzt: sie dehnt sich auf gewisse Criminal- oder Correctionalfälle aus, wie man etwa in Frankreich sagen würde. Die Wolostgerichte richten über alle Vergehen von geringer Bedeutung, die im Bereich der Wolost von Bauern gegen ihres Gleichen verübt sind 1). Zu den Delicten, die diesen häuerlichen Gerichten unterstellt sind, gehören alle Polizeivergehen: Streit, Rauferei, Unordnungen jeder Art, Trunkenheit, Bettelei. Dann die Verbrechen gegen das Eigenthum: Gaunerei, Vertrauensbruch, jeder einfache Diebstahl, dessen Object weniger als dreissig Rbl. werth ist; ferner Angriffe auf die Person, Beleidigungen, Bedrohungen, Schläge und leichte Verwundungen. Zu diesen Vergehen kommen endlieh die Verletzungen der bäuerlichen Gesetze oder Gebräuche, die sich auf die Theilung der Gemeindeländereien oder die Familientheilungen, auf den Wohnsitz und den Wechsel desselben beziehen. Dieser patriarchalischen Justiz fällt es also zu, den Gehorsam gegen die traditionelle Autorität der Gemeinde und zugleich den Respect aufrecht zu erhalten, der den Beamten der letztern, den Wolost-und Dorfältesten, den Eltern, den Greisen und — nach dem Wortlaut des Gesetzes —- allen einer besonderen Hochachtung würdigen Personen gebührt. Der bäuerliche Gerichtshof hat also auch die Sorge um Sicherstellung der häuslichen Autorität, wie der Autorität des Mir, um Aufrechterhaltung des Friedens und der Ordnung im Hausstand, wie in der Gemeinde des Mushiks. Er beschränkt sich oft nicht auf diese Rolle, sondern übt mitunter eine wirkliche Sitteneensur aus und geht sogar so weit, Uebertretungen religiöser Lehren zu bestrafen — vielleicht um des alten Begriffs der Solidarität wegen, aus Furcht, die Gemeinde könne für die Sünden eines ihrer Glieder heimgesucht werden. Die Wolostgerichte haben die Freiheit und Sicherheit der Frauen und Kinder ebenso zu schützen, wie die Autorität des Familienhauptes. Das Gesetz gesteht ihnen das Recht zu, die Männer zu strafen, *) Die Bewohner anderer Stände, die (iutsbesitzer und die Leute in ihrem Dienst, stehen nicht unter den Wolostgerichten, wie auch nicht unter der Macht des Dorfältesten, Mehrere Glieder des Adels haben diese Ausnahmstellung dazu benutzen wollen, um zu Gunsten der Grossgrundbesitzer ein Gerichts- oder Polizeirecht auf ihren (iütern zu verlangen, da, wie sie behaupten, bei dem jetzigen Zustande weite Landstrecken von mehreren hundert Quadratwersten ganz ohue Polizei seien. Diese Kämpfer für den Adel behaupten ferner, dass die Gleichheit zwischen dem Bauer und dem Gutsbesitzer es fordere, dass der letztere mit einem Recht der Gutspolizei bekleidet werde. S. Dmitriew, „Der revol. Conservativismus" (russ.). die ihre Frauen misshandeln, oder die Eltern, die ihre elterliche Gewalt missbrauchen. Ist die Führung eines Vaters schlecht, so gestatten die Richter dem Sohne, ihn zu verlassen. Hat ein älterer Bruder, als Haupt des Hauses, gegen seine Schwestern den Tyrannen gespielt, so finden diese hei den Richtern Schutz. Führt ein Familienhaupt seine Angelegenheiten schlecht, 80 nehmen ihm die Richter die Leitung des Hausstands und übertragen seine Rechte zu Gunsten seiner Kinder auf seine Frau: da die Brutalität des Ehegatten, eine Erbschaft der Sitten der Leibeigenschaft, eines der Hauptlaster des Musbiks ist, würden die Wolostgerichte der bäuerlichen Familie einen unschätzbaren Iheust erweisen, wenn sie hier wieder die Würde der Mutter und des Weihes zu Ehren bringen würden.1) Die häuslichen Streitigkeilen veranlassen mitunter seltsame l'rtheilssprüche dieser primitiven Justiz. In einem dem Verfasser bekannten Dorfe standen ein Mann, der seine Frau geschlagen hatte, und die Frau, die nicht mehr mit dem Gatten zusammen leben wollte, vor Gericht. Da sie keinen der Theile den Process gewinnen lassen wollten, verurtheilten die Richter beide zu einigen Tagen Gefängniss. und weil es nur einen Raum im Gefängniss gab, wurden leide Schuldige zusammen eingesperrt. Tn der Regel zeigen natürlich die Richter wenig strenge gegen den Missbrauch der ehelichen Gewalt, und nicht selten nimmt der Mann, wenn er gestraft worden, daheim Vergeltung an seinem Weibe. So vergiftet die Gerichtsentscheidung nicht selten die Beziehungen zwischen den Gatten, und die Frau rettet sich nur allzuoft vor der ehelichen Tyrannei durch Flucht oder Mord.2) Im die Bäuerinnen nicht solchen äussersten Entschlüssen anheimfallen zu lassen, ist davon die Rede gewesen, den Wolostrichtern das Recht zu verleihen, im Fall der Misshandlung des einen durch den andern die Trennung der Khegatten auszusprechen. Dies Recht scheint für derartige Gerichtshöfe allzu weitgehend, doch könnte es ihnen indirect zugestanden werden, wenn man ihnen einfach die Befugniss ertheilte, einer von ihrem Manne misshandelten Frau einen Pass zu geben, der ihr Haus und Gemeinde zu verlassen gestattet. Die ländlichen Sitten begünstigen allzusehr die Gewalt des Eheherrn, als dass die Dorfgeriohte 'i S. 15(1. 1, Buch VIII, Kap, II. -j Nach der (Yiminalstatistik ist die Zahl der Frauen, die sieh ihrer Männer durch Eisen oder Gift entledigen, verhältnissmässig betrachtlich, und Verbrechen dieser Art, die in der Rohheit der Männer ihren IVsprung haben, rinden meist vor den Geschworenen Gnade. ihre Befugnisse gegen den Mann überschreiten und die Ketten der Frau brechen sollten, solange das Gewicht derselben nicht wirklich unerträglich ist.J) Die Strafen, welche die Wolostgerichte auferlegen können, sind verschiedener Art. Der Gesetzgeber hat sich wohl gehütet, sie in das Belieben der Richter zu stellen: er hat sich bemüht, sie zu bestimmen und ihre Grenze festzusetzen. Das Gesetz lixirt das höchste Strafmass auf drei Rubel, sieben Tage Haft, sechs Tage Frohndienst zum Besten der Gemeinde und endlich auf zwanzig Ruthenhiebe. Diese letzte Strafe stellt die Wolostgerichte ausserhalb des gemeinen Rechts und der Gesetzgebung, welche die Körperstrafen abgeschafft hat. Woher diese besondere, uns anstössig erscheinende Anomalie? Sic ist das Ergebnis* des besondern Charakters dieser bäuerlichen Justiz. Gewohnheit und Tradition feiern in deti Augen des Bauern mit der Ruthenstrafe in der Criminaljustiz, in dem Strafrecht, wie in dem Civilrecht ihren Triumph. Der jahrhundertelang geschlagene und gepeitschte Leiheigene von früher ist für den Stock und die patriarchalischen Züchtigungen geschaffen; er fürchtet den Schimpf derselben kaum und bietet ihnen ohne Beschämung seinen Rücken dar. Er ist noch allzu realistisch und positiv, um ihre praktischen Vortheile nicht zu erkennen und wreiss vorurtheilsfrei die Peitsche zu würdigen. Ruthen kosten weder Geld noch Zeit: ..Nach der Peitsche arbeitet und schläft siebs besser," sagt ein altes Sprüchwort. Das Herkommen erhält noch die Ruthenstrafe in der Dorfjustiz, und das Herkommen wird sie allmälieh abschaffen. Eine der Vorzüge des Gewohnheitsrechts vor dem geschriebenen Gesetz ist, dass das erstere sich in der Wirklichkeit allmälieh verändert und sich unbemerkt mit den Sitten und den Vorstellungen bessert, deren Fortschritten es folgt. Daher hat der Gesetzgeber wohl daran gethan, an den länd- r) Thatsächlich nehmen sich diese untersten Gerichtshöfe- oder die Dorfversammlung seihst mitunter das Recht , die Trennung oder Scheidung nicht zusammenpassender Paare auszusprechen. Hier ein Beispiel aus einem Kreise des Tula'sehen Gouvernements vom Jahr 1880. Ein Bauer Namens Kusmitschew hatte gegen sein Weib Klage geführt, weil es ihn verlassen hatte und sich nun weigerte zu ihm zurückzukehren. Der Mir machte es dem Vater der jungen Frau zur Pflicht, sie zu ihrem Gatten zurückzuschicken. Der Vater antwortete, das sei unmöglich, weil der Mann sie nicht I»bis misshandelt habe, sondern sie Hungers sterben lasse und ein Verhältniss mit einer andern Bäuerin unterhalte. Nachdem der Mir oder das Wolostgericht die Zeugen vernommen, wurde die Scheidung der Gatten ausgesprochen, der jungen Frau ihr Eigenthum wiedergegeben und sie für frei erklärt. Der Ortsgeistliehe konnte an diesem Bosch Ins-nichts ändern. liehen Gewohnheiten und Ueberlieferungen keine Gewalt zu üben, sondern sich hei Abschaffung jener erniedrigenden Strafe auf die Classen allein zu beschränken, die unter das geschriebene Gesetz fallen. Wenn eins! der Mauer die ganze Unwürdigkeit, die Niedrigkeit dieser Züchtigung, die für alle andern Stünde gesetzlich aufgehoben ist. erkennen wird, dann werden muh die Wolostgerichte alsbald aufhören, den Mushik zu ihr zu veriirtheilen. Die Ruthen werden den Richtern von selbst aus den Händen fallen, und wenn das Gesetz einmal endgültig ihren Gebrauch verbietet, wird es damit nichts thun, als den Fortschritt der Sitten anerkennen, Die Reform wird sich allmälieh ganz von selbst machen. Schon beginnt der Gebrauch der Ruthen abzunehmen; in vielen Gemeinden neigen die Bauern dahin, Geld- oder Haftstrafen an ihre Stelle zu setzen. Auch das Gesetz duldet diese bäuerliche Züchtigung nur, indem es sie beschränkt; es nimmt diejenigen Bauern von der Strafe aus, die am meisten in ihren Gefühlen oder an ihren Gliedern darunter leiden würden, die Frauen jeder Altersstufe, die Greise über sechzig Jahre, die Männer, die in einer Kreisschule ein Rildungszeugniss erhalten haben, endlieh alle Gemeindebeamte und alle, die zu der Local-Verwaltung, zum Unterrichtswesen und zum Kirchendienst gehören, so dass die Ruthenstrafe selbst in den Dörfern, in denen sie geduldet wird, nur noch die Minderzahl der Bewohner I reffen kann. Freilich worden diese gesetzlichen Vorschriften nicht immer beobachtet. l) Die Dorfrichter thun sich bei Gelegenheit keinen Zwang an, Frauen peitschen zu lassen, mitunter wohl auch, wenn die Ehemänner sich an das Wolostgericht wenden, um ihren Lebensgofährlinnen eine Züchtigung ertheilen zu lassen. Die Complicirtheit der russischen Gesetze ist nicht ohne Schuld an solchen Ungeheuerlichkeiten. In diesem, wie in vielen andern Puncten ist die Gesetzgebung noch durchaus nicht in sieh selbst übereinstimmend. Der kaiserliche Ukas vom April 1863 hat die Frauen zwar von der Körperstrafe befreit, aber die Fmaneipationsaete von 1861, die im Besonderen die Rechte der Bauern regelt, ermächtigt die Wolostgerichte, Frauen unter 50 Jahren peitschen zu lassen. Das ') Einer der Fälle, in welchen die Wolostgerichte um meisten versucht sind, die Körperstrafen zu missbrauchen, ist ihre Anwendung gegen rückständige Steuerpflichtige. Dank der solidarischen Gemeindehaft (Bd. I, Buch VIT], Kap. V) können auch die Richter praktisch an dem pünktlichen Eingang der Steuern interessirt sein. Daher wird die Kuthenstrafe bisweilen angewandt, um die Steuerzahlung, für welche die Gemeinde dem Staat verantwortlich ist, zu beschleunigen. Emancipationsstatut, die eigentliche Verfassung für die Bauern, ist nämlich gewöhnlich der einzige Gesetzestext, der den Bauern geläufig ist Seltsamerweise — ein Beispiel für den Mangel an Einheit in der russischen Gesetzgebung— verzeichnet die letzte Ausgabe der Reichsgesetze die beiden einander entgegenstehenden Verordnungen als gleich rechtsgültig.l) Müssig wäre es, von Gerichtshöfen, die allein die Aufgabe haben, die localen Rechtsgewohnheiten in Anwendung zu bringen, irgend welche juristische Bildung zu verlangen; auch sind die Wolostrichter einfache Bauern, die von ihres Gleichen gewählt werden. Bei dem Gewohnheitsrecht bietet ein Gericht von Standesgenossen nur Vortheile, die Wahl der Richter scheint natürlich. Der Richter ist kaum mehr als ein Schiedsrichter oder ein Geschworener, und wo das Herkommen beirscht, funetionirt die Jury fast eben so leicht in Civil- wie in Criminalsachen. Gewöhnlich haben die Wolostrichter ein einjähriges Man dat. ihre Wahl wird von der Wolostversammlung (wolostnöi s'chodj vollzogen, die selbst von den Familienhäuptern jedes Dorfes ernannt wird.8) Dieser Gerichtshof geht also aus einer zweifachen Wahl hervor. Die Zahl seiner Glieder schwankt zwischen vier und zwölf. Alle vierzehn Tage, gewöhnlich am Sonntag, müssen die Richter eine Sitzung halten. Die Dorfältesten, der Starsehina und die Staroste sind förmlich von diesem Gericht ausgeschlossen: sie dürfen sich weder in das Verfahren mischen, noch selbst der Sitzung beiwohnen. Bis in den Kreis dieser ausserordentlichen Gerichtsbarkeit hat man versucht, die Kinmischung der Verwaltung in die Justiz fernzuhalten und das neue Prinzip der Theilung der Gewalten an die Spitze gestellt. Auf dem Lande bleibt diese Trennung oft mehr eine scheinbare, als '■ine wirkliche; kann der Starost oder der Starschina auch nicht unter den Richtern sitzen, so lässt er doch seine Freunde und Creaturen wählen und hält die Gewählten in seiner Gewalt.*) Man darf übrigens nicht vergessen. dass bei dem Bestände des Gemeindebesitzes die Dorfversammlung oder der Mir, die Quelle aller localen Gewalt, von b Swod, Ausgabe von L876, Art. 2178 des II. Ikls. und Art. 102 der Bauer-verordmuig, Anhang zum IX. Bande. J) S. oben Buch I, Kap. III. *) Ausserdem gestellt das Emancipationsstatut , das alter als die Gerichtsordnung ist, dem Starschina und den Starosten das Recht zu, ihre Untergebenen mit einer Geldstrafe von einem Rubel und mit zweitägiger 1 faft oder Strafarbeit zum Besten der Gemeinde zu belegen. Will er eine härtere Strafe verfügen, so muss der Aelteste den Schuldigen dem Wolostgericht übergeben, das jetzt allein noch zur Ruthenstrafe veriirtheilen kann. sich aus alle Fragen entscheidet, welche sich auf die Land- und Steuervertheilung beziehen, und über alle Glieder eine Art von Disziplinargewalt übt, die sieb bis vor Kurzem noch auf dir Verbannung und die Deportation nach Sibirien erstreckte.l) Man kann von den Wolostrichtern nicht wohl eine höhere Bildung als die Durchschnittsbildung der Bauern verlangen. Die meisten von ihnen sind Analphabeten; auf fünf oder sechs von ihnen giebt es kaum einen oder zwei, die lesen und schreiben können.a) Die grosso Mehrzahl begnügt sich damit, ein Kreuz unter die von dem Pissar oder Gemeindeschreiber aufgesetzten Protoeolle zu zeichnen. Das Gesetz gestattet den Gemeinden, ihren Richtern einen Gehalt zu bewilligen, aber in der Regel bleiben sie ohne einen solchen. Den Bauern erscheint somit dieses Amt als eine Last ohne Entschädigung, so dass es in der Regel durchaus kein sehr gesuchtes ist. Viele betrachten diese unentgeltliche Magistratur wie einen drückenden Frohn-dienst, und in mehreren Wolosten beruft man alle Familienhäupter der Reihe nach dazu. Folge hiervon sind Missbräuehe, Mangel an Unabhängigkeit des Gerichts, übergrosser Kinlluss des Starschina und namentlich des Schreibers, der bei Aufstellung der Acten oft die Ur-iheile dictirt und mitunter mit seinem Einfluss Handel treibt. Im Gegensatz zu der Erscheinung in einigen Schweizer Cantonen bei ähnlichen Gerichten3) strengt sich der Schreiber, als einziger Vertreter der Wissenschaft oder besser der juristischen Formeln, keineswegs im Dienste der Gerechtigkeit an, sondern er begünstigt häufig die Intrigue und das Unrecht, zumal wenn er mit seinen oberfläch* liehen Rechtsbegriffen das geschriebene Gesetz an die Stelle des Herkommens setzt und so Verwirrung in die Wolostgerichte trägt. Mit dem Pissar schleicht sich die administrative Corruption in die Justiz, wie in die bäuerliche Verwaltung ein. Die Käuflichkeit, die aus den gewöhnlichen Gerichten fast ganz vertrieben ist, hat so eine Zuflucht in der stillen Landjustiz gefunden. Ich habe in einem der centralen Gouvernements Kurlands der Sitzung eines Bauergerichts beigewohnt. Die Richter tagten in einem Hause von Holz, ähnlich der Isba des Mushiks. Der Raum war klein und niedrig, ein Bildniss des Kaisers schmückte die Wand, und — wie überall in Russland, — hingen Heiligenbilder in einer Ecke. Drei Richter in langen Barten und langen Kaftans sassen auf einer ») S. Puch 1, Kap. III. -i Nach dem Ergebnis» der Enquete nur einen. 3) S. G. Picot, La ReTorme judiciaire 1881. Rank; zu ihrer Linken befand sieh hinter einem kleinen Tisch der Pissar, der allein in der Versammlung rasirt und europäisch gekleidet war. Wie üblich fand die Sitzung an einem Sonntage statt; die Menne draussen, vor der Thür des bescheidenen Gemeindehauses, schwatzte von ihren Angelegenheiten. Raum, Richter, Publicum drinnen hatten einen Zug einfacher, ernster und zugleich naiver Würde, die sogar etwas von bäuerlicher Hoheit besass. Ich sah zwei Processe entscheiden, einen Civil-, einen strafrechtlichen. Bei ihrem Fintritt verbeugten sich Parten und Zeugen nach altem Gebrauch tief vor den Heiligenbildern und schlugen ein grosses Kreuz, Unter den Richtern liess sieh ein Vorsitzender nicht erkennen; sie fragten und sprachen der Reihe nach oder gleichzeitig, jeder gab seiner Meinung lauten Ausdruck. Der Schreiber schrieb und mischte sich von Zeit zu Zeit in die Debatten1). Ich bewunderte die geduldige Ausdauer, mit welcher die Richter die Parten zur Versöhnung zu bewegen suchten. Eine der beiden Streitsachen zeigte einige besonders charakteristische Nebenumstände. Es handelte sich um eine grosse, kräftige Dirne, die Klage führte, von einem Manne geschlagen worden zu sein. Diesmal hatte nicht der Ehemann die Rohheit verübt, was ohne Zweifel in den Augen des Gerichtshofs eine Entschuldigung oder ein Milderungsgrund gewesen wäre. Der angeklagte Mushik verheidigte sieh damit, das Frauenzimmer habe ihn zuerst geschlagen. Klägerin und Beklagter standen vor den Richtern, führten ihre Sache beide mit grosser Lebendigkeit, unterbrachen einander und wandten sich an die seitwärts aufgestellten Zeugen. „Warwara Petrowa," sagte ein Zeuge von der Gegenpartei, „hat erklärt, mit einem Wedro (etwa 12 Liter) Branntwein hätte sie ihr Recht sicher," Bei dieser F]nt-hüllung erschien der Gerichtshof wedeT überrascht noch erzürnt: die Richter schüttelten ernsthaft die Häupter, ohne eine übertriebene Entrüstung zu verrathen und setzten nach einer kurzen Bemerkung gegen den unklugen Zeugen die Befragung fort. „Verständigt euch, vertragt euch," wiederholten sie immer wieder, suchten eine Form für diese Verständigung und gaben sich offenbar alle Mühe, sich den Urteilsspruch von den Streitenden selbst dictiren zu lassen, statt ihn von sich aus zu fällen. „Nun, Warwara Petrowa," sagte einer der Richter zu den Frauenzimmer, „wieviel Schadenersatz verlangst 'i Das ganze Vorfahren ist mündlich, doch muss ein Protokoll über die Sachen und die Urtheile der Richter aufgenommen werden. Daher die Noth-wendigkeit eines Schreibers. rlu?a — „Drei Rubel," antwortete die Bäuerin — „Drei Rubel? das ist zu viel, das bekommst du nicht," murmelte der Richter und wandte sich an den Angeklagten: „Und du, wieviel willst du ihr geben?" — „Ich? gar nichts," antwortete der Mushik. — „Oh," erwiderte der Richter, „gar nichts ist zu wenig. Wieviel gicbst du?" — „Eh, einen Rubel," gab der Angeklagte nach. — „Einen Rubel und ein Stof," unterbrach das Frauenzimmer. — „Man spricht hier nicht von Stof und Branntwein," warf einer der Richter ein, den unsere Gegenwart vielleicht strenger stimmte, „draussen kannst du trinken, soviel du willst, aber vor Gericht spricht man davon nicht." — Das Weib gab sich darauf zufrieden, der Schreiber verlas das Urtheil, das den Angeklagten zu einer Entschädigungszahlung von einem Rubel verdammte, die beiden Parten neigten sich zustimmend, verbeugten sich vor den Heiligenbildern und zogen sich mit ihren Verwandten und Freunden zurück. Trotz des Protestes des Richters scheint der Branntwein, das „helle Wasserchen," (wodka) eine grosse Rolle in der bäuerlichen Justiz zu spielen. Viele Prozesse finden ihre Lösung im Kabak: Richter, Schreiber und Parten trinken und betrinken sieh gemeinsam. Der Alkohol ist bald Geschenk, bald Strafzahlung. Mitunter — so heisst es — giebt sich der Gerichtshof die Mühe nicht, das Looal zu wechseln; ist der Spruch gefällt, so lässt der Verurtheilte - man mochte sagen der Verlierende, ein Wedro auf den Tisch der Richter legen, und ohne die Sitzung aufzuheben, wird aus der Gerichtskammer eine Kneipe. Es kommt auch wohl vor, dass ein Bauer, der über einen andern Klage zu führen berechtigt ist. der langweiligen Procedur eines Richtsprüche dadurch aus dem Wege geht, dass er um ein Wedro Branntwein sieh freundschaftlich mit den andern auseinandersetzt. Die Wodka dient als übliche Münze bei diesen Verträgen vor Gericht. Der Mir wendet sie an, wie die Wolostgerichte. In einigen Dörfern des Gouvernement Kaluga hatten beispielsweise die Landfresser — mirojedüi, — die meist Schänkeninhaber sind, vor Kurzem ein Verbot durchgesetzt, wonach bei Strafe eines halben Wedros keinerlei Arbeit ohne die Erlaubniss der Gemeindeversammlung begonnen werden durftex). Nichts überraschenderes für uns, als ein Vorgang im Centrum des Reichs: in dem Gouvernement Pensa hatten vor einigen Jahren zahlreiche Bauergemeinden unter dem Einfluss einiger philanthropischen Marktschreier und allzueifriger Beamten plötzlich beschlossen, die Schänke in den Bann zu thun. ') Landwirthschaftliche Enquete. Bd. II. Nun ergab es, dass in mehreren von diesen Gemeinden, die officiell aus der Massigkeit Beruf machten und die strengsten Lehrer der „teetotalers" angenommen zu haben schienen, die von den Wolost-gerichten verhängten Strafzahlungen statt in Geld, in Branntwein erlegt und von Bichtern und Gemeindebeamten vertrunken wurden ]). Sehr erklärlich, dass bei solcher Sachlage die Wolostgerichte der Gegenstand lebhafter Kritiken und leidenschaftlicher Angriffe sind. Es wird ihnen vorgeworfen, kein anderes Gewohnheitsrecht anzuerkennen, als das der Wodka; die Richter seien unwissend, der Starschina oder der Schreiber allmächtig, sie seien entweder käuflich, oder parteiisch. Olfenbar können derartige Gerichte nicht jeden Vorwurfs frei sein; aber, unparteiisch betrachtet, fliessen die meisten Schwächen der Wolostrichter aus den Schwächen des Bauern selbst; sie werden verschwinden oder geringer werden, je mehr der Volksunterricht und die Sitten sich bessern. Alle diese TJnvollkommenheiten nehmen dieser niedern Gerichtsbarkeit das Verdienst nicht, die rascheste, billigste und dem Mushik verständlichste zu sein. Wenn unter den Gutsbesitzern und den städtischen Schriftstellern viele ihre Aufhebung fordern, so verlangen doch die Bauern selbst, die sich über sie beklagen, ihre Äufrechterhaltung. Von vierhundert Aussagen, weiche die Lnqueteeummission über sie gesammelt, sprachen sich nur sechzig für Abschaffung dieses Gerichtscollegiums aus. Man muss übrigens hierbei nicht vergessen, dass in vielen Fällen die Bauern, wenn sie in die Gerechtigkeit oder in die Einsicht der Wolostgerichte kein Vertrauen setzen, die Freiheit haben, sich ihrem Urteilsspruch zu entziehen. Wie sie bei beiderseitiger Zustimmung den Wolostgericbten Sachen vorlegen können, die das Gesetz den gewöhnlichen Gerichten zuweist, so können auch die Parten den Friedensrichtern solche Fälle anvertrauen, die in den gesetzlichen Bereich der Wolostrichter fallen. Sehr viele Bauern machen von diesem Rechte Gebrauch. Andre wenden sich zur Schlichtung ihrer Streitigkeiten an den Stanowoi und an die Polizeibeamten. Ueberdies können Civilsachen ohne ]) Diese Einzelheiten, die mir von Augenzeugen mitgctheilt worden sind, hat eine der Petersburger Monatsschriften, der „Europäische Bote" (Westnik Jewropüi, Juli und Sept. 1876) bestätigt. Derartige, in Russlaud noch allzu häutige Widersprüche sind nur eine Eolge der prahlerischen Sucht vieler Beamten oder Privaten, l'rheber Aufselm erregender oder auch nur scheinbarer Reformen zu sein, um dadurch die Augen der Regierung und des Publicums auf sich zu lenken. So hat auch beispielsweise einer der Hauptstifter dieser Mässigkeitsliga im Gouvernement Reusa eingestandenermassen auf seinen (Jätern eine grosse Menge von Schaaken eingerichtet. Rücksicht auf den Werth des Streitobjects jederzeit bei Zustimmung beider Parten der Entscheidung eines oder mehrerer Schiedsrichter, welche von den Interessirten ernannt werden, übergeben werden. In solchem Falle genehmigt das Oesetz das Urtheil des Schiedsgerichts (treteiski sud) und erklärt die Entscheidungen für unabänderlich. Die Bauern haben also die Wahl zwischen verschiedenen Gerichtshöfen; die Rechtssprechung der Wolostgerichte ist wenigstens in Civilsacben nur facultativ, was die oben erwähnten Missbräuche in dieser patriarchalischen Justiz wesentlich beschränkt. Auch wenn das Gewohnheitsrecht, auf dem das ganze Landleben beruht, nicht ein besonderes, gesetzlich bestätigtes Organ besässe, wären die Bauerngerichte doch nicht weniger die natürliche Ergänzung des Mir und des Gemeindebesitzes. Solange der Mir seine alten Formen, solange die Landgemeinde ihren ständischen Charakter bewahrt, wird es schwer oder nachtheilig sein, die Wolostgerichte aufzuheben oder sie ihres standesthümlichen Charakters zu entkleiden. Die Enquetecommission der Regierung hat daher auch nach Prüfung dieser besondern Justiz in etwa zwanzig Provinzen sich darauf beschränkt, nach Mitteln zur Verbesserung ihrer Wirksamkeit sich umzu-sehn, Bei dem jetzigen Zustand der Sitten ist das Leider ein schwieriges Unternehmen. Um die Amtsführung und den Bildungsgrad der Richter zu heben, hatte die Commission vorgeschlagen, ihnen einen Gehalt auszusetzen, was dieser volksthümlichen Justiz aber einen ihrer grössten Vorzüge, die Billigkeit, nehmen würde. Damit diese neue Last nicht allzusehr auf die Gemeinden drücke, schlug die Commission vor, die Zahl dieser Gerichte zu vermindern und ihren Sprengel auszudehnen, was wiederum das Amt des Richters allzu zeitraubend und die Thüren des Tribunals weniger zugänglich machen würde. Ich habe Friedensrichter im Wunsche der Hebung der Wolostgerichte vorschlagen hören, dass es den Bauern gestattet werde, ihre Richter ausserhalb ihres eigenen Kreises, aus den Gutsbesitzern beispielsweise, zu wählen: über abgesehen davon, dass diese letztem oft die Gebräuche nicht recht kennen, so würden sich auch kaum welche finden, welche dieses untergeordnete Amt unentgeltlich üben wollten. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es schwer ist, auf gesetzgeberischem Wege die Mängel des wolostnüi sud zu heilen. Die bäuerliche Justiz lässt sich leichter abschaffen, als ändern. Daher haben diese so oft und mit soviel Grund angegriffenen Wolostgerichte unverändert die Regierungs-enqtiefen und die Reformentwürfe der Presse überlebt. In diesem I'uncte sind die offieiellen Commissionen praktisch ohne Einfluss gehlieben. Um die Missbräuche dieser Bauernjustiz zu beseitigen, muss mau weniger auf das Gesetz und die Regierung, als auf die Zeit und auf die Hebung des sittlichen Zustande der Musbiks bauen. Nach der Emancipationsacte sind die Entscheidungen der Wolostrichter in Civil- wie in Strafsachen endgültig. Ihre Urtheile können nur angestritten und annulirt werden, wenn das Gericht die Grenzen seiner Befugnisse uberschritten oder wenn es die wenigen Formalitäten, die das Gesetz vorsehreibt, wie die Berufung der Parten und die Verhöriuig der Zeugen, vernachlässigt hat. Es giebt also für die Bauergerichte keinen Appellations- sondern nur einen Cassationshof. Die Bllieht, die Gesetzlichkeit der Entscheidungen der Wolostgerichte zu überwachen, war 1866 den Versammlungen der Friedensvermittler (mirowüje posredniki) auferlegt, jener Behörde, die durch die Emanci-pationsacte zur Regelung der Streitigkeiten zwischen Bauern und Gutsbesitzern geschaffen worden war. Die Zahl der Berufungen an die Friedensvermittler betrug in Criminalfällen nur 7, in Civilsachen 4%, was glauben Hesse, dass die Richter nur wenig Amtsmissbräuche begingen, oder dass die Mehrzahl der Parten ohne Widerspruch ihre Entscheidungen hinnahmen. Nach der Aufhebung der Friedensvermittler ist das Amt der Cassation gegenüber den Wolostgeriohten nicht einem Gerichtshofe, sondern einem neuen administrativen, insbesondere zur Controle der Bauergemeinden geschaffenen Collegium übergeben, der Kreisbehörde für Bauerangelegenheiten *). Für diese bescheidenen Gerichte giebt es noch keine Berufungsinstanz, und es wäre schwer, eine einzusetzen, ohne einen neuen, besondern Gerichtshof zu schaffen, denn den Tribunalen, die nach dem geschriebenen Gesetze Recht sprechen, die Entscheidungen nach dem Gewohnheitsrechte zu übertragen, das wäre wenig logisch. Es ist daher vorgeschlagen worden, aus der Mitte der Wolostrichter einen Appellationshof zu bilden, der aus Richtern verschiedener Woloste bestände. Es ist dies, wie wir sehen werden, das bei den Friedensrichtern heute übliche System. Dieses Contralvcrfahren, das sich schon häufig in den Friedensgerichten als ungenügend erwiesen hat, wäre wohl für die Bauergerichte nur eine überflüssige und kostspielige Complication. Jedenfalls hätte Russland, wenn man zwei ') Ijesdiioje ]><> kiestjäiiskhn dcläm prissiidstwije. S. Bd. I, Kap. IV. Jedes Glied dieser Behörde hat das Recht, die Amtsübertretungen der Wolostgerichte zur Untersuchung zu bringen; es können somit Entscheidungen der Wolostrichter cassirt werden, ohne dass von Seiten der Interessirten eine Klage gegen sie erhoben wäre. Diese Massregel des Misstraueiis soll gegen die häufige Unkenntnis der Bauern und ihrer Richter in (Jompeten/.fragen schützen. Instanzen für die Dorf Justiz bildete, nicht nur, wie heute, eine doppelte Magistratur, zwei Reihen von unabhängigen und zusammenhanglosen Gerichten, es besässe dann ihrer drei, von denen jede ihre Appellhöfe, wie ihre Tribunale erster Instanz und sie alle nichts gemein hätten, als den ('assationshof. Das Einfachste wäre wohl, die Dauern zu ermächtigen, von ihren (Törichten an die Friedensrichter zu appelliren, wobei die letztern vermehrt werden und bäuerliche Beisitzer erhalten müssten, die mit den Volksgewohnheiten vertraut wären. Ehe wir an die Betrachtung der doppelten Reihe von Gerichten treten, welche die Justizreform geschaffen hat, müssen wir einen Blick auf eine weitere Ausnuhmsjusliz werfen, die ebenfalls ständische Formen bewahrt hat und gleichfalls sowohl eigene Gerichte erster Instanz and Appellhöfe, als auch einen eigenen Cassationshof besitzt. Fs ist, die kirchliche Justiz. Die russische Kirche hat fast allein in der christlichen Welt über ihre Glieder und Beamten das Recht der Justiz, das geistliche Forum, sich erhalten, dessen Verlust noch beute die römische Kirche so lebhaft beklagt. In jedem Sprengel oder in jeder Eparchie besteht ein Eparchialconsistorium (jeparchiälnaja konsistörijai, dessen Glieder, alle geistlichen Standes, von dem „Heiligen Synod" auf Vorstellung des Bischofs ernannt werden1). Dies ist die erste Instanz für die Angelegenheiten, welche dieser Sonder-gerichtsbarkeit noch unterstellt sind. Jedem dieser Sprengelconsistoiien «st ein von dem Synod auf Vorstellung des Oberprocureurs ernannter Secretär zugewiesen, der unter dem unmittelbaren Befehl des letzt-genannten Würdenträgers bleibt. Die Secretäre der Consistorien üben auf den Gang der Verhandlungen und auf die Entscheidungen der Prooesse einen Finlluss, der zu bedauerlichen Missbräuchen geführt Und die kirchliche Gerichtsbark (dt den Fehlern geöffnet hat, welche die Civilgerichte entehrten. Geber den Consistorien und Bischöfen steht der „Heilige Synod", ein kirchlicher Senat, der in letzter Reihe, bald als Appellations- bald als Cassationshof sein Urtheil spricht. Man könnte sich darüber wundern, dass Hussland noch nicht "ach dem Beispiel der meisten westlichen Staaten an die Stelle der kirchlichen Gerichtsbarkeit die weltliche gesetzt hat. Es unterblieb, Weil die zarische Regierung die nationale Kirche eines alten Rechtes "'eht berauben wollte: sie bat nur ins Auge gefasst, das Verfahren ]) in Bezug auf diese ganze Organisation muss ich auf den III. Bd. meines Werks verweisen, der speciell den kirchlichen Angelegenheiten ue- Widmet ist. L t i ro y - U ea u Ii « u , Boich d. /aruu u. <1. lluiieu. 11. BJ. 17 der consistorialen Justiz zu ändern, ihre Gerichtshöfe umzugestalten und ihre Befugnisse zu beschränken. Die Grundlagen dieser von einer Specialcommission langsam ausgearbeiteten dreifachen Reform waren schon vor dem letzten orientalischen Kriege festgestellt; aber andre Sorgen haben die kaiserliehe Regierung der Erfüllung dieser Aufgabe ferngehalten. Heute leidet die kirchliche Justiz an den Mängeln der alten russischen Justiz; man beabsichtigte, sie nach den Principien neu zu bilden, welche bei der Reform der ordentlichen Gerichte massgebend waren. Justiz und Verwaltung sind in den Diöcesanconsistorien, wie in dem Synod noch verschmolzen; man hätte der Justiz gern unabhängige Organe gegeben und ihre Entscheidungen der Macht der DiöcesanbischÖfe entzogen. Das Verfahre!) ist schriftlich und geheim; es sollte öffentlich und mündlich werden. Wie in die ordentlichen Gerichte sollte auch in die kirchlichen die contradictorische Verhandlung eingeführt, der Angeklagte nicht ungehört verurtheilt werden, sondern einen Veitheidiger haben. Kommen die Entwürfe der Regierungscommissionen je zur Ausführung, so wäre es ein seltsames Ding um die Einführung dieser modernen Rechtsgrundsätze in eine ganz veraltete Justiz. Nach den Reformplänen Alexanders II. sollte die Organisation der neuen kirchlichen Gerichte fast genau der der weltliehen nachgebildet werden. Es sollte in jedem Sprengel einen oder zwei Richter gehen, die aus den Gliedern der Weltgeistlichkeil von dieser selbst unter Mitwirkung weltlicher Vertreter der Pfarreien gewählt wären. Diese Richter hätten den Gliedern der Geistlichkeit gegenüber eine ähnliche Gerichtsbarkeit, wie die Friedensrichter gegenüber den Weltlichen; sie hätten über alte kleinen Vergehen eines Klerikers gegen die Gesetze und Verordnungen der Kirche zu richten. Leber diesen Richtern stünden Bezirksgerichte, von denen jedes mehrere Diöcesen umfassen würde. Deren Glieder wären gleichfalls Geistliche, ihr Präsident ein auf Vorstellung des Synods vom Kaiser ernannter kirchlicher Würdenträger vom Range eines Erzpriesters oder Bischofs. Diese Bezirksgerichte würden als Appellationsinstanz die den niedern Richtern zustehenden Sachen, als erste Instanz schwerere Sachen zu entscheiden haben. Die Urtheilo könnten nur von dem Synod angefochten werden, der nach wie vor Cassationshof bliebe. Weltliche Procureure würden unter dem Befehl des „Oberprocureurs des Heiligen Synods" die Staatsanwaltschaft dieses kirchlichen Tribunals bilden. Um auf den „Heiligen Synod" selbst den Grundsatz der Theilung der Gewalten anzuwenden, wurde vorgeschlagen, eine Abtheilung bei ihm zu bilden, deren Glieder nur die Befugnisse von Richtern hätten und vom Kaiser aus den Priestern und Erzpriestern ernannt würden. Diese Abtheilung wäre der Appellationshof für die Bezirksgerichte, während die Plenarversammlung des Synods den Cassationshof abgäbe. Die Rechtsprechung der kirchlichen Gerichte erstreckt sich gegenwärtig- auf einen ganzen Stand, die Geistlichkeit, und ihre Befugniss amfasst eine ganze Gruppe von Angelegenheiten: eheliche Sachen, Scheidungs- oder besser Annullirungsprocesse. Die Reform musste namentlich in Bezug auf Scheidungsprocesse diese ausserordentliche Gerichtsbarkeit beschränken, so dass ihr nur bliebe, was Sitten und nationaler Cultus ihr zu nehmen nicht gestatten würden. Was die besonderen Angelegenheiten des Klerus betrifft, so ist nie davon die Rede gewesen, sie diesen Gerichten zu entziehen. Priester und Mönche sollen der kirchlichen Rechtssprechung unterworfen bleiben, nicht allein für die Disciplinarvergehen, die in amtlicher Thätigkeit begangen wurden, und für Ueberschreitungen kirchlicher Verordnungen, die im Strafgesetz nicht vorgesehen sind, sondern auch für gewisse Streitigkeiten unter der Geistlichkeit und selbst — nach dem ziemlich unklaren Text der Reformentwürfe - für gewisse Vergehen, die zwar den ordentlichen Gesetzen widerstreiten, aber in erster Linie ein Ungehorsam gegen die Lehren der Kirche Bind1). Die kirchliche Gerichtsbarkeit würde jeden Charakter eines Privilegs verlieren, wenn sie nur darauf beschrankt wäre, die Ueberschreitungen der Amtspilichten und der Verordnungen der Vorgesetzten an Geistlichen zu strafen, wenn diese Gerichte den Priestern nicht eine Art Schutz gegen die Ansprüche der Weltlichen böten. Bendern auf eine rein disciplinare Gewalt reducirt, keine andere Wirksamkeit übten, als die Beobachtung der kirchlichen Gesetze im Klerus Bioherzustellen, und hiermit zugleich dem orthodoxen Priester gäben, was in den meisten modernen Staaten dem katholischen fehlt: ') Dache meisten solcher Vergehen, welche die übrigen Hussen vor den Friedensrichter rühren, ebenso eine Verletzung der religiösen, wieder bürger liehen Gesetze involviren, könnte der Geistliche sieh auf derartige Formeln '«'rufen, um in den meisten Fällen nur vor seine besonderen Gerichte gestellt z" werden, das hcissi , vor Obere, die der Corpsgeist aus Richtern leicht zu Beschützern machen könnte. Wie das Militär nur militärischen Gerichten untersteht, würde auch der Priester mir geistlichen Gerichten unterworfen sein, die b> seinen Streitigkeiten mit Leuten eines andern Standes ihm mitunter eine Parteiische Nachsicht bezeigen könnten. Die unter Alexander II. vorbereitete Reform schien so eine schlimme Schädigung des Grundsatzes der Gleichheit vor dem Rechte zu enthüllen. einen Richter zwischen ihm und seinen Obern, einen Appellhof gegen die bischöfliche Willkür. Glücklicher, als die römische Kirche, ist die russische im Besitze des Rechts geblieben, gesetzmässig über die Gültigkeit oder Ungültigkeit der Ehe zu entscheiden. Gewisse Sachen, wie Fälle der Bigamie oder erzwungene Heirath, unterliegen jetzt einem doppelten Verfahren, da sie zugleich den weltlichen und den kirchlichen Gerichten vorgelegt werden müssen. Andere, wie die Prozesse über Aufhebung der Ehe wegen Untreue des einen der beiden Gatten, sind bis jetzt ausschliesslich den kirchlichen Richtern vorbehalten geblieben.') Die theuersten Interessen und die heiligsten Rechte der Familie sind so einer Justiz anheimgegeben, die trotz des Eherechts der Priester ebenso wenig sittliche, wie juristische Berechtigung hierzu hat. Das Verfahren dieser geistlichen Gerichte ist so langsam und verhältnissmässig so theuer, dass die Scheidung nur Reichen möglich ist. In einem Lande, das — wenigstens für die gr.-orthodoxen Christen — keine andre Ehe, als die durch den Priester geweihte, kennt, ist es schwer, die Geistlichkeit ganz von der Regelung der Eheprocesse aus-zuschliessen. Die Ehe, als Sacrament, kann nur aufgehoben oder für nichtig erklärt werden durch dieselbe Macht, die sie geweiht hat, das Civilgesetz kann ein Band nicht lösen, das es nicht geknüpft hat. Alles, was die Regierung sich vorgesetzt, war auch nur, den kirchlichen Gerichten sowohl die Untersuchung, als die Kenntniss der heikein Prozesse zu nehmen, deren häusliche und geheime Einzelheiten in Öffentlichen Verhandlungen, vor Priestern und Mönchen gewöhnlich schwer zu erörtern sind. Nach den Bestimmungen des Commissionsentwurfs sollte die Kirche bei solchen Prozessen nur bei ihrem Beginn einschreiten, um den Versuch zu machen, sie zu sistiren, und bei ihrem Ende, um den von den Richtern gegebenen Wahrspruch zu bestätigen. Die Geistlichkeit wäre nur verpflichtet gewesen, die auf Scheidung antragenden Gatten zur Versöhnung zu mahnen; aber den Oivilgerichten hätte es obgelegen, die von den Eheleuten angerufenen Motive auf ihre Rechsgültigkeit zu prüfen. Sn hätte die kirchliche Autorität sich das Recht gewahrt, die Scheidung *) Die orientalische Kirche nimmt bekanntlich nach Matth. 5,3"2 an, dass Ehebruch des einen Theiles den andern Theil zur Trennung berechtigt. In diesem Falle gestatten die Kirchengesetze dein Geschädigten eine andre Ehe einzugehn, und verbieten dem Mann oder Weib, eine /weite Heirath, wenn das Gelöbnis» der ersten nicht gehalten wurde. Freilich wird in Wirklichkeit mitunter von diesem strengen Prineip abgesehen. oder Auflösung der Ehe auszusprechen; aber sie hätte das künftig nur auf Grund eines Urtheils der ordentlichen Gerichte gethan; sie hätte nur das Verdict weltlicher Richter entgegenzunehmen und zu bestätigen gehabt. Auf diese Weise wäre die Rechtsprechung in Ehe-iingelegenheiten auf die bürgerlichen Gerichte übertragen worden, ohne dass der Kirche offenkundig das sacramentale Urtheil genommen worden wäre, das sie allein fällen kann. In der Praxis wäre unter der Decke dieser Theilung der Befugnisse der Geistlichkeit nur das Recht geblieben, die ausserhalb derselben gefassten Beschlüsse zu registriren und zu contrasigniren. Mine solche Reform war eine unverkennbare Minderung der Rechte der kirchlichen Justiz; offenbar war das einer der Gründe, um deren-willen die Ausführung verschoben wurde. Trotz der Abhängigkeit und der ergebenen Gesinnung des orthodoxen Klerus, haben Kirche und Episkopat bis jetzt ihren Widerstand gegen derartige Entwürfe siegreich aufrecht gehalten. Die Reform der kirchlichen Gerichtsbarkeil wurde um 1870 zur Berathung gestellt; drei Jahre später, 1K7.'>. Wurde der „Heil. Synod" aufgefordert, die Anträge der von dem Kaiser ernannten Commission zu prüfen, und gegen Ende der Regierung Alexanders II. waren die Hauptbestimmungen der Reform noch nicht zur Ausführung gebracht. Russland hat freilich drinnen und draussen mancherlei gehabt, was es von den Kirchengerichtshöfen abziehen konnte, aber ohne den Widerstand und die Klagen der Geistlichkeit hätte die Regierung doch wohl Mittel gefunden, eine lange vorbereitete Reform durchzuführen. Auf diesem geistlichen Gebiete, für dessen unbeschränkten Herrn das kaiserliehe Regiment in dem Auslande gilt, fühlt es sich unfreier, beschränkter in seiner Macht, als irgend anderswo. Auf diesem Gebiete kann die Regierung nicht, wie auf dem des Staates, nach freiem Ermessen abschaffen und reformiren, sie kann hier nicht Alles mit einem Schlage verändern noch Alles neuschaffen ohne Rücksicht auf das, was da ist. Der Kirche gegenüber steht die kaiserliche Gewalt nicht vor einer tabula rasa. Wie gross ihr Einfluss auf den Synod und die Geistlichkeit sei, so liebt die weltliche Macht es doch in der Hegel nicht, den Bedenken jener Zwang anzuthun oder ihre Vorurtheile zu verletzen. Die russische, die orientalische Kirche, deren Kraft auf der Ueberlieferung und Bewegungslosigkeit beruht, fürchte! jeden Wechsel, jede selbst scheinbare Veränderung in ihrer Verfassung und ihren Gebräuchen. Diese Abneigung gegen das Neue wächst natürlich, wenn ihre Privilegien in Frage kommen, und man darf sich nicht verbergen, dass in der Zusammensetzung ihrer Gerichte, im Verfahren and in der Competenz derselben von der kirchlichen Justiz eine Neugestaltung gefordert wird, die den weltlichen Begriffen von Hecht und Freiheit viel mehr entspricht, als den kirchlichen von Unterwürfigkeit und Autorität. Das ist es, was die Ausführung einer Reform, die der Fortschritt des modernen Russlands an Geist und Sitten forderte, unter Alexander II. zurückgehalten bat und wohl noch unter Alexander III. zurückhalten wird. Es ist freilich nicht der einzige Grund für die Aufrechterhaltung der kirchlichen Gerichtsbarkeit; uoch ein anderer 1 instand streitet für sie: die Mängel ihrer Gerichte und ihres Verfahrens. In Russland wird mehr als eine Institution durch die Missbrauohe aufrecht erhalten, von denen man glauben sollte, dass sie sie zu Grunde richten müssien. Bei diesen Missbräuchen finden Familien von Einfluss, Leute von hoher Stellung und die Polizei ihre Rechnung. Die wohlhabenden Classen, die gegenwärtig allein zur Scheidung schreiten, ziehen es vor. ihre FJie ohne öffentliche Verhandlungen durch ein geheimes, jedem Lärm altgeneigtes Gericht gelöst zu sehn, bei dem Gunst und Geld etwas vermögen und das oft nur die kleinen Familienarrangements gesetzmässig bestätigt. Weltliche Rücksichten treffen also hier mit religiösen Vorurtheilen zusammen, um den in der Hegel den menschlichen Schwächen gefälligen Gerichten andauernden Bestand zu geben. Doch ist die Reform dieser bequemen, väterlichen Justiz jedenfalls nur eine Frage der Zeit. Sind auch die kirchlichen Gerichte nicht aufgehoben, so werden sie sich doch den Grundsätzen und Regeln fügen müssen, die in den weltlichen Gerichten herrschen. Hussland kann Standesgerichtsbarkeiten nur noch unter der einen Bedingung dulden, dass sie sieh den grossen Grundsätzen von Recht und Freiheit anpassen, die das neunzehnte Jahrhundert in die Kriegs-wie in die Civilgorichte eingefühlt hat. Die Regierung des Kaisers Alexander IL hatte den Geist der Reformen bis in den geschlossenen Kreis der Kriegsgerichte hineingeführt, deren Competenz um der nihilistischen Attentate willen später wieder nur allzuweit ausgedehnt worden ist. ln der militärischen Justiz wurden die Verhandlungen öffentlich: dem Angeklagten wurden mehrere Rechte ertheilt, die er bisher nicht genossen hatte; zugleich wurde die Strenge der Disciplin gemildert und in einer Armee, die solange mit dem Stock geführt worden war, wurde die Anwendung der Ruthenstrafe verhüten. Noch fehlt freilich manches daran, dass die Kriegsgerichte alle die Bürgschaften bieten, die heutzutage in civilisirten Ländern von den Gerichtshöfen verlangt werden. Ver- theidigung und Anklage haben dort keineswegs gleiche Rechte, mehr noch, das Amt des Anklägers ist nicht immer ganz von dem des Richters getrennt. Seit man auf den Gedanken gekommen ist, ihnen die Verbrochen gegen Beamte zuzuweisen, ist das Verfahren der Kriegsgerichte oft wieder ein geheimes geworden. Das Recht der Verteidigung wurde auf einige kurze und bedeutungslose Bemerkungen beschränkt; ist es auch nicht ganz aufgehoben, wie davon 1881 die Rede war, so ist es doch zu oft illusorisch geworden. Zu gleicher Zeit haben kaiserliche Ukase für die ernstesten Fälle dem Angeklagten das Recht genommen, gegen den ihn verurteilenden Richtspruch zu appelliren. Die Ausdehnung, die Alexander II. und Alexander III. dem Militärgericht gegeben haben, macht solche Kehler noch bedauerlicher, weil diese nur die Autorität der Richtsprüche abschwächen. Man darf sieh übrigens über dieses Abgeben von den schützenden Formalitäten der .Justiz zu einer Zeit nicht wundern, in welcher selbst die ('ivilgerichte eines Theiles ihrer gesetzlichen Rechte beraubt worden sind. Drittes Kapitel. Die beiden Gerichtsbarkeiten. — Die gewählte Gerichtsbarkeit, Friedensrichter. Modus ihrer Wahl. Beschränkung derselben in den letzten Jahren. — Folgen des Wahlsystems. - Khreidriedensrichter und ordentliche Friedensrichter. — Ihre Befugniss. — Friedensgerichte. Der Grundzug aller Reformen Alexanders II. war, wie schon erwähnt, das Niederreissen der alten Schranken, welche Leibeigensehaft. Sille und Gesetzgebung zwischen den verschiedenen Glassen des Volkes aufgerichtet hatten. Die Justizvorfassung hat min die Gleichheit aller Russen vor dem Gericht, ohne Unterschied der Geburt, des Grades oder des Standes anerkannt; aber der Respect vor den Sitten und Rechtsgewohnheiten des Landvolkes haben die Regierung dazu geführt, ihrerseits von dem grossen Prineip, das sie prochunirt hatte, abzuweichen. Der Bauer hat, wie der Geistliche und der Soldat, für eine grosse Zahl von Angelegenheiten seine besonderen Richter behalten. Drei von den fünf grossen Ständen (soslowija), in welche die Nation officiell getheilt ist, sind auf diese Weise der Gerichtsbarkeit der neuen Tribunale mehr oder minder entzogen, vor denen scheinbar alle Unterschiede der Geburt und des Berufs schwinden iollten. Nur der Edelmann and der Stadtbewohner unterliegen ganz und gar den allen Ständen gemeinsamen Gerichtshöfen; und doch bewahren diese eine sehr weitgehende Competenz. Sie sind es, die über alle Civil- und Criminalsachen von einer bestimmten Wichtigkeit abzuurtheilen haben, sie, denen alle Streitigkeiten zwischen Personen verschiedenen Standes unterliegen. Auf solche Weise ist wenigstens für Civilpersonen und Weltliche die Gleichheit vor dem Gericht aufrechterhalten, die durch das Fortbestehen der ständischen Gerichte verletzt schien ]). Das Gesetz von 1864 hat, wie unsre Leser bereits wissen, zwei von einander getrennte und unabhängige Gerichtsbarkeiten mit je einem besondern Instanzenzug eingesetzt. Wie in vielen andern Staaten, giebt es in Russland Friedensgerichle zur Entscheidung von Bagatellsachen, über die mehr nach Billigkeit, als nach dem geschriebenen Retdde erkannt werden soll, und Gerichtshöfe höheren Grades für grössere Sachen, in denen es sich um Vermögen, Fhre oder Leben handelt; aber in Russland sind diese beiden Gerichtsbarkeiten nicht über einander gesetzt, sondern sie bilden zwei ganz getrennte, parallele Reihen, von denen jede für sich ihre Appellhöfe, wie ihre Gerichte erster Instanz hat und sich von der andern ebenso durch den Modus der Richterernennung, wie durch das Gebiet ihrer Rechtsprechung unterscheidet. Zwischen diesen beiden, einander fremden Instanzenzügen besteht nls Band nur der „dirigirende Senat", der für beide der Cassationshof ist und die Aufgabe hat, die Einheitlichkeit in der Gesetzesauslegung wie in der judioiürcn Praxis aufrecht zu erhalten. Von jenen beiden Gerichtsbarkeiten erregt die beschranktere durch ihre Organisation und durch die Besetzung der Richterstühle vorzugsweise unser Interesse. Für das Friedensgericht (mirowöi sud) hat der Gesetzgeber ein Collegium von Richtern geschalten, dessen Vorbild in England zu suchen ist. Die russische Copie weicht indessen wesentlich von dem britischen Original ab. In Fngland gehören die Friedensrichter (justices of fhc peaee) ebenso zur Verwaltung, wie zur Justiz; ihnen liegt die Bestimmung über die Ausgaben der Grafschaft ob, ihnen die ') Ich rede Iiier nicht vuii den ( unnncrzgerichlen, die Alexander II. nach dem Vorbilde der französischen errichtete. Diese Geriehie fungiren nieht immer in befriedigender Weise. Fan Theil der Tresse belürworlete ihre Aufhebung und die l'ebertraguug der handelsgerichtliehen Sachen auf die ordentlichen Gerichte mit Hinzuziehung von Sachverständigen nach englischer Sitte. Ernennung und die Controle der meisten Inealen Beamten ';. In Russland ist das anders: Die Friedensrichter sind streng auf ihr EUchteraml allein verwiesen; das Prineip der Theilung der Gewalten ist nach französischem Vorbild auch in den Kngland entnommenen, einfachen Einrichtungen zur Anwendung gebracht. Die allgemeine Meinung war im Ganzen der strengen Scheidung der Verwaltung von der Justiz günstig, da die Vermischung und die beiderseitigen rebergriffe lange Zeit soviel Missbräuche erzeugt hatten. Ks erhoben sich jedoch auch abweichende Stimmen, deren urtheile berührt zu werden verdienen. Tch habe Russen, und zwar gebildete Bussen, dem englischen System, wie es in den Vereinigten Staaten in Kraft geblieben ist , laut den Vorzug geben hören: ..Das Prineip der Theilung der Gewalten, das Ihnen in Frankreich so fcheuei ist", sagten sie mir, „hat die Machtfülle nicht, ohne welche dieses sogenannte Axiom nur ein theoretisches Vorurthei] ist. Die Unterscheidung von Verwaltungs- und Gerichtsordnung, die in den Städten gut und nützlich ist, wird auf dem Bande schädlich oder wirkungslos. Ausserhalb der grossen Centren, besonders in einem so ausgedehnten und schwach bevölkerten Lande, wie es das unsre ist, ist die Theilung der Gewalten und Aemter nur ein falsch angebrachter und kostspieliger Luxus. In den Dörfern gerichtliche und administrative Sonderbehörden einzusetzen, das wäre, als ob man an Stelle der Läden für Alles die Ver-schiedenartigkeit und Specialität der Stadtmagazine setzen wollte"8). Die Anhänger des englischen Systems hätten gern die Ueberwaehung der Localverwaltungen und die Controle der Gemeinden den Friedensrichtern übergeben gesehn, deren Leitung, so versichern sie, mehr werth gewesen wäre, als die Vormundschaft der Polizei8). Ks wäre müssig, hier den Werth dieser Ansicht wägen zu wollen. Die Leute, die sieh zu ihr bekennen, stehen meist im Rufe aristokratischer Neigungen oder eingerosteter Bewunderung für die patriarchalischen Sitten. Aus diesem doppelten Grunde haben die Gegner der Theilung der Gewalten den Strom der modernen Ideen, wie insbesondere die ') S. /,. B. iVAdministration lueale en France et en Angletcrre |>:ir Paul Len.y -Beaulieu. p. 51, 52. 1 Dergleichen SSnwürfe linden sich bei Publieisten verschiedener Richtungen, Wie General Fadejew, Kosehelew, W. BeSObrasOW. Der let/.te hat vor Kurzem eine Hrochiire über dieses Thema erseheinen lassen unter dem Titel: „Gedanken über die richterliche Gewalt". •') Die Adelsversammlung von St. Petersburg zeigte vor einigen Jahren gleiche Wünsche. S. Samarin und Dniitriew: „Der revolutionäre Gonservativis-Bius" (russ.) p. 117—122. russische Geistesriohtung der Gegenwart gegen sieh. Ihre Einwendungen mögen immerhin begründet sein, gegen die Lehren, die jetzt im Schwange sind, dürften sie schwerlich das Uebergcwieht behaupten, zumal der Russe nicht leicht von einem Prineip lässt, das er einmal ertässt hat. Die Trennung der Verwaltung von der Justiz scheint fortan ebenso entschieden in Russland, wie in Frankreich in Geltung bleiben zu sollen. Sie ist ein fundamentaler Satz in dem neuen Staatsrecht geworden. Zwischen den englischen und den russischen Friedensrichtern giebt es noch einen zweiten und schwerwiegenden Unterschied, der beide Einrichtungen einander scharf gegenüberstellt. In England werden die ,justices of the peace" von dem Souverän ernannt, der sie aus Grundbesitzern von einem gewissen Jahreseinkommen wählt. In Russland müssen die Friedensrichter (mirowüje sudji) zwar auch aus den localen Gutsbesitzern genommen werden, aber statt von der Krone ernannt, werden sie — ganz wie die Wolostrichter der Bauern — frei gewählt. Man könnte dem neuen Dogma von der Theilung der Gewalten nicht gewissenhafter Folge leisten, noch grössere Vorsichts-massregeln zur Sicherung der Unabhängigkeit der Bauergerichte gegen die Verwaltung ergreifen. Da die Friedensrichter über die Streitigkeiten von Leuten aller Stände zu entscheiden haben, werden sie von einer Versammlung gewählt, in welcher die Vertreter der verschiedenen gesellschaftlichen Classen vereinigt sind, von der Kreissemstwo'). Der Staat begnügt sich damit, die Candidaten einer doppelten Schätzung, einer Schätzung nach der Bildung und einer Schätzung nach dem Vermögen zu unterwerfen, von denen jene die Befähigung, diese die Unabhängigkeit des Richters sicher stellen soll. Wer hätte geglaubt, dass von allen grossen Staaten Europas das autokratische Kaiserreich zuerst einen Theil der Richterämter dem Wahlsystem anheimgeben werde? Ks ist das ein neues Beispiel für die Kühnheit, Andre würden sagen: für die Verwegenheit, die sich mehr als einmal die Regierung des Zaren erlaubt hat. Für Hussland war jedoch die Anwendung des Wahlsystems auf die Justiz keineswegs eine Neuerung. Katharina II. hatte schon in den Reichsgerichten den Vertretern der verschiedenen Bevölkerungsgruppen einen Platz eingeräumt; aber da bei dem geheimen Verfahren der ') tu den grossen Städten, denen das Gesetz den Charakter einer Kreissemstwo gegeben, St. Petersburg. Moskau und Odessa, werden die Friedensrichter von der Duma, der Stadtverordnetenversammlung, gewühlt. S. Buch III, Kap. IV. Gewählte von seinen Wählern nicht controlirt werden konnte, war diese Art der Bestallung meist nur eine leere Formalität. Ganz anders ist es hei den neuen Institutinnen. Indem der Kaiser Alexander II. die Sorge um die Wahl der Friedensrichter den localen Versammlungen zuwies, gab er dem Wahlsystem in Russland einen festen Boden und passte es den modernen Sitten an. Aus welchen Gründen übertrug die Regierung den localen Vertretern ein solches Recht? Die Justizverfassung selbst erklärt uns die beiden Hauptgründe. Der Gesetzgeber hat in Erwägung gezogen, dass die Friedensrichter, soweit ihr Amt die Versöhnung war. vor Allem der öffentlichen Achtung und des öffentlichen Vertrauens bedurften, und zugleich, dass diese Richter zu zahlreich und das Reich zu ausgedehnt seien, als dass die (Vntralgewalf es auf sich nehmen könnte, die tausende von localen Richtern zu ernennen, ohne dabei die Gefahr heraufzubeschwören, dass die Auswahl der Intrigue und der Protection überlassen werde1). Nicht alle Regierungen sind 80 vorsichtig, und Niemand wird bestreiten, dass derartige Bedenken der Macht, die sich zu ihnen bekennt, Ehre machen. Ks war ein grossherziges, aber ernstes Experiment — diese Schöpfung einer Wahljustiz. selbst wenn sie auf eine besondere Gerichtsbarkeit und auf Civilbagatell- oder Strafpolizeisachen beschränkt war, denn gerade diese kleinen Angelegenheiten treffen die Masse des Volks am meisten. Ks giebt Leute in Russland, wie in Frankreich, die es für ein Naturrecht halten, dass die einer Gerichtsbarkeit Unterworfenen die Richter wählen: in ihren Augen sind Wahlrichter die nothwondige Vervollständigung jeder Selbstverwaltung5'). In den demokratischen Schulen ist diese Ansicht beute fast überall Gemeingut. Kino gute Justiz ist für die Sicherheit des Publicums zu wichtig, als dass sich diese Frage allein nach Analogieen und theoretischen Deductionen entscheiden liesse. Nun ist aber trotz der vielfachen, alten und neuen Erfahrungen noch nichts weniger bewiesen, als dass eine aus Wahlen hervorgegangene Justiz die vortrefflichste sein müsse. Man weiss, welche Resultate dieses System in der ersten Revolution "i Frankreich ergehen bat. Die Vereinigten Staaten Amerikas sind ') Ich entnehme diese Gründe den Motiven, welche dein Gesetz vorange-ächickl sind. -; Fällige Ibissen haben die Biegsamkeit ihrer Sprache dazu benutzt, ein Gegenstück zu dem Worte Belfgovrnment (sainouprawlenije) zu bilden. Dieses ausdrucksvolle Wort ist samossud, das etwa englisch aelf-justice lauten würde. der einzige moderne Grossstaat, der es in weiterem Masse angewandt hat, obgleich auch dort das System nicht absolute Anwendung findet1). Alle Welt weiss, dass in diesem Punkte die Erfahrung der amerikanischen Union nicht gerade zur Nachahmung ermuthigt. Aus der Wahl der Richter ist eine mittelmässige und vertrauenslose, abhängige und veränderliche Gerichtsbarkeit hervorgegangen, die allzuoft nur ein Werkzeug in den Händen unruhiger Parteien und lihelberüchtigter „politicians" ist. Ohne allen persönlichen Schutz gegen die Schwankungen der öffentlichen Meinung bieten diese Richter selbst der Gesellschaft, die sie nach Belieben wrählt und wieder absetzt, nur wenig Bürgschaft. Unwissenheit, Parteilichkeit, selbst Käuflichkeit sind zu ofl das Erbtheil dieser aus der Volksglinst oder den Parteiberechnungen hervorgegangenen Richter. In einigen Staaten der Union scheint die Justiz, die doch die Aufgabe hat, die Achtung vor dem Gesetz zu befestigen und die öffentliche Moral aufrecht zu erhalten, zum Dienste der Corruption erniedrigt zu sein. Die Fehler dieses Systems sind so augenfällig, dass abgesehen von den Ausländern — die bedeutendsten Schriftsteller Amerikas diese Wahljustiz als eine der Hauptursachen des Verfalls der privaten und politischen Moral bezeichnen*). Trotz aller seiner Sympathieen für die amerikanische Union hat sich doch Russland sicher nicht von diesem Vorbild verführen, noch sieb von ihm bestimmen lassen, die Besetzung der meisten Richterposten im Reiche den Zufälligkeiten einer Wahl anheimzugeben. Die kaiserliche Regierung scheint bei der Hinübernahme dieses Modus der Richterernennung dafür gesorgt zu haben, dass die neuen Friedensgerichte vor den Uebeln geschützt seien, welche jenseits des Oceans dem Wahlsystem anhängen. Die Wahl eines Richters ist nicht den Bewohnern eines Gerichtsbezirks überlassen, sondern den Vertretern eines grössern Territoriums, so dass jeder Richter in Bezug auf seine Erwählung nur in geringem Masse von den Menschen abhängt, die ') Im Allgemeinen wiegt die Einsetzung durch Volkswahl amsomehr vor, je mehr man sich vom atlantischen Ocean entfernt und sich nach Westen dem stillen Meere nähert. In den Westslaaten herrscht das Wahlsystem ausschliesslich; in den Staaten am atlantischen Ocean unterliegt es mehrfachen Beschränkungen. Es besteht übrigens jetzt eine Neigung, von dem Wahlsystem zurückzukommen oder mindestens seine nebelstände durch die Verlängerung der Dauer des Richtermandats zu verringern. J) Unter den Amerikanern, welche die Wahlgerichte verurtheilt haben, können die berühmtesten Rechtsanwälte genannt werden, u. A. Esy.ra Seaman, Kent und Story. vor seinem Tribunal erscheinen könnton. Nicht dem „suffrage universel", nicht der unmittelbaren Abstimmung der Gerichtszugehörigen überträgt das russische Gesetz die Wahl der Friedensrichter, sondern Versammlungen, die aus den Delegirten des Grundbesitzes gebildet sind, und auch diesen Gutsbesitzerversammlungen hat der Gesetzgeber nicht die absolute Macht gegeben, nach freiem Belieben zu wählen; er hat die Wählbarkeit an gewisse Bedingungen der Befähigung und an einen Wahlcensus geknüpft. Diese Beschränkungen schienen aber noch nicht genug: das Gesetz ertheilt jedem Provinzial-gouverneur das Recht, seine Bemerkungen über die zur Wahl vorgeschlagenen Candidaten vorzulegen; es unterwirft die Liste der gewählten Richter der Bestätigung des ersten Departements des Senats. So aufgefasst und so ausgeführt verliert die Wahl der Richter vielleicht einige von ihren theoretischen Vorzügen, aber sicher viel von ihren praktischen Mängeln. Aller Vorsichtsmassregeln ungeachtet hat die Regierung nach ihrer Gewohnheit nur ganz allmälieh die neue Gerichtsbarkeit im Reiche eingeführt und sich wohl gehütet, gewisse Provinzen mit ihr zu beschenke]i. Während mehrerer Jahre konnte Russland neben einander das Experiment mit Richtern aus der Wahl der Semstwo und mit Richtern durch Ernennung des Staates machen. In einem Lande, das so lange dem Protectionsvvesen und der Willkür der Bureaukratie überliefert war, konnte der Vergleich kaum ungünstig für die aus Wahlen hervorgegangenen Richter ausfallen. Daher hat die Regierung die neue Institution auf die meisten Gouvernements ausgedehnt, je nach dem Masse, als sie die Landesversammlungen ausdehnte, aus denen die Friedensrichter hervorgehn. Es bleibt indess im europäischen Russland selbst noch ein beträchtlicher Theil des Reiches übrig, den die Regierung nicht vor die Probe eines gewählten Gerichts zu stellen wagt; es sind die westlichen Gouvernements, die alten litthauischen und polnischen Provinzen. Hier haben politische Beweggründe und nationale Erwägungen dem Reformator ein Halt gerufen. Durch Ueberlieferung des Friedensgerichts an die Gutsbesitzer würde die Regierung dort den Einfluss des polnischen Elements mehren, in dessen Händen noch immer ein grosser Theil der Güter sich befindet. Auch könnte man die Richterwahl nicht Landesversammlungen übergeben, weil alle diese westlichen Provinzen noch ähnlicher Versammlungen entbehren. Die Institution der Friedensrichter ist dort neuerdings eingeführt, aber mit einer Beschränkung, die ihren Charakter durchaus verändert. Statt von den Vertretern des Bezirks gewählt zu werden, werden die Richter von der Regierung ernannt, statt zu der localen Bevölkerung zu gehören, sind sie meist Fremde, die aus dem Innern des Reiches berufen werden und die Gebräuche, wie die Sprache der Leute, die vor ihrem stuhl erscheinen, nicht kennen. Auch in diesen enterbten Provinzen hat man wenigstens in gewissem Masse die Trennung der Administration von der Justiz durchführen wollen, indem man die neuen Richter von den Provinzialgouverneuren unabhängig machte und sie nur dem Ministerium der Justiz unterstellte, Aber auch in den Provinzen seihst, die der Kaiser Alexander 11. oflieiell in den Besitz eines gewählten Richterstandes gesetzt hatte, beschränkte er schliesslich die Ausübung des Wahlrechts in sehr erheblicher Weise. Bas Gesetz von 1804 ertheilte dem Senat das Recht, die Wahlen der Semstwos zu bestätigen. Ein LTkas vom September 1879 schärfte den Gouverneuren ein, dem Senat geheime Berichte über die Sittlichkeit und politische Gesinnung der von den Landesversammlungen Gewählten zu liefern. Diese Berichte oder „Zeugnisse," wie das russische Gesetz sich ausdrückt, sind vor traulich, können also nicht controlirt werden. Der Senat könnte kaum gegen die Meinung der Gouverneure entscheiden, die also thatsächlich so die Macht gewonnen haben, die Wahlen der Semstwos umzuwerfen. Wiewohl mehrere Provinzialstände um die Enthebung der Gouverneure von diesem Rechte der Zeugnissstollimg petilionirt haben, ist dasselbe doch bis beute noch in Geltung. Wenn also die Wahl der Friedensrichter nicht abgeschaffl ist, so hängt sie doch gegenwärtig ganz und gar von dem Belieben der Verwaltung ab. Aber die von der Regierung ergriffenen Klassregeln sind es nicht allein, was den gewählten Richterstand in Russland unschädlich macht: es ist weniger die Form der Wahl, noch der Census zur Wahlfähigkeit, als die moralische Stufe des Landes, die Stille oder Apathie des öffentlichen Geistes, kurz der Mangel an politischem Leben. Tutor dem autokratischen Regime lässt sich kaum fürchten, dass die Mehrzahl der Wähler sich durch Erwägungen leiten lassen würde, die den persönlichen Eigenschaften der Richter und dem Interesse an einer guten Justiz durchaus fernbleiben; mau hat dort nicht zu besorgen, dass die Gewählten der grossem Zahl der Bevölkerung für einen Bruehtheil derselben zu Agenten der Unterdrückung werden könnten. Wo es keine regelrecht organisirten politischen Parteien giebt, wo die Wahlen nicht ein Kampf feindlicher Heere sind, braucht der von der Majorität gewählte Richter nicht dadurch allein schon der Minorität verdächtig zu sein. Solange Russland noch einer Verfassung, der Kammern uml der politischen Kämpfe entbehrt, wird das gewählte Richterthum schwerlich soweit entstellt werden, um eine Kriegswalfe und ein Werkzeug der Parteien zu werden. In einem Staate, in dem Jahrhunderte lang die Centraigewalt Unbeschränkt und willkürlieh geherrscht hat, wo die Vertreter der Regierung lange sich ungestraft alle Betrügereien und Gewalttaten erlauben konnten, da kann vielmehr ein gewählter Richterstand ein Werkzeug der sittlichen Hebung für die Gesellschaft, wie für die Staatsgewalt selbst sein. Er kann das beste Mittel sein, die Würde der Justiz wieder zu heben und die Unabhängigkeit zugleich mit der Integrität des Richters sicherzustellen. Auf die Gefahr hin, gegen das allgemeine Vorurfheil zu Verstössen und paradox zu scheinen, wage ich daher zu bekennen, dass mir die gewählte Justiz, wenn irgendwo, so in einem absoluten Reiche, in einem bureaukratischen Staate, wie Russland es ist, an ihrem Platze und nutzbringend zu sein scheint. Ileisst das, Russland sei durch seine Sitten, durch die Form seiner Regierung, selbst durch die niedrige Stufe seiner politischen Entwicklung von allen Fehlern eines aus Wahlen hervorgegangenen Richterstandes verschont geblieben? Nein, gewiss nicht; hat es in demselben wirkliche und werthvolle Vorzüge gefunden, so ist es doch auch auf mehrere seiner Missstände gestossen, auf die wir hinweisen müssen. Auch in Russland hat sich die Unabhängigkeit des gewählten Richters gegenüber der Staatsgewall bisweilen in Abhängigkeit von den Wählern vorwandelt. Auch in Russland haben viele .Männer von Rechtschaffenheit uml Bildung, »dl die fähigsten "ml würdigsten für das Richteramt, dieses allzu unzusicher, allzu beraubt der Bürgschaft für die Zukunft befunden, um ihm Zeit uml Kräfte zu widmetn. Ein Mann mit freier Wahl wird immer zaudern, l"n ein Mandat sich zu bemühen, das zu unsicher ist, um Lebensberuf zu sein, zu anstrengend, um Nebenbeschäftigungen zu gestatten. Es ist beobachtet worden, dass eine grosse Zahl der Friedensrichter ihr Amt nur als eine provisorische Stellung, als eine Art von Nothnagel annahmen: dass mehrere es nur als ein Trittbrett ansahen, "m von dort aus andre Boston zu erreichen, dass viele sich bemühten, von dein gewählten und widerruilichen Gerichtsamt allmälieh in die vom Staat ernannten und unwiderruflichen Richterposten vorzudringen. Gegen diese Mängel, die aus dem Prineip der Wahl selbst herzuleiten sind, bat man mühsam Heilmittel gesucht, die aber mitunter von zweifelhafter Wirkung sind. Um die Richter unabhängig Gui ihren einllussreicheii Wählern und von localen Coterieen zu machen, ist vorgeschlagen worden, ihre Wahl auf einen grössern Wahlkörper zu übertragen. Um diesem Amte grössere Stetigkeit zu verleihen und den Richter vor den Schwankungen der öffentlichen Meinung zu schützen, ist davon die Rede gewesen, die Dauer seines .Mandats zu verlängern. Aber alle derartigen Massregeln würden die jetzt vorhandenen Mängel nur durch neue ersetzen. Die Wahl der Friedensrichter den Kreisversammlungen nehmen, wäre das nicht ein Verzicht auf eine der Bürgschaften des Gesetzes, auf ein Correctiv des Wahlprincips? Die Dauer der richterlichen Amtsführung zu verlängern, sie etwa von drei auf sechs Jahre auszudehnen, oder gar unbegrenzt zu lassen, wie es einige Publizisten vorgeschlagen haben, hiesse das nicht, unter dem Vorwand, die Richter vor den Launen der allgemeinen Meinung zu schützen, das Publicum unter Umständen der Nachlässigkeit und Unfähigkeit der Richter preisgeben? Kann Russland sich auch nicht den Missständen des Wahlsystems entziehen, so müssen wir doch anerkennen, dass es darunter weit weniger leidet, als es die grossen Staaten im Westen thäten, und das abermals, weil die öffentliche Meinung dort nicht denselben Versuchungen noch denselben Leidenschaften unterliegt, wie in Ländern mit politischer Agitation und mit Parteikämpfen. Das ist es, warum die Wahlämter in Hussland weniger an der sonst in ihrem Wesen liegenden Unbeständigkeil leiden. Es könnte nicht vorkommen, dass in ganzen Provinzen ein Wechsel der Majorität alle Richter im Amte zum Rücktritt und die ganze Gerichtsbarkeit zu einer plötzlichen Umwandelung zwänge. Man beklagt sich zuweilen darüber, dass nicht wiedergewählte Richter in dem Augenblick ihren Stuhl verlassen, wo sie eben im Bogrille standet], die Praxis des Gerichtssaales und die Erfahrung ihres Berufs zu erwerben. Das ist aber nicht allgemein der Fall. Wenn bei den dreijährlichen Wahlen eine gewisse Zahl von Richtern bei Seite geschoben wird, so bleibt doch die Mehrzahl auf ihrem Posten. Die Kreissemstwos sind nicht von Leidenschaften beherrscht, welche mit einer guten Justiz nichts zu thun haben; sie sind in der Regel geduldig und nachsichtig gegen die Mannet' ihrer Wahl. Diese SO unsichern Aemter sind in Wirklichkeit weniger widerruflich, als sie scheinen, und viele Friedensrichter haben sich aus einem seinem Wesen nach zeitweiligen und von Zufälligkeiten abhängenden Mandat einen Lebensberuf geschaffen. Es giebt zweierlei Friedensrichter, die ordentlichen (utsehustoküjo mirowüje sndjf) und die Ehrenfriedensrichter (potsehötnüje m. s.). Die erstem haben jeder in seinem Gerichtsbezirk oder-Sprengel (utschastok) Recht zu sprechen. Die letztein üben, wie ihr Name schon andeutet, mir Ehren- oder richtiger facultative Functionen aus. Der Ehrenfriedensrichter kann nur auf besondere Aufforderung beider prozes-sirender Parteien oder als Stellvertreter eines ordentlichen Friedensrichters den Richterstuhl einnehmen, und in beiden Fällen nur Zivilsachen entscheiden. Dieses scheinbar so bescheidene Amt wird gewöhnlich den einlliissroichsten und angesehensten Männern der (regend, den grössten Gutsbesitzern und namentlich den höchsten Würdenträgern zuertheilt. Es ist in dieser Beziehung interessant, die Listen der Ehrenfriedensrichter zu durchlaufen. Man findet das ganze hohe Tschinownikthuin in Civil und Militär, Offiziere und Generale im Dienst und im Abschied, Generallieutenants und Generalmajore, Generale der Infanterie, der Gavallerio, der Artillerie vermischt mit Staatsräthen, wirklichen Staatsrätben, Geheimräthen u. s. w. Die Zahl der Ehrenfriedensrichter ist nicht beschränkt und daher sehr beträchtlich, weil sie keinen Gehalt beziehen. Die Semstwos verleihen diese Würde Allem, was der Kreis an hervorragenden oder sehr ein-flussreichen Männern besitzt. So sind die meisten hohen Beamten des Reichs Ehrenfriedensrichter in den Gouvernements, mit denen sie durch ihre Güter oder durch ihre Herkunft in Verbindung stehen. Diese scheinbar recht unnütze Institution wird wohl zunächst den Zweck gehabt haben, das Ansehn der Friedensrichter zu erhöhen. Die mit so ehrenvollem Amte bekleideten Personen würden gewöhnlich weder Alusse, noch Xeigung haben, so bescheidene Functionen zu üben; da man sie hierzu nicht veranlassen konnte, gab man ihnen den Titel, weniger, um ihnen eine persönliche Auszeichnung ange-deihen zu lassen, als um mit Hülfe ihres Namens und Ranges den Reiz und die gesellschaftliche Macht des Wahlrichteramts zu heben1). Die meisten von diesen Persönlichkeiten halten sich nur wenige Wochen in den Kreisen auf, in denen sie gewählt sind; sehr wenige haben wirklich jemals den Parteien gegenüber gesessen. Wenn man geglaubt hat, sich durch diese Institution die nutzbringende Unterstützung der unbesoldeten Richterämter, nach Art der justices of the peace in England zu gewinnen, so ist diese Hoffnung sehr getäuscht worden. Die ordentlichen Friedensrichter sind im Allgemeinen Leute von ') Der Titel eines Khrenlriedensriehters scheint .sehr verschwenderisch siusge-theill worden zu sein, und ist schliesslich Männern verliehen, die seiner wenig würdig sind, wie/.. 15. anrüchigen öpeculanten und BrftnntweinMndlern, ein "och heute gering gesichteter IJcruf. Ibis ist eine Folge der Hinflösse, die sieh hi jüngster Zeit bemühen, in der Semstwo das t'ebergowicht zu erlangen. Leroy-Beaulieu, HhIcIi (1, Zaicu u. d, Kuaaeu. 11, Bd. 18 untergeordneter Stellung und niederm Range, wenn sie auch von denselben Versammlungen und unter denselben Bedingungen der Wählbarkeit gewählt sind. Statt einen höhern Grad der bureaukratischen Rangordnung zu besitzen, haben sie oft gar keinen Tscbin oder sind auf den untersten Stufen der Rangliste stehen geblieben. Nach dem Gesetz können die Friedensrichter aus allen Ständen gewählt werden, aber da der Gesetzgeber von ihnen einen Grundbesitz verlangt, so sind sie ausserhalb der Städte Gutsbesitzer, also gewöhnlich Edelleute (dworäne). Das Gesetz, das die Candidaten von einer Vermögensschätzung abhängig macht, zieht das bewegliche Vermögen nicht in Rechnung, als hätte der Gesetzgeber, indem er die neue locale Justiz zu einem Privilegium der Gutsbesitzer machte, den frühern Herrn, den Pomeschtschik, für die ihm bei der Emancipation abgenommenen Rechte entschädigen wollen. Durch diesen Census an Landbesitz ist - könnte man sagen — der Adel mittelbar in den Besitz des Rechtes der Justiz getreten, dessen Monopol einige seiner Glieder für ihn gefordert haben. Das ist eine bemerkenswerthe Thatsache, die für eine richterliche Behörde, welche allen Ständen dienen soll, wohl reich an Missständen scheinen kann1). Eine Justiz, die so aus einem einzigen Stande der Nation gewählt und ergänzt wird, scheint den andern Ständen, den Kaufleuten, den Bauern und früheren Leibeigenen gegenüber wenig Unparteilichkeit zu versprechen. In der Wirklichkeit macht sich aber dieser Mangel wenig fühlbar; man klagt vielmehr über den entgegengesetzten Mangel. Wenn in den kleinen Kreisen, besonders dort wo die Semstwos wenig Glieder zählen, die Friedensrichter sich zuweilen allzu abhängig von ihren Wählern, dem Grossgrundbesitz allzu ergeben zeigen, so wirft man ihnen in den meisten Gouvernements das Gegentheil vor. Lässt der Friedensrichter merken, dass er Unterschiede macht, so geschieht das meist nicht zu Gunsten der Classe der Gutsbesitzer, zu der er selbst gehört, sondern eher zu Gunsten der kleinen Leute, der Dorfbewohner, des Mushiks. ') In den kleinen Semstwos, die beispielsweise nur etwa dreissig Glieder zählen, geschieht es wohl, dass zwölf oder fünfzehn Gutsbesitzer nach ihrem Belieben alle Kreisrichter wählen. Solche Wahlen können mitunter die eigentümliche Erscheinung aufweisen, auf die bei den provinziellen und nuuücipalen Wahlen aufmerksam gemacht wurde: es können ebensoviel und mehr Candidaten, als Wähler da sein. Um solchen Mißständen abzuhelfen und um den verschiedenen C lassen eine gerechtere Vertretung zu sichern, könnte man zur Zeit der Richterwahlen den Gliedern der Semstwos Assessore zur Seile setzen, die von allen Classen der localen Bevölkerung besonders zu wählen wären. Dergleichen Widersprüche sind im russischen Leben nicht selten. In keinem Lande hat - wie schon Bd. I, Buch V erwähnt — der Corpsgeist weniger Macht, haben die Vorurtheile des Standes oder der Geburt weniger Wurzeln. In dieser, wie in vielen andern Beziehungen unterscheidet sicli der russische Adel von jedem andern in Europa. Der moskowitische Dworänin hat meist weder die Anmassung noch die Vorurtheile des französischen „hobereau" oder des deutschen .,Junkers". Viele Friedensrichter gefallen sich darin, sogenannte ,.vorgeschrittene Ideeen" an den Tag zu legen; viele schauen sogar vor den kühnen Thesen nicht zurück, die um ihrer Verwegenheit willen bis zu den Attentaten der letzten Jahre Mode waren. Diese Gewählten des Adels, diese Vertreter des Grundbesitzes sind meist fortschrittliche Liberale, Freunde und Bewunderer des Volks; viele sind Demokraten und werden von ihren Gegnern, ja mitunter von ihren Wählern laut Kadieale, Gleiohmachor, Communisten gescholten. Woher kommen solche Neigungen bei richterlichen Beamten, die auf diese Weise gewählt und auserlesen werden? Zum Theil daher, dass die Männer, die besonders in den ersten Jahren sich dieser schweren Aufgabe unterzogen, meist glühende Anhänger dir Reformen und von Eifer erfüllt waren, nach ihren Kräften an der Realisirung ihrer patriotischen Träume mitzuwirken. Es giebt übrigens für die demokratischen Neigungen der meisten Friedensrichter noch eine andre Erklärung, einen allgemeinern und stärkern Grund, nämlich der Kreis, aus dem die grösste Zahl dieser gewählten Richter hervorgeht, ihre sociale Stellung, ihre Vermögenslage. Die meisten sind nicht; reich; man findet bei ihnen mitunter jene .Missgunst gegen den Reichthum, jenen geheimen und unbe-wussten Neid, der auch in andern Ländern oft in den sonst conser-vativsten Gerichtshöfen zum Vorschein kommt. Das Gesetz fordert zwar für die Wählbarkeit zum Friedensrichter einen Census, einen unbeweglichen Rositz, aber dieser scheinbar hohe Census ist in Wahrheit sehr veränderlich und ungleich. Mag immerhin ein .Minimum gesetzlich bestimmt sein, unter welches der Census nicht sinken darf, so drückt doch der geringe Werth des Bodens diesen oft bis zur Lächerlichkeit hinab. Vom Richter, von seinen Eltern oder von seiner Frau wird ein Grundbesitz von f)üO bis 400 Dess. — je nach den verschiedenen Gouvernements — verlangt1). Das wäre in Frankreich ') Ks ist. das Doppelte von dem Census, der das Wahlrecht in den Krcis-Versammlungerj ertheilt. Die Dessätine ist wie wiederholt angegeben worden ist — 1 Hekt. 9 Are. viel: in gewissen Landstrichen Russlands, namentlich in den nördlichen und östlichen Gouvernements, ist es oft wenig oder fast nichts l). In Ermangelung von Ländereien fordert das Gesetz für das flache Land einen Gebäudebesitz von 15,000 Rbl. an Werth. In den Städten ist es noch anspruchsloser; in St. Petersburg und Moskau begnügt es sieb mit einem Immobil von 0000 Rbl. Werth. In andern Städten sinkt der Census auf 3000 Rbl., also auf kaum 10,000 Eres., oder 0—7000 Frcs. nach dem Wechselcurs. Dass diese Landereien, diese Immobilien auf dem Lande oder in der Stadt mit Hypotheken belastet sein und ihrem nominellen Eigentümer nichts einbringen könnten, darauf hat der Gesetzgeber nicht geachtet, so dass diese Bürgschaft des Census sich in der Praxis ausserordentlich reduoirt und mitunter ganz nichtig wird. In welcher Absicht hatte der Reformator den gewählten Richtern einen Eigonthumscensus auferlegt? Die Motive des Gesetzes sagen es ausdrücklich: weil der Friedensrichter mit Leuten aller Art in Beziehung kommt und, wenn er sich in ärmlichen Verhältnissen befände, grössere Mühe hätte, gewissen Einflüssen oder gar gewissen Versuchungen zu wideistehen *). War dies der Zweck des Gesetzes, so kann man schwerlich sagen, dass er erreicht ist. Ein Mann, der einige hundert Dessätinen, oder auch tausend Hektaren Brachland in den Einöden des Nordens besitzt, ein Mann, der Eigenthümer eines Hauses oder besser einer Baracke von 0000 Rbl. oder 15 bis 20,000 Frcs. Werth in Petersburg ist, wo das Leben nicht, billiger ist, als in Paris, kann der wohl für wirklich unabhängig gelten? isl er wirklich durch sein Vermögen über die gemeinen Versuchungen und Verführungen der Bestechung hinweggehoben ? Gäbe es keine anderen Bürgschaften für die Ehrenhaftigkeit des Richters, so wären die Wähler zu beklagen. So entspricht der Census durchaus röcht immer den Zwecken und den Rechnungen des Gesetzgebers. Seine Wirkungslosigkeit liegt bisweilen offen zu Tage. Wir wollen nicht behaupten, dass er nur eine unnütze Formalität, eine unbequeme und störende Schranke in der Wahlfreiheit der Semstwos wäre. Es giebt Russen, die das ohne ') In den reichen Gouvernements der Schwarzerde könnte dagegen das Minimum von 400 Dess. sehr hoch erscheinen. Daher haben mehrere Kreis-versammlungen, in dem Gouvernement Tschernigow beispielsweise, um der Höhe des Bodenwerths wegen den Wunsch ausgesprochen, dass das Minimum des Census auf 300 Dess. herabgesetzt werde. a) Bemerkungen zu Art. 9. Bedenkei) bejahen, mehrere Publieisten funlern zur Aufhebung jener Beschränkung durch den Census auf1). Wenn das Gesetz die Wähler einem besondern Wahlcensus unterwirft, so kann man es freilich überflüssig linden, dass noch ausserdem die Gezahlten einem Census der Wählbarkeit unterliegen. Andererseits ist es erklärlich, dass eine Regierung nicht ein so grosses Vertrauen in das Prineip der Richterwahl setzt, dass sie das Richteramt aller Bürgschaften ganz enthübe, wenn dieselben auch nur bedeutungslos und illusorisch scheinen2). Um dem Wählbarkeitseonsus sei neu ganzen Worth zu geben, müsste man ihn erhöhen, und wenn man zu Gunsten des Besitzes die Stufe zum Richterstuhl höher machte, würde sich Niemand linden, sie zu besteigen. Ks wären nicht blos die Wahlen zu beschränkt, sondern es fehlte auch an Bewerbern. Die reichen Gutsbesitzer, die durch ihr Vermögen wirklich unabhängigen Leute, begehren meist wenig nach Aeiuforii, welche sie zu einem dauernden Wohnsitz und einer langweiligen Arbeit zwingen. Nehmen sie die Wahl an, so geschieht es in der Würde von Ehrenfriedensrichtern. Die Mehrzahl der Bewerber um einen Friedensrichterstuhl bilden Leute von geringem Besitz, oft selbst kleine, verschuldete und bedrängte Cutsbesitzer, die von diesem Mandat einen Zuwachs ihrer geringen Einkünfte erhoffen. In dieser Beziehung ist der neue Wahl richterstand dem alten gewählten Richterstand nicht unähnlich8). Eine Stelle, ein Gehalt, das ist es, was die meisten Friedensrichter in ihrem Amte suchen. Einige geben um des Richte ramtos willen alle ihre alten Beschäftigungen nicht auf, sondern fahren fort, ihre oder die Güter Anderer zu verwalten, ja bisweilen selbst ein wenig Handel zu treiben. In den waldreichen Gegenden findet man nicht selten Friedensrichter mit dem Holzhandel beschäftigt, SC dass es zur Zeit des Verkaufs bisweilen unmöglich ist, den Richter zu linden. Es erschien natürlich, dass der Unterhalt des Friedensgerichts dem Reichsschatz zufiele; aber der Staat hat daraus, dass er die Wahl der Richter den Semstwos überliess, den Vortheil gezogen, dass er diese hast auf sie wälzte. Dieses Motiv scheint sogar der Erhaltung des Wahlsystems nicht ganz fremd geblieben zu sein. Das ist ein finanzielles l Hilfsmittel, das nicht ohne Nachtheil für die ') S. z. Ii. Golowatschew: „Zehn .lalne Reformen", }>. 333 u. 334. -) Das Gesetz he frei 1 die mit Einstimmigkeiten gewählten Richter von jeden Census; in der Praxis ist freilich solche Einstimmigkeit ausserordentlich schwer m erreichen. s) S. oben: Buch IV, Kap. 1. Justiz ist. Die Versammlungen, welche die Friedensrichter wählen, hestimmon mich ihrem Ermessen und nicht immer ohne Sparsamkeit den Gehalt derselben1). Diese Besoldung wechselt sehr nach den Landstrichen und den Existenzkosten: im Allgemeinen beträgt sie ungefähr 2000 Rbl., sinkt in einigen Gouvernements gar auf 1500 Rbl., steigt dagegen in den Hauptstädten auf 1000 bis 5000 Rbl. Die Semstwos überlassen gegenwärtig die Kosten der .Justiz dem Richter; er hat das Local zu schaffen, zu möbliren, zu erheizen, er hat sich einen Schreiber anzustellen und ihn zu besolden. Diese Ausgaben verringern die Einnahmen dieser ländlichen Richter sehr beträchtlich. Daher haben viele von ihnen keinen' andern Gerichtssaal, als ein Zimmer ihrer Wohnung oder einen Raum im Nebengebäude, ja sogar eine mehr oder minder dazu hergerichtete, bisweilen kaum geschlossene und kaum gedeckte Scheuer. Ebenso habe ich Friedensrichter gesehen, die aus Sparsamkeit keinen Schreiber hielten, sondern dessen Dienst selbst verrichteten. Die Semstwos werden über kurz oder lang diesem Zustand der Dinge abhelfen und auf ihre Kosten Friedensgerichts-häuser herstellen müssen. Der gegenwärtige Zustand ist nicht minder verdriesslich für das Publikum, als für den Richter, denn das Ge-richtslocal wechselt mit der Wohnung des Richters; da dieser mitunter an der Grenze, oder gar ausserhalb seines Bezirks wohnt, so wachsen die Missstände, die sich überall in Russland aus den grossen Entfernungen ergeben, auf Kosten der Gerichtszugehörigen, namentlich auf Kosten der Bauern, die oft in ihren Dörfern Niemand haben, der ihnen ihre Bittgesuche aufsetzen könnte, und desshalb gezwungen sind, selbst sich zum Richter zu begeben. Der Bildungscensus, der von den Friedensrichtern gefordert wird, ist gegenwärtig keine grössere Garantie für ihre Befähigung als der Vermögenscensus es für ihre Unabhängigkeit ist. Das Gesetz verlangt von dem Candidaten keinerlei Specialkenntnisse, keinen gelehrten Grad, kein Universitätsdiplom; es begnügt sich mit einem Studienzeugniss, das niedriger ist, als das französische baccalaureat ') In den Gouvernements, in denen die Friedensrichter nicht gewählt werden, bestimmt die Regierung ihren Gehalt, aber dieser wird — s00 Rbl. betreffen und alle Criminalsachen verhandelt, auf denen keine höhere gesetzliche Strafe als ein Jahr Gefängniss oder .500 Rbl. Strafzahlung steht. Man kann sich auch in Angelegenheiten an den Friedensrichter wenden, die nicht in seiner Competenz liegen; aber in diesem Falle müssen sich die Parteien verpflichten, sich seiner Entscheidung zu unterwerfen. Das nennt man das Gewissensgericht'). « ') Die speciell den Woloslgerichteii eoiu|>etireiiden Kechtshändcl werden auf diese Weise oft mit Zustimmung beider 'fliehe vor die Friedensrichter gebracht. In einigen (h>uvernemeiits des Innern haben diese Richter, deren heute noch ZU wenige sind, um solchem Zuwachs von Geschäften zu genügen, Mühe, sich derartiger Sachen zu erwehren. Kin aufsein ständisches Gericht zurückgewiesener Mushik soll erwidert haben: „Ach dieses Wolostgericht! da bekommt man nichts, Wie .sein Name anzeigt, hat der Friedensrichter vor Allein die Versöhnung der Parteien anzustreben; er darf ein Urtheil nur fallen, wenn er den Versuch gemacht hat, eine Verständigung herbeizuführen. In seinen Entscheidungen bat er mehr der Billigkeit, als dem scharfen Gesetz Rechnung zu tragen, und in gewissen Fällen muss er sich dem Rechtsgebranoh mehr fügen, als dem Gesetz l). Der erste Vortheil dieser Justiz ist. dass sie langsame und kostspielige Formalitäten nicht kennt. Jedermann, der eine Klage an den Friedensrichter zu bringen hat, wendet sich mündlich oder schriftlich an ihn. und der Richter setzt unverzüglich den Tag der Verhandlung an. Nichts einfacher, als diese Verhandlungen, namentlich auf dem Lande. Das Verfahren ist mündlich und öffentlich und mitunter TOD einer patriarchalischen Gemüthlichkeit8). Man findet dort kaum mehr Formalitäten und äussere Anstandsfnrmon als in den Wolostgeriohten. Der Richter hat weder Robe noch Uniform; er sitzt nach seinem Belieben im Rock oder im Jaquette, trägt nur am Halse an einer vergoldeten Kette eine Medaille. In den Friedensgerichtsverhandlungen, denen ich beigewohnt, vollzog sieh Albs durchaus regelrecht. Die Befragung der Zeugen wurden sorgfältig und geduldig ausgeführt, ihre Antworten, wie die der Parten der Reihe nach schriftlich resumirt, dann den Betheiligten vorgelesen, um von ihnen beglaubigt zu werden. Dieses Verfahren, das den Verhandlungen mitunter eine gewisse Schwerfälligkeit giebt. verleibt ihnen doch grosse Klarheit und erleichtert wesentlich die Durchsicht des Prooesses tm falle einer Appellation. Beim Verlesen seines Richtspruchs, der immer niedergeschrieben und mit Gründen versehen war, Hess der Richter die Anwesenden sich erheben, und nach Schluss der als dneAnweisung auf zwanzig Kulhcnhiehe". Anspielung auf die in der Dorf .Justiz noch geduldete Rutheustrafc. ') Die von diesen bescheidenen Gerichtshöfen absolvirten Streitsachen sind -Gir zahlreich sowohl auf dem Gebiet des Civil- wie auf dem des Criininal proeesses. Nach der gerichtlichen Statistik erscheinen jährlich last 50,000 Angeklagte vor ihnen. Im Jahre 1K7»! hatten beispielsweise die Friedensrichter über 18,912 Angeklagte getirtheill, von denen 48,428 .Männer und 6488 Frauen waren. Freigesprochen wurden 20,771, verurtheilt 19,161. -I Folgenden Fall meldete die russische Presse als ein ehrenvolle.- Zeugnis* für das Friedensgericht (1K7Ü), das aber mehr für die Fnparteilichkeit als für den juristischen Tact des föchten spricht. Ein Richter hatte eine Diffamation?* klage seiner Magd gegen seine eigene Frau empfangen. Kr schickte Beiden unter seinem eigenen Dache eine Citation und verurtheilte nach öffentlicher Verhandlung seine Frau zu hundert Rbl. Strafe. Allerdings geschah das in Podolieu, WO die Richter noch nicht gewählt werden. Verlesung verbeugten sich die Parten, welche die Entscheidung annahmen, als Zeitdien ihrer Zustimmung. Was mir am meisten in diesen einfachen tierichten, wie in allen russischen Verhandlungen auffiel, war die Art der Eidesleistung. In einer Ecke des Zimmers, das zum Gerichtsloeal diente, erhob sich ein Pult, auf dem das Evangelium und ein Kreuz lagen. Gewöhnlich wird der Geistliche gerufen, um der Gerichtsversammlung die Autorität seines heiligen Dienstes zu verleiben und ihn selbst den Zeugen den Eid abnehmen zu lassen. Ich habe auch auf dem Lande den Popen eine lange liturgische Formel vorlesen hören, welche die Zeugen Satz für Satz nachsprachen, wobei sie sich nach nationaler Sitte wiederholt bekreuzten. Die Ceremonie endete mit Küssung des Kreuzes und des Evangeliums. Ich war überrascht, im Herzen des alten Moskowiens die ;ilte slavische Sitte noch lebend zu finden, deren die russischen Annalisten so häutig erwähnen; bei ihnen heisst: das Kreuz küssen — schwören. Für einen grossen Theil des Volkes, das noch tief in dem Aberglauben und in den plumpen Vorstellungen des Mittelalters steckt, und weniger die Wahrheit als die äussern Riten hochhält, muss die Heiligkeit des Eides immer durch ein religiöses Ceremonial hervorgehoben werden, das aus ihm eine Art Sakrament und aus dem Meineid ein Sakrileg macht]). In dem Gerichtslocal des Friedensrichters wird discutirt und selbst pladirt. Die Parten können sich durch Bevollmächtigte vertreten und vertheidigen lassen. Bisweilen lassen sie berufsmässige Advokaten aus der Stadt kommen, aber meist machen die Leute, welche die Geschäfte vor dem Friedensgerichte zu führen übernehmen, daraus eine Specialität. Das sind gewöhnlich Leute von geringer Bildung und mitunter von wenig Moralität, entlassene oder in Ungnade gefallene Beamte, frühere Gerichtsschreiber ohne Dienst, bisweilen sogar abgediente Soldaten oder Unteroffiziere, kurz, irgend ein Individuum, das Redseligkeit mit einem Anflug von Kenntniss des Gerichtsverfahrens und Lust zur Chikane verbindet. Um ihre Gebühren zu mehren, veranlassen diese Advokaten ohne Diplom oft die leichtgläubigen Bauern ihre Sache an den Appell-, ja gar bis an den Cassationshof gelangen zu lassen. Mit den Friedensrichtern ist es nicht, wie mit den Wolostgerichten, ') Selbstverständlich wohnt dem Eide Andersgläubiger, Christen oder Nicht-christen, der orthodoxe Geistliche nicht bei. Jeder schwört nach den Riten und Formeln seiner Religion. So wird oft ein Rabbiner herbeigerufen, um den israelitischen Zeugen den Eid abzunehmen. deren Urtheilssprüohe inappellabel sind. Die Entscheidungen der ersteren sind nur in solchen Civilsachen endgültig, in denen der Kläger weniger als '50 Rbl. beansprucht, und in den Strafurtheilen, die nicht über drei Tage Haft oder 15 Rbl. Pön hinausgehn l). In allen andern Fällen kann Appellation stattlinden, aber nicht wie in andern Ländern bei den ordentlichen Gerichten, sondern bei der Versammlung der Friedensrichter des Kreises. Bis hierzu konnten wir uns fragen, was Russland dem englischen Friedensgericht entnommen habe, so sehr war der Charakter des letztern verändert: hier stossen wir auf einen der wesentlichen Züge des englischen Vorbildes. Wie die jnstioes of the peace ihre dreimonatlichen Zusammenkünfte, ihre quartersessions haben, sc haben die russischen Kreisfriedcnsrichtor ihre allmonatlichen Versammlungen, ihre Friedensgerichtshöfe (miro-WÜje sjesdüij. Man appellirt von dem einzelnen Friedensrichter an die Versammlung aller, die als gemeinsam endgültig über Urtheile entscheiden, die von einem Einzelnen in erster Instanz gefällt wurden. Dieses ganz einfache System hat es ermöglicht, jener schlichten Gerichtsbarkeit eine volle Selbständigkeit zu ertheilen. Bei solchen Friedensrichterversammlungen bleibt die aus Wahlen hervorgegangene, sich selbst controlirende Justiz vollkommen unabhängig von den durch den Staat eingesetzten Gerichtshöfen*). Die Friedensrichterversammlungen werden monatlich in dem Hauptort des Kreises abgehalten und dauern gewöhnlich zwei bis drei Tage. Das Gesetz fordert nicht die Anwesenheit aller Richter in jeder Sitzung, sondern nur die von dreien, von denen einer zum Vorsitzenden gewählt wird. Der Friedensrichter, dessen Entscheidung angestritten wird, kann an der Verhandlung der ihn betreffenden Angelegenheiten nicht theilnehmen. Diese Sitzungen sind öffentlich, die Plaidoyers können in ihnen von Neuem beginnen. Jeder wohnt ein von der Regierung ernannter Proeureur bei, der seine Anträge in den Griminal- und in bestimmten Civilsachen stellt. Die Friodens-richterversammlungen sind ebenso Cassations- wie A.ppellhöfe; sie können die Beschlüsse der Richter wegen übertretener Competenz. wie wegen Verletzung der vorgeschriebenen Formen cassiren. In ') Ks ist bereits davon die Uede gewesen, diese Grenze für Civilsachen auf 100 Rbl. zu erweitern, um die Zahl der Appellationen geringer zu machen. •) Man hat gerathen, ein gleiches System auf die Bauergerichte anzuwenden, die jetzt einer zweiten Instanz entbehren. Aber abgesehen von ihrer t'nkennt-niss und Unfähigkeit, nach Schriftstücken Entscheidungen zu treffen, haben die Bauergerichte in der Kegel die Zeit nicht, um so leicht zu einem solchen Appellhof sich zu versammeln. diesem Falle verweisen sie die Sache an einen andern Richter. Die von der Friedensrichterversammlung als Appellhof getroffenen Entscheidungen können nur zur Cassation im Senat angefochten werden, und wenn dieser höchste Gerichtshof die Cassation verfügt, so geht die Sache an die Verhandlung des benachbarten Kreises über. Ein Appellhof, der Allen zugänglicher und dem Staate billiger «rare, Hesse sich gar nicht finden. Aber wie fein durchdacht dieses System auch sei, es steht nicht über jeder Kritik: an seine Dauer wollen Viele nicht glauben. Die Richter zeigen mitunter wenig Eifer, diese Versammlungen zu besuchen; in Petersburg selbst hat im Jahre 1881 eine Inspection zahlreiche Regelwidrigkeiten aufgedeckt. Nach dem ürtheile mancher Juristen liegt der Fehler mehr im System, als in den Menschen. Was ist, so wird gefragt, dieser Modus einer gegenseitigen Controle, die jedem Richter seine benachbarten Collegen zu Richtern einsetzt? Kann man auf die Strenge und die Unparteilichkeit eines Tribunals bauen, dessen Glieder der Reihe nach angeklagt werden können und abwechselnd vom Richterstuhl auf die Anklagebank kommen? Ein aus Richtern erster Instanz zusammengesetzter Appellhof wird immer einige Schwäche zu Gunsten der Entscheidungen des ersten Richters aufweisen. Freilich dürfen in diese Versammlungen die Ehrenfriedensrichter eintreten, welche, da sie in der Regel nicht Richter erster Instanz sind, weder dieselben vorgefassten Meinungen, noch die gleichen Rücksichten, wie ihre Collegen zu hegen brauchen. So brächte das Institut der Ehrenfriedensrichter einen wirklichen praktischen Nutzen, aber die mit diesem Titel bekleideten Männer benutzen zu selten ihr Recht, an den monatlichen Gerichtssitzungen theilzunehmen, als dass sie dort einen grossen Einfluss üben könnten. Das geringe Mass juristischer Kenntnisse bei den meisten der gewühlten Richter hat einen Einwand anderer Art gegen die Friedens-richterversammlungen geliefert. Ist es nicht seltsam, hiess es, die Revision der Ürtheile eines unwissenden Richters gleich unwissenden anzuvertrauen, einen Appellhof zu schallen, in dem vielleicht kein Jurist, vorhanden ist. und das zumal, wenn dieses Gericht die schwierigen Fragen der Competenz, der Berufung, der Cassation zu entscheiden hat? Wenn der Mangel an Rechtsgelehrten auch dazu zwingt, von den Friedenslichtern keine juristische Bildung zu verlangen, darf man darum eine so zusammengesetzte Gerichtsbarkeit, dun haus unabhängig machen? Wäre es nicht weiser, die für das Publicum und sie selbst gefährliche Autonomie ihr nicht zu lassen, sondern sie der Controle erfahrener und berufsmässiger Richter unter- zuordnen? ») Beim Angriff gegen die Friedensriebterversammlung ger&th man in den Kampf gegen den gewählten Richterstand, fordert dessen Unterordnung unter die ordentlichen Gerichte und gelangt schliesslich dahin, die ganze Organisation des neuen Systems, das auf die Scheidung der beiden Gerichtsbehörden gegründet ist, Iber den Haufen zu werfen. Dahin zielen gewisse russische -Juristen und Puhlieisten. In ihren Augen ist die Controle der Friedensrichterversammlungen aber die gewählten Richter illusorisch, die Controle des von andern Sorgen belasteten Senats aber ungenügend. Für sie hat die doppelte Reihe von Gerichtshöfen, Wie Sie 1864 geschaffen wurde, den unverzeihlichen Fehler, der Einheitlichkeit zu entbehren: der Senat hat nicht die Macht, die Uebereinstimmung der beiden gesetzlich getrennten Gerichtsbarkeiten aufrecht zu erhalten. Unseres Erachtens ist der Dualismus der Gerichtsorgane Russlands eine natürliche Folge der Art ihrer Besetzung. Das Wahlgericht dem Staatsgericht unterordnen, hiesse, auf einem Umwege das eine zu Gunsten des andern vernichten. Ist eine solche Massivgel des Misstrauens gegen die locale -Justiz wirklich gebieterisch genug durch die That sachen gefordert, so dass die Regierung sich für eine so ernste Umgestaltung so junger Institutionen entscheiden kann? Die den Friedensrichtern und Friedensgerichten so lebhaft vorgeworfenen Mängel scheinen mir eines Theils übertrieben, andern Theils nur vorübergehend. Wenn der ('urpsgoist die Friedonsrichterversammlungeo der Gefahr aussetzt, allzu grosse Nachsicht gegen den ersten Richtet zu üben, so bindet er sie doch nicht weniger an den guten Ruf der friedensriehterheben Justiz, also an deren Unbescholtenheit und Unparteilichkeit. Für ein derartiges Tribunal kann also die moralische Solidarität der Richter ebenso eine Kraft, wie eine Schwäche, ebenso eine Bürgschaft, wie ein Grund zum Misstrauen sein. Was den Mangel an juristischen Kenntnissen betrifft, so ist das ein Fehler, welchen die Zeit aus den Friedensrichterversammlungen noch rascher verschwinden lassen kann, als aus der Amtsstube der .Einzelrichter. ') In Wirklichkeit sind Irrthümer der Competenz, Formfehler, irrige Uesetz-auslegungeu durchaus nicht selten. Die tYiedcnsrichlerversammluiigen cassiren alljährlich eine grosse Zahl von Entscheidungen der Kin/.elrichter, und wenn die Zahl der amiullirtcn Richtsprüche auf dem Lande nicht noch grösser ist, wenn nicht noch mehr Bertifungen und Klagen vorkommen, so liegt das, wie Gnlowatschcw (Zehn Jahre Reformen 331) sagt, weniger au der Geduld des Mushiks und des Volkes, als an seiner l"iikemitniss seiner Rechte und an drr Kostspieligkeit des Recurses an den Senat. Ohne auf das Beispiel Englands zurückzugreifen, wo seit Jahrhunderten ein mehr oder minder ähnliches System herrscht, erkennen wir, dass auch in den grossen Städten Russlands eine so zusammengesetzte Friedensgerichtsbarkeit dem Publicum Genüge leisten kann. Im Innern des Reichs findet sich weniger Anlass, über die der Institution anhaftenden Unvollkommenheiten, als über die Dienste überrascht zu sein, wrelche diese Institution bei so ungenügendem Material leistet. Von allen Theilen der Justizreform ist das Friedensgericht, das im Prineip bestreitbarste, in seiner Anwendung gewagteste Institut, doch dasjenige, das am meisten Erfolg gehabt hat. Seine Zukunft will ich nicht voraussagen. Der Fortschritt der Cultur und des öffentlichen Geistes wird diese Wahljustiz mit ihrem Personal heben; aber in dem Augenblick, da sie scheinbar den höchsten Grad der Vervollkommnung erreicht haben wird, wird eine neue Gefahr für sie erstehen, eine Gefahr, die dem Prineip der Wahl selbst entspringt. Das Aufblühn des politischen Lebens wird dort allmälieh den Gährungs-sfoff der Corruption entstehen lassen. Die Zukunft birgt so in der Fortentwicklung selbst eine Bedrohung dieser Gerichtsbarkeil , deren Vervollkommnung sie bringen soll. In dieser Beziehung fürchte ich, dass die Russen, die von politischen Rechten die Ausdehnung und Besserung ihrer Wahljustiz erwarten, Opfer eines schönen Traumes sein werden. In unsern Augen, wir wiederholen es zum Schlüsse, kann die politische Freiheit, die für die volle Entfallung der Selbstverwaltung unentbehrlich ist, leicht ein Grund zur Entartung der auf Wahlen beruhenden .Justiz werden, die oberflächlich betrachtet — SO vielen voreingenommenen Leuten für die natürliche Ergänzung der Selbstverwaltung gilt. Viertes Kapitel. Gericht erster Instanz and Appellationsgerichte, — Der Senat als Cassations hol'. - Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit des Richterstandes. Präsetitations-recht. Staatsanwaltschaft und Procureure. - Werth des Richterpersonals. Die Advokaten und die Freiheit der Advokatur. Ueber oder richtiger neben dem Friedensgericht steht die ordentliche Gerichtsbarkeit. Zeigt jenes uns Züge englischen Einflusses, so ist in dieser Alles Frankreich nachgebildet. Der Plan des neuen Oerichtsgebüudes ist so treu dem französischen Justizpalast nachgezeichnet, dass es einer Beschreibung seiner Einrichtung nicht bedarf; es ist die der französischen Tribunale seit der Revolution. Man iindet dort dieselbe Eintheilung in drei Stockwerke, dieselben Gerichte erster Instanz, dieselben Appellationsgerichte, denselben Cassationshof. Man findet dieselben Richter und dieselben Advokaten, dieselben Procureure und dasselbe Schwurgericht. Wir haben hier weniger die Anlage des Hauses zu untersuchen, als das, was innerhalb seiner Wände, in den äusserhch den französischen so ähnlichen Sälen vorgeht. In der Architektur beider Bauten giebt es jedoch eine auffallende Abweichung, welche der russischen Nachahmung den Vorzug gegenüber ihrem französischen Vorbilde verleiht. Die Verhältnisse der verschiedenen Theile der Nachbildung sind weiter, geräumiger, als die des Originals, die Fenster der Faeade sind verhältnissmässig weniger zahlreich und kleiner, die Innensäle grösser und besser gelüftet. In Frankreich zeigt die allzu sclaviscb der Verwaltungsorganisation angepasste Justizordnung eine übertriebene Zahl von Abiheilungen und Unterabtheilungen, von Appellhöfen und Gerichten erster Instanz. Man bemerkt beim ersten Blick, dass alle diese Abtheilungen auf eine Zeit zurückreichen, die noch der raschen Verkehrsmittel entbehrte ]). Indem Russland sich die Rangordnung der französischen Tribunale zu eigen machte, suchte es zugleich die Grenzen der französischen gerichtlichen Zuständigkeit zu erweitern. Es hat ebenfalls Kreisgerichte (tribunaux d'arrondissement, okrushnüje sudüi), aber statt - wie Frankreich auf einen Verwaltungskreis beschränkt zu sein, erstreckt sich die Jurisdiction dieser Gerichte erster Instanz gewöhnlich auf fünf, sechs oder sieben Kreise, zuweilen auf ein ganzes Gouvernement, das grösser und bevölkerter ist, als die französischen departements *). Russland hat ebenfalls Appellationshöfe (sudebnüja palatüi), aber das Gebiet jedes derselben umfasst eine ganze Zone des Reiches. Bei einem zehnmal so grossen Territorium und bei doppelt so grosser Bevölkerungszahl hat das europäische Russland weniger Gerichte, weniger Appellhöfe, weniger Richter aller Art, als ') Bekanntlich wird augenblicklich (.Marz 1sh2; fiber eine Justizreform verhandelt, die diese Mangel abstellen soll. 2) Das europäische Russland zahlt, selbst nach der jüngsten Kinh'ihrung der Gerichtsordnung in den westlichen Provinzen, kaum 00 Gerichte erster Instanz mit '.) AppellatJojishöt'eu: Petersburg, Moskau, Kasan, Saratow, Charkow, Odessa, Kiew, Smolensk and Wilna. Das Königreich Bolen, der Kaukasus und Pinland bleiben ausserhalb dieser Zahl. Frankreich. In dieser Beziehung stellt Hussland England näher, als jenem, Eis ist vielleicht in den entgegengesetzten Fehler gefallen: hat Frankreich zu viel Gerichte, die zu wenig beschäftigt sind, so besitzt es ihrer vielleicht nicht genug. Ihre Zahl wird mit der Bevölkerung und dem Wohlstande des Reiches wachsen können, ohne durch übermässige Vermehrung Amt und Titel der Richter niedriger zu setzen '). Russland hat Frankreich in der Zusammensetzung, wie in der Rangordnung seiner Gerichte nachgeahmt Das Friedensgericht ist auch dort das einzige, in dem ein Einzelrichter fungirt. In allen andern Gerichten hat Russland im Gegensatz zu England das System der Collegialrichter angenommen, ohne sich von dem Einwand irre machen zu lassen, die Collegialjustiz schwäche die Aufmerksamkeil und das Gewissen des Richters, indem sie die Verantwortlichkeit vertheile. Nach dem russistdien Gesetz bilden in jeder Civil- oder Griminalsache drei Richter das Tribunal, von denen einer den Vorsitz führt Die Preisgerichte üben beiderlei Justiz, in Criminalsachen mit der Jury und ohne Appellation. Aber auch dann lässt das Gesetz den höhern Gerichtshöfen eine Art von Controle über die Kreisgerichte, indem es die Ci'iminalverfolgung vor den letztern nur auf Beschluss des Appellhofs, der sudebnaja palata, gestattet. Das französische Gepräge tritt besonders in dem höchsten Gerichtshof und in der Form der Cassation hervor. Die Russen haben den Franzosen das Wort und die Einrichtung entlehnt2). Sie haben den „dirigirenden Senat'1 Beters des Grossen an der Spitze belassen, aber seine Befugnisse auf die der französischen Cassationshüfo beschränkt. Wie diese letzteren hat der russische Senat nur die Gesetzmässigkeit des Verfahrens und der Gerichtsentscheidungen zu prüfen, ohne selbst über die Materie der Sachen zu beschliessen3). 11 Man darf übrigens nicht vergessen, dass die besondere Einrichtung der Friedensgerichte und der Friedcnsrichterversamm hingen zu Appellhöfen in fühlbarer Weise die Zahl der den ordentlichen Gerichten zustehenden Bachen vermindert. Einer der Redacteure der Gerichtsverfassung, Ruzkowski (GrundrisB der Gerichtsordnung. Petersb. 1H74, p, 11, russ.) hat sich bemüht, die Züge hervorzuheben, in denen sich die russische Copie von dem französischen Original unterscheidet. Kr zählt ihrer fünf auf. Aber das sind meist Unterschiede im Kleinen, die hier angeführt zu werden nicht verdienen. 1 )er wichtigste ist, dass für bestimmte Fälle die Friedensrichternersamnalungen zu Cassationshöfen gemacht sind. a) Das tiesetz, das die Aufgabe des höchsten Gerichtshofs auf dieses Amt der Revision beschränkt, ist, wie hier erwähnt werden muss, < legenstand mancher Im Unterschied zu dem französischen hohen Gerichtshof ist der russische Senat nicht blos Cassationshof. Von seinen früheren Befugnissen, die im illusorischen Titel „dirigirend" oder „verwaltend" l) bezeichnet sind, hat er sehr verschiedenartige Competenzen bewahrt, die in verschiedenen Abtheilungen oder „Departements" geübt werden. Der Senat ist zugleich Cassationshof, Oberverwaltungsgericht, Rechnungskammer, er hat ein Heroldiedepartement, und dient als hoher Gerichtshof für politische und für Staatsverbrecher. Dem Senat unterliegen der Verwalttiiigsprozess, wie die Streitigkeiten der Vertreter der Centralgewalt und der gewählten Organe der Selbstverwaltung. So treffen also Administration und Justiz, die in den untern Regionen vollständig getrennt sind, in ihrem Gipfel, in der höchsten Körperschaft zusammen. Dadurch, dass die Controle der beiden Hauptelemente des socialen Lebens demselben Körper überlassen blieb, glaubte man die Einheit der Gewalten und die Uebereinstimmung zwischen der Verwaltung und der Justiz sicherer gestellt zu haben. Wenn in dieser Vereinigung die eine die andre beeinträchtigt, so geschieht das natürlich heute zu Gunsten der administrativen Grundsätze oder des Tschinownikthums; dereinst wird es umgekehrt sein. Das Cassationsdepartement des Senats ist in zwei Sectionen getheilt, die eine für Civil-, die andre für Criminalsachen. Jeder ist ein Oberprocureur beigeordnet. Im Senat laufen alle Cassations-: gesuche des Ungeheuern Reiches zusammen. Die Civil- und Criminal-abtheilungen sind mit Geschäften überhäuft, wenn die Kosten des Verfahrens auch viele Prozessirende zurückhalten2). Im Jahre 1879 hatte allein das ('riminaldepartement 1(5,000 Restanzien. Trotz starker Vermehrung des Personals in diesem Departement blieben 1880 und 1881 tausende von Prozessen unerledigt Um das hohe Gericht zu entlasten, ist davon die Rede gewesen, bald die Zahl der dem Friedensrichter ohne Berufung zustehenden Sachen zu vermehren, bald Kreisgerichte als ('assationsinstanzen für die Friedensgerichte einzuführen, bald auch in jedem Gerichtsbezirk specielle Kammern für Bittgesuche Kritik geworden. Man wirft diesem System vor, die Dauer und die Kosten des I'roeesses übermässig und zwecklos zu mehren. Einige Juristen möchten, dass der Senat, statt sich auf die Cassation der Ürtheile niederer Gerichte /u beschränken, selbst eine definitive Entscheidung geben konnte. ') prawitelstwujuschtschi, gewöhnlich dirigirend übersetzt, richtiger ad ministrirend. -j Jedes l'assalionsgesuch muss mindestens bei Civilsachen mit einer Hinterlegung oder Caution von 10 Rbl. begleitet sein, die bei Verwerfimg des Gesuchs nicht zurückerstattet werden. litroy-Beml i «u, Keicb (1. Zureu u. d. Kuiaeu. II, Bd. L9 zu errichten, welche die Recurse gegen die Friedensrichterversamni-lungen zu untersuchen hätten. Das Einfachste wäre noch, die Zahl der Glieder und Kammern des Cassationshofs zu vermehren, was schon geschehen ist und noch wiederholt wird geschehen müssen. Von dem dirigirenden Senat bis zu den Kreisgerichten werden alle Richter vom Kaiser ernannt. In Bezug auf die ordentliche Civil- und Criminalgerichtsbarkeit hat der Reformator sich des Wahlsystems enthalten, das viele Russen auf das gesammte Gerichtswesen ausgedehnt sehen möchten. Bei Verwerfung der Wahl suchten die Redacteure der Justiz Verfassung ein anderes Mittel, die Unabhängigkeit des Richters zu sichern und zugleich der Regierung die schwere Verantwortlichkeit der Ernennung der Richter für ein so ausgedehntes Reich zu erleichtern. In dieser doppelten Absicht entschlossen sie sich, auf das Richteramt selbst zurückzugreifen, und er-theilten jedem Gerichtshof das Recht, Candidaten für die in seinem Kreise entstandenen Lücken vorzuschlagen. Streng durchgeführt, konnte ein solches Recht ein vortreffliches Mittel sein, die Theilung der Gewalten aufrecht zu erhalten; es konnte dazu beitragen, die Justiz dazu zu machen, was sie thatsächlich nur in sehr wenig Staaten ist, zu einer wirklich autonomen und unabhängigen Gewalt. Doch das letztere ist in Russlaud nicht erreicht; um so grosse Wirkungen herbeizuführen, ist das Präsentationsrecht der Gerichte gesetzlich dort allzuviel Beschränkungen unterworfen und in der Praxis zu wenig hochgehalten. Der höchste Gerichtshof, hei dem ein solches Privilegium am besten angebracht wäre, ist desselben beraubt. Nur Kreisgerichte und Appellationshöfe besitzen es, und auch in diesen Tribunalen erstreckt sich das Vorschlagsrecht weder auf die Präsidenten, noch auf die Vicepräsidenten, sondern einzig auf die einfachen Richter. Das ist das Gregentheil von der Praxis in freieren Ländern, wie z. B. Belgien. Diese Beschränkung schien aber noch nicht genügend: der Gerichtshof kann von dem ihm ertheilten Präsentationsrecht nicht nach eigenem Belieben Gebrauch machen. Ehr kann seine Wahl nicht vollziehen, bevor sie nicht von dem Procureur, also von dem unmittelbaren und gefügen Vertreter des Ministers genehmigt ist. Eine solche Bedingung scheint das Vorschlagsrecht zu einer einfachen Formalität zu machen; aber mehr noch: ist die Präsentation unter Mitwirkung der Staatsanwaltschaft gestellt, so hat der Minister noch immer die Macht, sie unberücksichtigt zu lassen, ohne Gründe hiefür anzugeben; er behält die Freiheit, von sich aus eigne Candidaten neben denen des Gerichts zu präsentiren. Es ist augenscheinlich, dass bei solchen Vorsichtsmassregeln gegen ihr eigenes System die Redacteure der Gerichtsverfassung diesem Präsentationsrechte wenig Bedeutung übrig gelassen haben. Nur die Macht der allgemeinen Meinung könnte demselben einen wirklichen Werth verleihen, indem sie den Minister dazu veranlasste, in der Regel die Wahl der Gerichte anzunehmen, oder den Herrscher, die Candidaten der Gerichtshöfe denen des Ministers vorzuziehn. Leider wird dieser Modus der Ernennung der Richter schon viel von seiner nutzbringenden Bedeutung verloren haben, wenn erst der Augenblick eintritt, da die öffentliche Meinung kräftig genug sein wird, ihn zur Wahrheit zu machen. Passt er irgendwo, so ist's in einem Lande, wo die Regierungsgewalt zu stark und die Gesellschaft zu schwach ist, als dass jene von dieser geleitet würde. Ueberau anderwärts könnte dieses Recht der Präsentation fast ebensoviel Missstände, wie Vortheile bringen. Die Mängel wären andere, als die der Wahljustiz, aber vielleicht diesen gleich. Ein Richterstand, den die Wahl von der öffentlichen Meinung und den Parteien allzu abhängig macht, würde, wenn er sich selbst ergänzte, allzu unabhängig von der Gesellschaft, allzu fremd der allgemeinen Meinung werden. Bei einer Gerichtsbarkeit, die in der Weise einer Akademie ergänzt wird, wie die alten französischen Parlamente, würde der Corpsgeist allzu gross, die Routine gefahrbringend werden, die Ansprüche aber würden zu Missbräuchen führen. Tn den meisten Provinzialgerichten haben Familienbeziehungen und Nachbarschaften mehr Antheil an den Wahlen, als das Verdienst der Candidaten. Diesen Uebeln vorzubeugen gäbe es freilich ein sehr einfaches Mittel; man müsste Belgien nachahmen, die Richter vermittelst zweier Listen wählen, von denen eine von den juristischen Corporationen, die andere von Wahlversammlungen, etwa von den Semstwos aufgestellt würden. Combinirte man so das Vorschlagsrecht der Gerichte mit dem Wahlrecht der Vertreter der Gesellschaft, so könnte man die Vortheile beider Systeme ohne deren Nachtheile gemessen. Wenn dieses Präsentationsrecht irgendwo Nutzen bringt, so ist das mehr in den Untergerichten, wie in den Appellhöfen, und wie namentlich im höchsten Gericht, das in Russland desselben ganz entbehrt. Die Unabhängigkeit des Richters gegenüber der Regierung und den Parteien ist so wichtig, dass die Staaten nicht genug Massregeln zu ihrer Sicherung ergreifen können. Von allen hiozu in Gebrauch genommenen Mitteln scheint die Unabsetzbarkeit noch das einfachste. Sie vereinigt am besten die Stabilität des Gerichts mit dem Bedürfniss der Erneuerung des Richterstandes, die Freiheit des L'itheilspruchs iy* mit dem Interesse des Richters. Die Redacteure der Gerichtsverfassung von 186] haben es wohl verstanden, dass diese Bürgschaft nicht weniger nothwendig in einem absoluten Staat, als in einer Regierung wechselnder parlamentarischer Parteien sei. Das Gesetz stellt als Grundsatz hin, dass ein Richter ohne Nachweis eines Vergehens oder Verbrechens nicht abgesetzt werden kann. Diese Unabsetzbarkeit ist weit davon entfernt, die Regierung aller Mittel der Beeinflussung der Richter zu berauben. Der Richter ist unabsetzbar, aber die Unabsetzbarkeit bezieht sich wohl nur auf das Amt, nicht auf den Posten. Der Gouverneur ist nicht blos Herr über das Avancement der Richter; wenn er sie auch nicht absetzen kann, so kann er sie doch, ohne irgend Jemand zu fragen, versetzen. Die gesetzlich zugesicherte Unabsetzbarkeit wird oft mittelbar auf dem Umwege der unfreiwilligen Versetzung illusorisch gemacht. In einem Reiche aber, wie Russland, das noch in Europa so viele von der Natur vernachlässigte Gegenden, so viele eisige oder glühend heisse Einöden besitzt, kann ein Wechsel des Postens der Deportation gleichkommen und für den Richter nur eine versteckte Absetzung, oder eine schlimmere Strafe sein. Gegenüber diesem in der Theorie unabsetzbaren Richterstande hält die Regierung eine zweischneidige Waffe in der Hand; sie kann auf ängstliche Seelen durch die Drohung einer Versetzung, auf die strebenden Geister durch die Verlockungen der Beförderung einwirken. In einem Staate, in dem die Regierung mit so grossen Kraftmitteln ausgestattet und die öffentliche Meinung noch nicht stark genug ist, um dem Gebrauch derselben ein Mass zu setzen, könnte die Unabhängigkeit des Richterlandes nur gesichert sein, wenn die Unabsetzbarkeit des Richters ebenso von der allgemeinen Moral, wie von dem Gesetz als Axiom angenommen wäre. Bei jedem Gericht hat das Ministerium einen besondern Beamten, den es unmittelbar ernennt und jederzeit absetzen kann. Es ist der Procureur. dessen Befugnisse denen der französischen Procureure entsprechen; linden wir abermals eine Nachahmung der französischen Institutionen, so handelt es sich jedoch in diesem Falle nicht um eine neue Entlehnung. Die Staatsanwaltschaft bestand lange schon vor den letzten Reformen. Sie ist ein Instrument, von dem Russland seil Peter dem Grossen sehr ausgedehnten Gebrauch gemacht hat. Sie kann heute wie früher als die wichtigste Triebfeder in dem Mechanismus der Justiz betrachtet werden. In keinem andern Lande ist die Macht des Procureurs als unmittelbaren Vertreters des Ministers so fest und so sehr gefürchtet. Wie in Frankreich bildet die Staats- Anwaltschaft eine stark centralisirte Verwaltung, deren ausgedehnte Befugnisse vielleicht weniger dem Ressort der Justiz, als dem der Polizei angehören. Durch die Gesetzgebung von 1864 beschränkt, bat die Rolle der Staatsanwaltschaft seitdem sich aufs Neue ausgedehnt, Dank der Reaetion in der zweiten Hälfte der Regierung Alexanders II. und den Befürchtungen, welche die revolutionären Verschwörungen weckten. Aus einem Hülfsgenossen der Justiz scheint der Procureur nur zu oft wieder ihr Vormund geworden zu sein, und ursprünglich untergeordnete Functionen sind thatsächlich die herrschenden Die Staatsanwaltschaft ist der Weg zu den höchten Würden in der Justizverwaltung; aus ihren Reihen rekrutirt sich häufig das hohe Personal der Collegialgerichtshöfe, die Präsidenten der Gerichts- und Appellationshöfe. Die unmittelbaren und fortlaufenden Beziehungen der Procureure zu dorn Ministerium geben ihnen in dieser Beziehung einen leichterworbenen Vorzug. In Petersburg wie in Paris vergessen die Minister zu oft, dass es für einen, zu Unparteilichkeit berufenen Richter eine schlechte Erziehung sei, gewerbmässig die Angeklagten vom Standpunet der Anklage aus zu betrachten. Aus zwei Aemtern, von denen keineswegs das eine die Vorbereitung für das andere ist, und die beide ganz verschiedene Geistesanlagen und Eigenschaften fordern, wird so eine und dieselbe Laufbahn geschaffen, auf die Gefahr bin, in dem Richter zuweilen den Procureur wiederzufinden. In Russland erklären sich die Ernennungen der Procureure zu Richtern zum Theil aus der Schwierigkeit, gebildete und erfahrene Richter zu finden. Man empfindet hier, wie überall in den neuen Institutionen den Mangel an Specialisten; die Reformen müssen aber selbst allmälieh das Personal schaffen, das sie in Anwendung bringen soll. In einem Lande, das fast ganz ohne Rechtsgelehrte ist, war es schwer, Richter zu finden. Man darf sich also nicht wundern, wenn man dort Richtern, ja Präsidenten begegnet, die kein juristisches Studium durchgemacht haben. Vor etwa zehn Jahren zählte man in den Kreisgerichten und Appellationshöfen mehr als 20% Richter, die jeder rechtsgelehrten Bildung entbehrten. Obwohl das Justizministerium jetzt nur noch Leute zum Richteramt zulässt, die ihr ■) Um diesem ausserordentlichen Einfluss der Staatsanwaltschaft auf die Gerichtspflege ein Ende zu machen, h.-tt ein Publicist vorgeschlagen, jene von dem Justizministerium zu lösen und dem Ministerium des Innern zuzufügen (Golowatschew, Zehn Jahre Reformen, russ.). Wenn einer so radicalen Mass-r«'gel nichts anderes entgegenstünde, würden doch die jetzigen bureaukratischen Gewohnheiten ihr — wie wir lürchten — wenig praktische Wirkung lassen. Jus studirt haben, besitzen doch nur etwa 10% aller Richter ein Diplom. Dieser Mangel an Menschen war die Ursache oder der Verwand der Verzögerungen, welchen die Verbreitung der neuen Gerichtshöfe und der unabsetzlichen Richter lange Zeit begegnete. Im Gegensatz zu den Erscheinungen im Westen können in Russland die sogenannten „liberalen Professionen", die hier meist noch neu sind, nur mühsam ihre Reihen füllen. Dies ist übrigens nur eine ganz vorübergehende Lücke, die vielleicht schon ausgefüllt wäre, wenn nicht das Misstrauen der Regierung gegen die Studenten der Universitäten und die neue Generation da wäre. Um zu einem Richterposten zugelassen zu werden, genügt es nicht, ein Diplom und einen gelehrten Grad zu besitzen: man muss sich vor Allem des Vertrauens der Regierung erfreuen und vor Allem nicht im Verdacht des Radikalismus oder eines bösen Geistes stehen. Je mehr Sicherheit und Unabhängigkeit das Gesetz dem Richter bietet, um so grössere Sorgfalt wendet der Minister darauf, dass in den unabsetzbaren Richterstand nur zuverlässige und ergebene Leute aufgenommen werden, deren Charakter und Gesinnung weder eine Uebertreibung der Unabhängigkeit noch eine Ausschreitung des Liberalismus fürchten lassen. Obgleich das Richteramt fast das einzige Gebiet ist, auf welchem die Rechte der Bildung zur vollen Geltung kommen, sind doch viele junge Leute, welche durch Kenntniss und Intelligenz zu diesem Beruf befähigt wären, um ihrer wirklichen oder vermeintlichen politischen Bestrebungen willen von demselben ausgeschlossen. Das moderne Llussland ist somit in eine Art von circulus vitiosus gebannt; thätige und rührige Leute, die um ihrer Gesinnung willen jede Laufbahn abgeschnitten sehen, sind aus Mangel an einem Ausweg gewaltsam in die Gesinnung gedrängt, die ihnen zum Vorwurf gemacht wurde. Daher ein gleichzeitiges, scheinbar unversöhnliches, doppeltes Uebel: von der einen Seite die Regierung und der Staatsdienst in Noth um Menschen, von der andern eine Masse von jungen Leute ohne Anstellung. Wenn sich das Richteramt nicht leicht allen Bewerbern öffnet, so ist es weit anders mit der Advokatur. Es ist dies daher jetzt auch eine der gesuchtesten Berufsgattungen der Jugend und namentlich talentvoller junger Leute. Die Advokatur ist in Russland etwas ganz Neues; sie stammt von den Gesetzen von 1864, die das mündliche Verfahren einführten. Bis vor Kurzem gab es nichts einem Advokaten Aehnliches; man kannte nur unwissende Bevollmächtigte, welche die Eingaben der Parten redigirten und einreichten und die Prozesse vor den Gerichten führten. Man nannte sie sträptschi 1). „Das waren," sagt N. Turgenew, dunkle und gemeine Agenten, um ihrer Ehrlichkeit, wie um ihrer Kenntnisse willen gleich schlecht berufen, zuweilen Freigegebene, manchmal selbst Leibeigene"a). Das Königreich Polen und die Ostseeprovinzen besassen allein im ganzen Reich Advokaten, die dieses Namens würdig waren3). Die russische Advokatur wurde durch die neuen Gerichtsinstitutionen ins Leben gerufen. Im Unterschied zu den meisten Staaten Europas ist das Recht des Plaidirens vor allen Gerichten in Russland noch nicht das Vorrecht einer in Rechtsfacultäten herangebildeten Körperschaft von Advokaten. Jedermann kann bei einer gewissen Moralität und Bildung Civil- und Criminalprozesse führen. Diese Einrichtung war wegen Mangels an Rechtskundigen nothwendig, da der Gesetzgeber nicht im Stande war, ein ganzes Corps von Advokaten plötzlich aus dem Boden zu stampfen. Auf jeden Fall kann das aber nur eine Uebergangsmassregel sein. Vielleicht hat der Staat in Wirklichkeit nicht die gleichen Gründe, Bürgschaften für die Befähigung des Advokaten, wie für die des Mediciners zu verlangen. Man versteht, dass neben den wirklichen Advokaten, die der Staat controlirt, und die gleichsam mit dem offiziellen Stempel gezeichnet sind, gelegentlich auch Leute ohne jede andre Legitimation, als das Vertrauen ihrer Clienten und die Uebung in Geschäften plaidiren können. Dergleichen geschieht jetzt in llussland. Das Recht der Vertheidigung ist frei, aber es unterliegt einem Reglement, das in der Praxis die Ausübung sehr beschränkt, und die Missstände, wie die Vortheile dieser Freiheit gleichzeitig vermindert. Das jetzt gültige System wirkt dahin, dass unterhalb der ordentlichen Advokaten eine Classe von Vertheidigern von geringerer Bildung entsteht, die ebenfalls aus der Advokatur einen Beruf machen und sich von den übrigen Advokaten nur durch ein geringeres Mass von Kenntnissen unterscheiden. Um zur Advokatur zugelassen zu werden, bedarf es eines Zeugnisses, das die Gerichte nur Leuten ausstellen, die sie dessen für würdig halten4). Diese Beschränkung verdankt ihr*! Entstehung der ') Vom Zeitwort sträpat, zubereiten, die Küche bereiten, und durch Assimilation: einrühren, brauen (einen Prozess). 2) N. Turgenew, Russland und die Russen. Bd. III. •) Das Gesetz von 1876, das den Gebrauch der russischen Sprache in allen Gerichten des alten Polens obligatorisch machte, hat zeitweilig der polnischen Advokatur ein Ende gemacht. *) Um über die Befähigung eines Individuums zu entscheiden, können die grossen Zahl von Leuten aller ('lassen, die hei der Eröffnung der neuen Gerichte, sich plötzlich als Advokaten aufspielten, Leute ohne Beruf, Beamte ohne Anstellung oder des Dienstes entlassen, frühere Offiziere und ausgediente Unteroffiziere, ruinirte oder bankrotte Kaufleute. Die Advokatur war plötzlieh die Zuflucht aller derer geworden, die keine Existenzmittel, wohl aber Kehlkopf und Lunge hesassen. Die Verordnungen legten ausserdem diesem Beruf keine Bedingungen der Bildung, des Alters, des Geschlechts auf. Das Ministerium der Justiz hatte den Gerichten anfänglich eingeschärft, das Hecht des 1 Maidirens den Frauen nicht zuzuerkennen, die in Kussland mehr als anderwärts sich mit den Männern in allen Herufsgattungen messen zu wollen seheinen. Der dirigirende Senat hat auf Appellation beteiligter Frauen diese Bestimmung des Ministers annullirt. Jedoch begegnen die Frauen nichts destoweniger in der Advokatur noch mehr Schwierigkeiten, als in der Ausübung des ärztlichen Berufs. Sie dürfen als Vertheidiger vor die Gerichtsschranken treten, aber ihre männlichen Collegen wollen sie nicht in den Stand der Advokaten einschreiben lassen, und die ordentlichen Gerichte ermächtigen sie noch nicht, vor ihnen zu plaidiren. Nur die Wahlrichter sind bisher galanter und ehrerbietiger gegen die Rechte des Weibes gewesen. Vor dem Friedensrichter kann die Frau ihre rednerischen Talente entwickeln, und mehr als ein Advokat im Unterrock hat sich — wie es heisst — in diesem neuen Beruf ausgezeichnet. Vereidigte Bevollmächtigte (prissüshnüje powerennüje) heissen die formell in den Rechtsfacultäten gebildeten Advokaten, die ein Diplom zur Ausübung der Advokatur im ganzen Reiche erworben haben. Diese Advokaten haben, wie in Frankreich, eine corporative Organisation erhalten; auch das ist eine Anleihe Russlands. Die Advokaten jeder Stadt wählen einen Vorstand, der über die Glieder des Standes Disciplinargewalt übt und das Recht besitzt, Verweise, Suspension und Ausschliessung zu verhängen. Die Anfänger sind zu einer Vorbereitungszeit von fünf Jahren gezwungen und können vor ihrem Eintritt in den Stand, von dem Vorstande einer Prüfung in der Geschäftspraxis unterworfen werden. Diese Verfassung hat der jungen Gerichte dasselbe einem Examen unterwerfen. Jedes Gericht erster Instanz und jeder Appellhot', wie jede Kriedensrichterversammlung verzeichnen die bei ihnen zugelassenen Advokaten. Für ein solches Zeugnis* ist eine recht holte Steuer zu zahlen, die einem Patent gleichkommt. Jeder, dem ein < ferichtshof das Recht des Plaidirens versagt, kann an den höheren Gerichtehof bis zur Cassation appelliren. Dasselbe Appellationsrecht steht dem Procureur zu, wenn er einen zum Plaidiren Berechtigten für unwürdig dieser Begünstigung hält. russischen Advokatur wenigstens in den grossen Städten eine wirkliche intellectuelle Macht gegeben; eine gleiche sittliche Macht hat sie ihr noch nicht verschaffen können. Besonders in den Provinzen geniesst der Beruf des vereideten wie des unvereideten Advokaten keineswegs eines allgemeinen Ansehens. Xon allen Laufbahnen, welche die Reformen öffneten, bietet er die einbringliehste und leichtest zugängliche. Daher die grosse Zahl von jungen Leuten und Männern aller Art, die sich in diese Carriere gestürzt haben. Wenige von ihnen haben ein höheres Gefühl für ihre Mission und für die berufsmässige Ehre. Die meisten haben keine andre Sorge, als die, sich zu bereichern, und sind in den Mitteln hierzu wenig wählerisch. Einige von ihnen haben wegen Betruges verurtheilt werden müssen. Der kaufmännische Geist, der sich auch in Frankreich oft bis zum Justizpalast drängt, beseelt fast allein den russischen Advokatenstand. Die Beredsamkeit und Gewandtheit des Advokaten sind bereits eine sehr gesuchte Waare, die Glieder der Advokatur sorgen dafür, sie möglichst theuer zu vor-werthen, und viele haben weder einen Tarif noch einen festen Preis. Gewöhnlich erörtern Client und Advokat im Voraus die Bedingungen des Preises und — wie bei jedem Handel in Russland, so enthält man auch hier sich des Feilschens nicht. Ist Verständigung erlangt, so setzen der Parte und sein Rechtsfreund meist einen regulären, in gebührender Weise unterschriebenen Contract auf, eine Vorsichtsmassregel, die nicht immer überflüssig ist'). Selten wird auf feste Bedingung contrahirt; die Taxe dos Honorars hängt gewöhnlich von dem Erfolg des Prozesses ah. Der Advokat setzt eine viel höhere Bezahlung fest, wenn er für seinen Clienten gewinnt. In Civilsachen fordert er oft von seinem Parten im Falle des Gewinnes 5, 10, 20 o/o von der streitigen Summe. In Criminalsachen steigen und fallen die Advokatengebühren je nach der niedern oder höhern Strafe, die dem Angeklagten auferlegt wird. Der Advokat, der auf diese Weise unmittelbar an der Sache, die er ver-theidigt, mitbeteiligt ist, wird in gewissem Sinn der Compagnon seines Clienten. Da in Russland gegenwärtig viel prozessirt wird, und es häufig um grosse Sachen sich handelt, sind die Honorare oft sehr beträchtlich. Es werden Prozesse angeführt, in denen die Sieger ') Diese Art des Verfahrens und diese (jeldgier erklären sich um so mehr, als es zwischen dem Advokaten und dem Clienten keine Sachwidter noch Vermittler giebt. Die Aemter von Advokat und Sachwalter sind in einer Person vereinigt. von der Schranke des Gerichts 10,000, 20,000, 40,000 Rbl. heimgetragen haben. Daher haben alle Classen der Gesellschaft, von den alten Knäsenhäusern bis zu den reichen Kaufleuten, von den Offiziersund Beamtensöhnen bis zu den Popensöhnen ihr Contingent zu der neuen und glänzenden Carriere gestellt. Die Advokatur von Petersburg und Moskau hat, wie die von Paris und London, ihre grossen Redner, denen der Weg zu Ruhm und Reichthum weit offen steht, und der junge Advokat in der Mode, der von Männern beneidet, von Frauen umschmeichelt, in Vergnügungen das vor Gerichten leicht erworbene Geld vergeudet, hat der Literatur einen neuen Typus geschenkt. Mängel, gegen welche einige ausländische Schriftsteller vielleicht ein wenig zu streng gewesen sind1), dürfen uns die guten Eigenschaften und die Verdienste der russischen Advokatur zumal in den Hauptstädten nicht verdecken. Mag sie auch interessirt und habgierig sein, mögen in ihren Prozessführungen Methode und Geschmack fehlen, mag sie weitschweifig und zur Phrase geneigt scheinen, so fehlt der jungen Advokatur von Petersburg und Moskau es doch durchaus nicht an all den Vorzügen des Berufs; sie hat wiederholt bewiesen, dass sie mindestens einen und zwar nicht den unwichtigsten dieser Vorzüge besitzt. Der russische Advokat hat als Verteidiger seine Pflicht nieht versäumt. In den letzten zehn Jahren, die durch soviel Verschwörungen und politische Prozesse bezeichnet sind, ist kein Angeklagter ohne Verteidigung geblieben. Jeder Russe, der vor Gericht gezogen wurde, sah neben sich einen Mann sich erheben, der es wagte, in seinem Namen sich mit den Vertretern der Gewalt um die Schwere der Anklage zu streiten. In diesem ausgedehnten, der politischen Versammlungen ermangelnden Reiche haben die Advokaten die Ehre, als die ersten laut ein freies Wort gesprochen zu haben; in einem Lande, in dem der militärische Muth so allgemein ist, waren sie es, die zuerst das bisher noch unbekannte Vorbild bürgerlichen Muthes boten. Einige von ihnen haben es nicht ungestraft gethan. Mehreren, wie dem Verteidiger Netschajews, wurde das Wort verboten, oder sie wurden, was auf dasselbe herauskommt, polizeilich in einer kleinen Provincial-stadt internirt. Aber die Advokatur hat dieser Gefahr gegenüber ihre Aufgabe nicht im Stiche gelassen. Die politisch Angeklagten haben ') Es seien hier beispielsweise der Engländer Mackeii/.ie Wallace: „Russin", Bd.; II, 399, 400 und der Oestreicher Dr. Cölestin: Russland seit Aufhebung der Leibeigensehaft 1824 angeführt, trotz alledem immer wieder Advokaten gefunden, die mit Eifer die Rechte der Verteidigung übten und gegen alle Verstümmelung der gerichtlichen Formen stetig protestirtenl). Sei es aus Misstrauen gegen ihre Zuverlässigkeit, sei es aus Abneigung gegen die liberalen Neigungen, welche der Beruf weckt, die Glieder des Advokatenstandes gemessen offenbar beim Justizministerium nicht des besten Anselms. Die Verordnungen setzen ihrem Fintritt, wie ihrem Vorrücken in der gerichtlichen Laufbahn Schwierigkeiten entgegen. Ein Advokat kann nur in den unteren Gerichten zu einem Richteramt berufen werden und auch das erst nach zehnjähriger Praxis. Eine solche Massregel hat nur die tatsächliche Wirkung, dass die Reihen des Richteramts vornehmlich den Advokaten ohne Talent noch Clientel offen stehen, und dass der Zutritt zu den hohen Richterwürden dem Advokatenstande verschlossen bleibt. In dieser Beziehung beiludet sich Russland auf entgegengesetztem Wege, wie England, wo bekanntlich der höhere Richter-stand sich aus den hervorragendsten Advokaten rekrutirt. Diese Misstrauensmassregeln gegen die Advokaten werden schwerlich den Aufschwung eines Berufs aufhalten, dessen Gedeihen für das Reich von Wichtigkeit ist. In jedem Lande ist die Advokatur, die zugleich Kenntniss der Gesetze und Gewandtheit der Rede fordert, eine der besten Schulen der gesetzlichen Freiheit gewesen. Im Leben der Völker, wie in dem der Einzelnen steht — es kann nicht oft genug gesagt werden — Alles in gegenseitigem Zusammenhang. Ein absoluter Staat kann seine Untertanen wohl kaum mit einer freien Justiz ausstatten, ohne dadurch selbst die staatlichen Freiheiten vorzubereiten, ohne jenen Lust und Bedürfniss nach ihnen zu wecken. Dit' Gewohnheit, Privatsachen zu verhandeln, führt früh oder spät dazu, die öffentlichen Angelegenheiten zu discutiren. die vielfach mit jenen zusammenhängen. Wenn in unsern modernen Demokratieen, wie einst in den alten, der Advokat als der Mann, der spricht und Reden hält, auf Kosten der mit grösserem Kruste zur Leitung der Staatsangelegenheiten ausgebildeten Berufsgattungen einen oft unverhältnissmässigen Einfluss erobert, so kann in den Staaten ohne politische Rechte die Advokatur noch für die letzteren am besten in die Schranken treten. Ihr fällt zu bestimmten Zeiten der beste Theil der schönen Aufgabe der Rechtsprechung zu, ihr steht ') So wurde im Februar 1882, im grossen Prozess der Suchanow, Trigonja und andern Mitschuldigen am Kaisermord von 1881 die Kühnheit mehrerer Vertheidiger, wie die Alexandrows und Spassowitschs besonders bemerkt. es zu, die Würde des menschlichen Selbstbewusstseins und das Rechtsgefühl zugleich mit dem Pflichtgefühl aufrecht zu erhalten. „Wir fühlen zu wenig die Höhe unseres Berufs und sind desselben meist wenig würdig", sagte mir einer von den wenigen russischen Advokaten, die von der Ehre ihres Berufs ganz durchdrungen sind ; „wir erkennen die ganze Bedeutung und Macht unserer Stellung für die Zukunft des Landes noch nicht. Besitzen wir auch Redner und Sachwalter, so haben wir noch keinen Brougham oder Berryer, welche die Advokatur wie ein Priesterthum betrachten, das aus ihrem Vertheidigerberuf ein öffentliches Amt und das höchste von allen macht, Gesetze und Sitten geben uns noch nicht die moralische Kraft, wie sie sie Ihren grossen Advokaten in Frankreich und England in den bösen Tagen der Geschichte beider Länder gegeben haben. Wir finden in der Gesetzgebung, im Misstrauen der Regierung, in der Theilnamlusigkeit der öffentlichen Meinung Hindernisse, die Sie seit langer Zeit nicht mehr kennen; aber trotz aller dieser Hemmnisse enthüllt uns der Fortschritt der Aufklärung und des öffentlichen Geistes allmälieh die Grösse unserer Mission. Sie werden dereinst sehen, dass in der Geschichte der politischen Entwicklung Russlands die Advokatur eine bedeutende Stelle einnehmen wird". Ich weiss nicht, ob die Zukunft diese stolze Sprache rechtfertigen wird. Seit ich sie gehört, sind unvermuthet kaiserliche Dekrete und beschränkende Verordnungen erschienen, welche die Justiz kürzen, die aufregendsten Prozesse in das Leichentuch der geschlossenen Sitzungen hüllen und so die Stunde hinauszuschieben drohen, da sich ähnliche Weissagungen erfüllen können. Das Studium der Criminaljustiz und der Ausnahmegesetze, welche um der politischen Attentate willen erlassen wurden, wird uns würdigen lehren, welche Prüfungen die russische Advokatur durchzumachen hat, und wie schwer es ihr mitunter wird, ihres edlen Amtes zu walten. Fünftes Kapitel. Die Criminaljustiz. — Die Polizei und die Untersuchung. — Furcht vor Verwickelung in Criminaluntersuchungen. — Anwendung der Folter. Ernennung von Untersuchungsrichtern. — Ente Schmälerung des Gesetzes. Das Geschworenengericht. — Seine Zusammensetzung. — Heine Mängel. — Lesensunkundige und mittellose Geschworene. Von allen Zweigen der russischen Justiz war die Criminaljustiz der mangelhafteste, der einer Reform bedürftigste. Alles musste hier verändert werden, der Modus der Untersuchung, der Modus der Urtheilssprechung und zum Theil selbst das Strafgesetz. Unter den Vorgängern Alexanders II. fiel die Untersuchung aller Criminalfällc der Polizei zu, und diese sah bei ihrer schlechten Zusammensetzung und schlechten Besoldung gewöhnlich in den Vergehen und Verbrechen eine ergiebige Goldmine. Die Beamten lebten weniger von ihrem magern Gehalt, als von den Prozessen, die durch ihre Hände gingen. Es gab zwei Mittel, ihren Vortheil zu mehren: die Verbrecher zu schonen, die Unschuldigen zu beunruhigen. So trieb die Polizei einen doppelten Handel: den Spitzbuben verkaufte sie ihr Schweigen, den anständigen Leuten ihren Schutz. Verbrecher aller Art wurden Schützlinge Derer, die den Beruf hatten, sie zu verfolgen; zwischen jenen und diesen war eine Art stillschweigender Genossenschaft, bisweilen sogar ein regelrechter Contract entstanden, so dass die officiellen Hülfskräfte der Justiz das Haupthinderniss einer guten Gerichtspflege waren1). Um ihren Gewinn zu vergrössern, hatte die Polizei ein Interesse daran, die Untersuchung der Klage fälle in die Länge zu ziehn; aber hätte sie selbst die Untersuchung beschleunigen wollen, so wäre ihr das in den meisten Fällen unmöglich gewesen. Alle Vorsichtsmass-regeln des Gesetzes und der Regierung waren gegen die Justiz gerichtet. Sobald die Polizei von einem Verbrechen erfuhr, oder ein solches vermuthete, hatte sie unmittelbar auf Alle, die davon Kenntniss hatten oder Zeugen gewesen waren, die Hand zu legen, um sie erst nach Abschluss der Untersuchung wieder freizugeben. Wer einen verbrecherischen Vorgang meldete, wurde sogleich als verdächtig festgehalten, bis seine Unschuld bewiesen war. Man kann sich die praktischen Wirkungen solchen Verfahrens denken. Diebstahl, Mord, an hellem Tag, an öffentlichem Orte begangen, hatten niemals Zuschauer gehabt. Nie hatte Jemand etwas gesehen, etwas gehört, etwas erfahren. Rief ein Mensch um Hülfe, so wandte sich alle Welt zur Flucht; die Opfer eines Verbrechens konnten auf öffentlicher Strasse liegen, ohne irgend welche Hülfe zu linden, so fürchtete sich Alles vor einer Berührung mit der Justiz und der Polizei. Für die offenkundigsten Frevel fand man schwer Zeugen, und kluge Leute zahlten lieber der Polizei ein Lösegeld, als dass sie sich in eine Untersuchung verwickeln Hessen. Wurde in den Dörfern ein Mord entdeckt, so verständigten *) Ueber die Rolle der Polizei vor den Reformen die geistreichen Briefe von Molinuri über Russlaud. 2. Aufl. 1878. sich die Bauern, nichts ruchbar werden zu lassen und alle Nachforschungen irre zu leiten. War ein Mord auf offener Strasse verübt, so verwischten die nächstwohnenden Familien vorsichtig seine Spuren. Eines Tages soll ein Kaufmann auf dem Lande angegriffen und für todt in seinem Wagen liegen geblieben sein; der sich selbst über-lassene Gaul setzte den Weg fort und hielt in einem Dorfe vor einem Gasthaus, in das sein Herr einzutreten pflegte. Kaum sahen die Bewohner in dem Wagen einen blutbedeckten Menschen, als sie ohne weitere Untersuchung, ob derselbe todt sei, das unheilvolle Fuhrwerk von ihrer Wohnung forttrieben, und das arme Pferd, von Thür zu Thür gejagt, musste seinen Lauf mit dem Leichnam zum nächsten Dorf fortsetzen, wo es denselben Empfang fand, bis es endlich, überall fortgetrieben, auf der freien Strasse stürzte. Die Furcht vor der Polizei machte aus ehrlichen Leuten unwillkürliche Mitschuldige von Missethätern. Aehnliche Dinge kommen noch oft bei Anlass von politischen wie von privaten Verbrechen vor. Die Furcht vor den Strafbeamten erklärt die häutige Ohnmacht der Justiz l). Die Quälereien der Polizei und die Langsamkeit des Untersuchungsverfahrens waren bis vor Kurzem so ermüdend, so kostspielig, dass die Opfer eines Vergehens oder Verbrechens zögerten, es verfolgen zu lassen. Nahm man nach einem Diebstahl oder einem Angriff Zuflucht zur Polizei, so musste man die Kosten der Untersuchung, die Zeugengebühren, den Unterhalt der Angeklagten, alle wirklichen oder vorgegebenen Schritte der Polizei bezahlen, so dass es mehr kostete, einen Dieb verhaften zu lassen, als bestohlen zu werden. Anstatt wie anderwärts die Behörde anzurufen, geschah es in Russland wohl, dass Leute, die über andre Klage führen konnten, sich still verhielten, im Nothfall ihre Angelegenheit verläugneten oder gar die Polizei bezahlten, damit sie nur den Schuldigen nicht beunruhige. Unkluge Ausländer, die in solchem Falle laut die Hülfe der Gerichte angerufen hatten, verzichteten um des Verdrusses willen und erkauften wohl endlich die Einstellung der Verfolgung, die sie im Anfang um theures Geld unterstützt hatten. Die Justiz besass früher in Russland wie in ganz Europa eine Form rascher, wenn auch nicht immer sicherer Untersuchung, die peinliche Frage, die Tortur. Dieses Verfahren der alten Gerichtshöfe, das ') In Kiew sah man beispielsweise in der Hauptstrasse am lichten Tage »•inen von der Polizei verfolgten Verschwörer mehrere Male stille stelm und auf die Beamten feuern, ohne dass es Jemanden einfiel, der Behörde Beistand zu leisten. Dergleichen Thatsaehen sind in den letzten Jahren nicht selten. schon unter den alten Zaren üblich war, hatte bei der Nachahmung des Westens unter der Regierung des Alexei Michailowitsch, des Vaters Peters des Grossen, eine Vervollkommnung erlebt. Katharina II. hatte die Anwendung der Tortur bedeutend beschränkt; Alexanderl. ihre Anwendung gesetzlich abgeschafft. Dieser menschenfreundliche Herrscher that den Ausspruch, das Wort Folter müsse aus der russischen Sprache ausgemerzt werden. Wurde die peinliche Frage auch aus der Gesetzgebung gestrichen, so verschwand sie doch nicht so schnell aus dem Lande. Durch die Anwendung der Ruthen und Körperstrafen, durch die Entfernung der Centraigewalt und durch den Mangel an jeder Oeffentlichkeit hat die Folter unter mehr oder minder verhüllten Formen hier und dort, in den entlegenen Gouvernements bis zur Regierung Nikolais, ja stellweise bis zu der Alexanders U, fortbestehen können ]). In den letzten Jahren unter Alexander III. wie unter Alexander IL, sind die Regierungsbeamten oft bezichtigt worden, ähnliche Mittel anzuwenden, um den politischen Gefangenen Enthüllungen abzuzwingen. So soll es namentlich mit den Mördern Alexanders II. geschehen sein: Rüssakow soll vom Schaffet aus seine ausgerenkten Hände dem Volke gezeigt und Michailow gerufen haben ■ „Wir sind gefoltert worden!"2) Die Richtigkeit solcher Citate nachzuweisen, ist unmöglich. Ist aber wirklich zu solchem Verfahren gegriffen l) In einem kleineu Orte der baltischen Provinzen, wo freilich die Gerichtsreform noch nicht eingeführt war, wurde beispielsweise im Jahr 1875 ein Richter namens Kümmel überführt, einem Angeklagten gegenüber verschiedeue Mittel der Tortur, wie Daumschrauben und Rutheu, Hunger und Durst angewandt zu haben, und zwar mit solchem Erfolg, dass der Verklagte daran starb. Dieser Richter, hiess es, sei von einer Geistesstörung beiallen gewesen, aber dergleichen Vorgänge kommen von Zeit zu Zeit ans Tageslicht und werfen, so vereinzelt sie sein mögen, ein trübes Bild auf daB Land, in dem sie geschehen konnten. (Anm. des Uebersetzers. Auf diesen Fall komme ich in deu Schlussbemerkungen dieses Bandes zurück). Ein in Kasan 187t» verhandelter Prozess enthüllte die Thatsache, dass bis iu das Centrum des Reiches die Polizei zuweilen zu ähnlichen Beweismitteln griff. (.Reiche Handlungen sind den Regierungsbeamten gegenüber den „religiösen Verbrechern", speciell gegenüber den Uniaten oder katholischen Convertiten vorgeworfen worden, die zur Rückkehr zur griechischen Kirche gezwungen werden sollten. 8. ausser den Berichten der englischen Oomnün den „dolos" 1880, No. 283 und den „Europ. Boten", März 1881 (russ.). a) Der Nabat (Tocsin Oct. 1881). Aelmliche Gerüchte sind so verbreitet, dass im Februar 1882 zur Zeit des Prozesses von Suchanow, Trigonja u. Gen. der Advokat eines der Angeklagten erklären zu müssen glaubte, sein Client sei der Folterung nicht unterworfen worden. Nach den Behauptungen der Parteigenossen der politischen Verbrecher soll freilich die Tortur gegen diese zwischen ihrer Verurtheilung und ihrer Hinrichtung angewandt werden. worden, so ist das nur eine Ausnahme gewesen. Sicher ist nur, dass die meisten russischen Revolutionäre vom Gegentheil überzeugt sind. Cm sich nicht durch die Tortur Enthüllungen abzwingen zu lassen, tragen soviel politische Verbrecher Gift bei sich. Die Frage konnte praktisch nur durch Aufhebung der Körperstrafe und besonders durch die Oeffentlichkeit der Justiz und die Entwicklung der Presse erledigt werden. An Stelle der körperlichen Folter griff man bis vor Kurzem nach einer Art moralischer Tortur. Das Gesetz, das vor Allem den Angeklagten ein Geständniss abringen wollte, bestimmte, dass ihnen ein Geistlicher zugeschickt verde, der sie im Namen der Religion und ihres Seelenheiles ermahnen sollte, ihr Verbrechen zu gestehen. Einer räuberischen Polizei verfallen, ohne Berather noch Vertheidiger, geheimem Verfahren unterliegend, mit den Zeugen, die sie anklagten, nicht confrontirt, ohne Recht, sich die Belastungsschriften und gegen sie eingereichten Acten zeigen zu lassen: so mussten die Angeklagten, d. h. alle Diejenigen, die weder den Schutz eines einflussreichen Gönners noch die Mittel einer gefüllten Börse für sich hatten, als Zielscheibe einer feindseligen Polizei unausbleiblich in dem ungleichen Kampfe unterliegen. Die Untersuchung wurde so geführt, dass in den Augen der competentesten Männer die scheinbar schlagendsten Beweise, ja die klarsten Geständnisse nichts bewiesen. Xach Mitteln, einem so unerträglichen Zustand ein Kode zu machen, hafte Russland sich nur in dem Auslande umzusehn. Der Reformator hatte nur die Verlegenheit der Wahl. Wie bei der Zusammensetzung der Gerichte und dem Civilprocess hat Kussland offenbar Frankreich nachgeahmt, aber es hätte in diesem Puncte besser daran gethan, demselben weniger zu entlehnen. Das französische Criminal-untersuchungsgesetz, das den Angeklagten zu verhaften gestattet und ihn ohne Rathsbeistand dem übelwollenden Verhör eines Richters überantwortet, der überall ein Verbrechen zu wittern geneigt ist, erinnert noch an das alte inquisitorische Verfahren; Frankreich selbst sieht bekanntlich darin kein Muster für Andre, sondern denkt vielmehr daran, es einer Revision zu unterziehen. Die vollzogene Reform ist in Russland darum nicht weniger ein ungeheurer Fortschritt. Wie in allen civilisirten Ländern musste der Angeklagte solange für unschuldig gelten und demgemäs.s behandelt werden, bis er nicht regelrecht verurtheilt war. Wie in England suchte auch in Russland das Gesetz selbst ihm die Verdriesslichkeiten und die Schande der Untersuchungshaft zu ersparen. Bei gewissen Klagen kann der Angeschuldigte frei bleiben, wenn er eine Cuution stellt. In Fällen, wo man ihn nicht von der Untersuchungshaft entheben zu können meint, ward das Recht der Verhaftung nicht der Anklage noch der Polizei, sondern einer neuen unabhängigen und unparteiischen Gerichtsstelle zuerthcilt. In Uebereinstimmung mit den in andern Ländern geltenden Grundsätzen und gemachten Erfahrungen hat der Reformator von 1864 die richterlichen Functionen in drei getrennte und von einander unabhängige Zweige getheilt. Die Anklage, die Untersuchung und die Urtheilsfällung sind vollkommen von einander geschieden und besitzen jede ihr besonderes Organ. Man hat auf diese; Weise das neue Prinzip der Trennung der Gewalten und der Speoialisirung der Befugnisse in den Bereich der Gerichte und des Richterstandes eingeführt. Die Selbständigkeit jeder der drei richterlichen Functionen ist von dem Gesetz laut erklärt, und die Untersuchung von der Autorität, welche die Anklage vertritt, ebenso unabhängig gemacht, wie von derjenigen, die das Urtheil zu fällen hat. Die russische Gesetzgebung ist in diesem Puncte in ihren Prinzipien ganz consequent, aber hier, wie in andern Puncten hat sich die Praxis zu der Theorie in Widerspruch gestellt. Nach dem Gesetze haben die Procureure die einzige Aufgabe, die Verbrechen zu verfolgen und die Anklage vor den Gerichten zu erhellen. Besondere Richter, sudebnüje sledowateli, die 1860, also vier Jahr vor der Reform eingesetzt wurden, sind allein mit der Criminalunter-suchung betraut. Die Staatsanwaltschaft sollte sich hier nicht einmischen dürfen, die Polizei nur als Hülfsmittel und Werkzeug der neuen Richter betheiligt sein. Die Thatsachen entsprechen aber keineswegs den Absichten des Reformators, und anders könnte das wohl in einem Lande, wie Uussland, kaum sein. Wenn die Polizei auch unter die Leitung und Controle der Untersuchungsrichter gestellt ist, so hat sie doch in den wenigen .fahren nicht auf ihr altes Verfahren zu verzichten vermocht. Sie hat umsomehr Macht behalten, als die Untersuchungsrichter die unabhängige Stellung, die ihnen der Gesetzgeber verleihen wollte, zu wahren wussten. Das Gesetz erklärte sie für unabsetzbar, wenn nicht Verschuldungen vorlagen, die von den Gerichten abge-urtheilt werden mussten; das Ministerium dagegen hat den Gebrauch eingeführt, die Criniinaluntersuchung nicht bestallten Richtern, sondern Stellvertretern, das heisst, Beamten anzuvertrauen, die nach Belieben abgesetzt werden können. Das Gesetz trennte die Anklage vollständig von der Untersuchung, die Staatsanwaltschaft von den sudebnüje sledowateli, aber die Gewohnheiten der Regierungsbehörden und die bureaukratischen Traditionen haben die Staatsanwaltschaft sehr rasch Le ro y-De nu 1 i e u , Reich d. Zaron u. d. Kuejou. II. Dd. 20 dahin gebracht, sich der Leitung der richterlichen Untersuchung zu bemächtigen, so dass die Untersuchungsrichter schliesslich in Wirklichkeit kaum noch mehr, als die Untergebenen des Procureurs sind. Für diese Abweichung vnu den im Gesetze aufgestellten Prinzipien gab es noch verschiedene Gründe ausser dem Bestreben der Regierung, den Thätigkeitskreis ihrer unmittelbarsten Beamten zu erweitern. Es fehlte zu diesen neuen Aemtern, wie zu vielen andern, an den richtigen Männern. Die ersten Untersuchungsrichter, nieist junge Leute ohne Erfahrung, zeigten wenig Befähigung, wenig Eifer und Thatkraft. Ihre Fahrlässigkeit erschien um so grösser, je gesicherter ihre Stellung gesetzlich war. Uie Regierung sah erst ein, dass sie denselben das Recht der Unabsetzbarkeit nicht lassen könne, als ihre Tüchtigkeit auf i'lie Probe gestellt worden war. Leider wird ihnen ein allzugeringer Gehalt gewährt, um grosse Anziehungskraft auf gebildete Leute zu üben. Etwa eintausend Rubel, das war mindestens vor einigen Jahren Alles, was der Staat den meisten dieser Richter in der Provinz zahlte. Länger noch als bei den eigentlichen Richtern verzichtete der Staat darauf, von dem Untersuchungsrichter ein Diplom der Fachbildung, ja selbst des Universitätsstudiums zu verlangen. Was zuerst nur eine zeitweilige Abweichung vom Gesetze schien, ist allmälieh zur Regel geworden. Was die Regierung ursprünglich gezwungen gethan, setzte sie aus freiem Antrieb und systematisch fort. Statt die fortschreitende Besserung ihres Personals zu der Wiederherstellung der Unabhängigkeit und der Rechte zu benutzen, welche der Gesetzgeber den sudebnüje sledowateli zugewiesen hatte, zog das Ministerium, das sich schwer der Unabsetzbarkeit derselben fügte, vor, sie in unsicherer Stellung zu erhalten. Mit Aneignung eines Verfahrens, das Napoleon I. dereinst angewandt hatte, begann es die Untersuchungsrichter erst nach einer Probezeit von mehreren Jahren definitiv anzustellen, und bestimmte— um länger Herr über deren Schicksal zu bleiben, nicht einmal die Dauer dieser Probezeit. Gegen Ende der Regierung Alexanders IL waren die in ihrem Amte bestätigten Untersuchungsrichter nur in ganz geringer Zahl vorhanden J). So hat man es verstanden, aus einem unabsetzbaren Riehteramt eine Anstellung auf Widerruf zu machen. Auf das rntersuchungsgericht war die erste Zur Zeit des Rücktritts des Grafen Pallien 1878 gab es — so wird versichert — im ganzen Reiche nur etwa20 definitiv angestellte 1'ntersuchungsrichter. 1870 war im Gouvernement Kiew von 47 sudcbniije sledowateli es nur einer, und doch hatten fast alle von ihnen (15 von 17) ihre Rechtsstudieu gemacht, und die meisten schon eine mehrjährige Probezeit bestanden. Reform der Criminaljustiz gegründet, das Untersuchungsgericht war der Gegenstand der ersten Schmälerung dieser Reform. Eines der wesentlichen Prinzipien der neuen Gesetzgebung ist auf diese Weise in der Praxis verletzt und umgangen worden. Das Gesetz betrachtete jeden Criminalprozess wie eine Art von Zweikampf, in dem die Waffen der Kämpfenden gleich sein müssten, und die mit der Untersuchung betraute Behörde ganz wie der Richter eine absolute Neutralität beobachten sollte. Heute ist das so mühsam angestrebte Gleichgewicht zwischen Anklage und Vertheidigimg zu Ungunsten der letztern aufgehoben. In der gerichtlichen Untersuchung wiegt eine Schale der Wage mehr, als die andre, und das ist die Schale der Anklage. Glücklicherweise wird wenigstens in privaten Prozessen das Gleichgewicht von dem Gerichtshof selbst gewöhnlich wieder hergestellt. Neigen die Untersuchung und der Vorsitzende Richter oft allzusehr zur Strenge und Verurtheilung, so neigt die Autorität, welche selbstherrlich in Criminalfällen zu urtheilen hat, die Geschworenen, auf die Seite des Angeklagten und der Nachsicht, Die Gesetze von 1864 haben das Geschworenengericht in Bussland eingeführt, Das war der höchste Vertrauensbeweis, den die kaiserliche Regierung der Nation liefern konnte, die auf diese Weise freiwillig eingeladen wurde, unmittelbaren Antheil an der Bestrafung der Verbrechen zu nehmen. Es bedurfte einiger Kühnheit, um gleich nach der Regierung Nikolais und in einem Staate zu einer solchen Institution zu greifen, in dem die eine Hälfte des Volkes soeben erst aus der Leibeigenschaft entlassen war. In den Augen vieler Würdenträger und Höflinge war das ein Act der Unklugheit, ja fast des Wahnsinns, den die Zeit sehr bald richten würde. Die Erfahrung hat freilich gezeigt, dass die Jury auch im autokratischen Reiche — und hier mehr, als anderswo — ihre Mängel hat. Trotz aller Angriffe, trotz der ihr neuerdings widerfahrenen Beschränkungen hat indessen die Jury keineswegs alle die Voraussagungen der Unglückspropheten gerechtfertigt, Etwa 10 Jahr vor dem Beginn der Regierung des Befreiers der Leibeigenen hat ein früherer russischer Beamter, Nikolai Turgenew, der im Exil Reformpläne niederschrieb, deren Ausführung in unendlicher Feme zu liegen schien, schon die Bemerkung gemacht, dass die Jury, die in barbarischer Zeit bei halbwilden Stämmen ihren Ursprung gehabt, eine der wenigen Institutionen sei, welche zu allen Lebensaltern der Civilisation passten und Völkern in der Kindheit 20* wie Nationen von hoher Cultur annehmbar seien. Das Beispiel Russlands hat die Bemerkung Turgenews keineswegs Lügen gestraft1). In Russland, wie in Frankreich, functionirt die Jury gewöhnlich nur in Criminal-, nicht in Civilsachen. Hierin haben die Petersburger Commissionen vorgezogen, Frankreich und nicht England nachzuahmen, oder sie haben England nur durch das Mittelglied Frankreich nachgeahmt, Man wird sich hierüber nicht wundern können. Selbst in England scheint die Jury für Civilsachen bald in Wegfall kommen zu müssen; sie ist kaum noch in den Gegenden und Gerichten an ihrem Platze, wo das Gewohnheitsrecht gilt, wie in Russland beispielsweise bei den Bauergerichten. Die gewöhnliche Complioirtheit der Civilsachen, die Schwierigkeit, die Thatfrage von der Rechtsfrage zu scheiden, endlich die Unmöglichkeit, in so zurückgebliebenen Gegenden, wie es viele im Reiche sind, fähige Geschworene zu linden, das Alles hat den Gesetzgeber naturgemäss gezwungen, die Jury auf Criminalsachen zu beschränken. Auch hier stiess die Einführung des Geschworenengerichts uniso-mehr auf Hindernisse, als es an Präcedenzfällen fehlte; fanden sich einige, so machten die Principien der Reform es doch kaum möglich, auf sie zurückzugehen. Wenn man weit in die Geschichte zurückgreift, entdeckt man freilich im freien Nowgorod und selbst in Moskau Institutionen, die unserer Jury mehr oder weniger ähnlich sind, „Geschworene" oder „aufs Kreuz Vereidete", denen das Richteramt über ihre Mitbürger anvertraut war8). Das Alles war längst verschwunden; hatte Katharina n. auch unter dem Namen der „Beisitzer", sassedäteli, den verschiedenen Ständen des Volks einen Theil an der Criminal- wie Civiljustiz zugestanden, so war das doch nur in ständischer Form, das heisst in einer Form, die den modernen Zeit-begriffen wie den neuen Bestrebungen der kaiserlichen Regierung nicht entsprach. In den Criminalgerichten sassen neben dem Präsidenten und einem Rath, welche die Regierung ernannte, Verordnet*! des Standes, dem der Angeklagte angehörte. Bei Hinübernahme der ') Russie et les Russee, Bd. II, pag. 232. Es muss bemerkt werden, dass Russland das Geschworenengericht von Oestieich angenommen hat. Spanien steht hierin auch Russland nach. Durch die Revolution von 1808 eingeführt, wenn ich nicht irre, hat die Jury im Süden der Pyrenäen, besonders um der Aengstlichkeit der Geschworenen willen, ihre Functionen nicht üben können. Selbst 1882 wagte das Ministerium Sagasta ihre Wiederherstellung nicht vorzuschlagen. *) S. z. B. Herrmann, Gesch. Russlands, Bd. III, 66. Aehnliches wird im ,,Sudetmik Joanns III." erwähnt Jury des Westens war die erste Frage, üb man sieh an das ständische System hallen, oder ob im Gegensatz zu demselben die Geschworenen unterschiedslos für alle Angeklagten aus allen Ständen der Nation genommen werden sollten. Es hätte zweifellos dem russischen Herkommen, wenn nicht der russischen Denkweise, mehr entsprochen, -ledein das Recht zu verleihen, nur von seines (Reichen gerichtet zu werden1). Wäre die Verschmelzung der Stände hiedurch auch verzögert worden, so hätte die Justiz dabei doch vielleicht gewonnen. Die Regierung Alexanders II. zog es vor, den Grundsätzen treu zu bleiben, welche sie in den meisten Reformen geleitet hatten, und auf den Bänken der Geschworenen, wie im Schoosse der Provinzialstände und in den Reihen der Armen die alten Unterschiede der Geburt und des Standes zu verwischen, um die verschiedenen Classen, die vor Kurzem noch durch Sitte, Bildung und Gesetz so tief getrennt waren, einander näher zu führen. Der Edelmann, der Kaufmann, der Bauer sollten in derselben Jury ihren Platz einnehmen, und so sah man dort den frühern Herrn neben seinem frühern Leibeigenen sitzen. In dieser Vereinigung der Vi*r-Bohiedenen Classen glaubte der Gesetzgeber das beste Mittel zur Niederwerfung der alten Schranke der Vorurtheile zu linden und zugleich das moralische Niveau der Jury höher zu stellen und ihr einen weitern und grössern Blick zu gelten, indem er sie über die Kasteninteressen und -vorurtheile stellte. Die Ausführung dieses Beschlusses war nicht sehr leicht. In einem Lande wie Russland fiel es schwer, auf diese Weise eine in sich gleichartige und aufgeklärte Jury zusammenzubringen, die alle Classen der Nation zu begreifen und allen gleiches Vertrauen einzuflössen im Stande wäre. Die Jury kann, wie die allgemeine Wahl, als ein Amt und als ein Recht betrachtet werden. Die russische Regierung hat sie vornehmlich im ersteren Sinne ins Auge gefasst. Im Prinzip erkennt das Gesetz jedem Staatsbürger das Recht, Geschworener zu sein, zu; in Wirklichkeit lässt es nur solche Männer zur Ausübung dieses Rechtes zu, die zu demselben für befähigt erkannt sind. In dieser Beziehung schliesst Russland sich nur den Gebräuchen der liberalsten Länder an, die fast alle mehr Bürgschaften von dem Manne fordern, der über die Freiheit von seines Gleichen zu entscheiden hat, als von dem, der über die Interessen des Staates mitbestimmen darf. ■) Das schlug Nikolai Turgenew in seinem Entwurf einer .1 usti/.refonn vor (La Russie et les Kusses, Bd. II, 234—236). Um die Jury den Sitten seiner Heimath anzupassen, hielt er es für nützlich, nur Leute vom Stande des Verklagten oder von einem höhern Stande als Geschworene zuzulassen. In keinem Lande ist es weniger leicht, einen Massstab der Tüchtigkeit aufzustellen, der sich auf alle Classen der Nation anwenden liesse. Der Reformator beabsichtigte, auf den Geschworenenbünken nur die aufgeklärtesten und namentlich die „sittlichsten" Vertreter der Nation Platz nehmen zu lassen; aber woran die inneren Vorzüge, den moralischen Werth der Menschen erkennen? In ihrer Verlegenheit musste die russische Regierung auf das alte Verfahren, das im Auslande üblich ist, zurückgreifen; sie forderte vom Geschworenen gewisse Bedingungen des Alters, des Wohnsitzes, des Vermögens oder der Stellung. Das in Russland neue Prineip des Census wurde auf die Geschworenen angewandt, wie es auf die Provinzialstände angewandt worden war. Für die geschworenen Beisitzer (prissäshnüje sassedäteli) schwankt! der Census nach den Gegenden l). In einem Lande, wo die sich den öffentlichen Angelegenheiten widmenden Classen noch oft sehr unwissend und nicht allzu peinlich sind, wo auch der Reichthum keineswegs immer Bildung und Anständigkeit voraussetzen lässt, da bietet ein Einkommen von einigen hundert Rubeln der Justiz keine feste Garantie. Man hat deshalb geglaubt, sich mit dem Census nicht begnügen zu dürfen. Die Leute, die an Alter und Vermögen den erwähnten Bedingungen des Gesetzes entsprechen, werden auf die allgemeine Liste der Geschworenen (öbschtsehi spissok) gesetzt, aber dadurch nur Candidaten für das Amt von Geschworenen. Aus den so angefertigten Listen werden Diejenigen gewählt, welche die zuverlässigsten Bürgschaften zu bieten scheinen; so entsteht eine zweite Liste (ötscherednüi spissok), welche die Namen enthält, aus denen endlich die Geschworenen durch das Loos genommen werden. Diese delicate Arbeit ist nicht Regierungsbeamten, sondern gewählten Vertretern der Gouvernements, einer Commission der Kreissemstwos zugewiesen, der schon die Wahl der Friedensrichter zusteht*). *) Man muss 100 Dessätinen, ungefähr 10t* Hekt. Land oder ein Immobil von 2000Kbl. Werth in den Hauptstädten, von 1000Rbl. in den Gouvernements« slädtcn, von T>(H) Rbl. in andern Ocrtliehkeiten besitzen oder eine Jaliresein nähme von mindestens 500 Rbl. in den Hauptstädten oder 200 Rbl. im übrigen Reiche haben. s) In den westlichen Gouvernements, die noch keine Pro vi nzialvcrsam in Iu ngen besitzen, müssen die Listen der Geschworenen von Specialcommissionen autgesetzt werden, die aus Friedensrichtern und Polizeibeamten bestehen. Die Revision dieser Listen ist einer Provinzialcommission übergeben, die das Recht hat, nach ihrem Ermessen Streichungen vorzunehmen, ohne Gründe für ihre Eidscheidungen anführen zu müssen. Die Zahl der Israeliten auf der Geschworencnliste muss im Verhältniss zu der jüdischen Bevölkerung im Kreise stehen, aber iu keinem Ks scheint, als müsse eine Jury, die so durch einen doppelten Siel) gegangen, nur aus Leuten zusammengesetzt sein, die würdig eines Sitzes in derselben sind. Die Erfahrung lehrt, dass das keineswegs immer der Fall ist, und viele Fehler, die der russischen Jury vorgeworfen werden, entstammen diesem Mangel. Die Aufstellung der Liste ist oft fehlerhaft1). Die Commissionen, denen diese Sorge obliegt, machen sich oft der Nachlässigkeit, der Willkür, der Parteilichkeit schuldig; man versichert, dass die Geschworenenliste gewöhnlich im Bureau des Kreisadelsmarschalls aufgestellt werde"). In der Praxis zeigen die Vorsichtsmassregeln bei dieser officiellen Auswahl die beabsichtigte Wirkung so wenig, dass man sich fragt, ob es nicht besser wäre, auf sie zu verzichten und sich einfach mit den Generallisten zu begnügen, wobei der Staatsanwaltschaft einerseits, der Verteidigung andererseits das Recht bleiben musste, eine gewisse Zahl der Geschworenen zurückzuweisen3). Fülle darf der Vorsitzende der Jury ein .Jude sein. Das Königreich Polen hat noch kein Geschworengericht; hat man dort auch die .lustizrefbriu eingefühlt, so war es ohne Jury, wie ohne gewählte Friedensrichter, d. h. also ohne das, was den Werth der Reform bildet. Mit einem Worte, man hat dort nur den russischen l'rozess und die russische Sprache eingeführt. ') Es sind mehr als einmal unter den Geschworenen gerichtlich bestrafte Leute, Greise von höherem, als dem gesetzlichen Alter, und Männer vorgekommen, welche die. Sprache der Verhandlungen nicht kannten. a) Brächten die Senistwoconmiissionen auch allen erdenklichen Eifer für diese Aufgabe mit, so wären sie doch vor der grossen Menge zum Theil unbekannter Namen, welche sie zu prüfen haben, und vor der grossen Zahl der Personen in Verlegenheit, welche sie gesetzlich in die Liste eintragen müssen. In jeder der beiden Hauptstädte müssen in die definitiven Listen jährlich 12,000, in den Kreisen, die mehr als ](M),) S. oben Buch II, Kap. IV. artheilt werden darf; aber der Gendarmenchef hat das Recht, abzuführen und einzusperren nach seinem Ermessen, ohne irgend Jemanden darüber im Voraus zu benachrichtigen, noch ein Wort darüber zu verlieren. Eine unabhängige Justiz ist, wie wir erwähnt, an sich schon eine Schranke gegen die absolute Gewalt; diese Schranke aber wird in Russland beliebig gestellt oder überschritten mit Hülfe der Staatspolizei. Im Grande darf man sich über diesen scheinbar so ausserordentlichen Widerspruch nicht wundern. Was überraschen könnte, wäre, wenn die souveräne Gewalt sich bei der Eröffnung freier Gerichtshöfe für ihre Unterthanen nicht eine Hinterthür zu eigenem Gebrauch freigelassen hätte. Bei der genauen Anwendung der Gesetze von 1864 gäbe es keine volle Selbstherrschaft mehr; durch die Staatspolizei und die Gendarmerie hat die Autokratie sich mittelbar die Freiheit der Action gerettet. Es mag seltsam erscheinen, dass in einem Lande zwei so durchaus verschiedene, so unvereinbare und gegensätzliche Institutionen, wie die neuen Gerichtshöfe und die alte „Dritte Abtheilung" neben einander bestehen können. Es ist indess nicht das erste Mal, dass sich dergleichen Zusammenstellungen in der Geschichte finden. Frankreich bietet ein Beispiel hiefür. In dieser Beziehung ist die Lage Russlands der des alten Frankreichs sehr ähnlich, das auch neben freien und unabhängigen Gerichtshöfen, vielleicht den unabhängigsten, die es je gegeben, seine „lettres de cachet" und seine Bastille hatte. Die „Dritte Abtheilung" ersetzt, wie wir bereits bemerkt haben, die französischen „lettres de cachet"; die eine hat denselben Zwecken gedient, wie die andern, je nach Umständen und Persönlichkeiten, ernst oder frivol. Derselbe Gegensatz, der uns im heutigen Russland so peinlich berührt, hat in Frankreich Jahrhunderte lang gedauert. Ja, man könnte sagen, dass er hier durch das allgemeine Sicherheitsgesetz unter dem ersten und zweiten Kaiserreich theilweise wieder aufgetaucht ist. Ein Russe des neunzehnten Jahrhunderts konnte, wie ein Franzose des achtzehnten, jederzeit auf höhern Befehl durch administrative Massregelung (administratiwnüim porädkom) in Haft genommen werden. Die Regierung kann jederzeit gegen jeden Beliebigen dieses Verfahrens sich bedienen. Die Gendarmen der frühern „Dritten Abtheilung" können selbst auf bereits Abgeurtheilte und von der Jury Freigesprochene ihre Hand legen. Die Polizei l»ibiet gleichsam eine höchste Instanz, die alle Wahrsprüche und Urtheilsfällungen cassiren kann. Selbstverständlich tritt diese durchaus politische Institution 21* im Allgemeinen nur bei politischen und für politisch erachteten Fällen ein. Sie will in der Regel weder Leute veriirtheilen, noch sie wie Verbrecher strafen, sondern möchte sie vielmehr — wie ausgelassene oder stürmische Kinder — väterlich bessern. Sie begnügt sich damit, sie zeitweilig bei Seite zu bringen, oder sie im Auge zu behalten, ihnen diesen oder jenen Wohnort zu untersagen oder anzubefehlen, sie zu ihrem eigenen Vortheil, wie zum Besten Aller in abgelegene Städte und Gouvernements zu verbannen. In gewöhnlichen Zeiten trifft diese höchste Gewalt, die über den Gerichten schwebt und über ihre Köpfe hinweg wirkt, nur die Unruhestifter, die Verschwörer beiderlei Geschlechts und die durch die revolutionäre Propaganda irre geleiteten jungen Leute. Die Gendarmen haben nicht in die Justiz einzugreifen und mischen sich in dieselbe nicht, so dass friedliche Leute in ihnen die sichersten Vertheidiger der Gesetzlichkeit sehen können. Richtet die Regierung ihre Aufmerksamkeit und ihre Strenge gegen Leute, die nichts vom Verschwörer oder Revolutionär an sich haben, oder auch gegen Leute von angesehener Stellung, so ist es immer nur, weil diese sich mit Staatsangelegenheiten beschäftigen und dieselben in einer Weise zu beurtheilen sich erlauben, welche die Unzufriedenheit oder die Verstimmung der Mächtigen des Tages weckt In den Augen der Regierung ist der Hauptvorzug des administrativen Verfahrens die Raschheit seiner Actionen und das Geheimniss, das diese deckt. Man vergisst, dass die gesetzlichen Formalitäten und die Oeffentlichkeit der Justiz und der Regierung nicht weniger Nutzen bringen, als dem Publikum und dem Angeklagten, dass nur sie vor bestimmten Fehlgriffen und vor bestimmten Verläumdungen schützen können, ln ihrer Raschheit beim Ergreifen von Verdächtigen und bei der Vereitelung von Verschwörungen ist die politische Polizei in Gefahr, Schuldige und Unschuldige zu verwechseln, und das Geheimniss, das alle ihre Schritte umhüllt, gestattet, dass ihr unverdiente Verhaftungen, Massenverbannungen und Gewaltthätigkeiten zugeschrieben werden, die vielleicht niemals stattgefunden haben, aber den unheimlichen Ruf, den sie geniesst, mehren und den Hass schüren, deren Gegenstand sie ist. Da die Schuld der Leute, die ihre Hand ') Zur Zeit des Berliner Congresses war beispielsweise Aksakow, einer der grössten Gegner des Nihilismus und der populärsten Männer Moskaus, Präsident der slavischen Comites, einige Wochen laug auf seine Güter verbannt, weil er in einer öffentlichen Bede die Regierung getadelt hatte, dass sie auf den Berliner Vertrag eingehe. trifft, nur ihr bekannt ist, so gewinnen ihre Opfer leicht die allgemeine Sympathie, und ihre jeder Prüfung entzogenen Entscheidungen sind allen Anstreitungen biosgestellt. Die Regierung Alexanders III. scheint erkannt zu haben, dass es in ihrem Interesse liegt, alle unnützen Härten aufhören zu lassen. Sie hat die administrative Verbannung zwar beibehalten, aber die Ausübung dieses furchtbaren Rechtes unter Controle zu stellen versucht. Zu diesem Zweck wurde 1881 eine Commission mit dem Auftrage gebildet, über das Schicksal der Leute zu entscheiden, deren Entfernung die Verwaltung oder die Polizei fordert*). Diese Commission zur Regulirung jenes freien Ermessens besteht aus vier hohen Beamten. Die Staatspolizei, durch einen oder zwei ihrer Chefs vertreten, behauptet in ihr die Oberhand. Das Verfahren dieses besondern Gerichtshofs bietet kaum mehr Sicherheit, als seine Zusammensetzung. Wenn er auch das Recht hat, die bezichtigten Personen vorzuladen, so ist er dazu nicht verpflichtet, und übt diese Befugniss selten aus. WTie geneigt diese Commission auch sei, alle administrativen Strafen zu bestätigen, so hat sie doch schon bei Prüfung der Acten der Verbannten und Internirten gefunden, dass ein Theil von diesen ohne Anstand wieder freigegeben werden könne. Eine ähnliche Commission, die der General Loris-Melikow gegen Ende der Regierung Alexanders H. einsetzte, war zu ähnlicher Entdeckung gelangt. Mehrere hundert Verdächtigte sind so allmälieh der polizeilichen Ueberwaehung entzogen worden Solche Massregeln der Milde mögen immerhin für den Gerechtigkeitssinn der Regierung und für ihren Wunsch Zeugniss ablegen, die Zahl der administrativen Verhaftungen zu beschränken; sie bleiben dennoch ein officielles Eingeständniss der unter Alexander II. wie unter Alexander III. von der Staatspolizei begangenen Irrthümer und Ungerechtigkeiten. So lange die administrative Einsperrung und Verschickung besteht, werden derartige Fehlgriffe unvermeidlich sein. Wer sind denn eigentlich die von der Staatspolizei Verurtheilten? Es sind vom Ersten bis zum Letzten Leute, gegen welche nur Verdacht besteht, gegen welche die Polizei nur Anschuldigungen, doch keine Beweise hat. Anstatt sie auf eigne Faust zu interniren oder zu verschicken, würde die Administration sich sonst an die Gerichte wenden, nicht an die Jury und an die ordentlichen Gerichte, sondern an die *) S. Buch II, Kap. V. s) Ueber die Zahl der polizeilich Verschickten und der Internirten S, weiter unten das Kap. VIII über die Deportation. Ausnahmsgerichte, an die Justizcommissionen, welche die Regierung nach ihrer Wahl zusammensetzt und nach ihrem Ermessen in Schweigen hüllt, und deren Urtheilspruch keine Anzweiflung erfährt. Hat man solche Gerichte zu seiner Verfügung, und greift doch zu administrativer Verhaftung, so geschieht es offenbar gegen Leute, deren ganzes Verbrechen darin besteht, dass sie Misstrauen erwecken, und die man durch eine Präventivmassregel beseitigen will. Je mehr Vorsichtsmassregeln die Regierung ergriffen hat, um der Gerichtshöfe sicher zu sein, welche über ihre Feinde richten sollen, um so mehr hat sie sich bemüht, die Sondergerichte für Staatsverbrechen zu mehren, und um so weniger braucht die Verwaltung in das Gebiet der Justiz überzugreifen. Die Staatspolizei, die neben den ordentlichen Gerichten eine im Willerspruch zu diesen stehende Justiz übt, ist aber in Wirklichkeil noch nicht der einzige Eingriff in die grossen Prinzipion, die der Justizreform zu Grunde liegen. Nicht ausserhalb der neuen Gerichtshöfe allein, nein innerhalb derselben, bis in den Justizpalast hinein dringt die Schmälerung der Gesetze, die feierlich in das Giebelfeld des neuen Gebäudes eingegraben wurden. Von all jenen Prinzipien ist naturgemäss das der Oeffentlichkeit der Verhandlungen in der Praxis am meisten den Beschränkungen und Anfechtungen ausgesetzt. Wenn die Oeffentlichkeit dem Einzelnen wie der Gesellschaft die erste und höchste Sicherheit bietet, ist sie nicht auch oft eine Gefahr für die allgemeine Moral, eine Reizung zum Verbrechen? Giebt sie entarteten Naturen nicht Unterweisung im Verbrechen, nicht das Vorbild schrecklicher Missethaten? So lange es sich nur um Privat verbrechen handelt, hat die kaiserliche Regierung die Oeffentlichkeit der Gerichts Verhandlungen in der Sitzung wie in der Presse gewissenhaft respectirt und ihre Nachtheile wie ihre Vortheile ruhig hingenommen. Anders bei Staatsverbrechen, bei den Prozessen der geheimen Gesellschaften und der revolutionären Propaganda, die seit etwa zehn Jahren so zahlreich geworden sind. „Dürfen wir dulden", sagte mir ein Beamter, „dass obskure Leute, verwegene Jünglinge ohne Scheu noch Rücksicht, die Anklagebank zur Rednerbühne für die Verbreitung und Einschärfung hohler und verderblicher Lehren im Publicum machen? Dürfen wir unter dem Deckmantel der Freiheit der Vcrtheidigung den Advokaten das Recht verleihen, mit ihren Clienten um die Wette durch liberale Phrasen Popularität und Ruf zu gewinnen? Dürfen wir endlich in Zeitungsberichten die wildesten Brandreden ungestraft verbreiten lassen und den schlimmsten Gegnern des Staats gestatten, dass sie zu ihren Gunsten die Press- gesetze umgehen und unsere Gerichtshöfe zu Agenturen der revolutionären Propaganda machen'?" Die politischen Beklagten, die in der Regel ihres Schicksals gewiss sind und nichts zu schonen haben, tragen in der That kein Hedenken, ihre Lehren vor den Richtern zu entwickeln. Den Angriffen der Anklage antworten sie laut mit kühnen Denunciationen der Missbräuche der Regierung. Gewöhnlich suchen sie weniger sich zu vertheidigen, als ihre Thcorieen zu verkünden und zu rechtfertigen. So haben es die vielen jungen Leute beiderlei Geschlechts gemacht, die zu hunderten vor das Gericht geschleppt wurden, noch bevor die Racheacte ihrer Freunde die Aera der Attentate gegen den Zaren und seine Ratligeber eröffnet hattenJ). So haben es die Zarenmörder Sheläbow, Kibaltschitsch, Sophie Perowski und ihre Mitschuldigen gemacht, die stolz der Anklage die Stirn boten und offenkundig, wie ein liedner der Opposition im Parlament, nach aussen hin ihre Worte richteten. Diese Vertheidigungsreden der Nihilisten sind meist nur kecke Apologieen der Revolution. Durch ihren Ton, der lehrhaft und spöttisch, enthusiastisch und verächtlich zugleich ist, erinnern mich diese revolutionären Glaubensbekenntnisse häutig an die Acta Martyrum und an die Worte, die den Bekennern des Christenthums gegenüber den römischen Proconsnln in den Mund gelegt sind. Die Richter sind oft dadurch bcoinllusst worden, und sicher ist, dass eine derartige Redeweise in einer derartigen Lage nicht verfehlt die Jugend in Erregung zu setzen. . Eine Regierung, die frei nach ihrer Beomemlichkeit handeln kann, dürfte der Versuchung schwer widerstehn, ihren Unterthanen solche Beispiele zu ersparen. Die russische Regierung hat in dieser Beziehung zuerst mehr Langmuth und Rücksicht gezeigt, als man sie von ihr erwarten konnte, und als in ähnlichem Falle ihre Verbündeten in Deutschland bewiesen haben -). Es widerstand ihr offenbar, sich selber Lügen zu strafen und so kurzer Hand die Freiheiten und Garantieen *) Es Hesse sich hier die Rede der Sophie .Bardin, eines Mädchens von 2:> Jahren, im grossen Socialistenprocess zu Moskau 1877 anführen. Diese Rede ist mehr oder minder getreu reproducirt iu einer russischen, in Genf erschienenen Brochüre: „Die Frauen Loa Moskauer Socialistenprocess. Kindesmord, begangen von der russischen Regierung". 2) Nach den beiden Attentaten von Hödel und Nobiliug gegen den Kaiser Wilhelm 1878 sind viele 1'rozesse wegen Majestätsbeleidigung bei geschlossenen Tinnen verhandelt worden. Mau erinnert sich wohl noch, dass Herr von Bismarck den Versuch gemacht hat, durch einen Gcsehiil'lsordnimgsentwurf dir Oeffentlichkeit der Kammern zu beschränken. wieder aufzuheben, die sie in gutem Vertrauen gewährt hatte. Wenn sie glaubte, zurückgeben zu müssen, that sie das ungern, ängstlich, heimlich, verschämt, als fürchte sie, ihre Widersprüche bemerklich zu machen. Es wurde lange gezaudert, hin- und hergetappt, der Stand-punet verändert, ohne feste Partei zu ergreifen. Statt auf gesetzgeberischem Wege die Oeffentlichkeit von gewissen Criminalprozessen .auszuschliessen, versuchte man zuerst, sie unter allerlei Vorwänden zu umgehen. Man begann damit, sich an die Presse zu heften und ihr, wie in dem Prozess Netschajew, ofiiziell zu verbieten, Sitzungsberichte zu bringen und dem Publicum Anderes mitzutheilen, als was im offiziellen Blatte stand. Dann machte man bei Anlass eines zweiten, ähnlichen Prozesses einen Schritt weiter; man versuchte die Oeffentlichkeit der Gerichtssitzung selbst zu beschränken und wählte darum bei grossen politischen Prozessen Säle, die für ein grosses Publikum viel zu klein waren. Rechtlich in Geltung belassen, wurde die Oeffentlichkeit thatsächlich illusorisch gemacht. Weiter zog man geschickt aus der grossen Zahl der durch die Anklage zusammengebrachten Angeschuldigten VortheilL). Das gestattete, die Unbequemen fernzuhalten, während die offiziellen, einzig erlaubten Sitzungsberichte nur die Namen und das Verhör der Angeklagten und Zeugen ohne jede Aussage brachten, die auf die Schwere des Verbrechens und die Anwendung des Strafgesetzes hätte schliessen lassen. Seitdem ihre Feinde die friedliche Propaganda mit Pulver und Dynamit vertauscht haben, zeigt die kaiserliche Regierang allmälieh immer weniger Respekt vor der Oeffentlichkeit der Gerichte. Die meisten politischen Verbrecher sind im Dunkel geschlossener Säle verurtlieilt worden; aber auch hierbei hat, unter Alexander III. wie anter Alexander II. die Regierung keine Consequenz bewiesen. Sie ist in ihren alten Fehler, in die Systemlosigkeit gerathen, hat heute die Thüren des Gerichts geöffnet, die sie gestern erst geschlossen hatte, um sie morgen abermals wieder zu schliessen. So war unter l) Dieses Verfahren gab in einem Petersburger Prozess von 1877 zu einem charakteristischen Zwischenfall Anlass. Die Advokaten, die vom Rechte der Verteidigung in ausgedehntem Masse Gebrauch machten, beklagten sich darüber, dass im Widerspruch zum Gesetz ihre Clienten bei geschlossenen Thüren gerichtet würden; sie wagten zu fordern, dass die Verhandlungen thatsächlich öffentliche seien, und die Sitzungen in einem grössern Saale, zur Noth im Vorsaale, stattfänden, „Die Oeffentlichkeit ist nicht ausgeschlossen", erwiderte der Präsident, „aber die grosse Zahl der Angeklagten und der Zeugen gestattet nur wenig Raum für die Zuhörer". Es waren in der That fast 200 Angeklagte da. Alexander III. der Prozess der Mörder Alexanders II. mit einer halben Oeffentlichkeit umgeben; die Presse durfte wenigstens theilweiso die Antworten der Beklagten bringen, während wenige Monate darauf ihr verboten wurde, irgend welche Mittheilungen über weniger schwere Prozesse, wie über den gegen die Herausgeber des geheimen Blattes: Tschörnüi pcredel zu veröffentlichen. Die Rathgeber Alexanders III. haben es eben am bequemsten gefunden, in dieser Beziehung das freie Ermessen zum Gesetz zu erheben. Die Regierung hat sich das Recht beigelegt, alle diejenigen Prozesse bei geschlossenen Thüren verhandeln zu lassen, „deren öffentliche Verhandlung die allgemeine Meinung in Aufregung setzen könnte*', und dieses Recht hat sie nicht den Gerichten, sondern der Verwaltung zuerkannt, die seiner sich zu bedienen nicht ermangelt. Ein Gesetz vom 4. September 1881 ertheilte in solchem Falle jedem Angeklagten das Recht, je drei von seinen Verwandten oder Freunden den Verhandlungen beiwohnen zu lassen. Aber auch das wurde für zu weitgehend erkannt; durch eine Verordnung vom 14. November 1881 bestimmte Alexander HJ., dass bis auf Weiteres nur die Frau oder die nächsten Angehörigen für jeden Angeklagten zuzulassen seien. Nach dieser neuen Verfügung wurden die Mitschuldigen am Morde Alexanders II. im Februar 1882 gerichtet. Eis gereicht der Regierung nicht durchweg zum Vortheil, dass über die Gerichtssitzung Schweigen gebreitet und das Publikum ferngehalten wird. Hat die Oeffentlichkeit der Verhandlungen ihre ins Auge springenden Mängel, so hat das Dunkel der geschlossenen Säle deren mindestens ebensoviele. Für die Öffentliche Meinung, welche die Gründe nicht abschätzen kann, behalten die im Schatten gefällten Verurtheilungen immer etwas Dunkles und Zweifelhaftes; es wird den übelgesinnten Leuten leicht, die verrücktesten Narren oder die gefährlichsten Verbrecher zu unschuldigen Schlachtopfern oder Märtyrern der Freiheit zu machen. Indem die Justiz sich in das Geheimniss hüllt, scheint sie Verfahren und willkürliche Formen der „Dritten Abtheilung" zu entlehnen und nur eine Hülfsgenossin und Mitschuldige der geheimen Polizei zu sein. Genauer betrachtet, sind vielleicht die politischen Prozesse diejenigen, in denen die Oeffentlichkeit am unentbehrlichsten ist. Der Gesellschaft die Tiefe ihrer Wunden enthüllen, das wäre das beste Mittel gewesen, den öffentlichen Widerwillen gegen die verbrecherischen Unternehmungen und die chimärischen Forderungen zu wecken. Im Bemühen, die Einzelheiten dieser traurigen Prozesse den Blicken der Nation zu entziehen, hat die Regierung diese letztere in Apathie oder Misstrauen versinken lassen. Um das Volk vor der Ansteckung der schlechten Lehren zu schützen, hilft es nichts, die Thore der Gerichtshöfe zu schliessen; die Stimme der Verbrecher findet ihren Weg durch geschlossene Thüren, und alle Vorsichtsmassregeln gegen den Widerhall ihrer Worte da draussen können ihr nur grössere Wirkung auf die leicht erregbare Jugend verleihen. Die geschlossene Thür giebt der Regierung den Anschein, als zittere sie vor ihren entwaffneten Gegnern. Der Prozess der Wera Sassulitsch (1878) war der letzte politisehe Prozess, der öffentlich unter Mitwirkung der Jury abgehandelt wurde. Die hohe Stellung des Opfers des Attentats, das Geschlecht, die Jugend, die kalte Ueberspannthoit der Angeklagten, die kühne Beredsamkeit ihres Vertheidigers, die Zeugenaussagen, welche gleichsam die Polizei in Anklagestand setzten, die unerwartete Entscheidung der Jury — Alles, bis zum plötzlichen Verschwinden der Freigesprochenen beim Verlassen des Gerichtssaales, trug dazu bei, diesem denkwürdigen Prozess eine romantische Färbung zu geben. Man erinnert sich des Iiiniergrundes der Sache. Am Ufer der Wolga, drei oder vierhundert Werst von der Hauptstadt hat eine junge Russin durch ein Zeitungsblatt erfahren, dass auf Refehl des Petersburger Oberpolizeimeisters. Generals Trepof, ein ihr unbekannter politischer Gefangener mit Ruthenhieben gezüchtigt worden sei. Als eine zweite Charlotte Cordav hat sich das junge Mädchen zur Rächerin der Humanität erhoben. Sie ist halb Russland durchreist, um den jähzornigen Polizeimeister zu strafen, und hat ihn in einer Audienz mit einem Revolverschuss schwer verwundet. Das Verbrechen war unbestritten, der Vorbedacht anerkannt, das Geständniss der Beklagten vollkommen; trotz aller Anstrengungen der Anklage gab die Jury ein freisprechendes Urtheil ab — unter lauten Beifallsbezeigungen des Publikums in der Sitzung und der Menge draussen. (iah die Jury, da sie Wera freisprach, nur einer grossmüthigen Stimmung nach, oder unterlagen die Geschworenen einem geheimen Einfluss revolutionärer Drohungen? Vielleicht gehorchten sie gleichzeitig zwei verschiedenen Beweggründen. Auf jeden Fall compromiflirte die Jury durch diesen Spruch damals ihre Rechte und ihre Existenz. In keinem Lande der Welt wäre ein solcher Fall mit mehr Freiheit verhandelt worden. Aber es sollte das letzte Mal sein r). Die Regierung wollte ein solches Attentat nicht ungestraft wissen. Die Staatsanwaltschaft überwies den Wahrspruch der Jury dem lJ Der Prozess wurde, wie mau versichert, auf Drängen des Justizministers den ordentlichen Gerichten belassen. Cassationshof des Senats. Die Anklage machte mehrere Gründe für die Annullirung geltend, der Gerichtshof hatte Zeugen zu Aussagen zugelassen, die die Sache selbst nicht betrafen; die Zuhörerschaft hatte einen moralischen Druck auf die Geschworenen geübt, indem sie mitten in den Verhandlungen durch Beifalls- oder Missfallens-äusserungen ihre Sympathieen für die Verteidigung und ihre Abweisung der Anklage an den Tag gelegt hatte. Dennoch war der genze Recurs gegen ein freisprechendes Urtheil regelwidrig. Mit der Anfechtung des Spruches der Petersburger Geschworenen schien die Unabhängkeit der Jury angegriffen und das Wesen der Institution misskannt zu seinx). Der Senat nahm die Berufung der Staatsanwaltschaft an, annullirte um Formfehler willen das freisprechende Urtheil und übergab, da die Staatsanwaltschaft erklärt hatte, in der Hauptstadt sei unter solchen Umständen die nöthige Kühe für die Geschworenen nicht vorhanden, den Prozess dem Gerichtshof von Nowgorod. Vor einer Provinzialjury hätte Wera Sassulitsch schwerlich dieselbe Milde gefunden, wie vor den Petersburger Assisen; aber ihre Freunde hatten ihre Vorsichtsmassregeln getroffen. Bei dem Verlassen der Sitzung, inmitten eines Gemenges zwischen ihren Bewunderern und der Polizei wurde die Heldin des Prozesses unter der Gunst eines Auflaufs, bei dem mehrere Schüsse fielen, von ihren Parteigängern entführt: sie war plötzlich verschwunden. Im Auslande glaubte man sie in den Händen der „Dritten Abtheilung", man dachte sie sich als Gefangene in den Kasematten irgend einer Festung. Durch ihr häufiges Missgeschick erregt, hatte die Polizei ein zu grosses Interesse daran, sich aus einem solchen Fange eine Ehre zu machen, um ihn geheim zu halten. Am Tage, wo Wera vor dem Schwurgericht von Nowgorod erscheinen sollte, befand sie sich in der Schweiz in Sicherheit, von wo sie nach England gegangen ist. Von dem wenig correcten Verfahren, das in diesem aufregenden Prozess eingehalten wurde, hatte die Regierung nichts gewonnen. Sie scheint erkannt zu haben, dass eine Annullirung des freisprechenden *) In allen andern Ländern, wie beispielsweise in Frankreich, giebt es keine Revisionsberufimg gegen den Angeklagten; der Cassationsrecurs ist ausschliesslich zu seinen Gunsten vorhanden. Hat die Stantsanwaltschaft das Recht, ein freisprechendes Urtheil dem Cassationshof zuzuweisen, so soll das nur dem Interesse des Gesetzes, der Aulrechterhaltung der das Criminalrecht bestimmenden Prinzipien dienen. Das Resultat der Berufung könnte den Freigesprochenen nicht vor ein neues Gericht bringen; in Bezug auf ihn behält der Spruch der Jury volle Geltung. (Code d'instructiou criminelle, art. 360 u. 409.) Erkenntnisses der Geschworenen eine Annullirung der Jury selbst sei. Besser auf Umwege verziehten und sich an die Institution selbst halten. Daher war man bei diesem ernsten Prozess unzufrieden mit aller Welt; den Geschworenen wurde ihre Unabhängigkeit, der Verteidigung ihre Freiheit, dem Publikum seine Parteiergreifung für die Angeklagte, den Richtern ihre Parteilosigkeit zum Vorwurf gemacht. Man kann sich drum nicht wundem, wenn höheren Orts die Freisprechung der Sassulitsch das Todcsurtheil der Jury bedeutete. Eine kurze Zeit lang wurden die seltsamsten Beschränkungspläne vorgebracht. Im Justizministerium war davon die Rede, dem Präsident und mittelbar der Anklage das Recht der Rückweisung der Ver-theidiger zu verleihen. Mit einem Schlage wäre so die Freiheit der Verteidigung vernichtet und die ganze Justizreform zugleich getroffen gewesen. Die kaiserliche Regierung erkannte das und verzichtete auf dieses wunderliche Project. Statt dessen beschränkte man sich darauf, alle Prozesse, die zu ähnlichen Misserfolgen führen könnten, dem Urtheil der Jury zu entziehen. Ein Ukas vom 9. Mai 1878 übertrug „zeitweilig" besonderen Specialgerichten alle Verbrechen gegen die Personen von Staatsbeamten in Ausführung ihres Amts oder aus Gründen ihrer Amtsführung: „Mord oder Mordversuch, Verwundung, Verstümmelung und alle Gewaltthätigkeit, Drohungen und Schmähungen" x). Von der höchsten bis zur niedersten Stufe der Leiter waren so die Regierungsbeamten ausserhalb des gemeinen Rechtes gestellt. Das ganze Tschinownikthum erhielt ein Privilegium, das bisher nur dem Herrscher und dem Staate zustand. Der Gesetzgeber hatte übrigens schon vor 1878 die Thatsacho ins Auge gefasst, dass die Jury gewissen Attentaten gegenüber keine volle Sicherheit der Sühne biete. Dasselbe Gesetz, durch welches das Schwurgericht eingeführt wurde, hatte den ordentlichen Gerichten die Rechtsprechung über alle Verbrechen gegen den Kaiser und gegen den Staat genommen. Für Staatsverbrechen hatte man die Aufrechterhaltung einer ausserordentlichen Gerichtsbarkeit und eines Ausnahmegesetzes für nöthig gehalten. Die Zusammensetzung dieser ausserordentlichen Gerichtshöfe wechselte nach der Schwere der Fälle. Nach dem Gesetz von 1864 waren jene Verbrechen Gerichtshöfen zuzuweisen, die ohne Geschworenen, aber unter dem Beisitz einiger Delegirten aus den verschiedenen Gesellschaftsolassen Recht sprechen, als hätte der ') Keiehsrathsgutaelitcii, bestätigt vom Kaiser am 9. Mai 1878. Reformator auch dort, wo er die Betheiligung der Jury ausschloss, den Angeklagten wenigstens ein Scheinbild derselben lassen wollen1). Bei den schwersten Verbrechen, wie Verschwörungen, die sich über mehrere Gouvernements ausdehnen, wurde das Urtheil auf kaiserlichen Befehl einem Specialgericht des Senats überwiesen, das in der Regel auch durch einige vom Gesetze bestimmte Assessore ergänzt wurde. Vor einem solchen höchsten Gerichtshof sind die grösseren politischen Prozesse verhandelt worden. Ein Gerichtshof dieser Zusammensetzung verurtheilte 1879 den Attentäter Solowiew und 1881 und 1882 die Mörder Alexanders II. und ihre Mitschuldigen. Der Gesetzgeber hatte also seine Vorsichtsmassregeln getroffen; aber die Vielfältigkeit der nihilistischen Attentate liess ihn dieselben nicht für genügend erkennen. Das Verfahren schien zu langsam, die Verhandlungen selbst zu formell gegenüber der oft provozirenden Haltung der Angeklagten. Die Regierung entschloss sich, ihre Feinde den Civilgerichten zu entziehen und sie der raschesten und strengsten Justiz, dem Kriegsgericht, zu übergeben. Ein Ukas vom 9. August 1878 überbot noch den vom 9. Mai desselben Jahres, indem er provisorisch den Kriegsgerichten alle Staatsverbrechen, wie alle Verbrechen gegen Beamte überwies. Der bulgarische Krieg war kaum beendet, die russischen Truppen campirten am Marmorameer, der Vertrag von Berlin war noch nicht ratitizirt, und schon begannen in rascher Folge, in Petersburg, Kiew, Odessa, die verwegensten Angriffe auf Vertreter der Staatsgewalt. Die Regierung, die eben erst mit ihren auswärtigen Feinden fertig geworden war, entschloss sich, gegen die inneren die Wallen zu gebrauchen, welche Staaten gegen bewaffnete Empörungen anzuwenden pflegen. Die Verschwörer wurden Empörern gleichgestellt. Erschreckt von den Umtrieben der Gegner der Ordnung in einem Moment, da Bussland noch ernsten äusseren Gefahren gegenüberstand, erhitzte sich die öffentliche Meinung nicht darüber, dass die Revolutionäre, die in einer der schwersten Stunden der Geschichte Verwirrung in das Land warfen und wie Bundesgenossen des Auslands erschienen, auf diese Weise ausserhalb des Gesetzes gestellt wurden. Schon wurde mit Genugtuung bemerkt, dass die in den letzten Monaten so häufigen Attentate nach dem Erlass des 9. August *) Diese Delegirten oder Assessore sind: ein Gouvernementsadelsmarschall, ein Kreisadelsmarschall, ein Stadthaupt und ein Woloststarschina. Es sind ihrer also vier, während die Zahl der Richter, den Präsidenten einbegriffen, fünf beträgt, was ihnen die Majorität sichert. plötzlich ein Ende genommen; schon wollte man hierin eine "Wirkung der Kriegsgerichte erkennen, als im Februar, Marz und April 1879 der Mord des Fürsten Krapötkin in Charkow, der neue Angriff auf den Gendarmenchef in Petersburg, das Attentat Solowiews auf den Zaren selbst Schlag auf Schlag zeigten, dass auch die triftigsten Strafmassregeln nicht ausreichen, um einer Regierung Sicherheit zu schaffen. Nach den TJkasen vom Mai und August 1878 schien es schwer, noch weiter auf der Bahn der Strafgesetze zu gehen; der Mordversuch Solowiews Hess jedoch neue und schwerere Massregeln erfinden. Wenn in Frankreich selbst um die Mitte des Jahrhunderts die Bomben, die einige Ausländer auf den Opernplatz warfen, hinreichten, um mit Hülfe eines allgemeinen Sicherheitsgesetzes, das im Grunde nur die Aufhebung aller Gesetze war, ein Land, das keineswegs die Heimath der Autokratie ist, ganz und gar der Herrschaft eines Terrorismus in gesetzlicher Form zu unterwerfen: wie könnte man sich da wundern, dass Russland in ähnlichem Falle hinter dem Frankreich des zweiten Raiserreichs nicht zurückblieb? Es setzte militärische Generalgouverneure ein, für die alle bürgerlichen Gesetze aufgehoben waren, die das Recht erhielten, die den ordentlichen Gerichten Unterworfenen vor Kriegsgerichte zu stellen und auf administrativem Wege jede verdächtige Person zu deportiren. In einem Lande, wo die „Dritte Abtheilung" herrschte, brachte das Alles freilich nicht viel gesetzlieh Neues; die grosse Veränderung lag in der Ausdehnung, welche diesen Gewaltmassregeln ertheilt wurde. Das gewöhnliche Verfahren der Kriegsgerichte erschien noch zu langsam; die Generalgouverneure wurden ermächtigt, dasselbe zu vereinfachen und die summarische Justiz zu Hülfe zu nehmen, wie sie im Kriege gehandhabt wird. Nach dem Ukas vom 5. August 1879 konnten die Angeklagten ohne vorgangige Untersuchung vor Gericht gestellt, ohne mündliche Zeugenaussage verurtheilt, ohne Prüfung ihres Cassationsgesuchs gerichtet werden. Von der Entrüstung dictirt oder von dem Wunsche eingeflüstert, der revolutionären Schreckensherrschafl die Schreckensherrschaft der Regierung entgegenzusetzen, haben die Massregeln der summarischen Justiz doch keineswegs der Gewralt, die sie in Anwendung bringt, ausschliesslich Nutzen gebracht. Die eiligen Verurteilungen ohne gerichtliche Untersuchung, wie die von Mlodezki 1880 und die der Mörder des Generals Strelnikow 1882 die in vierundzwanzig Stunden ') Mlodezki hat auf den General Loris-Mclikow, damals Generalgouverneur, geschosseu. Die beiden Mörder des Generals Strelnikow wurden noch vor Fest- gerichtet und hingerichtet wurden, waren nicht geeignet, die Regierung über die Organisation ihrer Gegner aufzuklären. Auch kehrt die Regierung, wo sie nicht den ersten Wallungen des Zornes nach giebt, zu den grossen Prozessen mit langer Untersuchung zurück. Sie hat aber hierin, wie überall, noch nicht verstanden, eine allgemein gültige Regel oder ein consequentes System zu befolgen. Die Staatsverbrecher werden je nach den Umständen, nach der Wichtigkeit des Falles oder nach der Eingebung des Augenblicks von einem Kriegsgericht oder von einer gerichtlichen Commission abgeurtheilt. Die Ukase Alexanders III. über den „Zustand des verstärkten oder ausserordentlichen Schutzes" fassen sich darin kurz, der Verwaltung hierin freie Hand zu lassen. Welchen Richtern die Regierung auch Ehre Feinde übergiebt, unverkennbar haben diese Ausnahmegerichte den Hoffnungen ihrer Urheber recht schlecht entsprochen. Weder die Kriegsräthe, noch die senatorischen Commissionen haben die Verschwörer eingeschüchtert. Trotz des Schleiers, mit dem die Polizei sie zu verdecken sucht, haben bekanntlich die Attentate gegen das Leben des Zaren und der Polizeichefs unter Alexander Iii. aufs Neue begonnen; ist dieser Fürst ihnen bisher entgangen, so dankt er das Vorsichtsmassregeln, wie sie seit Ludwig XI. und Joann dem Schrecklichen ohne Beispiel sind. Nach der Gefangenschaft zu. urtheilen, zu welcher Alexander III. sich selbst verurtheilt zu haben scheint1), setzt er offenbar kein grosses Vertrauen in die Wirksamkeit der ausserordentlichen Gerichte, die zum Schutz des Lebens des Zaren erfunden sind. Es lässt sich bezweifeln, dass die Sicherheit des Herrschers bei dem Verlassen des ordentlichen Gerichtsverfahrens .viel gewonnen habe. Die ordentlichen Gerichte hätten die Verschwörer kaum weniger hart getroffen, und das Gewicht ihrer Urteilssprüche wäre grösser gewesen. Selbst die Jury, die Wera Sassulitsch freisprach, hätte sicherlich die Mörder des Zaren nicht freigesprochen. Hat sie das nicht in der Vorurthcilung der Polizeibeamten bewiesen, denen man doch nur Nachlässigkeit im Dienste vorwerfen konnte?2) Für die Justiz wie für die Verwaltung Stellung ihrer Identität in Odessa gehängt. Erst später entdeckte man, dass der eine von ihnen, Chalturin, der llaupturheber der Explosion im Winterpalais 1880 gewesen war. *) Anna, des Uebersetzers: Ich erinnere auch hier daran, dass der französische Text in den ersten Monaten von 1882 geschrieben ist. ä) Prozess des Generals Mrowinski und der beiden Staatsräthe Teglew und Fursow, die zur Verbannung in das Gouvernement Archangel verurtheilt wurden, weil sie die Mine der Revolutionäre in der Gartenstrasse von Petersburg nicht entdeckt hatten. wäre vielleicht das beste Mittel, um die wirksame Unterstützung des Publikums zu gewinnen, dass sie demselben mehr Vertrauen schenkten. Vor etwa fünfzehn Jahren, als die Justizverfassimg veröffentlicht und das Schwurgericht eingeführt worden war, gab sich die öffentliche Meinung der Hoffnung hin, eine rasche Entwicklung der neuen Institutionen zu erleben; man träumte davon, die Russen endlich im Besitze einer Habeas-Corpus-Acte, und die Competenz der Jury immer grösser werden und sich auch auf die Presse ausdehnen zu sehen. Statt dessen ist das Wirkungsgebiet der Jury verengt worden, und in den ernstesten Fällen haben die Civilgerichte den militärischen weichen müssen. Die Ausnahme ist abermals zur Regel geworden und die Willkür an die Stelle des Gesetzes getreten. Wir wollen nicht untersuchen, auf wen die Verantwortlichkeit für diese neue Enttäuschung zurückfällt. Man müsste diese Verantwortlichkeit theilen; einen Theil derselben haben die fanatischen Propheten der socialen Reform zu tragen. Dieser männlichen, wie weiblichen Jugend, die häutig mehr verwirrt als verdorben ist, diesen durch feurige Chimären verführten und durch Druck verbittertem Gemüthern, dieser Mass-losigkeit und Verwegenheit der Wünsche, dieser verbrecherischen Gewaltsamkeit der Mittel — dem Allem hat das liberale Russland viele seiner Enttäuschungen zu danken. Das Schauspiel, das Russ-land bietet, ist übrigens dem Westen durchaus nicht neu; wie überall anderwärts wecken und reizen einander an den Ufern der Newa der Geist der Revolution und der Geist der Reaction. Die sogenannten Apostel der Freiheit rufen schwereren Druck des Despotismus hervor, dessen Joch abzuschütteln sie sich bemühen, und die leidenschaftlichsten Anhänger der Bedrückung wecken unwillkürlich die Leidenschaften des Umsturzes. Die Sicherheitsmassregeln, die Alexander II. von 1878 bis 1880 ergriff, waren dem Wortlaut der kaiserlichen Ukase nach wesentlich transitoriscbe, zeitweilige (wremennüje).]) Alexander III. erneuerte und verschärfte sie, aber wiederholte dieselbe Versicherung. Leider kann Niemand sagen, wieviel Monate, wieviel Jahre diese provisorischen Massregeln in Geltung bleiben werden. Wie lange sie aber auch dauern mögen, die jüngsten Beschränkungen wrerden schwerlich vergessen machen, was noch von der Justizreform besteht und bereits in die Sitten übergegangen ist. Die Enttäuschungen des Publikums, >) Die Ukaae vom 9, Mai und 9. August 1878 und vom 5. April 1879; vergl. die Ukase vom 8. September und 14. November 1881. wie des Gesetzgebers, dürfen das bereits erorberte Gebiet nicht aus den Augen gerathen lassen. Selbst wenn die Gesetze von 1864 unter den von revolutionären Attentaten provocirten Beschränkungen zu verschwinden scheinen, sind sie doch nicht aufgehoben. Die kaiserlichen Ukase mochten wohl in Zornesanwandlungen das grosse Werk Alexanders II. in seinem einen oder andern Theile entstellen, doch das zeitweilig verstümmelte Werk besteht in seinen Grundlagen fort; wenn auch halb vergraben unter Ausnahmemassregeln, wird es die Krise der Gegenwart überdauern und trotz aller augenblicklichen Verunstaltungen in ruhigeren Zeiten wieder unversehrt erstehen. „Was uns Russen am meisten befremdet und schmerzt, das ist, zu sehen, wie wenig wir nach so grossen und mannigfaltigen Reformen uns verändert haben, wie sehr im Volke und in der Regierung, in den Unterthanen und in der Staatsgewalt noch die alten Ideen und alten Gewohnheiten bestehen. Man könnte sagen, dass alle die Veränderungen, die ein anderes Land umgewandelt hätten, über unsere Köpfe dahingezogen sind, ohne die Gemüther zu berühren, ohne das Gewissen des Volkes, das ihr Object, oder das der Macht zu ergreifen, die ihre Quelle war." Wie oft habe ich dieses Bekenntniss aus dem Munde enttäuschter Russen vernommen! Die Thatsachen sind nicht dazu angethan, solche pessimistische Eindrücke zu schwächen. Es hat etwas Erbitterndes für den Patrioten, zu sehen, wie langsam die Fortschritte sich vollziehn, und wie immer wieder die Prinzipien der neuen Gesetze in Frage gestellt werden. Die Justizreform ist übrigens so unfruchtbar nicht gewesen, als bisweilen behauptet wird; ihr Einfluss beginnt trotz alledem, sich im privaten, wie im öffentlichen Leben fühlbar zu machen. Die Aufgabe der Justiz ist nicht einzig materiell; sie besteht nicht allein in der Aufrechterhaltung der äussern Ordnung; ihre Mission ist vor Allem, dem Volke und der Gesellschaft, wie den Dienern der Staatsgewalt das Gefühl für Gerechtigkeit und Recht einzuprägen. In diesem Sinne hat die Justiz noch lange nicht ihre Aufgabe erfüllt, aber bei keinem andern Volke hatte sie soviel zu thun. Welchen Vorwurf hört man am häufigsten und mit dem grössten Rechte dem Russen machen, dem Beamten, Kaufmann, Handwerker, Bauern, dem Gebildeten, wie dem Manne des Volkes, den Staatsmännern wie den Privaten"? Es ist der, dass sie des reinen und lebendigen Rechtsgefühls entbehren, dass sie nicht tief genug die Gewalt der moralischen, oder mindestens der juristischen Verpflichtung empfinden. Vielleicht giebt es kein Volk, in dem die Achtung vor Verträgen und Verpflichtungen, der Respect vor dem Gesetz und der Gesetzlichkeit 1. u r u j - U « a. u 1 i w li , Itcicli d, Z&rou u, d, ltuuueu, II, Bd. 22 weniger allgemein wäre. Diesen Mangel aber, der das private, wie das öffentliche Leben der Hussen trübt, kann nur eine freie, ehrliche und unparteiische Justiz verschwinden machen, indem sie an den uralten Gewohnheiten der Leibeigenschaft und der bureaukratischen Willkür Besserung übt. Siebentes Kapitel* Das Strafrecht und die Körperstrafe. — Wichtigkeit der Körperstrafe in der alten russischen Gesetzgebung. — Knute und Ruthen. — Ihre gesetzliche Abschaltung und die Abweichungen vom Gesetze. — Fortschritte der Sitten in Bezug auf die körperliche Züchtigung. — Wann ist die Todesstrafe abgeschafft? — Inwiefern die Abschaffung der Knute das Gesetz wiederhergestellt hat. — Wie die Milde der Strafgesetze zur Ergreifung von Ausnahmsmassregeln beitrügen konnte. — Das spccielle Straf recht für Staatsverbrechen und das Auslieferungsrecht. — Resultate der Abschaltung der Todesstrafe. Im Leben jedes Volkes giebt es mancherlei, das der Ausländer lange schon zu kennen meint, und worüber er doch oft nur in Vor-urtheilen befangen ist. Das ist auch in mehr als einer Beziehung mit dem Strafrecht in Russland der Fall. Die Romanschriftsteller des Westens haben sich dieses Stoffes frühe bemächtigt und haben ihn oft mehr verdunkelt als beleuchtet, so dass er um so unbekannter zu sein pflegt, je mehr er für allbekannt gilt. Daher müssen wir die Verurtheilten von dem Austritt aus der Gerichtssitzung begleiten und ihnen bis zur Stätte der Strafvollstreckung folgen. Unser Besuch in den russischen Gerichtshöfen wäre unvollständig, wenn wir nicht für kurze Zeit in die Gefängnisse und Kerker hinabstiegen. Nach der landläufigen Auffassung ist Russland das Land der Knute. Die Knute ist vor etwa einem halben Jahrhundert abgeschafft; gleichviel, die Vorstellung bleibt: für das Volk, für viele tiebildete und Schriftsteller des Westens wird Russland noch lange das Reich der Knute bleiben. Man ist daran gewohnt, es als die Heimath barbarischer Strafen zu betrachten. Wie es oft geschieht, war in dieser Ansicht ein Theil Wahrheit und kein geringeres Theil Irrthum. Im Vergleiche zu den Gesetzgebungen des westlichen Europas vor der Revolution war die russische zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts vielleicht eine der wenigst strengen und der wenigst blutigen. Henker, Rad, Verstümmelung waren noch in vielen Staaten mit alter Cultur im Gebrauch, als sie schon in der jüngsten der europäischen Nationen abgeschafft waren. Und demnach hatte die allgemeine Meinung nicht ganz Unrecht; trotz aller Milderung des letzten Jahrhunderts verdiente die russische Gesetzgebung unter Alexander I. und selbst unter Nikolai zum Theil ihren traurigen Ruf. In keinem modernen Strafcodex haben Kürperstrafen so lange einen so ausgedehnten Raum eingenommen. Iiis zur Regierung des Kaisers Alexander III. war dies ein Unterscheidungsmerkmal des russischen Strafrechts. Die Züchtigungen waren nicht immer grausam; wie anderswo gab es ihrer verschiedene, stufenweise nach der Schwere der strafbaren Handlung sich steigernde, aber gewöhnlich hatte bei einfachen Vergehen, wie bei schweren Verbrechen der Körper die Strafe zu leiden, das heisst: Glieder und Rücken des Delinquenten. Es gab keine Knute mehr, es gab nur noch Ruthen, Spiessruthen. Die Strafbarkeit der Gesetzesübertretungen wurde nach Ruthenhieben bemessen. Russland schien unter der Fuchtel eines Herrn zu stehen, der es väterlich mit Peitsche und Prügel züchtigte; dies war eine der Formen des patriarchalischen Regimes. Nach dem beredten Bilde, das der Petersburger Advokat Alexandrow in einem der berühmtesten Prozesse der letzten Jahre (Sassulitsch) zeichnete, regierte die Ruthe in Russland: „Die Ruthe leitete die Schule, wie den Stall des Gutsbesitzers; sie wurde in den Kasernen und Polizeibureaus angewandt, wie in den Gemeindeverwaltungen. Es hiess sogar, dass die Ruthe an manchem Orte durch einen Mechanismus von englischer Erfindung in Bewegung gesetzt und so in besonderen Fällen angewandt wurde. Auf jeder Seite der Civil- und Criminalgesetze figurirte, wie ein unaufhörlicher Refrain, die Ruthe in Gemeinschaft mit der Peitsche, der Knute und dem Gassenlaufen." Woher dieses Vorherrschen der Körperstrafen in einer Gesetzgebung, die so in den Schein gerieth das Volk halb wie ein Kind, halb wie einen Sclaven zu behandeln? Man hat die Ursachen und den Anfang hiervon in einer weit zurückliegenden Vergangenheit gesucht; man hat mit Vorliebe die Verantwortlichkeit dafür der Mongolenherrschaft zugewiesen; auf die asiatischen Eroberer hat mau beispielsweise die furchtbare Strafe der Knute zurückgeführt; es geschieht derselben, wie ich glaube, in den Annalen des alten Russlands von Kiew und Nowgorod keine Erwähnung. l) In dieser wie in mancher l) Man hat im Worte „Knute" eine türkische Etymologie rinden wollen, aber es scheint vielmehr arischen, wenn nicht germanischen Ursprungs; es hat mindestens dieselbe Wurzel wie das deutsche Knoten (lat. nodus). Das mosko-witiöche Strafrecht und die Körperstrafen gehen übrigens bis in die Zeit des andern Beziehung glich das Russland der Waräger und Knäse viel mehr dem europäischen Westen, als das Russland der moskowitischen Zaren. Unter den Grossfürsten von Moskau, den Iwans und Wassili, wurden die empörenden und raffinirfen Strafen eingeführt, die von den ersten Romanows beibehalten wurden. In dieser Beziehung giebt die „uloshenie sakönow," das Gesetzbuch des frommen Alexei Michailo-witsch, des Vaters Peters des Grossen, dem „sudebnik" Joanns LTJ. und Joanns IV. des Schrecklichen nichts nach. Der erste Einfluss Europas, wo noch Tortur und grausame Strafen in Geltung waren, liess die Strenge der moskowitischen Gesetzgebung nur noch wachsen. Peter der Grosse beschränkte die Anwendung der Todesstrafe, aber statt die Körperstrafen aufzuheben, bediente er sieh derselben, um seinen Unterthanen die Sitten des Westens aufzuzwingen. Unbedenklich barbarische Mittel zu Gunsten der Civilisation gebrauchend, brachte der grosse Reformator gegen seine Feinde, und selbst gegen seine Hülfsgenossen die Strafwerkzeuge in Anwendung, die ihm von seinen Vorgängern vererbt waren. Bekanntlich verschmähte er, wo es noth that, selbst das Amt des Henkers nicht, und zwang die Holleute, nach seinem Vorbild das Beil zu handhaben. Auch Ruthen widerstanden ihm nicht; er selbst schwang sie auf dem Bücken seiner Günstlinge, wie auf dem des Fürsten Menschikow. Mag nun Russland die lange Herrschaft der Körperstrafen der nationalen Knechtschaft in der Tatarenzeit danken oder nicht, die Beibehaltung derselben dankt es dem Haussklaventhum, der Leibeigenschaft. Die Peitsche war die unentbehrliche Ergänzung zu der moskowitischen Leibeigenschaft. Der Pomeschtschik peitschte seine Leibeigenen, wie der Pflanzer der Colonien seine Sklaven, und desselben Rechtes der Züchtigung, das Staat und Herrscher der freien Uebung des Gutsbesitzers Hessen, bedienten sie sich ihren Inferthanen gegenüber, die alle mehr oder minder wie Leibeigene des Staates betrachtet wurden. 1 >a die Gesetzgebung durchaus unter der Herrschaft der Leibeigenchafts-sitten entstanden war, mussten die Ruthen natürlich in demselben Masse an Herrschaft verlieren, als die moralischen und juristischen Begriffe des Westens Eingang fanden. Um sich einen mehr oder weniger civilisirten Hof zu schaffen, versuchten die Nachfolger Peters des Grossen einen Adel im Stile des Westens zu bilden. Ihre Diener, Minister und Beamten durften nicht länger wie Sclaven geprügelt werden. Daher die Massregeln, alten Rußland» zurück, wo der byzantinische Kinlluss wohl thatsächlich grösser war, ala der tatarische. B. 13d. I, Buch IV. Kap. II. die vom achtzehnten Jahrhundert ab die sogenannten privilegirten Classen, den Adel und die Geistlichkeit und endlich einen Theil der städtischen Bürgerschaft allmälieh von den Körperstrafen befreiten. Diese mit den Jahren zunehmenden Befreiungen wurden auf alle öffentlichen Aemter, bis auf die niedersten hinab ausgedehnt. Der Tschin, der den persönlichen Adel mit sich brachte, schützte alle in den vierzehn Classen der Bangliste aufgenommenen Beamten; daher der Witz des Diplomaten, der zur Zeit des Wiener Congresses rieth, alle Bussen durch einen Ukas in die vierzehnte Classe aufzunehmen. Das wäre eine Aufhebung der Ruthenstrafe deich Erhebung der ganzen Nation in die privilegirten Stände gewesen; diese Aufhebung sollte durch die Ereigebung der Leibeigenen vollzogen werden, die alle Bussen zu dem Range freier Menschen erhob. Die Knute, ein grausames und mörderisches Instrument, ist seit den ersten Jahren der Regierung Nikolais abgeschafft, die Ruthen sollten von Alexander II. abgeschafft werden. Die Befreiungsacte datirt vom Februar L861, die Beseitigung der Ruthenstrafe von 1863. Die Ruthe musste als natürliche Consequenz der Leibeigenschaft mit dieser verschwinden. Diese kleine Reform hatte ihre Wichtigkeit; sie sollte nicht blos im Strafgesetz das Prinzip der Gleichheit vor dem Gericht feststellen, sondern auch jedem Russen das Gefühl der Ehre und persönlichen Würde wiedergeben. Die Ruthe hat, wie Alles aus der alten Zeit, ihre Verfechter bebaken. Zurückgebliebene Conservative fragten sich ängstlich: „wie ein Reich, das seine Grösse der Ruthenstrafe dankte, ohne ein solches Bindemittel bestehen könne" i). Auch ausser solchen furchtsamen Ge-müthern würde mancher gebildete Mann sich leicht zum Vertheidiger dieses Corectionsmittels machen, das nur die Schultern des Volkes trifft. Wo liesse sich, so heisst es, eine einfachere und raschere Strafe finden, eine Strafe, die — mit Mass angewandt — gesünder, für die Gesellschaft ökonomischer wäre, die sie auferlegt, wie für den Schuldigen, der sie erleidet, eine Strafe, die sittlicher und versitt-lichender wäre? Sollte man um blosser abstracter Rücksichten auf den Ehrenpunct, um eines falschen Gefühls der Würde willen, das der Mann aus dem Volke nicht begreift, auf eine Art der Strafe verzichten, die in seiner Seele ebensowenig Spuren hinterlässt, als auf seinem Körper, die für ihn und seine Familie weniger schmerzlich, weniger schädlich, weniger verderblich ist, als die Gefängnisshaft, die an ihre Stelle getreten ist? 3) Vertheidigungsrede Alcxandrows im Prozesa der Wera Saasulitsch. Trügen solche Klagen selbst ein Theil Wahrheit in sich, so wäre doch die Aufhebung derartiger Züchtigungen nicht zu bedauern. Wie gross auch ihre praktischen Vortheile waren, den einen grossen Schaden brachten die Körperstrafen in Russland, wie überall, mit sich, dass sie Rohheit und Brutalität im Volke vermehrten. Waren Peitsche und Ruthen in die Gesetze aufgenommen und auf Geheiss der Gerichte angewandt, so erhielten sie sich um so leichter in dem Leben des Hauses. Wenn der Familienvater in jenen ein Strafmittel für Erwachsene ebenso, wie für Kinder sah, so kamen ihm weniger Bedenken, den Prügel zu seinen väterlichen oder ehelichen Züchtigungen zu verwenden. Von der Unterdrückung der Ruthenstrafe konnte die private Sittlichkeit, wie die öffentliche, nur Vortheil ziehn. Vielleicht ist der Reformator in diesem Puncte der allgemeinen Moral vorangeeilt. Vielleicht ist eine Art menschlicher Rücksicht auf die öffentliche Meinung Europas dieser Reform nicht ganz fremd geblieben; aber seit Peter dem Grossen hat solche Rücksichtnahme Russland mehr als einen Fortschritt machen lassen, und den Staaten wie den Einzelnen können die Selbstliebe und die Sorge um die gute Meinung des Andern zu gewissen Zeiten den besten Rath geben. Wer weiss, wie weit Russland ohne solchen Sporn jetzt wäre, oder wo es ohne ihn stehen bliebe? Die Vertreter der alten Gewohnheiten mögen sich übrigens trösten; noch sind die Ruthen nicht ganz verschwunden. Die körperlichen Zuchtmittel, Knute, Spiessruthe, Ruthe sind aus dem Strafrecht gestrichen und werden von den ordentlichen Gerichten nicht mehr verhängt; aber in den Wolostgerichten hat die aus dem geschriebenen Gesetz verbannte Ruthe eine letzte Zuflucht gefunden. Noch immer kann der Hauer zu Hieben verurtheilt werden, zwar nicht mehr auf Befehl eines Herrn, sondern auf Urtheil von seines Gleichen J). Es ist das ein Zugeständniss an die Rohheit des Mushiks. In diesen untergeordneten Tribunalen, in denen das Herkommen die Gewalt hat, duldet die Regierung, was die Macht des Gesetzes nicht immer unterdrücken könnte. Die Ruthenstrafe ist aus dem Strafgesetz gestrichen; aber, wird man fragen, ist sie deshalb ausserhalb der bäuerlichen Gemeinden auch vollkommen verschwunden? Wir haben wiederholt hervorheben müssen, dass in Russland die Kluft zwischen Gesetz und Sitten, zwischen dem ofliziell Erlaubten und täglich Geübten tiefer ist, als anderswo. In Bezug auf die Körperstrafen sind jedoch Abweichungen J) S. oben, Kap. II. vom Gesetze dort viel seltener, als man im Westen annimmt. Die Gesetze selbst lassen in Ausnahmsfällen die Ruthe zu: in der Armee in den Strafcompagnien, wie in den Gefängnissen, wenn Ungehorsam zu solchem Zwangsmittel zwingt. In dieser Beziehung geschieht in Russland kaum mehr, als in den andern europäischen Staaten. Aber was nur dort sich findet — mit der Türkei es zu vergleichen, wäre ungerecht, — das ist die Anwendung gesetzlich verbotener Züchtigungen auf Personen, die gesetzmässig ausdrücklich vor ihnen gesichert sind. Man kann nicht läugnen, dass thatsächlich Fälle der Art vorkommen, namentlich in den entlegenen Gouvernements, in denen die Behörden nur mit Anstrengung die Gesetze Derer aufrecht zu erhalten vermögen, die ihnen die Ueberwaehung derselben überantwortet haben. In einigen Gegenden trägt die Polizei mitunter wenig Bedenken, von sieh aus den Mushiks die Ruthe angedeihen zu lassen, die das Gesetz nur in den Bauergerichten duldet. Im Gouvernement Räsan hat beispielsweise 1879 ein Prozess Thatsaehen von solcher besondern Strenge enthülltZu derselben Zeit war im Gouvernement Wätka ein Bauer des Kreises Shoransk zu Tode gepeitscht worden2), und ebendort wurden 1882 gleiche Missbräuche aufgedeckt. Früher wären solche Fälle nie den ordentlichen Gerichten, noch der Oeffentlichkeit der Presse überliefert worden. In entlegenen Gegenden oder mitten auf dem Lande könnten uns einige Gewalttätigkeiten kaum überraschen; aber selbst aus den grossen Städten, ja aus der Hauptstadt, werden ähnliche Gesetzwidrigkeiten gemeldet, und zwar unter Umständen, wtdehe viel Aufsehen erregten. Ich spreche hier nicht von der traurigen Angelegenheit der Uniaten und der litthauischen und polnischen Bauern, namentlich aus dem Gouvernement Lublin, die gepeitscht wurden, weil sie die ') Es handelte sich um einen Polizeibeamten Namens Popow, der zur Beschleunigung des Eingangs rückständiger Steuern die Hauern zu peitschen pflegte. Um diesem Verfahren grösseren Nachdruck zu verleihen, bediente er sich brennender oder in Salzwasser geweichter Ruthen. Mit noch höhcrem Raffinement theil te er die Execution mitunter in verschiedene Sitzungen, damit die Ruthen dem Geschlagenen schmerzhafter seien. Dieser allzueifrige Beamte wurde vor Gericht gezogen und von der Jury schuldig befunden. Scheint uns auch die ihm auferlegte Strafe — drei Monate Gefängniss — leicht für ein solches Verbrechen, so genügt sie doch, um den Bauern klar zu machen, dass sie sich nicht mehr von dem kleinsten Beamten peitschen oder schlagen zu lassen brauchen. a) Vergissmeinnicht von Wätka. L. Leger: Nouvelles Etüden slaves 1880. griechisch orthodoxe Kirche aufgegeben hatten. Die alten polnischen Provinzen, die noch immer in einem Ausnahmszustande bleiben, sind Missbräuchen aller Art ganz besonders ausgesetzt. Der Stock kann dort noch eine Gewalt üben, die er anderswo nicht sich anmassen dürfte. Aber selbst in russischen Städten trägt die Polizei nicht allzuviel Bedenken, bei ausbrechenden Unruhen zur Peitsche zu greifen. Man hat sie in Odessa ganze Ladungen von Ruthen einführen sehen und mit Hülfe dieses Vorraths Alles, was ihr in die Hände fiel, Männer, Frauen, Kinder öffentlich von ihren Beamten streichen lassen. Das geschah, wenn ich nicht irre, 1S71, bei Anlass eines Aufstandes gegen die Juden. Aelmliche Umstände gaben zehn Jahr später zu gleichen Auftritten in derselben Stadt und anderwärts Anlass. Bei Volksaufständen ist das ein noch gewöhnliches Verfahren der Polizei; wenn sie nicht weiss, an wen sie sich halten soll, greift sie die Ersten, Besten heraus und lässt sie prügeln. So that sie 1881, nachdem sie sich spät entschlossen hatte, die Israeliten Odessas, Kiews, Warschaus gegen die Räubereien des Pöbels zu schützen. Mitunter hat die Polizei auch statt der Ruthen und des Stockes bei solchen Volksaufständen ergiebigen Gebrauch von der Nogaika, der Kosakenpeitsche, gemacht. Freilich ist es in solchem Falle, wenn die Menge den Aufforderungen der Behörde gegenüber taub bleibt, besser die Peitsche, als den Säbel oder Karabiner spielen zu lassen. Ein Vorgang von grösserer Tragweite ist der, welcher zu dem Attentat und zu dem Prozess der Wera Sassulitsch Anlass gegeben hat. Hier hat sich, wir wollen es nicht verhehlen, die öffentliche Meinung Europas in ihrer Beurtheilung der Handlungsweise der Petersburger Polizei einigermassen vergriffen. Der Westen hat aus den Verhandlungen dieses merkwürdigen Prozesses Folgerungen gezogen , die mit der Wahrheit oder der Logik in geringem Zusammenhang stehen. Man entsinnt sich noch der Thatsachen: der Gewaltact, der die Hand der jungen Schwärmerin gegen den General Trepof bewaffnet hatte, war in einem Gefängniss, bei Gelegenheit eines Besuches des Petersburger Oberpolizeimeisters vollzogen worden. Von der herausfordernden Haltung eines Sträflings gereizt, der sich weigerte, vor ihm das Haupt zu entblössen, hatte General Trepof zur Statuirung eines Beispiels dem Unverschämten eine Körperstrafe zu ertheilen befohlen. Es war in einem Gefängniss, und auch hier bedurfte es eines directen, oder, wie die Verhandlungen ergaben, vielmehr eines schriftlichen Befehls des Oberpolizeimeisters. Und wie wurde dieser Befehl von den Häftlingen aufgenommen ? Durch eine Art von Auf- stand, der nur mit Gewalt unterdrückt wurde. Und wie urtheilte nach Bekanntwerden des Falles das Publikum? Die Presse fand darin keineswegs ein normales und gesetzmässiges, noch auch nur ein herkömmliches Verfahren, sondern gerieth in grosse Aufregung. Die Zeitungen bezeichneten die Geschichte dem Publikum, wie der Regierung, als eine That der Schmach oder als ein bedauerliches Gerücht, das man widerrufen müsstc. Die wohlbegründete Popularität, die sich der Ober-Polizeimeister durch tüchtige Geschäftsleitung in mehreren Jahren erworben, war in wenigen Tagen verschwunden. Durch ein Zeitungsblatt aus der Hauptstadt erfuhr tief im Lande, in dem Gouvernement Pensa, Wera Sassulitsch, dass ein politischer Verbrecher in einem Gefängniss mit Ruthen gestrichen worden sei; aus dieser Leetüre schöpfte die junge Enthusiastin die Entrüstung, die sie an das Newaufer führte, um die menschliche Würde zu rächen, der in der Person eines ihrer politischen Gesinnungsgenossen Gewalt angethan war. Und welchen Eindruck übte das Attentat der Wera auf die Gesellschaft, welchen Eindruck auf diese hat die Jury offiziell con-statirt? Trotz der Schwere des Verbrechens, trotz der Evidenz der Schuld gab die Jury unter den Beifallsbezeigungen der Zuhörerschaft ein freisprechendes Urtheil zu Gunsten der fanatischen Feindin der Ruthenstrafe ab. So hat sich in diesem Prozess Alles, die Entlassung des für einen der besten Beamten des Reiches geltenden Generals Trepof mit einbegriffen, es hat sich Alles vereinigt, um zu zeigen, dass die Anwendung von Ruthen auch tief in den Gefängnissen, selbst wenn ein so hoher Beamter sie verfügt, nicht mehr üblich genug ist, um unbemerkt bleiben zu können. In den Augen jedes nicht voreingenommenen Beobachters hat der Fall, den die zerstreute Oberflächlichkeit der Masse als ein Zeichen der geringen Uebereinstiminung zwischen den Gesetzen und den bureaukratischen Gewohnheiten betrachtete, gerade das Gegentheil bewiesen: hier oder nie lässt sich sagen, die Ausnahme bestätigte die Regel. Wie man auch im Westen sich's vorstelle, die Ruthenstrafe ist nicht mehr im allgemeinen und täglichen Gebrauch. Der Russe bietet seinen Rücken nicht mehr gefällig der Peitsche oder dem Stocke dar. Diese Bemerkung hat mir eine persönliche Erfahrung bestätigt, die hier zu gestehen mir erlaubt sei. Es war auf einer meiner ersten Reisen in Russland. Ich hatte, wie alle Welt, oft sagen hören und in den ernstesten Schriftstellern Russlands, wie des Auslandes, gelesen, dass in den Staaten der Zaren der Stock das letzte Argument sei, und dass man unter Umständen nach ihm greifen müsse, um sieh Respekt zu schaffen; auch für den Reisenden sei der Stock das wirksamste Mittel, um auf den Poststationen zu Pferden zu gelangen. Ich wusste jedoch nicht, dass die Regierving die Postmeister zum Schutze vor dem Stocke ihrer Landsleute in die vierzehnte Rangclasse erhoben hatte, was sie von körperlichen Züchtigungen befreit. Resonderen Lindruck hatte auf mich der Ausspruch des gewissenhaften Nikolai Turgenew gemacht, dass, wenn die Postpferde dem Reisenden nicht rasch genug seien, dieser sich an den Rücken des Kutschers halte. „Das sind nur die Faulen, die uns nicht prügeln," hatte ein Postknecht mit bitterer Naivität dem russischen Schriftsteller gesagt1). Diese Lehre glaubte ich als Reisender mir merken zu müssen. Doch hatte ich mich gehütet, ihr zu folgen, bis ich auf der Fahrt durch die Steppen zwischen Don und Kaukasus — noch gab es dort keine Eisenbahn — einmal müde ward, darauf zu warten, dass meine Troika, das Dreigespann, angespannt werde; das cynische Wort aus Turgenew fiel mir ein, und da meine Geduld zu Ende war, hob ich den Stock, oder richtiger den Regenschirm gegen den gar zu langsamen Jämsehtsohik. Der aber nahm die Sache schief; statt sich an seinen Rossen zu rächen, wurde der Mann roth vor Zorn, und seine Kameraden hätten mir fast böse mitgespielt. Offenbar kannten sie die Grundsätze des Postknechts Turgenews nicht, und ich wäre schlimm gefahren, wenn ich ihnen meine Gewährsmänner citirt hätte. Dank der Einmischung des Starost war ich so glücklich, keinen weitern Aufenthalt erleiden zu müssen. Weil die Sitten sich allmälieh ändern, verliert der Stock seine frühere Zaubergewalt. Der Postknocht erhält vom Reisenden keine Schläge mehr, und der Polizeimeistcr, der einen ungeschliffenen Gefangenen peitschen lassen will, setzt sich einer Kugel aus der Hand junger Mädchen aus. Die alten Mittel der Hauszucht und der Regierungsdiseiplin haben an Popularität beträchtlich verloren. Die Ruthen verschwinden. Neue Ideen haben sich in den Köpfen der Moskowiter festgesetzt, und das einst dem Volke von Leibeigenen fremde Gefühl für Ehre erwacht in dem freigegebenen Russland. Das Heer und der militärische Dienst sind nicht ohne Antheil an dieser ') Nik. Turgenew: La Russie et les Russe». Bd. II, pag. 88, 89. Vergl. Custine : La Russie en 1839. Schon der Abbe' Chappe d'Auteroche im achtzehnten Jahrhundert erzählt, dass er die Bauern, die ihn gefahren, mit Peitschenhieben habe bedienen müssen, was das einzige Mittel sei, die Russen in Gehorsam zu halten. Das ist eine von den Behauptungen des Abbes und Akademikers, die Katharina II. mit der grössten Entrüstung in ihrer Widerlegung „Antidote." eines Widerspruchs würdigt. Umwandlung; in den einst mit dem Stock gelenkten Regimentern, sieht sich der zu Ruthen verurtheilte Soldat für entehrt an. Von der Armee und den bürgerlichen Gerichten aus dringen diese neuen Vorstellungen allmälieh bis auf den Grund des Volkes, das noch bevor zwei oder drei Generationen dahingegangen sein werden, ganz von ihnen erfüllt sein wird. Mitten unter den trüben Enttäuschungen, die das Russland der Reformen zeigt, ist das ein Ausblick, auf dem die Augen mit dem freudigen Bewusstsein ruhen können, dass sich hier ein dauernder Fortschritt zeigt. Die körperlichen Züchtigungen sind abgeschaut, und von da ab ist die russische Gesetzgebung wohl die mildeste in Europa. Als ein kaiserlicher Ukas im Jahr 1863 die Ruthen aus dem Strafgesetz strich, war die schwerste aller Körperstrafen, die einzige, welche sich in den meisten modernen Staaten noch erhalten hat, die Todesstrafe, schon seit mehr als einem Jahrhundert in Russland gesetzlich abgeschafft. Es ist sehr merkwürdig, dass es in Europa gerade das Land sein musste, dessen Gesetzgebung für die grausamste galt, welches zuerst die Todesstrafe aufgehoben, welches zuerst — noch lange vor Leopold von Toskana, lange vor der Veröffentlichung der Schrift: J delitti e le pene — die Lehren Beccaria's zur Anwendung brachte1). Vielleicht Hesse sich in diesem Puncte in Russland, wenn auch Dicht eine ununterbrochene Tradition, so doch wenigstens manches Vorzeichen aus frühester Vergangenheit linden. Schon Joann III., der „Vereiniger des russischen Landes," hatte dem Herrscher allein das Recht vorbehalten, die Todesstrafe zu verhängen. Seine Nachfolger auf dem Zarenthron, insbesondere Joann IV. der Schreckliche, trugen freilich kein Bedenken, Gebrauch und Missbrauch mit ihr zutreiben; aber schon erscheint sie als die Sühne politischer Verbrechen. Für Die berühmte Schrift Beccaria's erschien 17ö4, mehr als zehn Jahre nach dem Edict der Elisabeth Petrowna, das die Todesstrafe abschaffte. Bemerkenswerth ist, dass in keinem Lande die Ideeen Beccaria's einen grösseren und rascheren Einfluss auf die Gesetzgebung geübt haben. Weniger, als drei Jahre nach ihrem Erscheinen, noch bevor sie ganz ins Kussische übersetzt waren, dienten die Delitti e le pene einem ganzen Theile der Instruction (nakas) von 1767 über das Strafverfahren zur Grundlage. Mehr als hundert Artikel dieser Instruction Katharinens II. sind eine fast wörtliche Uebersetzung des Beccaria. Seit jener Zeit blieb die russische Gesetzgebung durchdrungen von den Grundsätzen des Mailänder Criminalisten. Ein Senateur Sarudnüi hat alle diese Entlehnungen der kaiserlichen Gesetze aus Beccaria nachgewiesen. (Beccaria's Verbrechen und Strafen im Vergleich zu Art, X der Instruction Kath. II. Pet. 1879, russ.) kurze Zeit verhängte unter westeuropäischem Kinlluss das drakonische Strafgesetz des Alexei Michailowitsch, die „Uloshenije sakönow," die Todesstrafe über die Verbrechen jeder Art. Peter der Grosse, der gegen seine öffentlichen und geheimen Feinde so wenig mit ihr geizte, beschränkte doch im Gesetz ihre Anwendung; seine Tochter, die sinnliche und frivole Elisabeth, schaffte sie 1753 ganz ab. Der mehr affectirten als wahren Empfindsamkeit, den Nerven der Kaiserinnen des achtzehnten Jahrhunderts dankt Russland diese Unterdrückung der Todesstrafe. Freilich beseitigte Elisabeth Petrowna in ihrer Furcht vor peinlichen Aufregungen mehr den Namen, als die Thatsache selbst. So lange die Knute im Gebrauche war, verloren die Strafgesetze unter den humanen Gesetzen der Elisabeth und Katharina nichts an ihrer Strenge. Die Knute ersetzte vollkommen das Beil und den Strick. Einen Verurtheilten zu tödten, genügte diese furchtbare Geissei mit dem harten Lederriemen durchaus, die grosse Stücke Fleisches ausriss und die Knochen bioslegte. Der Richter, dem das Gesetz die Fällung eines Todesurtheils untersagte, verurtheilte zu hundert Knutenhieben in dem vollen Bewusstsein, dass der Sträfling sie nicht ertragen könne. In diesem Falle Hess die Heuchelei der Justiz und des Gerichtshofes die üusserliehe Milde des Gesetzes nur gehässig erscheinen. Der "Unglückliche, dem der Richtspruch das Leben gelassen hatte, starb unter schrecklichen Qualen. So gross war die Gewalt der Knutenhiebe, dass geübte Henker nur eines oder zweier wohlgezielter Hiebe bedurften, um einen Mann zu tödten. Und wie die Bestechlichkeit überall Eingang gefunden, erkauften Verurtheilte, die sich zum Tode durch dieses grausige Werkzeug bestimmt wussten, oft mit Geld das Mitleid des Henkers, damit er mit einem Schlage ihren Qualen ein Ende mache und sich nicht daran vergnüge, blutige Furchen in ihren Körper zu reissen J). Die Abschaffung dieser mörderischen Strafe unter der Regierung Nikolais gab dem Gesetze seine volle Wahrheit wieder. Seit jener Zeit ist die Todesstrafe wirklich unterdrückt; im Gegensatz zu den Erscheinungen in vielen andern Ländern besteht sie nur noch für ') In den letzten Jahren, in denen die Knute noch im Gebrauche war, wurde das gesetzliche Maximum der Strafe auf 86 Hiebe herabgesetzt, doch starb der Sträfling häufig beim dreissigsten. Aeluilicli war es mit den Spiess-rutheu, die speciell in dem Militär zur Anwendung kamen. Man Hess den Verurtheilten durch zwei Reihen von Soldaten laufen, von denen jeder mit einer Küthe bewaffnet war und damit auf den Unglücklichen einhieb, der von den Bajonetten zweier Unteroffiziere vorwärts getrieben wurde. Eine gewisse Zahl von Ruthenstreichen, beispielsweise 2000, wurde selten überlebt. politische Verbrecher, für Angriffe auf das Leben des Herrschers oder auf die Sicherheit des Staats. Gilt es, die Strenge der Strafe nach den Folgen des Verbrechens und dem Schaden an der Gesellschaft zu bemessen, so erklärt sich eine solche Strafverschärfung für Verbrechen, die scheinbar weniger unsittlich sind, leicht. Es ist das Verfahren in der Hölle des Dante. Bei den Aufständen gegen ihm Autorität, in Polen, Litthauen und anderwärts hat übrigens die Regierung nicht ermangelt, die Todesstrafe anzuwenden. Die Empörungen und Waffenerhebungen ausgenommen, hat man aber nie zu ihr gegriffen. Die Humanität der übrigen Gesetzgebung übte ihre Wirkung auch auf Ausnahmsfälle aus. Während der Regierung Alexanders II. ist von 1855 bis zu den ersten Monaten von 1879 in den russischen Städten das Schallet, soviel wir wissen, nur einmal, 1866, für Karakosow, den ersten Attentäter gegen die Person des Zaren errichtet worden. Das allgemeine Gefühl war der Todesstrafe so abgeneigt, dass es dieselbe nicht einmal in Finland, wo die Gesetzgebung sie aufrecht erhalten hatte, zur Anwendung kommen Hess. Die finnischen Gerichtshöfe mochten immerhin, den Gesetzen des Grossfürstenthums entsprechend, Todesurtheile fallen, es wurde doch kein Verurtheilter hingerichtet, da der Herrscher immer die Hinrichtung in eine geringere Strafe verwandelte '). Wollte man aus der Milde der Strafgesetze auf die Civilisation eines Volkes schliessen, so könnte Russland den ersten Platz in Europa beanspruchen. Diese Aufhebung der Todesstrafe bat vielleicht im Zusammenhang mit den Beschränkungen gestanden, die den gesetzlich gewährleisteten Rechten und den ordentlichen Gerichten auferlegt worden sind. Der Mangel an Strenge im Civilrecht scheint für den Gesetzgeber ein Grund gewesen zu sein, auf einen besondern Strafcodex und zugleich auf die Kriegsgerichte zu recurriren. So kann die Milde der Gesetze mittelbar zum Nachtheil der Organe ausschlagen, welche die Gesetze in Anwendung zu bringen berufen sind. In Zeiten der Unruhen drängt die Abschaffung der Todesstrafe die Regierung dahin, die Urtheilsfällung über Verbrechen gegen ihre Beamten Ausnahmegerichten zu übertragen. Es liegt also in der Milde des Strafgesetzes selbst die Versuchung, über die Attentate des Fanatismus und der Utopie schärfere Strafen zu verhängen, als über Misse- J) Ein neuerdings von dem ünländischen Landtag ausgearbeitete« Strafgesetzbuch unterdrückt die Todesstrafe, mit Ausnahme der Verbrechen des Hochverraths und des Angriffs gegen die Person des Herrschers — wie in Russland. thaten, die den niedrigsten und schlechtesten Leidenschaften entspringen. Das ist seit den TJkaseti von 1878 und 1879 zu Tage getreten, die in vielen Fällen Kriegsgerichte an die Stelle der Jury und der ordentlichen Tribunale gesetzt haben. Beim Kriegsgericht steht in Russland, wie anderwärts, noch die Todesstrafe in voller Rechtskraft; und als die kaiserliche Regierung den Kriegsgerichten alle Verbrechen gegen die Person von Beamten zuwies, war dies nicht blos eine Veränderung in der Competenz der Gerichte und im Gerichtsverfahren, sondern eine Veränderung und Verschärfung der Strafe. Die Todesstrafe war so sehr ausser Gebrauch gekommen, dass sie von den Richtern auch in politischen Prozessen, in denen das Gesetz sie beibehalten hatte, nicht verhängt wurde. Zwangsarbeit war die schwerste Strafe, welche die Mörder von Gouverneuren oder Polizeimeistern treffen konnte. Wollte die Regierung auf den Dolch und den Revolver der „Nihilisten" mit dem Schaffet antworten, so musste sie zu den Kriegsgerichten und dem Kriegsgesetz ihre Zuflucht nehmen. Es war das eine fast unvermeidliche Folge des /.wischen der Regierung und der Revolution, zwischen der Polizei und den Geheimbünden erwachten Kampfes. Für die Feinde der Regierung ist der Recurs an die Kriegsgerichte und an die Todesstrafe Grund oder Vorwand zu neuen Attentaten geworden. Bezeichnend für die Sitten und den socialen Zustand ist, dass die kaiserliche Regierung und die revolutionären Comites sich gegenseitig die Verantwortlichkeit für diese Anwendung des letzten Gewaltmittels zugeschoben haben. Auf beiden Seiten war man bemüht, sich vor der öffentlichen Meinung als im Rechte, als in legitimer Verteidigung stehend zu zeigen und den Beweis zu liefern, dass man nur unvermeidliche Repressalien an Gegnern übe, die aller Gewissensbisse ledig seien. Die Thatsachen zeigen, wie die beiden Gegner in diesem ungleichen Kampfe sich Schlag auf Schlag zu treffen wussten. In Odessa, das damals in Folge des bulgarischen Krieges in Belagerungszustand versetzt war, wurden politische Angeschuldigte zuerst vor ein militärisches Gericht gestellt. Zu Ende Juli 1878 standen fünf junge Männer und drei junge Mädchen vor dem Odessaer Kriegsgericht unter der Anklage der Verschwörung und des bewaffneten Widerstandes gegen die Obrigkeit. Der Hauptangeklagte, Kowalski, ein Popensohn, wie so viele dieser Agitatore, wurde auf Grund des Belagerungszustandes zum Tode verurtheilt. Er wurde am 2. August in der Metropole des Schwarzen Meeres erschossen, und zwei Tage später, am 4. August, antworteten die Gesinnungsgenossen der Ver- urthcilten um andern Ende Russlands auf seine Hinrichtung mit der Ermordung des Chefs der Dritten Abtheilung, des Generalen Mesen-zew. Der Chef der geheimen Polizei war durch anonyme Warnungen benachrichtigt, dass sein Leben für das des Odessaer VerurtheiliVu gefordert werde. Als Antwort auf den .Mord vom 4. August überwies ein kaiserlicher Ukas am 9. desselben Monats alle Angriffe auf Beamte den Kriegsgerichten. Unterblieben jetzt einige Wochen lang die politischen Morde, so war es nicht, weil der Ukas vom 9. August die Revolutionäre geschreckt hätte, sondern vielmehr weil die Mörder des General Mesenzew weder entdeckt, noch bestraft, also auch nicht zu rächen waren. Wenige Monate später vergalten die Comites wieder der Regierung und der Polizei Auge um Auge, Zahn um Zahn und beantworteten jede Verurtheilung, wenn nicht jede Verhaftung mit einem neuen Meuchelmord1). Die höchsten Beamten des Reiches erhielten auf geheimnissvolle Weise die Mittheilung, dass ein geheimes Gericht sie zum Tode verurtheilt habe, und es fanden sich Hände zur Vollstreckung dieses Urtheils. Russland sah die Vehme und die Freirichter des Mittelalters wieder auferstehn. Die Aussicht auf die Todesstrafe schien die Wuth der Anarchisten nur noch mehr anzustacheln; so lange die Verschwörer der Polizei entwischten, mochte freilich die »Straflosigkeit an der Kühnheit jener einigen Antheil haben. Seither haben die Kriegsgerichte ihr blutiges Werk gethan; von 1879 bis 1882 haben die meisten grossen Städte das längstentwölmte Schauspiel einer oder mehrerer Hinrichtungen erlebt. Erst die Zukunft wird lehren, ob die Todesstrafe ihre Wirkung wiedererhalten und zur Herstellung der öffentlichen Sicherheit beigetragen hat2). Die Ukase, die gewisse Verbrecher den Kriegsgerichten zuweisen, J) Im Februar 1879 wurde beispielsweise im Gouvernement Charkow ein gewisser Fomin verhaftet, der beschuldigt war, an einem Angriff auf Gendarmen zum Zweck der Befreiung eines politischen Gefangenen theilgenommen zu haben. Der Gouverneur Fürst Krapotkin (Bruder) (?) des socialistischen Schriftstellers, den man später aus Genf auswies) wurde schriftlich benachrichtigt, dass er mit seinem Leben dafür büssen müsse , wenn der Verklagte vor das Kriegsgericht gestellt würde. Nichtsdestoweniger wurde Fomin vor ein Kriegsgericht gestellt, aber noch ehe seiu Urtheil gesprochen war, wurde der Fürst Krapotkin beim Verlassen einer offiziellen Festlichkeit erschossen. *) Gewöhnlich wird der Galgen politischen Verbrechern zu Theil, auch wenn sie von einem Kriegsgericht abgeurtheilt worden sind. Die Führer des Militär auf'standes von 1825 unter Nikolai wurden ebenfalls gehängt. Es war nur eine Art von Gunstbezeigung, dass dem Mariuelieuteuant Suchanow der Tod durch Pulver und Blei zuerkannt wurde. üben auf die Gesetzgebung keine Einwirkung. Es ist fraglich, ob Russland Anlass hat, sich zu der Milde eines Strafrechts Glück zu wünschen, dessen Humanität sich unter Umständen gegen die ordentlichen Gerichte wendet, und das dazu führt, die Militärjustiz an die Stelle der bürgerlichen zu setzen. In dem Kriege zwischen Revolution und Staatspolizei schädigt thatsächlich die Milde der Gesetze die ordentlichen Organe der letzteren. Dass die Todesstrafe, die für alle andern Verbrechen abgeschafft ist, für politische Verbrechen wieder eingeführt ist, legt eine andere Betrachtung nahe. Indem die Regierung besondere Strafen auf den Kaisermord, auf die Angriffe gegen den Staat und gegen die Staatsvertreter setzt, liefert sie dem Auslande Gründe, die Auslieferung der Schuldigen zu verweigern. Ob derartige Verbrecher dem Kriegsgericht oder besonderen Gerichtscommissionen übergeben werden, die politischen Prozesse bleiben doch in jeder Hinsicht Ausnahmsprozesse nach Verfahren und Zusammensetzung des Gerichtshofs, wie nach dem Strafmass. Wenn die russische Regierung die Verschwörer ausserhalb des gemeinen Rechtes stellte und für sie besonders eine drakonische Gesetzgebung schuf, so vergass sie dabei, dass sie dadurch dem Auslande gegenüber ihre auf Verträge und allgemeines Recht gegründeten Auslieferungsanträge wesentlich um ihre Wirkung brachte. Das russische Strafgesetz selbst lehrt, dass ein Unterschied zwischen politischen und einfachen Verbrechen zu machen sei, ohne doch vorgesehen zu haben, dass ein derartiger Unterschied gegen gerechte Auslieferungsanträge der kaiserlichen Diplomatie geltend gemacht werden kannl). Ein moderner Staat, welcher der Todesstrafe entbehren zu können glaubt, muss dieselbe rückhaltlos abschaffen, um sich nicht eines Willerspruchs schuldig zu machen, der das öffentliche Gewissen um so tiefer verletzt, wenn — wie in Russland — der Kaisermörder wie der einfache politische Verschwörer strenger gestraft werden, als selbst der Vatermörder. Dies allein wäre ein Grund, sich mit der Abschaffung der höchsten Strafe nicht zu überstürzen; man müsste fürchten, zu ihrer Wiedereinführung auf einem Umwege gezwungen zu werden oder die Gesellschaft gewisser noch unentbehrlicher Ver-theidigungsmittel zu berauben. In Russland bleibt die Todesstrafe r) Dies ist um so zutreffender, als bei politischen Verbrechen und namentlich bei geheimen Anschlägen gegen die Person des Kaisers die fehlgeschlagenen Versuche und die einfachen Verschwörungen den ausgeführten Morden gleichgestellt und gleichcrmassen mit dem Tode bestraft werden. gesotzlich abgeschafft, nur weil Ausnahmsmassregeln statuirt werden können, weil Ukase herrschen, welche die Umgehung des Gesetzes durch einen Wechsel der Gerichtsbarkeit ermöglichen. Es ist fast wie in einigen Staaten Nordamerikas, wo die gesetzlich abgeschaffte Todesstrafe gelegentlich durch das summarische Verfahren der Lynchjustiz ersetzt wird. Wir sind hier zn einer Bemerkung veranlasst, die sich uns mehr als einmal bei der Betrachtung der Verwaltung, wie der Justiz, der Wahl der Städthäupter, wie der Friedensrichter aufdrängte. Die Gesetze Kusslands sind mitunter liberaler, demokratischer und menschlicher, als die vieler Völker des Westens; aber WO die offizielle Gesetzgebung sich unvorsichtig oder übereilt erweist, da wird sie in der Praxis von der Selbstherrlichkeit der Regierung corrigirt, die die Macht behält, das Gesetz in Anwendung zu bringen, oder nicht. Die Abschaffung der Todesstrafe war eines der Wagnisse, die sich die kaiserliche Regierung ungestraft erlauben konnte, weil sie in keinem ihrer Gesetzbücher eine absolute Fessel hat. Daher kann die Erfahrung Russlands in diesem Puncto für Staaten, die sich mit ihren Gesetzen und ihren Gerichten gleiche Freiheit nicht nehmen können, nichts beweisen. Ks wäre interessant, die Ergebnisse dieses fast hundert Jahre alten Experiments ins Auge zu fassen und zu prüfen, welche Wirkungen die Abschaffung der Todesstrafe auf das Verbrechen in Russland geübt hat. Man ist dort selbst über diese Frage nicht ganz einig. Die Einen klagen über die Milde der Gesetzgebung, die in ihren Augen nur zum Verbrechen ormuthigt; die Andern, und zwar die Mehrzahl, behaupten, das Strafgesetz habt; nur wenig Einfluss auf die Criminalistik, und nichts berechtige dazu, sich zu Gunsten des Schafots zu erklären. Der Russe, wenigstens der russische Hauer, sei, so heisst es, gewöhnlich gegen den Tod gleichgültig; auf den häuerlichen Stoioismus des Mushiks wirke die Todesstrafe nicht als ein sehr kräftiges Schreckmittel ein. In mehr als einem Puncto bieten freilich die Thatsnchen und die Statistik Material geniig für die Vertheidigung der jetzigen Gesetze. Man hat gefunden, dass die Zahl der Morde unter der Regierung Alexanders II. fast in demselben Verhältniss zu der Bevölkerungsziffer blieb, wie in einer gleichen Zeitdauer unter Nicolai (1838—1847). Der Vergleich mit den Ländern im WTesten ergieht sehr ähnliche und vielleicht überraschendere Resultate. Die offiziellen Erhebungen, die wenigstens seit 1871 sorgfältig festgestellt sind, zeigen, dass in Russland nicht mehr Morde vorkommen, als in den Ländern mit strengerem Strafgesetz. Nach der Meinung der russischen Statistiker sprechen die Ziffern sogar Loroy-Beaulieu, Kelch d. Zaren u. d, liuaaeu. II, Bd. 23 häufig mehr zu Gunsten ihres Landes, als zu Gunsten Frankreichs und Preussens1). Im Jahre 1N70 kamen auf eine Million Seelen etwas mehr als 7 Verurtheilungen wegen Mordes vor (7,4), ein Verhältniss, das auf den britischen Inseln fast genau dasselbe war (7,5). Seit der Zeit ist — soweit die Statistik des Justizministeriums zuverlässig ist — die Verhältnisszahl der Morde zur Bevölkerung die gleiche geblieben. Aus solchen Vergleichen zwischen Russland und dem Auslände würde sich scheinbar ergeben, dass nicht nur Galgen und Guillotine, sondern auch der Bildungsgrad, das politische Regime, der religiöse und wirthschaftliche Zustand der europäischen Völker auf das Verbrechen nur einen kaum bemerkbaren Einfluss üben. Das wäre eine gezwungene Schlussfolgerung, die sich leicht durch andere Vergleiche und andere Ziffern über den Haufen werfen Hesse. In diesem Puncte beweist die vergleichende Statistik wenig. Um nur einige Genauigkeit zu erlangen, müsste man auch die Zuverlässigkeit der Polizei, wie die Strenge der Gerichte in Rechnung ziehen. Nichtsdestoweniger bieten solche Ergebnisse den Gegnern der Wiedereinführung der Todesstrafe Waffen. Und diese sind sicher in der Majorität, Nirgends haben die Theorieen des Verfassers der „Soirees de St. Petersbourg" über, die providentielle Aufgabe des Henkers weniger Anklang gefunden. Die Todesstrafe ist hei den Russen um so unpopulärer, als ihre Abschaffung für einen Ehrentitel der Nation gilt. Man darf sich also nicht wundern, dass die Kechts-gelehrten Petersburgs und Moskaus fast einstimmig das Hängen und Köpfen verworfen und darin nur ein Ueberbleibsel der barbarischen Sitten der Vergangenheit sehen. Wenn die Regierung — wie es ihr mitunter zu thun gefällt — über diesen Punct eine Expertencom-mission befragte, so würde sie sicher von derselben den Rath erhalten, den blutigen Schandfleck der Hinrichtung vom russischen Boden verschwinden zu machen. Die Philanthropen werden dieses Zuge-ständniss wohl noch lange nicht erreichen; aber wenn die Regierung auch die Todesstrafe für Staatsverbrechen aufrechterhält, so scheint sie doch entschlossen, sie nicht mehr öffentlich zu vollstrecken. In einem Lande, in dem die Todesstrafe dem allgemeinen Gefühl widersteht, wo der Galgen nur noch für politische Verbrecher errichtet wird, ist der finstere Apparat der öHonflichon Hinrichtung weniger als irgendwo anders geeignet, dem Volke ein sittlich besserndes Schauspiel zu bieten. Die ruhige und stolze Haltung der Verurtheilten, ihre feierlichen Proteste haben schon wiederholt die heimlichen Sym- *) S. z. B, den „Europäischen Boten", Juli 1871 (russ.). pathieen eines Theiles der Zuschauer an den Tag treten lassen, allen aber haben die Langsamkeit des schauervollen Ceremoniels und die gewöhnliche Ungeschicklichkeit der russischen Henker Entsetzen erregt. In der Masse der grossen Städte finden die Hingerichteten immer Freunde oder Anhänger, die sie als Helden zu bewundern und Rache für sie zu schwören bereit sind. Bei einem solchen Volke, bei der Ueberspanntheit, die in der jungen Generation desselben herrscht, droht das vom Blutgerüste gegebene Beispiel ansteckend zu werden, wie der Tod der Märtyrer in den Religionsverfolgungen. Selbst die Hinrichtung der Mörder Alexanders IL scheint in den dem Zaren so ergebenen Massen weniger Schrecken als Mitleid geweckt zu haben. Daher hat die Regierung den Beschluss gefasst, soweit es möglich ist, ihren Unterthanen ein derartiges Schauspiel nicht mehr zu bieten, sondern die Galgen nur noch in Gefängnisshöfen errichten zu lassen. Wir haben hier den Werth der Gründe nicht abzuwägen, welche die meisten russischen Juristen für die Unverletzbarkeit des menschlichen Lebens ins Feld führen. Das Strafrecht hat unseres Erachtens, wie alle die Politik berührenden Wissenschaften, noch nicht ein so entscheidendes Schlusswort gesprochen, wie man es in Moskau und Petersburg behaupten will, wo man mehr als irgendwoanders den Prinzipien und der Logik treu zu bleiben sieh rühmt. In Bezug auf das Strafgesetz wie auf die andern Theile der Gesetzgebung, ja auf alle Zweige des öffentlichen Lebens haben Thatsachen und Sitten zu entscheiden, was in einem bestimmten Zeitpunct der Geschichte einem bestimmten Volke, einem bestimmten gesellschaftlichen Zustande noth thut. Erscheint im heutigen llussland diese entsetzliche und abscheuliche Todesstrafe nicht Allen als ein unentbehrliches Mitted zur Erhaltung der Ordnung und der Gesetzlichkeit, so hat das darin seinen Grund, dass die Sanftmuth des bäuerlichen Charakters, eine trotz bisweiligor Anfälle von wilder Brutalität unläugbare Sanftmuth, und besonders der Einfluss der im Volksherzen noch lebendigen Religion bessere Bürgen für die öffentliche Ordnung bieten, als das Schwert des Gesetzes. Tm Auslande wird man versucht sein, andre Erklärungen für diese Erscheinung zu suchen. Man wird fragen, ob denn die Strafe, die in Russland die höchste ist, die Strafe, welche das Gesetz über einfache Vergehen so gut, wie über Verbrechen verhängt, die Verschickung in die Eisfelder Sibiriens, ob diese Strafe nicht ebenso wirksam wie Galgen und Blutgerüst dem Arm der Uebelthäter ein Halt gebieten kann? Wenn die russischen Schwurgerichte auch nicht zur Verhängung der Todesstrafe zu greifen 23* brauchen, ist nicht die Verbannung in die fürchterlichen Einöden des Nordens für die grosse Menge eine grausamere, nicht minder ge-fürchtete Strafe, als der Tod selbst? Achtes Kapitel. Die Verschickung und die Zwangsarbeit. — Sibirien und die Ansiedelungen für Verschickte. — Zahl und Lebensweise der Verschickten der verschiedenen Kategorieen. — Sträflinge und politische Verbannte. — Wirkungen der Straf-ansicdelung. — Mängel derselben. — Nutzen ihrer Beschränkung. — Ursachen ihres Fortbestandes. — Die Gefängnisse und die Reform des Strafgesetzes. — Charakter des russischen Verbrecherthums. Sibirien geniesst auf dem ganzen Erdkreis eines Unstern Rufes, den es weniger seinem rauhen Klima, als der grossen Zahl von Verbannten, die es seit Jahrhunderten in sich aufgenommen, und all den Legenden verdankt, mit denen die Theilnabme oder die Einbildungskraft der Schriftsteller die Verschickten umwoben hat. Mit seinen weissen, stummen Einöden, mit seinen hartgefrorenen Steppen erscheint Sibirien in der Ferne als ein ungeheures Schneegefängniss, als eine Art Eishölle, ähnlich dem letzten Kreise des Inferno Dantes. Sicherlich haben wenig Länder der Erde von der Natur weniger Anziehungskraft für den Fremden erhalten. Ein Drittel seiner ausgedehnten Oberiläche gehört der Polarzone an, und weiter nach Süden macht die erhöhte Bodengestaltung das Klima oft ebenso rauh, wie im Norden, so dass selbst die Hälfte des südlichen Sibiriens für Ackerbau und Culturleben ungeeignet bleibt, Die wärmsten Landstriche, die abwechselnd dem eisigen Polarwind und dem Gluthhauch aus den Steppen Mittelasiens ausgesetzt sind, haben die mittlere Temperatur Finlands, jedoch bei bedeutend mehr continentalem Klima, das heisst bei weit grösseren Abständen zwischen den extremen Jahreszeiten, so dass den strengsten Wintern die heissesten Sommer folgen können 1). Bei all diesen Missständen bietet Sibirien dem Bewohner des Nordens weder gleiche Schrecken noch Leiden, wie den Leuten aus dem Westen und Süden Europas. Dieses Land, enterbt wie wenige J) Die mittlere Temperatur der wärmsten Stadt Sibiriens, Wladiwostok, unter dem 43. Breitengrad, südlich vom Amur am stillen Ocean, übersteigt die von Helshigfors nicht, das 17 Grad nördlicher liegt. in der Welt, ist keineswegs eine unbewohnbare Wüste; es ist im Grunde nur ein Russland höherer Potenz, ein llussland mit grösserer Kälte, in dem der Russe jedoch sehr wohl leben, schaffen und gedeihen kann. Beim TJeberschreiten des Ural empündet man keinen jähen Temperaturwechsel; wenn sie sich auch stetig verschlimmern, je weiter man von West nach Ost vordringt, sind die physikalischen und hygienischen Bedingungen doch nicht wesentlich andere. Als Verschickungsort sind die Grenzen des Polarkreises für die Russen aus Petersburg, Moskau und selbst Odessa weit weniger fürchterlich, weit weniger mörderisch, als es für die Anwohner des atlantischen und mittelländischen Meeres die üppigen Gegenden der Tropen sind, in denen die Staaten des Westens vielfach ihre Bagnos und Strafcolonien angelegt haben. Tobolsk, Tomsk und selbst Irkutsk sind für die Leute von der Newa und Wolga unendlich weniger peinvolle und weit gesundere Wohnsitze, als es für einen Franzosen zum Beispiel Cayenne, Sinnamary und Nukahiwa sind. Die unermesslichen Flussbecken des Ob, Jcnissci, Amur schliessen reichere, fruchtbarere, ja freundlichere Landstriche ein, als manche Gegenden des europäischen Russlands. Auch ist Sibirien nicht das einzige Gebiet für Verschickung; die nördlichen Gouvernements des europäischen Russlands, Archangel, Olonetz, besonders Wätka weiden häufig zum Aufenthaltsort von Verurtheilten oder zur Internirung politisch Verdächtiger benutzt. Russland fehlt es an Straforten, an natürlichen Bagnos nicht. Unter Nicolai hat der Kaukasus, unter Alexander II. Turkestan neue und weite Landstrecken der Verschickung geöffnet. Die Verschickung als Strafmittel oder als administrative Massregel ist in Russland schon sehr alt. Man könnte sie bis auf die ersten Zaren zurückführen, die Sibirien noch nicht zu ihrer Verfügung hatten, aber ganze Bevölkerungen häufig aus einem Theil ihrer Staaten in einen andern versetzten '). Unter der Regierung des Alexei Michailowitsch, des Vaters Peters des Grossen, um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, erhielt Sibirien die erste Sendung von 2) Aehn liehe Zwangs Umsiedelungen von einem Ende des Reiches zum andern linden mitunter auch jetzt noch statt. So mussten nach dem letzten russischtürkischen Kriege hunderte von Familien, ganze Stämme aus dem Kaukasus, die sich gegen den Zar empört hatten, die Berge Daghestans für die flachen und kalten Regionen Nordrusslands vertauschen. Die Mehrzahl dieser Bergbewohner wurde unter Alexauder III. 1881 wieder in ihre alte Heimath zurückversetzt. Dagegen wurden 1881 und 1882 Tausende von Juden aus Gegenden vertrieben, in denen sie fest augesiedelt waren. Verbrechern. Seit jener Zeit sind diese traurigen Karavanen sich alljährlich gefolgt und in steter Zunahme gewesen. Ursprünglich hatte die Verschickung weniger den Zweck, den Verurtheilten die Leiden eines harten Klimas aufzuerlegen, als den, die Gesellschaft oder die Regierung von Leuten zu befreien, die jene in Unordnung bringen, diese beunruhigen konnten. Daher war die Strafe einiger* massen nach der Entfernung abgestuft; je mehr die Verkehrsmittel vervollkommnet wurden, je mehr das Gebiet der nationalen Golonisation sich ausdehnte, um so weiter rückte der Verschickungsbezirk gegen Osten und Norden in das Herz der asiatischen Einöden vor. Bis auf die letzte Zeit verhängte das Strafgesetz die Verschickung (ssüilka) über die schwersten Verbrechen, wie über einfache Vergehen, wie etwa Landstreicherei. Es sind daher die kraft richterlichen Spruchs Verschickten in zwei grosse Classen getheilt: die zu Zwangsarbeit und die zu weniger strengen Strafen Verurtheilten, die, wie die politisch Verdächtigen der früheren „Dritten Abtheilung", einfach aus einem Theilo des Reiches nach dem andern, gewöhnlich aus der Mitte nach den Grenzen versetzt wurden. Zwischen jenen Zwangssträflingen und diesen Zwangscolonisten besteht gesetzlich ein grosser Unterschied, der aber seit der Regierung Nikolais stetig geringer geworden ist. Die Zwangssträflinge (ssüilno-kätorshniki) sind natürlich zumeist der Freiheit beraubt. Die Zwangsarbeiten sind an die Stelle der im .Jahre 1753 von der Kaiserin Elisabeth abgeschafften Todesstrafe getreten. Nicht zufrieden mit der Niederreissung des Schafots, lioss das russische Gesetz auch bis 1872 Zwangsarbeit auf Lebenszeit nicht zu, ihre Dauer ging nicht über zwanzig Jahr hinaus. Wenn die lebenslängliche Zwangsarbeit jetzt auch eingeführt ist, so wird sie doch praktisch fast nie angewandt, wenigstens nicht für Verbrechen gegen das gemeine Recht. Dank der Milde der Geschworenen und der Richter bleiben zwanzig Jahr das wirkliche höchste Strafmass bei Zwangsarbeiten; nach dieser Zeit wird der Sträfling in die Classe der Zwangscolonisten übergeführt. In früherer Zeit, unter Nikolai und Alexander L, verbüssten die Sträflinge ihre Strafe gewöhnlich in den Bergwerken Sibiriens, namentlich in den Silbergruben von Nertschinsk, die mehr als 200 Kilometer jenseits Irkutsks und des Baikalsees liegen. Die Verbrecher — bisweilen mit politisch Schuldigen vermischt —- arbeiteten in Ketten und blieben, wie lebendig Begrabene, Tag und Nacht in der Tiefe der feuchten Stollen, Eine schauderhafte Strafe, die nicht blos in der Gesetzgebung dem Tode gleichgestellt war! Auch die kräftigsten Naturen vermochten nicht immer den Anstrengungen und Entbehrungen dieses unterirdischen Lebens Wider- stand zu leisten. Wie bei Anwendung der Knute das gesetzliche Maximum meist wie ein bitterer Hohn erschien, so erlebten auch die Verschickten, die in die Gruben von Nertschinsk hinunterstiegen, nur höchst selten das Ende dieser zwanzig Jahre. Eine grausame Verschärfung dieser Strafverschickung ist der bürgerliche Tod, und dieser bürgerliche Tod ist in Russland kein leeres Wort; er zerreisst alle Rande der Familie. Unter Nikolai wurde mitunter den Verschickten, ja selbst ihren Kindern, sogar der Name genommen. Heute noch können die Erben des Verurtheilten sich seines Eigenthums bemächtigen, wenn dasselbe nicht conüscirt worden ist; sein Weib wird für verwitwet erklärt und darf sich wieder verheirathen. Die Kirche und die Regierung erkennen diesen Grund der Ehelösung noch an. Zur Ehre des russischen Volkes, zur Ehre der russischen Frauen insbesondere muss erwähnt werden, dass dieser bürgerliche Tod wohl mitunter zu empörenden Vorgängen Anlass gegeben, aber weitaus häufiger die edelmüthigsten Beweise der Treue geweckt hat. Nach dem Decemberaufstand von 1825, der so viele glänzende Glieder der Aristokratie nach Sibirien wandern Hess, haben Frauen von Verbannten aus den ersten Familien des Reiches, den Trubetzkoi, Naryschkiu, Wolkonski, Murawjew u. A. von dem traurigen Rechte, das ihnen das Gesetz zugestand, keineswegs Gebrauch gemacht, sondern sich die Gnade erbeten, Petersburg oder Moskau mit den eisigen Wüsteneien Ostsibiriens vertauschen zu können, wo viele den Tod fanden, andere bis in das Alter verblieben, um erst unter Alexander II. nach dreissigjährigem Exil in das Land ihrer Jugend zurückzukehren. Seitdem sind hunderte, ja tausende von Frauen aller Stände diesem edeln Beispiele gefolgt; thäte es eine nicht, so verfiele sie dem Banne der Gesellschaft. Sind die Bergwerke von Nertschinsk auch nicht aufgegeben, so beschäftigen sie jetzt doch nur eine kleine Zahl von Sträflingen, die auf der Erde leben und einer verhältnissmässigen Freiheit geniessen. Die Mehrzahl der sibirischen Sträflinge wird zu Arbeiten verwandt, die nicht besonders anstrengend sind: bald in den Staatsfabriken (sawodüi) und Salzwerken, bald beim Wegebau, bald endlich in den kleinen Werkstätten und in den Gärten. Bisweilen sind die zu Zwangsarbeiten Verurtheilten in Wirklichkeit sogar keiner regelmässigen Arbeit unterworfen. In den russischen Kerkern und Gefängnissen herrscht nur zu oft Müssiggangl). Nach den Verordnungen werden 3) ö. z. B. H. Lausdell (engl. Missionär): Through Siberia 1882. Diese Mitteilungen über die Milde oder die Fahrlässigkeit in den sibirischen Gelang- die Sträflinge nur während des ersten Viertels ihrer Strafzeit im Ge-l'ängriiss (oströg) uder in ihrer Kaserne (kasärma) festgehalten, solange sie noch zu der Classe der Prohegefangenen gehören (ispüitujemüje). Den liest ihrer Strafzeit leben sie in der Umgebung des Zuchthauses in freigemietheten Zimmern und sind nur gezwungen, sich bis Ablauf ihrer Zeit täglich in der Strafanstalt zu melden. Gewöhnlich wird ihnen das Hecht, ausserhalb des Gefängnisses zu wohnen, viel früher ertheilt; in einigen Ortschaften dürfen die Sträflinge ausserhalb wohnen, sobald sie überhaupt ein Quartier miethen können l). Dies sind nicht die einzigen Erleichterungen: die Gewohnheit hatte sich eingebürgert, den ordinären Verbrechern zehn .Monate für ein rundes Jahr anzurechnen, was die Dauer der gemilderten Zwangsarbeit noch um ein Sechstel kürzte. So war diese höchste Strafe des Strafgesetzes fast nur noch eine nominelle geworden. Die Regierung wurde zugleich beschuldigt, bald Agitatore, die gesetzlich zu Zwangsarbeit in Sibirien verurtheilt waren, in den Festungen des europäischen Russlands zurükzuhalten, bald jenseit des Ural gegen sie eine Strenge zu üben, wie sie den nach gemeinem Rechte Verurtheilten nie widerfuhr. Alles was früher den Schrecken dieser Strafe bildete, ist, wie die Knute und die Ruthen, mit der Zeit verschwunden. Das Strafgesetz, dem so diese traurigen Hülfsniittel genommen waren, und das in der praktischen Handhabung so durch Verordnungen oder Gewohnheit Verbesserl und gemildert war, wurde nach den humanen Ukasen der Kaiserinnen Elisabeth und Katharina das mildeste und nachsichtigste in Europa. Die Criminalisten setzte die Abschwächung des Strafgesetzes in Besorgniss; die Regierung fühlte sich zu schlecht ge-wafthet gegen das Verbrechen und musste daran denken , das Strafgesetz wieder wirksamer zu machen. Die Behandlung der Verschickten zweiter Classe, der zur einfachen Ansiedelung in Sibirien oder anderswo Verurtheilten, war natürlich von jeher noch milder. Sie unterliegen keiner andern Verpflichtung, als den ihnen angewiesenen Wohnsitz nicht zu verlassen. Einmal am Orte ihrer Verbannung angelangt, bleiben diese Zwangs- nissen werden von dem Franzosen E. Cotteau in einem Werke über seine jüngste Reise vom Ural nach Japan bestätigt. *) Die Gegner der Regierung haben sich oft darüber beklagt, dass diese üblichen Vergünstigungen den politischen Verbannten nicht zu gute kommen. Tschernyschewski hat beispielsweise acht Jahre in den Bergwerken von Nertschinsk arbeiten müssen. S. das Revolutionsblatt Wperod. Bd. 11, 1874. II. Theil, pag. 108. ansiedier (ssüilno-posselenzüi) fast in Freiheit unter der oft schlummernden Aufsicht einer wenig strengen und genauen Polizei. Diejenigen, die einiges Vermögen besitzen, können von ihren Einkünften leben, eine Wohnung miethen oder sich bauen lassen, Bücher und musikalische Instrumente, Pferde und Wagen besitzen und sich alle Vergnügungen gewähren, die das Klima und das Exil gestatten. Die Uebrigen können ihr altes Gewerbe wieder aufnehmen, Landbau treiben, ihre Kräfte in den Bergwerken venverthen, wo sie den freien Arbeitern Concurrenz machen. Sie gemessen die Früchte ihrer Arbeit, können Handel treiben und Grundbesitzer werden. Viele haben ihre Frauen bei sich, die sichs zur Pflicht machten, sie zu begleiten oder ihnen nachzufolgen. Die gesetzlichen Bestimmungen erleichtern die Wirth-schaftsgründungen, die eine wesentliche Milderung der Härten des Exils sind. Die Unverehelichten können verschickte Frauen oder Sibirierinnen heirathen. Jährlich opfert die Regierung eine bestimmte Summe, 2000 bis 3000 Rbl. zu Heirathskosten, welche die Ansiedler selbst nicht erschwingen können. Die Verurtheilten geben sich Feste, bei denen der Branntwein das Hauptvergnügen bildet, und laden die Soldaten und die zu ihrer Ueberwaehung eingesetzten Beamten ein. Noch mehr als im übrigen Russland, ist in Sibirien die Willkür der Staatsbeamten das Hauptübel, das auch dort sein gewöhnliches Correctiv in der Bestechlichkeit findet. Willkür und Käuflichkeit haben um so freieres Feld, als in diesen Einöden die Contrule schwieriger ist, und viele unter den Beamten Sibiriens in Ungnade gefallene Leide sind, die jenseit des Ural frühere kleine Verwaltungssünden abbüssen.*) Das Leben der Zwangsansiedler ist dem der Sibirier in ihrer Umgebung sehr ähnlich; für den Mann aus dem Volke hat es nichts besonders Schweres. So ist es vorgekommen, dass Uebelthäter ihre Schuld mit Vorbedacht beschwerten, um nur die Freiheit der Verbannung gemessen zu können. Die politischen Verbannten unterliegen der grössten Ueberwaehung und sind daher am meisten zu beklagen. Auf einen kleinen Unterhalt von 2 bis 3 Rbl. monatlich angewiesen, die ihnen nicht einmal voll zugehn, sind sie zuweilen gezwungen, sich — um leben zu können — in den Dienst der Polizei zu stellen. ]) Die Untersuchung über die Lage der Verschickten (1880 und 1881) hat mitunter entsetzliche Missbräuche aufgedeckt. Viele von den Beamten machten Ersparnisse an den Unterlialtsgeldern der Gefangenen oder der Sträflinge und unterschlugen den grössten Theil der zu diesem Zweck bestimmten Summen. In den Städten Asiens und Europas, in denen sie internirt sind, vermeiden die Einwohner sie wie räudige Schafe, weil sie sich durch den Verkehr mit ihnen zu compromittiren fürchten, während sie Spitzbuben und Defraudanten oft freundlich aufnehmen, mit denen Beamte und Kaufleute gern umgehen und schmausen.x) Für den politischen Verbannten, wie für den Mann von der Gesellschaft oder der Wissenschaft, der, plötzlich in eine Öde Gegend oder unter rohe Leute versetzt, aller Hülfsmittel der Civilisation entbehren muss, kurz, für den gebildeten Russen oder Polen, der von seinen Freunden, von seiner Familie, bisweilen von der ganzen Welt getrennt, aller Bücher und Mittheilungen beraubt wird und mit den Seinigen nur in langen Abständen correspondiren kann: für diese Leute behält die Verschickung-alle ihre Härten und Schrecken bei. Den Staatsgefangenen werden auch die nördlichsten Gegenden an den äussersten Grenzen -der russischen Niederlassungen vorbehalten. Noch in den letzten Jahren sind auf diese Weise Schriftsteller, wie Tschernyschewski,a) Schtschapuw, Chudäkow, Männer, deren Ansichten man verwerfen kann, die aber nie an einem Attentat oder an einer Verschwörung theilgenommen haben, an die Grenze des Polarlandes, mitten unter barbarische, götzendienerische Stämme, an Orte verbannt worden, in denen die Post nur ein- oder zweimal jährlich eintrifft.3) Das Schrecklichste und Mühseligste bei der Verschickung nach Sibirien ist vielleicht die Reise. Aus der Mitte Russlands, in der die Gefangenentransporte zusammengestellt werden, bis nach Turnen, der ersten Stadt in Westsibirien, sind mehr als 500 franz. Meilen (von Moskau 2075 Werst) von dort noch mehr als 500 lieues (2125 Werst) nach Ostsibirien. Früher wurde dieser trübselige Anfang der Strafe grüsstenthoils zu Fusse, unter der Knute berittener Kosaken und — ]) S. u. A. Vergissmeinnicht von Wätka (russ.). L. Leger: Nouvellcs Kindes slaves. a) Tschernyschewski, dessen Tod falschlich 1880 gemeldet wurde, ist noch in Wiluisk, einem der nördlichsten Tosten Asiens internirt. (Er ist im Jahr 1883 zum Aufenthalt in eiuem östlichen Gouvernement des europäischen Kusslands begnadigt worden. Der Uebers.) Es sind soviel Versuche gemacht, ihn zu befreien, d:iss er — wie man mich versichert hat — seine Freunde hat bitten lassen, davon abzustehen, damit seine Lage nicht noch schlimmer werde. 3) Die politischen Verbannten siud nicht immer Opfer solcher Härte gewesen; es ist vorgekommen, dass Verschickte sich nach Ablauf ihrer Strafzeit an ihrem Verbannungsort festsetzten, sei es, weil sie dort einen kleinen Besitz erworben hatten, oder weil sie Beamte derselben Regierung geworden waren, die sie ins Exil geschickt hatte. mindestens bei Zwangs Sträflingen — in Ketten und Handschellen angetreten. Man lebte von Zwieback und Gesalzenem und von den armseligen Almosen der mitleidigen Bauern und schlief auf dem feuchten Boden oder dem hartgewordenen Schnee. Die Reise dauerte ein ganzes Jahr, mitunter länger. Viele Verurtheilte oder — wie die Bauern mit wohlwollendem Euphemismus sagen: — viele „Unglückliche" (nestschästnüje) unterlagen, ehe sie den Ort erreicht hatten, an dem sie ihre Strafe abbüssen sollten. Jetzt wird die Reise grossen-theils zu Wasser zurückgelegt, in Barken und Lichterfahrzeugen, die ein Dampfer schleppt. Diese Aenderung ist — wie es heisst — durch ein Bild veranlasst worden. In einem Lande, in dem die Eeder gebunden ist, kann der Künstler thatsächlich den Leiden, die der Schriftsteller nicht beschreiben darf, durch seine Darstellung Abhülfe schafien. Ein Bild, das einen Zug von Sträflingen auf dem Wege nach Sibirien zum Gegenstand hatte, ergriff das Publikum und rührte Alexander LT., der den Transport der Verschickten zu ändern befahl. Ich bin auf der Wolga solchen Zügen von Sträflingen begegnet, die in leinene • Kittel gekleidet, auf flachen Fahrzeugen eng zusammengedrängt waren; ich glaube, sie haben bei dieser Ueberführung weniger zu leiden, als die französischen Galeerensträflinge, die im Schiffsraum über den Ocean, bu den Antipoden geschafft werden. Die Reise findet meist in der guten Jahreszeit statt, damit die Flussverbindungen der Wolga und Karna und jenseit des Ural die des Tobol, des Ob und der andern sibirischen Ströme benutzt werden können. Die Verurtheilten verbringen den Winter in den Gefängnissen des europäischen Russlands; im Frühling werden sie von allen Enden des Reichs nach Moskau gebracht, von wo aus sie über Nishni, Kasan, Perm und Tobolsk nach Asien expedirt werden. Während der Schifffahrtsperiode, vom Mai bis zum September, folgen diese beklagenswerthen Sommerkaravanen, die aus hunderten von Leuten aller Stände, jeden Alters und Geschlechts zusammengesetzt sind, in kurzen Zwischenzeiten, oft in acht oder zehn Tagen auf einander. Die Zahl der Verurtheilten der verschiedenen Katego rieen ist sehr beträchtlich. Um 1825, vor dem Regierungsantritt Nikolais, begann die Verschickung einen grossen Aufschwung zu nehmen, und seit der Zeit ist ihre Ziffer von Jahr zu Jahr gewachsen. Unter Nikolai stieg beispielsweise 1830 die Jahresziffer der Verschickten durchschnittlich etwa auf 8000, von denen fast die Hälfte Vagabunden oder von ihren Herren ausgestossene Leibeigene waren. 1830 gab es in Sibirien überhaupt 83,000 Verbannte, 1855 schätzte man ihre Zahl auf nahezu 100,000 Seelen (99,860, unter ihnen 23,000 Weiber) also ein ganzes Heer, das über ganz Sibirien verstreut war.*) Obgleich die Fälle beschränkt worden waren, auf welche die Verschickung angewandt wird, und das Gefängniss häufiger in Gebrauch kam, hat die Regierung doch von 1878 bis 1882 in jedem Sommer angefahl 12,000 Verurtheilte beiderlei Geschlechts von Moskau nach Nishni-Nowgorod abgehen lassen.a) In Nishni oder Kasan stiessen diese 12,000 auf die Haufen von der untern Wolga, fast 4000 an Kopfzahl, und zwischen Kasan und Perm lieferten die Gouvernements an der Kama ihnen neue Verstärkungen. Zu den nach Sibirien Verbannten müssen überdies noch die zu Zwangswuhnsitz in den an Asien grenzenden Gouvernements Verurtheilten hinzugerechnet werden. Seit der Mitte der Regierung Nikolais ist die Gesammtzahl der Deportirten von 8000 bis 9000 unter Alexander n. auf 16 bis 18,000 jährlich und auf mehr als 20,000 gestiegen, wenn man die Verbannungsörter ausserhalb Sibiriens mitzählt. Seit dem Anfang dieses Jahrhunderts bat sich die Verschickungszilfer versiebenfacht. Wie gross ist nun der Antheil, den die administrative Willkür iin diesen 18 oder 20,000 Verschickungen hat? Er wechselt in den verschiedenen Jahren ausserordentlich stark. Von 1861 bis 1866, zur Zeit der ersten revolutionären Agitation und des polnischen Aufstandes, war die Ziffer der politischen Verbannten sehr hoch gestiegen, um in der Mitte der Regierung Alexanders II. sehr weit hinabzugehn. Nach den Ausweisen, welche die offiziellen und offiziösen Organe veröffentlicht haben, betrug das Verhältniss 1 oder gar nur 7& °/q. In sieben Jahren von ls7l bis exclusive 1878 sollen auf administrativem Wege im Ganzen nur 1599 Personen verschickt worden sein. Und dazu soll die Mehrzahl von diesen, 1328, aus Bergvölkern des Kau- J) S. Schnitzler, Empire des Tsars. Bd. III, p. 882. Nach den neuerdings von Maximnw (Sibirien und die Zwangsarbeit, russ.) veröffentlichten Zahlen sind von 1828 bis 1858 etwas mehr als 304,000 Seelen nach Sihirieu verschickt worden, von denen nur die Hälfte Verbrecher, die gerichtlich verurtheilt worden waren. 4) Die Ziffern von 1878 vertheilten sich folgenderinassen: zu Zwangsarbeit Verurtheilte ......853 zu einfacher Verschickung Verurtheilte . . . 9847 wieder ergriffene Läuflinge....... 1064. In Moskau waren einige hundert Kranke zurückgeblieben. (Aiini. des Uebersetzes: Nach den allerneucstcn Angaben von Jandrinzew (Jan. 1884) zeigt sich seit 1807, wo "2200 Seelen verschickt wurden, eine stete Zunahme, die ihr Maximum in deu Jahren 1875 und 187G mit je 19,000 Personen erreichte.) kasus bestanden haben, die kraft besonderer Gesetze und Gründe aus ihrer Heimath fortgeführt worden seien; es wären somit in dem ganzen europäischen Russland in sieben Jahren nur 271. Personen — Russen und Polen zusammen — staats-polizeilich verschickt, d. h. durchschnittlich 38 im Jahr. Wahrlich — wenn einmal das Institut bestand — konnte die „Dritte Abtheilung" ihre Gewalt kaum mit grösserer Mässigung üben. Ereilich kam zu den nach Sibirien Verschickten eine fast gleiche Zahl von Leuten aller Art, die in den Gouvernements des europäischen Russlands internirt wurden l). Seit dem Ende des Jahres 1878 und dem Beginn der Langen Reihe von politischen Mordanfällen ist natürlich die Zahl der administrativ Verbannten in hohem Masse gewachsen. Sie hat sich 1879, 1880, 1881 sicherlich verzehnfacht, vielleicht verhundertfacht ohne dass jedoch die Ziffer der politischen Verbannten die fabelhaften Verhältnisse erreicht hätte, die ihr bisweilen im Auslande zugesprochen wurden8). Nachdem die Regierung den Versuch gemacht hatte, sich aller ihrer geheimen Gegner durch Entfernung aller Verdächtigen zu entledigen, musste sie nach wiederholten Erfahrungen zu der ITeber-zeugung gelangen, dass solche Verschickungen in grossen Massen erfolglos seien. Schon der General Loris-Melikow hatte im letzten Regierungsjahr Alexanders II. einer Anzahl von Opfern der Polizei J) Ausser den administrativ Verschickten giebt es in Sibirien eine viel grössere Classe von Zwangsansiedlern, die oft fälschlich mit den ersteren verwechselt wird: es sind die Verbannten auf Beschluss von Gemeinden oder bürgerlichen Körperschaften, denen das Hecht zusteht, ihre schlechten Glieder auszuschliessen. Die Bauergemeinden übten diesen Ostrazismis in ausgedehntem Masse, denn in den 7 Jahren vor 1S78 überstieg die Gesammtsumme der Verschickten dieser Art 36,000 also mehr als 5000 im Jahr, und diese 36,000 Verbannte aus ihrem Heimathdorf wurden von mehr als 27,000 Personen aus ihrer Familie begleitet. (Anm. des Uebers.: Jandrinzew giebt an, dass von den im Jahre J876 verschickten 19,000 Personen 51 °/o au' administrativem Wege diese Strafe erlitten. Tu diese Ziffer sind natürlich auch die von Gemeinden und Körperschaften Ausgeschlossenen einbegriffen). *) Die Regierung kennt bisweilen die Zahl der Deportirten und Internirten in Asien oder Europa nicht genau. Nach einer Mittheilung des Kegierungs-anzeigers vom September 1881 reichten die statistischen Angaben über die Internirten bis zum August 1880 zurück und waren unter der Verwaltung des Generals Loris-Melikow gesammelt. Zu dieser Zeit gab es 2873 polizeilich Internirte, diejenigen mit einbegriffen, die nicht aus ihrem gewöhnlichen Wohn» sitz entfernt worden waren. Vom 20. August 1880 bis zum 30. Januar 1881 waren 174 Personen wieder von der polizeilichen Aufsicht befreit, aber mittlerweile andere internirt worden. Im Frühling 1882 wurde die Zahl der auf administrativem Wege Verschickten auf 2600 bis 2800 geschätzt. die Freiheit wiedergegeben. Unter Alexander III. setzte der General Ignatjew eine Commission zur Revision der Acten der administrativ Verschickten ein1). Mehrere Hunderte durften in ihre Beimath zurückkehren, während andere, im Verdacht Belassene ihren Wohnsitz in der Umgebung des Baikalsees oder an den Küsten des weissen Meeres aufschlagen mussten. Wie immer hat auch in dieser Angelegenheit die Haltung der kaiserlichen Regierung in einem und demselben Jahre mehrfach gewechselt. Zeiten der »Strenge folgen rasch den Stunden der Milde, und Regungen der Humanität wechseln auf seltsame Weise mit Anwandlungen des Zornes oder der Furcht"). Die ungeheure Strafbevölkerung Sibiriens vertheilt sich auf sehr ungleiche Weise über die verschiedenen Landestheile. Das Gouvernement Tobolsk nahm bis vor Kurzem noch mehr als ein Drittel sämmtlioher Verschickten, in letzter Zeit etwa 8000 jährlich auf, Tomsk ungefähr 2500, Jenisseisk 3500, Irkutsk etwas weniger als 4000, das transbaikali.sche Gebiet und Jakutsk etwas mehr als 500. Kanin die Hälfte der Verurtheilten wurde nach Ostsibirion geschickt, obgleich dieses weit ausgedehnter und weit weniger bevölkert ist und somit sich für Strafansiedelungen mehr zu eignen scheint. Bei einem solchen Heere von Verbrechern, die über weite Strecken verstreut und meist einzeln hier und dort angesiedelt sind, ist es nicht leicht, Entweichungen zu verhindern. Man berechnet, dass ein Drittel flüchtig wird, was für Sibirien etwa 6000 Landstreicher ergiebt. Auch ergiebt sieh ein beträchtlicher Unterschied zwischen der offiziellen Zahl der Verschickung und der wirklichen Zahl der Verschickten. Am 1. Januar 1876 waren beispielsweise mehr als 51 000 Individuen als Strafansiedler in die Listen des Gouvernements Tobolsk eingetragen, die örtlichen Verwaltungsbehörden konnten aber in ihren offiziellen Berichten nur die Anwesenheit von 34 000 nachweisen. Im Gouvernement Tomsk betrug zu derselben Zeit der Ausfall 4651 Personen. In vielen Bezirken (wolost) des Gouvernements Tobolsk ') S. oben Buch II, Kap. V. Die Mehrzahl der vom General Loris-Melikow 1880 und .1881 zurückberufenen Internirten war in einem .solchen Zustande der Armuth, dass sie aus der Erlaubniss der Rückkehr keinen Vortheil ziehen konnten. Der Staat musste die Kosten ihrer Rückführung in die Heimath auf sich nehmen, aber— Dank den Schwankungen der kaiserlichen Politik — sind viele von diesen Unglücklichen nur heimgekehrt, um bald von Neuem die Reise in die Verbannung anzutreten. 2) Bis zum 1. April 1882 hatte die vom General Ignatjew eingesetzte Commission die Acten von ungefähr 0OO Verschickten geprüft, von denen etwa die Hälfte unmittelbar in Freiheit gesetzt wurde. war ein Drittel, mitunter die Hälfte der zu den Bauergemeinden verzeichneten Ansiedler verschwunden. Die Berichte der Generalgouverneure erkennen an, dass Faulheit, Trunksucht, Landstreicherei in einer grossen Zahl dieser Strafansiedlungen herrsehen, die man in der Ferne einer strengen und peinlichen Ueberwaehung unterworfen glaubtx). Unter solchen Bedingungen kann es nicht überraschen, wenn in den zu Straforten dienenden Gouvernements das Verbrechen erschreckende Dimensionen annimmt. In dem Gouvernement Tobolsk kommt durchschnittlich jährlich ein Verbrechen auf 72, im Gouvernement Tomsk eines auf 77 Verschickte. Für diese beiden Gouvernements weist die Criminalstatistik fast ein Verbrechen jährlich auf 1000 Einwohner auf. In ganz Sibirien zusammengenommen wird ein Raub auf 31000, ein Mord auf weniger als 9000 Seelen gerechnet, so dass in Russisch-Asien die polizeiliche Sicherheit etwa zehnmal geringer ist, als im westlichen Europa. Als Schule der Sittlichkeit hat somit die Verbannung keine grossen Erfolge erreicht; hat sie etwa der Sicherheit des Mutterlandes bessere Dienste geleistet, das durch ein solches System der Ausscheidung all seine schlechten Elemente auf seine asiatischen Nebenländer abzuwälzen sucht*)? Der niedrige Wall des Ural kann die tausende von Verbrechern und Abenteurern, die das Mutterland unausgesetzt hinüberführt, nicht in den Steppen oder Bergen Sibiriens zurückhalten. Da Russisch-Asien nur eine Fortsetzung des europäischen Russlands und durch kein natürliches Hinderniss von diesem getrennt ist, bildet es für die Verbannten ein weit weniger festes Gefängniss, als die Inseln und Landstriche jenseit des Oceans, die den Franzosen zu Strafcolonieen *) Von 34,293 Individuell, die 1876 die thatsächliche Stadtbevölkerung des Gouvernement Tobolsk bildeten, erklärten 2689 kein Gewerbe zu treiben, 1247 fielen .Stadt- und Landgemeinden zur Last, 13,226 waren als Vagabunden in die Zahlungslisten eingetragen, 12,502 waren von jeder Steuerzahlung befreit, und die Steuerrückstände, welche die übrigen schuldig waren, betrugen 642,000 Rbl. a) (Anni. des Uebersetzers. Zu gleichem Urtheil über die sittliche Wirkung der Verbannung gelangt auch der schon angeführte russ. Gelehrte Jandrinzew, dessen Mittheilungen einige Zahlen entnommen seien, — wäre es auch nur zum Beweise dafür, wie sehr die russischen statistischen Angaben von einander abweichen. H#rr Jandrinzew sprach in der statistischen Abtheilung der „Kais. Russ. Geographischen Gesellschaft" in Petersburg am 7. Februar 1884 über „die Verschickung nach Sibirien seit dem Jahre 1823" nach offiziellen Quellen. Nach seinen Ermittelungen kommt auf je 28 Verbannte ein Verbrechen, jährlich wird von 40 bis 50 Verbannten einer der Gefängnisshaft unterzogen.) dienen. Wie erschreckend auch von Weitem die Entfernungen scheinen, welche die sibirischen Gouvernements von dem Mittelpunct des Reiches trennen, so können sie doch die Verurtheilten nicht zurückhalten, die ihre Heimath wiedersehen oder ein Abenteuerleben wieder aufnehmen wollen. Der Kusse, wenigstens der Mann aus dem Volke, ist ein grosser Fussgänger; wenn er sieh auch nicht mit dem Engländer oder Amerikaner messen kann, die systematisch zu einem raschen Gange erzogen werden, so kann der russische Pilger bei scheinbar langsamer und träger Bewegung oft in kleinen Tagereisen die grössten Entfernungen zurücklegen. Wie die junge Sibirierin, von der Xavier de Maistre erzählt, haben viele Exilirte, die dem Bann entflohen, die ganze Ausdehnung des Reiches zu Fusse durchmessen und aus der Tiefe Asiens sich nach Moskau oder Petersburg durchgebettelt oder durchgestohlen. Alle Hindernisse, welche das com-plicirte Passsystem der freien Bewegung entgegensetzt, halten diese Flüchtlinge aus Sibirien nicht auf. In ihrem Kampfe mit der Polizei haben sie gewöhnlich das Mitleid des Volkes zum Bundesgenossen, das um der Vermischung der Verbreeher mit politischen Gefangenen und um der jahrhundertelangen Unterdrückung willen immer dahin neigt, in den Gefangenen unschuldig verfolgte Brüder zu sehen. Es giebt im Nordosten Russlands Dörfer, in denen die Bauern die Gewohnheit haben sollen, Abends ein Stück Brod und einen Krug-Wasser für die vielleicht in der Nacht vorüberwandernden Flüchtlinge vor die Thür ihrer Isba zu stellen. Die Polizei greift jährlich eine grosse Zahl dieser Flüchtlinge auf. Mehr als 10 °/o der in jedem Sommer von Moskau nach Sibirien Transportixten sind Läuilinge, die wieder eingebracht sind. Trotzdem gelingt es vielen, allen Verfolgungen zu entgehen. Man hat wiederholt in der Tiefe von Wäldern ganze Dörfer solcher „outlaws" gefunden, die den Augen der Behörden verborgen, ein steuerfreies Leben führten. Die meisten irren in den abgelegenen Landstrichen des Reichs umher oder verdingen sich als Arbeiter in den Bergwerken des Ural und Altai. Die so oft als Büttel gegen die Landstreicherei augewandte Verschickung schafft so eine neue Classe gefährlicher Landstreicher. Bei solchen Resultaten kann es nicht überraschen, dass das bis jetzt so ausgiebig angewandte System der Verbannung heutzutage als Strafe bei den Juristen und Criminalisten, wie als Colonisation bei den Politikern und Publizisten nicht gerade in Gunst steht. Sibirien, das seit Jahrhunderten den Ausschuss des russischen Volks, Verbrecher, Landstreicher, Läuilinge, vermischt mit politischen Verbrechern und religiösen Sektirern hat aufnehmen müssen, Sibirien, das eine freie Bevölkerung von vier Millionen Russen zählt, wird es überdrüssig, als eine Fontanelle des Reiches, als ein Pfuhl betrachtet zu werden, in den das europäische Russland all seine verpesteten und gefährlichen Stolle schüttet. Nach dem Vorbild des englischen Australiens beginnt das russische Asien die Sträflinge zurückzuweisen, die ihm weniger ein Zuwachs an Kraft, als eine Mehrung der Unsittlieh-keit und der Unsicherheit sind. Vielleicht konnte in einer Zeit, da man dort vorzugsweise ungefährliche politisch Verdächtige oder ruhige kirchliche Sektirer internirte, die Besiedelung aus der immer sieh wiederholenden Fluth solcher Strafeinwanderung Vortheil ziehen. Heute ist das anders. Die Zwangsansiedler halten die freien (Monisten fern. Nach dem Ausspruch eines russischen Schriftstellers hat man Sibirien, als man es zum Strafort machte, in der Vorstellung des Volkes zu einem Lande des Schreckens und Entsetzens gemacht, das Niemand gern betritt1). Die Verbannung, die man für das sicherste Mittel der Colonisation hielt, trägt die Schuld an dem langsamen Fortschreiten der russischen Colonisation in Asien. Dieser hundertjährige Zustrom unreiner und fauliger Stoffe, diese Anhäufung von Menschenkeliricht, mit dem man Sibirien zu befruchten und zu bereichern meinte, verdirbt durch seine stinkenden Ausdünstungen nur dessen Luft und verscheucht dessen Bewohner. Man ist daher bemüht, an Sibiriens Stelle für diese traurigen Strafzwecke Länder zu suchen, die weniger von Russen besiedelt und, wenn auch nicht weiter entfernt, so doch besser getrennt sind von dem Centrum des Reiches. Man hätte mit den Steppen Turkestans und den Thalern Mittelasiens einen Versuch machen können; aber man sah bald ein, dass der Wüstensand die Verurtheilten nicht so zurückzuhalten vermöge, als ein Meeresarm. Noch sind die Inseln die sichersten Straforte. Um die Entweichung zu erschweren, versetzte die Regierung ihre wichtigsten Strafcolonieen in die nebligen Einöden der grossen Insel ') Wenjukow, Bussland und der Osten, pag. 74, 75. Die meisten Verschickten haben keine Familie und nur ein kleiner Theil widmet sich dem Ackerbau. In den Landgemeinden des Gouvernements Tobolsk bebauten 9579 Verbannte in Allem nur eine Fläche von 775 Dessätüien, also 1 Dess. (1 Uekl. 9 Are) auf mehr als 40 Fers. Die Wichtigkeit dieses Ergebnisses in landwirth-schaftlicher Beziehung ist augenfällig. (Aniii. des L'ebers.: Nach .Jandrinzew befreunden sich die Verbannten mit ihrer Lage nicht und versuchen es nur sehr selten, sich eine selbständige Wirthsehaft einzurichten. Die Mehrzahl der Verbannten, denen Frauen und Kinder folgen, sind administrativ Verschickte. Ii o r u y • n e »uli « u , Koicb .1. Y.-.u-u u. d. i;,u-i u II. ad, 24 Sachalin im Norden -Japans. Mehrere tausende von Sträflingen sind bereits auf dieser „ultima thule" der alten Welt angesiedelt, deren Schneemassen reiche Kohlenlager decken. Die Heise wird von Odessa aus zu Wasser gemacht, was rascher geht und weniger kostet, als der Landweg bis zum Herzen Sibiriens. Kine merkwürdigt' Ironie lag darin, dass die ersten zu diesem Dienste verwandten Schiffe der patriotischen Klette angehörten, welche 1878 bei der Furcht vor einem Streit mit England durch Zeichnungen beschallt worden war. Die fahrt geht durch den Bosporus, den Suezkanal und über Singapore, so dass die Verschickten erst durch die glühenden Meere des Südens zu dem asiatischen Island gelangen. Wie die Verschickung seit einem halben Jahrhundert im Grossen geübt worden ist, hat sie weder in Sibirien Erfolg gehabt, dem sie nützen, noch in Hussland, das sie reinigen, noch an den Verbannten, die sie bessern sollte. Diese Kirnte, die man in Frankreich gern auf alle Rückfällige anwenden möchte, und dit' mehr als jede andere dem doppelten Zweck der moralischen Besserung und der gesellschaftlichen Vertheidigung zu entsprechen schien, hat in Russland nur traurige und entmuthigende Resultat!1 geliefert. Wie man dieses lang geübte System auch befrachte, vom Standpunct des socialen Interesses, des Verbannten oder der Colonisation überall bat es sich ohne Nutzen erwiesen. Dies steht so fest, dass man trotz seiner Bequemlichkeit dieses Entlastungsmittel wohl schon aufgegeben hätte, wenn die Polizei dessen nicht bedürfte, wenn man wüsste, was mit den politischen Gefangenen anzufangen sei. Soll die Verschickung fortdauern, so darf das nur in geringerem Massstab und unter andern Bedingungen stattlinden. Eine Revision des Strafgesetzes ist durchaus unvermeidlich geworden; sie wird das Gegengewicht gegen die Abschaffung der Körperstrafen bieten müssen, die in der Gesetzgebung eine zu grosse Rolle spielten, um aus derselben verschwinden zu können, ohne das Gesetz zu schwächen und seiner Macht zu berauben. Die Vorarbeiten zu einer Strafgesetzreform sind LS7(i einer Commission anvertraut worden, die zugleich das Strafsystem ändern und den Codex revidiren sollte. Die erste Frage war eine gerechtere Abstufung der Strafen. Die Gesetzgebung sündigt gleichzeitig nach zwei entgegengesetzten Seiten hin: durch allzu grosse Milde, gegen schwere Verbrechen und durch allzu grosse Strenge gegen kleine Vergehen. Die Bestrafung stand nicht im Verhältniss zur Schuld; Sibirien steht — wie dereinst die Ruthen als letzter Hintergrund fast jeder Verurtheilung da. Nach der neuen Stufenleiter der Strafen werden Zwangsarbeiten, wie früher, das schärfste der gewöhnlichen Strafmittel sein. Da sie an Stelle der Todesstrafe stehen, werden sie nur über die schwersten Verbrecher verhängt werden können und seltener und schärfer zugleich werden, als sie es jetzt sind. In Bezug auf die politisch Verdächtigen und die kirchlichen Seklirer wird Russland, so lange die unumschränkte Gewalt der Regierung besteht, das alte System der Ausstossung fortsetzen. Aus diesem Grunde kann Sibirien noch lange ein regelmässiges Heer von Strafansiedlern aufnehmen müssen. In den Händen der Verwaltung bleibt die Verltannimg ein Regierungsmittel. Wenn die Gerichte und die Polizei sie nur gegen schmutzige und gefährliche Fanatiker, wie die Skopzen oder Selbstverstümmler in Anwendung bringt, so hätten ihr Duldsamkeit und Menschlichkeit nichts vorzuwerfen. Man kann leider nicht sagen, dass es immer so gewesen ist. An allen äussersten Grenzen Russlands, jenseit des Ural, wie jenseit des Kaukasus findet der Reisende unschuldige Colonieen russischer Sektirer, deren ganzes Verbrechen darin liegt, dass sie Lehren oder Riten der herrschenden Kirche verwerfen. Mit dieser Zwangsansiedelung aller widersetzlichen religiösen wie politischen Elemente geräth die Regierung in Gefahr, mit der Zeit den entfernten Provinzen, namentlich Sibirien, einen gefährlichen Geist der Unabhängigkeit oder des Widerstandes einzuimpfen. Die Gefängnisshaft hat zu jeder Zeit im Strafgesetz bestanden, ist jedoch wenig in Anwendung gebracht worden. Es gab hiefür verschiedene Gründe, von denen einer den andern aufhebt. Russland, das so oft als ein grosses Gefängniss geschildert worden ist, war in Wirklichkeit arm an Gefängnissen. Es besass für die Einkerkerung seiner Verbrecher weder die alten Abteien noch die alten Schlösser Frankreichs. Die allzu wenig zahlreichen und allzu kleinen Gefängnisse sind häufig mit Angeklagten überfüllt, so dass wenig Kaum für die Verurtheilten übrig bleibt. Das erklärt sich ebenso aus den Gepflogenheiten der Polizei, wie aus den Rücksichten der Sparsamkeit. Der theueren Einkerkerung auf lange Zeit zog man die körperliche Züchtigung, die nichts kostet, oder die Verschickung nach Sibirien vor, welche scheinbar das Land von schlechten Subjecten reinigt. Wenn früher ein LJebelthäter zu Gefängnisshaft verurtheilt war und es war in den Gefängnissen kein Platz für ihn, so verabreichte man ihm fünfzig Ruthenstreichö und entliess ihn, wenn die Strafe Leicht war, nach Hause oder schickte ihn, wenn sie schwer war, nach Sibirien. Seitdem die Körperstrafe abgeschafft und die Verschickung beschränkt worden ist, so muss man mehr und mehr auf das Ge- 24* fängniss zurückgreifen. Aber wie man sich auch bemühe, neue Gefängnisse und Zuchthäuser zu bauen, so wird doch Sibirien, so lange man nicht sehr viel mehr hat, wie früher, das Auskunftsmittel der Justiz und der Regierung bleiben. Viele Klagen haben sich gegen die russischen Gefängnisse erhoben; man schildert sie als fürchterliche, verpestete Kerker, in denen die Gefangenen den härtesten und grausamsten Entbehrungen unterliegen. Derartige Bilder sind nicht überall ganz wahr.1) Die Gefängnisse, die der Reisende in den Hauptstädten kennen lernt, wenigstens die nach europäischen Mustern gebauten, unterscheiden sich wenig von den unsern. In mehr als einer Stadt ist das Hauptbauwerk ein Gefängniss, das weit über die Privathäuser hervorragt. In diesen Unstern Palästen des Verbrechens findet man die Art von architektonischem Luxus, mitunter sogar den verhältnissmässigen Oomfort, den man heutzutage den Sträflingen zu bieten sich gefällt. Im Innern des Gouvernements ist das nicht immer der Fall, da man in den alten Gebäuden aus Mangel an Raum Angeklagte und Verurtheilte in buntem Gemisch einzupferchen gezwungen ist. Die Verschwörer klagen laut über das Leben im Gefängniss und über die unmenschliche Behandlung, deren Opfer ihre Freunde dort geworden sein sollen. Nach den revolutionären Proclamationen sind die Leiden der politischen Gefangenen einer der Gründe und Erbitterung der Nihilisten und der Attentate der letzten Jahre.a) Auch die Untersuchungen der Regierung enthüllten mehr als eine empörende That-sacho. Zelle und Kost waren oft ungenügend und gesundheitsgefährlich. In einem so ausgedehnten Reiche sind bei den üblichen Mängeln der russischen Bureaukratie, bei dem Fehlen der Controle und der Oeffentlichkeit, derartige Missbräuche unvermeidlich, wenn sie auch weniger die Regel als die Ausnahme zu sein scheinen. Der Vorwurf, den wenigstens in den Provinzen die Gefängnisse zumeist 1) In Petersburg erinnern freilich die feuchten Kasematten der Peter-Paulsfestung, die heim Steigen der Newa unter dem Niveau derselben liegen, an die ..\ii>/./.\u Venedigs, deren Schrecknisse auch übertrieben worden sind. Der Ein-druck ist in Petersburg um so peinlicher, als die Kirche der Festung, in weleliei vorzugsweise Staatsgefangene sitzen, das Saint Denis der Romanows ist. Die Nähe der Gräber der Herrscher und der Zellen der Verschwörer lud für die Einbildungskraft etwas besonders Düsteres. '-) So führten in Charkow im Febr. 1879 die am Tage nach der Ermordung des Gouverneurs Fürsten Krapotkin angeschlagenen aufrührerischen Plakate als einen der Gründe seiner Einrichtung die Behandlung an, die auf seinen Befehl den politischen Gefangenen zu Theil geworden sei. verdienen, ist, wie fast überall in Kussland, der Mangel an Reinlichkeit und an sanitärer Ueberwaehung. In dieser Beziehung kann manches Gefängniss in Zeiten einer Epidemie ein Herd der Ansteckung werden. Dieser Ursache von Leiden der Gefangenen müssen bisweilen noch die Rohheit der Gefängnisswärter und fast überall die Willkür und Bestechlichkeit der Beamten hinzugefügt werden, die nichts als das Geld im Auge haben.1) In den Arresthäusern und Gefängnissen waren Unordnung und Missbrauch um so leichter, je mehr Verwirrung auf diesem wichtigen Gebiete herrschte. Das Ministerium der Justiz, das Ministerium des Innern, die „Dritte Abtheilung" hatten bis vor Kurzem noch ihre eigenen Gefängnisse mit abgesonderter Verwaltung. Um diesem Mangel an Einheitlichkeit abzuhelfen, hat man die ganze Gefängnissverwaltung in der Hand einer neuen Behörde concentrirt, die ein besonderes Comite an ihrer Spitze lud und unter die Controle von Männern gesetzt ist, welche der Kaiser ernennt.8) Mit Hülfe einer Reform des Gefängnisswesens und einer Revision des Strafgesetzes hüllt man das Verbrechen zu mindern oder wenigstens seine Zunahme aufzuhalten. Hoffnungen dieser Art sind allzu oft getäuscht worden, als dass man auf sie zu bauen wagen darf. Nicht etwa weil vom Standpunct der Criminalität aus die Lage des Reiches besonders entmuthigend wäre. Die düstern Voraussagungen aus der Zeit der Freigebung der Leibeigenen haben sich nicht erfüllt. Es hiess: wenn man das althergebrachte Band zwischen Gutsbesitzern und Bauern plötzlich zerschneide, werde man alle Verbrechen und Laster in der Nation entfesseln. Was hätte man nicht von einem %) Das Leben in den russischen Kerkern und Gefängnissen ist dereinst in lebendigen Zügen von dem Romanschriftsteller Dostojewski geschildert worden, der in seiner Jugend in einen politischen Prozess verwickelt und zu Zwangsarbeit verurtheilt wurde. Die Revue britannique brachte im Mai 1882 eine Analyse und Bruchstücke seiner „Memoiren aus dem todten Hause". Neuerdings hat ein früherer Gefangener Linevv unter dem Titel: „In den Gefängnissen" 1878—1880 interessante und erschütternde Milder aus den Haftlocalen geboten. *j Die schwere und heikle Frage des Gcfiingnissweseiis hat seit mehreren Jahren die Aufmerksamkeit der Regierung und des Publikums auf sich gelenkt. In Petersburg, Charkow, Kasan, Kiew, Nislmi-Nowgorod u. a. a. (). haben Privatvereine den Schutz der Entlassenen und der jugendlichen Gefangenen auf sich genommen oder für die letzteren Ackcrbaucolonieen zu gründen begonnen. Im Jahr 1874 hat ein Professor an der St. Petersburger Universität einen Oursus der Gefängnisswissenschaft eröffnet; man hat in der Residenz ein Muster-gefängniss gegründet, das 700 Individuen aufnehmen kann und 800 Zellen enthält. unwissenden und rohen Volke zu befürchten gehabt, das auf einmal seiner Ketten entledigt wäre? Die Thatsachen haben solche Befürchtungen nicht gerechtfertigt. Die einzelnen Verbrechen mochten wohl ihre Natur verändern, das Verbrechen an sich hat nicht zugenommen, ja, es scheint in mancher Beziehung sogar abgenommen zu haben. Bin Vergleich ist schwierig, denn die Statistik liefert hiefür nur ungenügendes Material. Neben den Vergehen und Verbrechen, die von den Gerichten abgeurtheilt wurden, hatte die Leibeigenschaft ihre besondere Criminalistik, ihre oft übersehenen und straflos bleibenden Verbrechen, wie die Angriffe der Herren auf die Gesundheit ihrer Leibeigenen oder auf die Ehre ihrer Mägde, und die Angriffe der Leibeigenen auf das Leben oder das Eigenthum ihrer Herren, Mord und Brandstiftung, häuslicher Streit, Todtschlag unter Eheleuten, die nicht zusammenpassten, weil sie zur Heirath von ihren Gutsherren gezwungen worden waren, die die hübschesten Mädchen ihren besten Dienern zu Frauen gaben. An der Criminalistik lassen sich somit die Resultate der Freigebung und der grossen Gesetze nicht bemessen, die fast alle Gebiete des nationalen Lebens berührten. Dieser scheinbar so einfache und so bequeme Massstab gestattet keinen genauen Schluss, weil er in der Periode vor den Reformen ein anderer ist, als in der Periode nach denselben. Ausser den Veränderungen im gesellschaftlichen Zustand machen die Einführung der neuen Gerichtshöfe und alle Verbesserungen im Justizwesen eine derartige Vergleichung unsicher und verwirrend. Und wenn das nicht so wäre, wenn es bewiesen wäre, dass seit der Freigebung des Volkes bestimmte Vergehen und Verbrechen merklich zugenommen haben, wäre das ein Grund die Emancipation und die Reformen zu veriirtheilen? In allen Ländern, die von tiefgehenden Bewegungen erschüttert werden, sucht die unterste Schicht der Gesellschaft, der schmutzige Schlamm derselben, an die Oberfläche zu steigen. Diese Perioden der socialen Umwandlung, wo die herkömmlichen Ideale und die alten Glaubenslehren erschüttert, die materiellen Bedingungen umgestürzt und die ständischen Scheidungen verwischt sind, diese Perioden der Veränderung und der Neugestaltung sind unbestritten der öffentlichen und privaten Sittlicji-keit in der Regel wenig günstig. So hat in Italien, dem Lande Muropas, das neben Russland in den letzten fünfundzwanzig Jahren die grössten Veränderungen erlebt hat, das Verbrechen eine erschreckende Zunahme gezeigt. Aehnliche Umwälzungen erzeugen fast überall ähnliche Wirkungen. Was in Hussland überraschen kann, ist, dass das Verbrechen nicht grössere Vorhalt 11 i>se angenommen hat. Thatsächlich hat sich in demselben keine so grosse Veränderung gezeigt, dass sich daraus klare Schlüsse ziehen Hessen. Weder nach der einen, noch nach der andern Seite hin hätten — wenn das Verbrechen den Massstab abgeben soll, — die Reformen auf die Moral eingewirkt. Unseres Krachtens erklärte sich das daraus, dass das Volk in seinem Grunde weniger tief, als man gewöhnlich annimmt, von den Gesetzen berührt worden ist, welche ihm mit der Freiheit die bürgerliche Gleichheit schenkten. Am meisten gel rollen, am stärksten erschüttert in der russischen Gesellschaft war nicht sowohl der frühere Leibeigene, als der frühere Herr, nicht sowohl das Fundament und der Untergrund der Nation, als die höhere und mittlere Schicht. Hier hat es die meisten Veränderungen und Umwälzungen, die meiste moralische und materielle Verwirrung, die meiste Störung in den Idealen, den Gewohnheiten, den Verhältnissen gegeben. So wenig sicher solche Hinweise seien, so zeigt uns doch die Verbrecherstatistik Spuren dieser socialen Verwirrung und sittlichen Zerrüttung. Prozesse und Skandale aller Art aus neuester Zeit, wilde Verbrechen und schändliche Frevelthaten, deren Vorkommen in einem bestimmten Kreise überrascht, haben uns klargelegt, welche Erschütterungen die Moral der hohen Schichten der russischen Gesellschaft erlitten hat. Daher eine besonders betrübende Erscheinung, die vielleicht nicht Russland allein eigen, drum aber nicht weniger das Symptom eine)- ernsten Krankheit ist. Die Zahl der Lesekundigen (gramotnüje), ja die Zahl der Leute von mittlerer oder höherer Bildung erscheint im Verhältniss zu den Verbrechern grosser, als im Verhältniss zu der Gesammt-zahl der Bevölkerung. Da die Statistik des Ministeriums der Volks* aufklärung weniger scharfe und detaillirfe Angaben liefert, als die des .Justizministeriums, lässt sich hierüber nichts ganz Genaues sagen, aber auf dieser Grundlage scheint es, als ob die Volksbildung bei den Küssen Dicht etwa die Neigung zum Verbrechen mindere, sondern sie vielmehr anreize. Dieses Ergehniss verdient um so grössere Beachtung, als man in Russland, wie überall, die Erfahrung macht, dass die Bildung den Trieb zu den mit Gewalttätigkeit verbundenen Verbrechen vermindert. Fasst man die verschiedenen Volksolassen und die ganze Nation zusammen, so findet man, dass die Sittlichkeit bei der Aufhebung der rohen Zucht der Leibeigenschaft durchaus nichts verloren hat. Haben die Freigebung uml die weiteren Reformen keinen besonderen Fortschritt in der Moral zu Wege gebracht, so haben sie doch zu der Entsittlichung des Volkes erst recht nicht beigetragen. Die Zitier der privaten Verl »reell en ist im Verhältniss zu der Bevölkerungszahl fast dieselbe geblieben. Dagegen haben die politischen Verbrechen namentlich in den letzten .Jahren eine erschreckende Zunahme gezeigt. Aber erklärt die Lage des Landes diese besondere Art der Verbret heu nicht? Hat daran nicht die Thatsache Schuld, dass die meisten Reformen unvollständig und tinbeendet, in der Praxis beschränkt und verstümmelt geblieben sind, so dass sie die Gemüther nicht etwa befriedigt und beruhigt, sondern einzig aufgeregt und reizbar gemacht haben? Liegt es nicht daran, dass das heutige Russland aus einem Gemisch von Xeuem und Alten, aus ganz modernen Gedanken und verbrauchten Hosten einer veralteten Vergangenheit zusammengestellt worden und deshalb zusammenhanglos und widerspruchsvoll geblieben ist, so dass tausende von begabten Geistern verwirrt und vergeblich ihren Weg in ihm suchen? Fünftes Buch. Die Presse und die Censur. Erstes Kapitel. Bedeutung der Presse in Russland. — Langdauerndes Uebergewicht der lite-rarischen Blätter über die politischen, der Monatsschriften über die Zeitungen. — EntWickelung der Zeitungen unter Alexander II. —• Vertreter des russischen Journalismus. — Das Pressgesetz. — Die Abschaffung der Präventivcensur für die Blätter der beiden Hauptstädte und für Bücher. — Administrative Strafverfügungen nach dem Muster des zweiten französischen Kaiserreichs. — Missstände dieses Systems für die Regierung. — Neue Verachärfungsmassregeln gegen die Presse. In den modernen Staaten giebt es eine furchterregende Macht, die, wie die Titanen des Mythus, wie der Riese mit hundert Armen, tausend Augen und tausend Mündern, freiwillig, aus eigenem Antrieb und ohne Entgelt bestrebt ist, die Handhabung der Gesetze zu überwachen, die Missbräuche jeder Art und selbst den Schein eines Missbrauchs der regierenden Gewalt, wie dem Publikum aufzudocken und anzuklagen. Dieser unermüdliche Argus ist die Presse, die hei all ihren Mängeln und Fehlern die Controle Aller und jedes Einzelnen über die Handlungen der Regierung und ihrer Beamten ist. Wenn nun die Reformen des Kaisers Alexander IL den Russen nicht alles Das geboten haben, was sie von ihnen erwarten zu können schienen, so ist ein grosser Theil der Enttäuschungen der Lage anzurechnen, welche diesem freiwilligen Beaufsichtiger, diesem Controleur ohne Mandat der modernen Staaten, bei ihnen angewiesen worden ist. Die durch das Gesetz bestimmte Stellung der Presse erklärt viele Mängel der Verwaltung, wie viele Widersprüche der Gesetze und der Sitten, wie endlich die Ohnmacht der Regierung seihst, das (Jute, das sie dekretirt, in Ausführung zu bringen. Es wäre falsch, anzunehmen, dass die Presse iu Hussland keine Rolle spielte, dass die öffentlichen Blätter dort nur die Handlungen der Regierung oder die ausländischen Depeschen zu verzeichnen hätten. Die russische Presse hat vielmehr seit dem Krimkrieg eine wirkliche Bedeutung; könnte es in einem autokratischen Staate noch eine andre .Macht, als die'der Regierung geben, so wäre sie diese Macht. Bei einem Volke, das alier politischen Organe entbehrt, in einem Lande, das statt einer Volksvertretung nur verstreute und isolirte Provinzial-Versammlungen besitzt, kann selbst eine bevormundete Presse in mancher Beziehung mehr wirklichen Einfluss üben, als in Staaten, in welchen die Rednerbühne und das gesprochene Wort das geschriebene Wort in die zweite Reihe verweisen. Das hat sich namentlich in kritischen Momenten in Russland schon wiederholt gezeigt, und darin liegt abermals einer von den zahlreichen Widersprüchen im russischen Staatswesen. Diese so lange in voller pJn)lbhängigkeit gehaltene Presse ist weit davon entfernt, immer servil zu sein; diese mit soviel Banden umschnürten Zeitschriften geben von Zeit zu Zeit auffallende Beweise von Kühnheit. Ihre Abhängigkeit von der Regierungsgewalt beraubt sie keineswegs alles Ansehens vor dem Lande, ja nicht einmal dessen vor den Regierenden. Das Zeitungswesen ist in Russland nicht aus eigenem Antrieb entstanden. Wie die Wissenschaft und die geschriebene uml gedruckte Literatur, ist auch die Presse von der Regierung importirt worden. Peter der Grosse war auch hierin der Urheber. Unter seinem Vater Alexei bestand bereits eine Zeitung „Curante", die von dem „Gesandt-sehaftsprikas" redigirt wurde, um der Regierung mitzutheilen, was draussen geschah. Peter gründete zuerst ein Blatt, das für (las Publikum bestimmt war. Im Jahre 170:5 führte er den künftigen Gegner der absoluten Gewalt in sein Reich ein. Diese erste Zeitung, die in unregelmässigen Zeiträumen erschien uml 1727 nach Petersburg übergeführt wurde, ist fälschlich mit der „Moskausclien Zeitung'4 verwechselt worden, die, 175b' gegründet, mit Stolz ihr mehr als hundertjähriges Bestehen an den Kopf ihrer Colonnen schreibt. Unter den Nachfolgern Peters des Grossen, namentlich unter Katharina erschienen mehrere, hauptsächlich der Literatur und Kritik gewidmete Blätter. In der ganzen ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts behielt die russische Presse wesentlich den literarischen Charakter, den sie im achtzehnten angenommen hatte. Die grosse Entwicklung der politischen Blätter beginnt erst unter der Regierung Alexanders IL, und auch unter diesem Herrscher bewahrte die Presse Einiges von dem Wesen, das ihr von ihrem Entstehen ab durch das autokratische Regiment und die öffentliche Moral eigen geworden war. Einer dieser charakteristischen Züge ist das lange Vorherrschen der Monatsschrift, der „Revue" über die Zeitung, eine natürliche Folge des Vorherrschens der Literatur über die Politik1). Unter der Regierung Alexanders I. wurden Monatsschriften gegründet, die jetzt noch — nach mehr als drei Viertel Jahrhunderten — grossen Anselms gemessen. So 1802 in Petersburg der „Europäische Bote" (Westnik Jewropiii), zuerst von Karamsin redigirt, noch jetzt das Hauptorgan des modernen Liberalismus und des westlichen (feistes. 1.80Ü entstand in Moskau der „Russische Bote" (Russki Westnik) der nach einigen slavophilen Anwandlungen unter der Re-daction Katkows das Hauptorgan der conservativen Ideen und der nationalen Bestrebungen ist.3) Russland besitzt gegenwärtig etwa 10 grosse Revuen, von denen einige 9 bis 10,000 Exemplare abziehen, eine hohe Ziffer bei solcher Concurrenz, zumal in einem Lande, wo die Zahl der Gebildeten noch beschränkt ist, und bei einer Sprache, die so wenig Leser im Auslande findet. Unter Alexander I. und namentlich unter Nikolai war die Herrschaft der Revuen unbedingt, der Politik waren diese zwar fast ganz verschlossen, dagegen allen Fragen der Philosophie, der Geschichte, der Literatur geöffnet und reich an Originalartikeln wie an Uebersetzungen aus dem Französischen, Englischen und Deutschen. In ihren Spalten lieferten sich Classiker und Romantiker, Westlinge und Slavophilen die grossen literarischen und historischen Schlachten, unter denen häufig politische Anschauungen versteckt waren, die direct zu äussern den Verfassern verboten war. In keinem Lande hat die grosse Monatspresse mehr Einfluss geübt; man kann sagen, ') Ueber den Anfang der russischen Presse, wie über den Charakter ihrer Hauptorgane s. Hisloire de la Littörature contemporaine en Russie par Courriere. a) Neben diesen beiden Zeitschriften stehen andre gleich bedeutende mit sehr verschiedenen Tendenzen, wie „Slowo", das Wort, „Russkaja fletsch", die russische Rede, „Otgoloski", das Echo, „Strana',, das Land. „Ötetschestwennüja Sapiski", Vaterländische Annaion, „Delo", die Arbeit, die beiden let/.tcrn stark von demokratischem Geiste getränkt, die „Russ", das moskowitisch-slavoj>liilc Organ Aksakows, das von 1880 ab erscheint. Es giebt ausserdem historische und fachliche Zeitschriften, wie das „Russische Archiv", die „Russischen Alterthümer", „Journal des Ministeriums der Volksauf klärung", „Kritische Revue" u. s, w. u. s. w. das heutige Russland dankt ihr die Verbreitung der Kenntnisse und Ideen in dem gebildeten Theilo der Gesellschaft. Durch sie nahm der tief in das Land unter unwissende Bauern verbannte Edelmann von seinem einsamen Gute aus an den geistigen Kämpfen Petersburgs und Moskaus theil und folgte leicht allen Erscheinungen der grossen Literatur des Westens. Die Gesetze, die Strenge der Censur, seihst die Schwierigkeiten der Verkehrsverbindungen und der Post, die im Innern des Reiches kaum einmal wöchentlich Sendungen zur Vertheilung brachte: alles dies begünstigte das Gedeihen der umfangreichen Monatsschriften auf Kosten der kleinen Tagesblätter, so dass das Wort „Journal" im Russischen die Bedeutung der „Revue", Monatsschrift erhalten hat.x) Die Eisenbahnen und Telegraphen, wie auch die milderen Pressgesetze mussten den wirklichen Tagesblättern einen bisher unbekannten Aufschwung geben. Haben die russischen Monatsschriften ihren guten Ruf bewahrt, so hat auch das Tagesblatt, die Zeitung unter Alexander IL einen sehr beträchtlichen Einfluss gewonnen. Die Belagerung Sewastopols und der polnische Aufstand, die europäischen Kriege von 1859, 1806 und 1870, die zahlreichen Reformen im Reiche haben von allen Seiten Zeitungen auftauchen oder eindringen sehen, die das Publikum über die rasch sich vollziehenden Vorgänge in Europa und Russland allein auf dem Laufenden erhalten konnten. Der letzte russisch-türkische Krieg mit seinen langen diplomatischen Vorverhandlungen und seinen plötzlichen Wechseln von Unglück und Erfolg, der Nihilismus mit seinen verwegenen Attentaten gaben der Tagespresse neuen Schwung, indem sie das Nationalgefühl und die allgemeine Neugier bis in Classen trugen, welche bisher gleichgültig gegen Ereignisse gewesen • waren, die sie nicht zu berühren schienen. 1830 besass Russland nur erst 73 periodische Blätter, 1850 hatte es bereits doppelt soviel, heute zählt es fasst 500,a) von denen ') Die Bedeutung der literarischen Monatsschriften ist um so grosser geblieben, als der Buchhandel in Bussland keineswegs dieselbe Entwicklung genommen hat, wie in den andern Ländern Europas. Es giebt in Russland nichts unsern grossen Verlagshandlungen Aehnliches. Die Redactionen der Monatsschriften vertreten dieselben mehr oder minder, während die unabhängige Buchhandlung sich mit einer untergeordneten Stellung begnügt und nur wieder druckt, was schon unter dem Schutze einer gerade in Mode stehenden Zeitschrift erschienen ist. Die Literatur ist noch weniger, als irgendwo anders, von dieser Art Leibeigenschaft frei. 2) 1882 ein wenig mehr als 600, Finland und Polen mitgerechnet, von denen jedes etwa 50 Blätter besitzt. Finland allein hatte 1880 55 Zeitungen, vou denen 30 finnisch, 24 schwedisch und nur 1 russisch waren. Zu derselben Zeit hatten ungefähr 400 in russischer, die übrigen in den verschiedenen Sprachen der Grenzländer: deutsch, polnisch, lettisch, estnisch, georgisch, armenisch und selbst hebräisch (2) erscheinen. Diese Zahl von 500 oder 600 erscheint gering im Vergleich zu der Menge periodischer Schriften bei andern modernen Völkern: sie ist ungefähr fünfmal niedriger als die der französischen Blätter und bleibt um die Hälfte hinter allen in Baris herausgegebenen Journalen aller Art zurück.!) Und was ist das im Vergleich zu den Vereinigten Staaten von Nordamerika, die sich 1882 rühmten, tausend Tagesblätter zu haben? Die verbreite tsten Blätter der Hauptstädte ziehen 20,000 bis 25,000 Exemplare ab, und die gesammte Petersburger und Moskauer Presse gebraucht vielleicht nicht soviel Papier, als ein einziges englisches Blatt, wie zum Beispiel der „Standard".2) Für Russland bleibt trotzdem der Fortschritt sehr beträchtlich, und man darf die Bedeutung einer Presse nicht nach der Zahl ihrer Organe, noch ihre Macht nach der Zahl der Seiten messen, die sie bedruckt. Die verhältnissmässig geringe Zahl der Blätter erklärt sich sowohl aus der politischen Lage, wie aus der geringen Verbreitung der Bildung. Es fehlt ganz besonders an Localblättern und Volkszeitungen. Vielleicht in keinem Lande ist die Centralisation der Presse grösser, in keinem behaupten die Blätter nach Format, Inhalt und Preis mehr einen aristokratischen oder Bourgeois-Charakter. Die grossen Blätter von den 417 russischen Blättern 155 einen offiziellen Charakter, d. Ii. sie dienten administrativen, kirchlichen oder politischen Behörden. (Anm. des Ueberset/.ers: Nach einer spätem Zusammenstellung des „Regierungsanzeigers" vom Januar 1884 bestanden in llussland im Jahre 1882 im Ganzen 776 periodische Schriften Und Zeitungen, von denen 197 in Petersburg, 75 in Moskau, 504 in 124 Städten der Gouvernements erschienen. In Petersburg wurden 63, in Moskau 22 Monatsschriften, resp. IG Wochenschriften, 19, resp. 12 Tagesblätter herausgegeben. In russischer Sprache erschienen Periodica: in den beiden Hauptstädten 249, in den Gouvernements 205, zusammen 514; polnisch 1 resp. 80 — 81, deutsch 9 resp. 30 — 45, finnisch 1 resp. 43 ss 44, schwedisch 0 resp. 39 = 39, lettisch 13, estnisch 10, armenisch 10, französisch 4 resp. 2 — 6 u. s. w. Dem Alter nach folgen sich die Zeitungen also: 1) St. Petersburger Zeitung (deutsch) jetzt im 158. Jahrgang, die russ. „St. Petershurger Zeitung", die Nachfolgerin der ersten von Peter dem Grossen gegründeten Moskauer Zeisung (Jahrg. 157), die „Moskausche Zeitung" (Jahrg. 128), die „Rigasche Zeitung" (Jahrg. 107) u. s. w. *) Nach Mermet (Annuaire de la Presse 1882) gab es in Frankreich 1343 Periodica, die in Paris gedruckt wurden, und 1929 in den Departements, a) (Anm. des Uebers.: Auch über die Zahl der Exemplare giebt der erwähnte, erst in diesem Jahre veröffentlichte, offizielle Bericht Aufschlug*. Hiernach erscheint 1 Blatt in 71,000, 1 in 25,000, 2 in 24,500 , 5 in 20,000, 7 in 10,000 bis 20,000 Exemplaren u. s. w.) sind dort bedeutend theurer, als in England oder Frankreich und etwas den Sou-Blättern Entsprechendes giebt es dort nicht. Ganz den höheren Classen geweiht, erreicht die Fresse das Volk fast gar nicht und bemüht sich offenbar wenig, bis zu diesem zu dringen. Freilich sind Sitten, Gesetze, Haltung der Regierung, ökonomische Lage des Landes dazu angethan, die Mensehen wie die Oapitalien zu entmuthigen, die sich auf solche Unternehmungen einlassen wollten. Daher wird vermuthlich die Inferiorität Russlands in dieser Beziehung noch nicht so bald ein Ende haben. Indessen weisen schon gewisse Zeichen darauf hin, dass das Arolk sich für die Presse und für die Mittheilungen der Zeitungen zu interessiren beginnt. Das Blatt, das die grösste Auflage im Reiche hat, ist von volkstümlicher Haltung, der „Sohn des Vaterlands" (Isüin Otetschestwa, Ssüiu u. s. w.). Ich bin oft überrascht gewesen, iu den „traktir's" der grossen Städte Leute aus dem Volke, Handwerker, Artelsohtschiks, Jämscht-schiks oder Lohnkutscher über Zeitungen gebeugt zu sehen, die sie bei zahllosen Glas Theo mühsam entzifferten. Selbst in die Dörfer dringt die Presse allmälieh. Das hat man im Beginn diu- Regierung Alexanders III. bei der Berufung einer Expertencomniission für eine Boform der Schänkwirthschaften gesehen. Das war eine Frage, welche die Bauern unmittelbar berührte; die in den Zeitungen reproducirten Verhandlungen der Commission fanden bei ihnen ein Echo. In manchen Dörfern erlaubte sich sogar ein Mushik, seine Meinung hierüber auf dem Wege der Presse zu äussern. Ein Spezialblatt mit Beziehungen zur Regierung, fast das einzige, das in die Dörfer gelangt, der „Landbote" (Sselski Westnik) hat im Winter von 1881 auf 1882 mehr als vierzig Briefe von Bauern veröffentlicht, die mitunter die merkwürdigsten Mittheilungen über die Schänken und das Volksleben enthielten. Der Sselski Westnik hatte in wenigen Wochen nahe an 150 Epistel dieser Art erhalten und musste seine bäuerlichen Correspondenten bitten, mit ihren Zusendungen einzuhalten. Derartige Thatsaohen sind die ersten Anzeichen einer grossen Umwandlung in den Volksgewohnheiten. In Bezug auf die grossen Zeitungen steht Russland bereits den Völkern des Continents gleich. Der „Golos" (Stimme *)), die „St. Petersburger Zeitung", die „Moskausohe Zeitung", die „Nowoje Wremä" (Neue Zeit) und einige andere, deren Namen im Westen weniger bekannt sind, geben ihren berühmteren Genossen in England, Frank- 1) (Anm. des Feuers.: Dieses bedeutendste Petersburger Blatt ist seither; auapendirt wurden.) reich und Deutschland weder an literarischer Tüchtigkeit der Redaktion, noch an Umfang ihrer Mittheilungen viel nach. Die Blätter der beiden Hauptstädte, welche den berechtigten Anspruch erheben, mit den angesehensten des Auslandes zu wetteifern, sind deshalb doch nicht genau nach dem englischen, deutschen oder französischen Vorbild zugeschnitten. Der russische Journalismus bewahrl seine Eigenart und seine besondere Physiognomie; die autoritäre Herrschaft drückt ihm natürlich einen besonderen Stempel auf. Die Polemik nimmt zwar dort allzuviel Raum ein, füllt aber durchaus nicht alle Spalten. Die Artikel haben häufig einen mehr speeulativen und doctrinären Charakter, als die im Westen, weil es gefährlicher ist, die Thatsachen, als die Meinungen, die Handlungen, als die Grundsätze der Regierung anzugreifen. Recht kleinliche Vorkommnisse, unwichtige Reformen, unbedeutende administrative Massregeln werden leicht zum Thema für lange und gelehrte Abhandlungen, denn man liebt es, überall auf die Grundlagen und auf die wissenschaftlichen Theorieen zurückzu-gelm. Beim Lesen dieser Blätter glaubt man oft, in einem Staate zu sein, in dem Alles nach den souveränen Lehren der Vernunft und Wissenschaft geregelt wird. Die socialen und ökonomischen Fragen, besonders die Fragen, welche das Wohl und die Bildung des Volkes berühren, haben in der Regel den Vortritt vor den eigentlich politischen Fragen. Die Kritik und die Literatur, die „Belletristik", wie die Russen sagen, die diesen französischen Barbarismus den Deutschen entnommen haben, nimmt in den Spalten und Feuilletons der grossen Blätter einen Ehrenplatz ein. Häufig sind diese Feuilletons einer Art Uebersicht über die Monatsschriften und namentlich der Besprechung neuer Romane gewidmet, die je nach ihrem Erscheinen in den Petersburger oder Moskauer Monatsblättern fast Kapitel für Kapitel analysirt werden. Gerichtsverhandlungen, Civil- und Criminal-prozesse nähren auch in ausgiebiger Weise die Zeitungen; diese bringen mit Vorliebe die stenographischen Berichte mit den Zeugenaussagen und den Reden der Advokaten. So ist der politische Theil verhältnissmässig beschränkt, und innerhalb desselben haben wiederum Nebenfragen, die mit geringerer Gefahr sich behandeln lassen, leicht den Vortritt vor den Hauptfragen. Die auswärtigen Angelegenheiten nehmen oft die Spalten auf Kosten der nationalen ein, von denen zu gewissen Zeiten um so weniger gesprochen wird, je ernster und brennender sie sind. Das Bedürfniss zu schreiben, und sich für etwas zu erhitzen, Lärm zu machen, um die Aufmerksamkeit des Publikums wach- zurufen, verfährt hei der Unmöglichkeit, die wichtigsten Fragen des Innern frei zu behandeln, die russischen Blätter zu einer geräuschvollen Behandlung der ausländischen Fragen und verleiht ihnen einen herausfordernden Chauvinismus. Im Ueberdruss an dem entnervenden Zustande der Gegenwart und in dem Verlangen, der lastenden Ermattung sich zu entziehen, hat wiederholt, besonders 187(3 und 1877 der grösste Theil der russischen Presse sich in eine patriotische Agitation zu Gunsten der auswärtigen Slaven geworfen. Wo sie scheinbar panslavistischen Neigungen folgt, begiebt sich die russische Presse oft nur auf das Gebiet, auf dem sie am wenigsten Schranken findet, und erhitzt sich für die einzigen Stolle, die ihr nicht verboten sind. Was die russischen Zeitungen kennzeichnet, ist nicht sowohl, dass die Politik in ihnen weniger vorherrscht und weniger kühn ist, als dass die Blätter nicht, wie bei uns, eine feste, ausschliessliche Meinung vertreten, dass sie in der Regel nicht zu einer Partei gehören, und nur deren Sprachrohr oder Advokaten abgeben, ln einem Lande ohne öffentliches oder doch ohne politisches Leben kann das kaum anders sein. Daher ist es schwer, die Presse dort in verschiedene Gruppen unter bestimmten Bannern zu theilen. Heisst das, wie in Russland mitunter behauptet wird, dass die Zeitungen nur die individuelle Meinung ihrer Redacteure vertreten? Das wäre eine Uebertreibung; die Presse rellectirt darum nicht weniger die verschiedenen Richtungen der Gesellschaft, die verschiedenen Strömungen, welche die Gesellschaft bewegen und in ihr um die Herrschaft ringen. Giebt es keine Parteien in der politischen Bedeutung des Wortes, so giebt es doch Meinungen, welche die Presse per-soniücirt und nährt. Es giebt wie überall Conservative und Liberale, Aristokraten und Demokraten, aber alle diese Benennungen haben dort weder dieselbe Klarheit, noch dieselbe Schärfe, wie in andern Ländern. Um das übliche Bild zu gebrauchen: Die russischen Blätter haben weniger ausgesprochene, weniger lebhafte, weniger freie und bleibende Farbe, als die unseren. Sie unterscheiden sich oft nur durch leichte Schattirungen von einander, die mitunter hin- und hcr-ilattern und sich verflüchtigen, und mehr als ein Blatt gefällt sich in zarten, wechselnden, unnatürlichen Tönen, wie es bis vor Kurzem auch bei den Franzosen war. Auch darin wären übrigens die Zeitungen das Organ der Gesellschaft, die vielmehr Neigungen und Bestrebungen, als feste Ueberzetigungen an den Tag legt, die in allen ihren Eindrücken und Wünschen ausserordentlich beweglich, allen Voreingenommenheiten und allen Lidtäuschungen zugänglich ist. Der Ton der russischen Presse ist natürlich ein sehr verschiedener je nach den Blättern und .den Schriftstellern, wie auch nach den Zeitläuften und der grossem uder geringeren Duldsamkeit der Regierung. Wenn sie — namentlich seit einigen Jahren - - sich auch allzuoft zu Persönlichkeiten, zu Heftigkeit und Grobheit hinreissen lässt, so hat doch die Härte, unter der sie lange hat leiden müssen, ihr eine gewisse Geschmeidigkeit und einen Tact gegeben, den sie immer wieder findet, sobald das Misstrauen der Regierung sie dazu nöthigt. Kein Land hat es weiter gebracht in der erfinderischen Kunst der Anspielungen, die errathen lassen, was unausgesprochen bleibt, der Andeutungen, die verniuthen lassen, was scheinbar in Zweifel gesetzt wird, und der Vorbehalte, die den Gedanken schärfer und pikanter machen. Die Kunst, die Ueberwaehung der offiziellen Argusaugen durch eine Verschleierung der Ideeen zu täuschen, die für den Leser durchsichtig genug ist und der Censur doch keinen Anlass zum Vorwurf bietet, das Talent, Alles klar zu machen, ohne irgend etwas deutlich zu sagen, worin sich während des zweiten Kaiserreichs in Frankreich die Prevost-Parodol und Forcade auszeichneten, musste sich in einem Lande, wo die Presse so lange gefesselt war, bis zu einem hohen Grade entwickeln. Der Kaiser Nikolai hatte die Russen hierzu trefflich erzogen. Von der Hand des Censors zugespitzt und geschtiffen halle die Feder eine so durchbohrende Schärfe gewonnen, dass sie selbst durch die Panzerringe der Censur drang. Der Leser, der zwischen den Zeilen zu lesen gewohnt war, kam mit seinem Scharfsinn dein Seh liftsteiler zu Hülfe. Unter dem Druck der denkbar schwersten Ketten findet der Gedanke, der sich zu erniedrigen und zu schmeicheln gezwungen wird, doch Auskunftsmittel, die der Journalist, der sieh frei zu bewegen gewohnt ist, nicht ahnt. Kritik und Ironie lernen es, sich unter der Maske des Löbens zu verbergen. Die verbotenen Ürtheile und Mittheilungen werden dem Publikum in der Form der Widerlegungen und der Dementis gegeben 1). Wenn die innere Politik, deren Besprechung unter Nikolai fast ganz verboten war, immernoch ein sehr unsicherer Boden ist, so bietet die fremdländische Politik ein weites Feld, auf dem sich die verschiedenen Meinungen grössere ]) „Hie wandern sich über den Fiter manchen Blattes, die Miltlieihuigcn englischer Zeitungen Lügen zu strafen", sagte mir 1890 ein Journalist. ,,l>as ist einfach eine Form, unsere Leser wissen zu lassen, was man uns zu sagen verbietet". Ks handelte sich — wenn ich nicht irre — um Enthüllungen über den Transport Verbannter von Odessa nach Sachalin. Leroy-Beaulieu, Heioh d. Zarcu u. il. Hussen. 11. Bd. 25 Bewegung gestuften und ihr Banner frei wehen lassen kennen. Unter der Adresse Frankreichs, Deutschlands, Englands, Oestreiehs wird bekämpft , was man im eigenen Hause nicht angreifen darf; man vertheidigl bei den Nachbarn die Rechte und Freiheiten, die man für sich selbst nicht laut zu fordern vermag. Trotz all dieser Hindernisse ist die russische Presse dem Lande wie der Regierung von Nutzen gewesen. Unter Alexander I. konnte sie um so grössere Dienste leisten, als das Zaudern und Schwanken einer Regierung, die oft zwischen mehreren Wegen nicht zu wählen wnsste und von verschiedenen Rathschlägen hin- und hergezogen winde, ihr aber die zweifelhaften, gesetzmässig zugestandenen Rechte hinaus lange eine Freiheit der Haltung gestattete, deren sie unter einem entschiedeneren und selhstbewussteren Regiment nicht hätte gemessen können. Abgesehen von der Parteiergreifung der Zeitungen und Zeitschriften bei der Ausarbeitung der Reformen, hat die Presse nach Massgabe ihrer Kräfte die eingerosteten Missbräuche bekämpft, welche die Wirkungen der Reformen aufhalten oder aufheben. In den ernstesten Fragen hat sie eine Selbständigkeit bewiesen, die in ihren inneren Unterscheidungen selbst sich zeigte. Wenn namentlich in Moskau mehrere Zeitungen wiederholt in unkluger Weise das Nationalgefühl erhitzten, so haben andre, auf die Gefahr hin, ihre Popularität zu verlieren, den Lockungen der allgemeinen Meinung Widerstand zu leisten und das Land vor dem Ungestüm kriegerischer Leidenschaften zu schützen gewusst. Nach dem Kriege von 1877 und L878, wie während desselben, hat die Presse wiederholt auf die Mängel der militärist Inn Organisation und der bürgerliehen Verwaltung mit einem Freimuth hingewiesen, der — in diesem Lande hervortretend — das Ausland in Erstaunen setzte. Der In bedacht und das Ungeschick der Intendanz, die Gewinnsucht und der Unterschleif der Lieferanten, das Verfahren der kaiserlichen Verwaltung in den besetzten Ländern, die Verschleuderung der Staatsgüter — das Alles wurde in den Blättern mit einer Lebhaftigkeit der Sprache an das Tageslicht gezogen, die in ihrer Rücksichtslosigkeit mitunter bis zur Ungerechtigkeit zu gehen schien l). Wenn ein Schiff auf offener See ist, steht es da den Passagieren zu, dem Kapitän Rathschläge zu ertheilen, oder die Arbeiten der ') Als Beleg dafür, WM sich die Presse in einer Zeit erlauben konnte, da sie schon minder frei war, als einige Jahre früher, verweise ich auf eine Reihe von Artikeln von Eugen lTtin in dein ,.Kur<>|>. Boten" betitelt: „In Bulgarien". (1878 u. 1879 russ.) Mannschaft zu kritisiren? In den Augen des Kaisers Nikolai und der Tschinowniks seiner Schule war die Aninassung, der Regierung rathen zu wollen, gerade so lächerlich und gerade so gefährlich. Nach den damals herrschenden bureaukratischen Ansichten wäre jeder solcher Versuch nur ein frecher Raub an den Rechten der Regierung gewesen. Wenn die Presse im Staate eine Aufgabe hatte, su war es die, das Land über die Handlungen der Staatsgewalt zu belehren, das Publikum zu unterhalten und zu belehren, doch nimmermehr der Regierung Belehrungen zu ertheilen oder sie zu überwachen. Aus Zeitungen, Monatsschriften, Büchern konnte die höchste Obrigkeit nichts lernen. Alle Beurtheilung der politischen Interessen war den Unterthancn des Zaren untersagt; sie niussten sich glücklich schätzen, wenn der Herrscher die offiziöse Presse der Erlaubniss würdigte, ihnen seine Absichten klar und deren Wohlthaten verständlich zu machen. Daher schwieg man, wieder u kränische Dichter Schewtschenko sagt, vom Ural bis zum Pruth „in allen Sprachen." Auch heute ist der Russe, wie unter Nikolai, nur ein Zuschauer seiner Regierung gegenüber, er wohnt nur dem politischen Schauspiel bei, ohne Recht die Ruhne zu betreten, auf der das Schicksal seines Vaterlands entschieden wird; doch damals war er ein stummer und ruhiger Zuschauer, dem jede Bemerkung über die Leitung des Stückes oder über das Spiel der Actenre streng verholen war. Nur Beifallklatschen war geduldet. Es war nicht nur untersagt, die Regierung, die Verwaltung, die Beamten zu kritisiren: ein Artikel der Censur unterdrückte in aller Form „jeden Vorschlag zur Verbesserung irgend eines öffentlichen Dienstes;" das wäre ein Verbrechen gegen den Geist des Gehorsams gewesen, den die Selbstherrschaft im bürgerlichen Leben, wie im militärischen einwurzeln wollte. Die Enttäuschungen des Krimkrieges musston dieser Auffassung von der Stellung der Regierenden und der Regierten einen harten Stoss geben. Weder besass die Gesellschaft jetzt mehr die vertrauensvolle Fügsamkeit vor den Befehlen von obenher, noch die bureaukratische Hierarchie den Glauben an ihre eigene Unfehlbarkeit. Daher änderte sich sowohl die Hai ding der Fresse den öffentlichen Angelegenheiten gegenüber, wie die Haltung der Regierungsbeamten gegenüber der Fresse sehr wesentlich schon vor der Umgestaltung der Pressgesetze. Unter dem Hauche des reformatorischen Geistes, der das Land bewegte, zeigten die Schriftsteller eine Kühnheit, die Staatsbeamten eine Duldsamheit, wie sie bis dahin unbekannt gewesen waren. Ein Freigniss, von dem man nur Beschränkungsmassregeln erwartet hätte, der polnische Aufstand von LS(J:i, mehrte nur die 25* Macht der Presse, indem es sie als das natürliche Organ des National-gefühls erscheinen liess, und dies in einem Zeitpunkt, wo das Land sich am Vorabend eines Krieges mit Europa glaubte. Diese unerhörte Stellung dankte die russische Presse einem Moskauer Journalisten, dem Redacteur der „Moskauschen Zeitung", der noch jetzt auf seinem Posten ist. Kann der Ausländer auch wohl die Ansichten und Abneigungen dieses Mannes nicht theilen, so wird doch Niemand die Energie und Kraft seiner Persönlichkeit in Abrede stellen wollen. Es war Herrn Katkows Verdienst, dass Russland damals das eigen-thümliche Schauspiel erlebte, eine Zeitung zum Gerichtshof und einen Schriftsteller, der keine andre Waffe, als seine Feder besass, zum Führer der Nation und Lenker der Ideeen der Staatsgewalt erhoben zu sehn. Zum ersten Male geschah es, dass die überraschte und halbwegs aus ihrer Bahn gewichene Regierung einem Zeitungsschreiber gestattete, sieh zum Lichter aufzuwerfen, als Ruthgeber ihrer Handlungen Verhältnisse und Personen zu lohen und zu tadeln und — gestützt auf die öffentliche Meinung — die ganze oflicielle Welt und das Land ohne Rücksicht auf das Tschinownikthum seinem Einfluss zu unterwerfen. Nie hat wohl ein so ungewöhnliches Schauspiel in einem absoluten Staate sich geboten. Einmal wurde die „Moskausche Zeitung" von dem Ministerium unterdrückt; aber das suspendirte Blatt hörte drum nicht auf, öffentlich zu erscheinen, der Journalist hatte schliesslich gegen den Minister gewonnen'). So war die Presse eine Macht, ohne noch ein anerkanntes Recht zu besitzen. Line mehr oder minder aufgeklärte Duldung konnte ihr auf die Dauer nicht genügen. Sie hatte in ausgedehnter Weise an der Besprechung der Reformen sich hetheiligt; es war billig, dass sie aus denselben auch für sich Vortheil zog; auch sie erwartete ihre Freigebung. Die neue Gerichtsverfassung schien ihre Ansprüche zu ermutblgen; sie wollte fortan auch nur den gewöhnlichen Gerichten unterworfen sein und — um die Kühnheit zu vollenden — wurde behauptet und gedruckt, das geschriebene Wort dürfe nur von der Jury gerichtet werden. Solche weitfliegende Hoffnungen, die seither* noch bäulig an das Licht getreten sind, mussten Enttäuschung erfahren. Statt das Schicksal der Presse der Jury und den gewöhnlichen Gerichten zu übergeben, hat die Regierung sie bis jetzt in administrativer Vormundschaft gehalten. Sie hat ihr freien Spielraum gelassen, ohne ihr Rechte zuzugestehn. Die Censur ist nicht ') Siehe älter diese Vorgänge die Arbeiten von Gh. .Ma/.ade in der Rev. d. d. M. vom 1, Nov, 18ü4 und 15, März 1866. aufgehoben worden; man hat sieh damit begnügt, ihr Gebiet-zu beschränken, imd wenn die Presse jetzt weniger von der Willkür leidet, so bleiben ihr doch die Bürgschaften des Gesetzes und der Justiz versagt. Beim Beginn ([er Censur unter Nikolai konnte die Regierung leicht liberal scheinen, ohne das Schicksal der Bücher und Zeitungen aus ihrer Hand zu geben. Nichts in Europa kommt der Strenge der seit 1828 geltenden Verordnungen gleich, nichts, den römischen Index vor der italienischen Revolution vielleicht ausgenommen, denn die weltliche Autokratie in Russland hat in Bezug auf Philosophie und Wissenschaft nie dieselbe Strenge geübt, wie in Bezug auf Politik Jede Zeitung, jede Flugschrift, jedes in- und ausländische, alte oder neue Buch unterlag der Präventivcensur. Und da die einfache Censur noch nicht genügend schien, hatte man eine Censur in zwei oder drei Graden erfunden. Im Jahr 1848 war ein höheres Comite zur Cen-sirung der Censore eingesetzt worden. Neben der gewöhnlichen Censur hatte der Kaiser Nikolai Specialcensurbehörden errichtet, welche jeden Zweig menschlicher Thätigkeit zu Überwachen hallen. So die militärische Censur, die Alexander II. wieder aufhob: so die kirchliche Censur, die noch heute besteht, und die — natürlich von Klerikern geleitet — ihre Thätigkeit auf alle die Religion und die Geistlichkeit betreffenden Schriften erstreckt. Damit dieser Gedankenpolizei nichts Gefährliches oder Unangenehmes entgehe, hatte man in ihrem Dienst das System der Arbeitsteilung und der Special]-sirung der Organe zur Anwendung gebracht. Jeder Verwaltungszweig hatte das Recht erhalten, alle Drucksachen, die ihn betrafen, zu überwachen. Dem Kriegsministerium ging Alles zu, was die Armee, dem Finanzministerium Alles, was das Staatsvermögen betraf. Selbst der Verwaltung des Gestütewesens war dieses Vorrecht nioht vorenthalten; auch sie konnte die Schriften auf ihrem Gebiete ihrer frfheilsfällung unterziehen. Als die Zeit der Eisenbahnen kam, fordorte die Directum der grossen Petersburg-Moskauer Linie aus Besorgniss vor den allzu gerechten Klagen des Publikums das Recht einer vorgängigen Prüfung aller der Veröffentlichungen, welche sich auf die Verwaltung der von ') In Rom und in Petersburg gelangte die Censur mitunter eu den gleichen kleinen Seltsamkeiten. So wurden in der Hauptstadt Russlands, wie in der Residenz des Papstes, Opern wie Wilhelm Teil und die Hugenotten nur verändert und verunstaltet zur Bühne zugelassen. S. die Arbeit des Verfassers über die päpstliche Herrschaft in dessen Buche: „Un Empereur, im Roi, un Pape. Charpeulier 1870. ihr geleiteten Staatsbahnen bezogen. Das gleiche System des Schutzes wurde auf die Universitäten und Akademieen ausgedehnt. Um von den Censoron das „Imprimatur" zu erlangen, mussten die wissen-M-Iiaf'tlichen Arbeiten der Prüfung eines Comites von Akademikern oder Professoren unterliegen. Alan kann sich vorstellen, welche Lage ein solches System der Presse uml der Literatur, den Beamten und dem Tsehinownikthum anwies. Es war für jeden Verwaltungszweig die Versicherung gegen jede Kritik, das Recht auf Nachlässigkeit, Schlendrian, Ungeschick. Alle diese Specialgerichte sind beim Beginn der Regierung Alexanders II. gefallen. Dem Gesetze nach, wenn auch nicht immer in der Wirk lieh keif, haben die verschiedenen Verwaltungen das Recht verloren, Alles, was sie selbst betrifft, unter ihre eigne Controle zu stellen. Bis auf alles Kirchliche unterliegen Schriften und Drucksachen nur noch der gewöhnliehen Censur1). 1865, im Jahre nach nach der VerÖßentlichung der neuen Gerichtsverfassung, wurde das Gesetz erlassen, das einen wesentlichen Theil der Literatur und der Presse von der Praventivoensur befreit. Ein kaiserlicher Ukas überhob alle Originalwerke von nicht weniger als zehn und alle Ueber-sotzungen von nicht weniger als zwanzig Druckbogen der besonderen Druckgenehmigung. Dasselbe Recht wurde allen Veröffenthchungen der Regierung und der gelehrten Gesellschaften, allen Ausgaben und Lebersetzungen aus den alten Sprachen zuerkannt. Titus Livius und Tacitus, Demosthenes und Plutarch durften nunmehr ohne die Verstümmelungen und Correcturen erscheinen, die Kaiser Nikolai, hierin ein Nachahmer Napoleons I., ihnen hatte zufügen lassen. Das Recht, unter der Verantwortlichkeit des Verfassers und des Herausgebers zu erscheinen, enthob die Schriften nicht jeder Controle. Jeder Rand, der ohne die Genehmigung des Censors erscheint, muss einige Tage vor seiner Ausgabe diesem übergeben weiden und kann, wenn er für gefährlich erkannt wird, conliscirt werden. Nach dem Ukas von 1865 hatten die Gerichte darüber zu entscheiden, ob diese Confiscation aufrecht erhalten, oder wieder aufgehoben werden solle. Seit 1872 hat ein Ukas, der die früher ortheilten Freiheiten beschränkt, dem Ministercomite das Recht zugewiesen, von sich aus über das Verbot und die Confiscation einer Schrift oder der Lieferung einer ') Von der Censur der Theater und der dramatischen Vorstellungen sehen wir ab; diese sind noch besonders lästigen Verordnungen unterworfen, so dass das Misstrauen der Verwaltung wohl für daß grösste Hmderniss der Entwicklung der nationalen Bühne gelten darf. Zeitschrift zu entscheiden, und dies vorbehaltlich gerichtlicher Verfolgungen gegen die Herausgeher, gegen die Verfasser und mitunter gegen die Drucker. So hoch auch die so zum obersten Gerichtshof des Gedankens und der Feder berufene Behörde stehe, so ist sie doch nur eine Verwaltungsbehörde, die ohne Process, ohne Gerichtsverhandlung und ohne Appellation durch blosse Verfügung ihr Fr-theil spricht. Die periodische und namentlich die Tagespresse wagte man nicht von der Präventivcensur zu befreien, ohne sich besondere Garantieon ihr gegenüber zu schaffen. In ihrer Verlegenheit wandten die Refor-ruatore an der Newa ihre Blicke — wie gewöhnlich — nach dem Auslande, nach der Seine hin: ihr erwünschtes Vorbild fanden sie im kaiserlichen Frankreich. Aus der Gesetzgebung des zweiten Kaiserreichs hat Russland, wie bald nachher die Türkei, die meisten seiner Verordnungen über die Presse geschöpft. Die Bande, die in Paris mit allem Scharfsinn um den Gedanken geschlungen waren, wurden in Petersburg und Konstantinopel der Nachahmung würdig befunden. In dem Augenblick, da das napoleonisohe System der Pressver-wamungen in Frankreich selbst seinem Ende entgegenging, wurde es von den Ministern des Zaren und des Sultans angenommen. Diese zwiefache Werthschätzung würde in den Augen jedes Franzosen genügen, um das Wesen einer derartigen Gesetzgebung ins rechte Licht zu stellen; aber dieselbe Institution kann in verschiedenen Ländern nicht nach gleichem Masse gemessen werden. Was in Frankreich ein Rückschritt war, war in Kussland ein Fortschritt; die russische Presse hätte sich gefreut, ganz demselben System unterworfen zu werden, dem die französische Presse so wenig Geschmack abgewonnen hat. Das Gesetz von 1865 hielt die Präventivcensur in allen Städten der Gouvernements aufrecht. Auch in den beiden Hauptstädten hob es sie nicht auf, sondern machte sie nur facultativ. Mit einem Aufwand von Scharfsinn liess man den Blättern von Petersburg und Moskau die Wahl zwischen dem alten und dem neuen System. Jedes Blatt hat zu erklären, ob es von der Praventivoensur befreit und dem System der Verwarnungen und dem neuen Strafgesetz unterworfen sein will. Man bietet der Presse die Wahl, frei den ihr drohenden Gefahren entgegenzufliegen, um plötzlich in ihrem Schwünge gehemmt, das Opfer ihrer Kühnheit zu werden, oder mit gestutzten Klügeln im Schutze der jede Ueberraschung fernhaltenden Gensur ein stilles Dasein auf platter Erde zu führen. Die grösseren Zeitschriften — Monatsschriften wie Zeitungen — haben sich selbstverständlich für das Hecht entschieden, ohne die administrative Stempelung y.u erscheinen. Dieses Hecht geniessl ein Blatt nur unter der Kriegung der sehr massigen Bürgschaft von 2500 Rbl. Mittelst ministerieller Communi-ques und Verwarnungen niachl die Regierung die »Seitensprünge diesei censurfreien Presse wieder gut. Wie in Krankreich unter dem zweiten Kaiserthum kann jede Zeitschrift nach drei Verwarnungen unterdrückt werden, doch ist dies Ausnahme, nicht Regel. Die Staatsgewalt macht hiervon einen mehr väterlichen Gebrauch einer Presse gegenüber, bei der sie einer systematischen Feindlichkeit kaum je begegnet. In der Regel begnügt sie sich bei der dritten Verwarnung mit einer Suspension auf drei oder sechs Monate und greift nur dann zur Unterdrückung der Zeitung, wenn deren Tendenzen ihr entschieden schlecht und unverbesserlich erscheinen. Eine so auf willkürliche Macht gestellte Ordnung ist ganz von der Duldsamkeit und der Freisinnigkeit der höchsten Gewalt abhängig. Die Regierung kann das Gängelband, an dem sie die Presse hält, nach ihrem Krmessen locker lassen uml fester anziehu; sie thut das nach Misstrauen oder nach Laune. Niehls ist wechselnder, als die Freiheiten, die den Zeitungen gelassen werden; was heute erlaubt ist, ist vielleicht morgen verboten. In etwa zehn Jahren hat die russische Verwaltung von ihren Befugnissen mit mehr Mässigung und Lang-muth Gebranch gemacht, als diejenige Regierung, welcher sie nachahmte. Seit dem bulgarischen Kriege und namentlich seit der ..nihilistischen4' Agitation hat sie jedoch alle Waffen in Anwendung gebracht, die sie sich vorbehalten hat. Es giebt nur wenige Zeitungen, die nicht wiederholt verwarn! oder suspendirf worden sind. In der wachsenden Neigung zu Repressivmassregeln hat sich das Ministerium des Innern die kleinlichsten und verrufensten Mittel zu nutze gemacht, die einst im kaiserlichen Frankreich gehandhabt wurden, wie das Verbot des Nummerverkaufs. Ks hat noch lästigere Straf-mittel erfunden, wie das Verbot der Inserate, die in Russland die Haupteinnahme der Presse bilden. Da die meisten russischen Blätter in den Händen von Geschäftsleuten sich befinden, die vor Allem um ihren pecuniären Vortheil bemüht sind, trifft sie diese mittelbare Geldstrafe an der empfindlichsten Stelle. Es ist dies mitunter ein Mittel, ein unbequemes Blatt auf Umwegen, durch Entziehung der Existenzmittel, todt zu machen, ohne sich das Odium einer gewallthätigen Unterdrückung aufzuladen. Ausser den durch Gesetz oder ministerielle Verordnungen bestimmten Strafmitteln hat die Regierimg überdies noch stille Mittel zu ihrer Verfügung, für deren beschränkte Verwendung man ihr Dank wissen muss. Sie kann ohne alles Aufheben den Redacteur eines Blattes zum Rücktritt zwingen 1), sie kann sich eines Journalisten entledigen, indem sie ihm die Hauptblätter verschliossen lässt, oder ihn in einer abgelegenen Stadt internirt* Von der Mitte der Regierung Alexanders IL bis zu der Regierung Alexanders III. haben die Strafmassregeln gegen die Presse mit einigen kurzen Erholungspausen stetig zugenommen. Von 1865 bis 1880 hatte die Regierung 167 Warnungen verhängt und 52 Blätter suspendirt. Von 1X72 bis 1880 war der Nummerverkauf mehr als 60mal Zeitungen entzogen worden; einige Blätter, namentlich der „Golos" waren in einem Jahn; zweimal und auf die Dauer von mehr als sechs Monaten von dieser Strafe betroffen worden2). Der durch die Massregel der Presse zugefügte, materielle Schaden ist anberechenbar. Der „Golos" behauptet, auf diese Weist; unter Alexander IL gegen 200,000 Rbl. eingebüsst zu haben. Offenbar hätten seine Collegen gleichen Prüfungen nicht Widerstand leisten können. Es haben drum auch wohl aeereditirte Blätter wiederholt ihr Erscheinen aufgeben müssen11). Selbst die Geschichte des „Golos", eines Blattes, das man in jedem andern Lande für offiziös zu halten versucht gewesen wäre, ist nur eine lange Reihe von Verwarnungen und Suspensionen. Mehrmals in den letzten Jahren Alexanders II. zum Verstummen gezwungen, wurde das Organ Krnjewskis im Juli 1881 von Alexander III. abermals auf sechs Monate suspendirt und, als es 1882 wieder an die Oeffentlichkeit trat, gleich nach seiner ersten Nummer mit einer Verwarnung belegt und des Strassen Verkaufs beraubt. So hart sie auch seien, können solche administrative Strafmittel doch wie die Consequenz eines väterlichen Regiments betrachtet werden, oft werden sie vor Ablauf des verhängten Termins wieder aufgehoben, wie etwa eine Strafe, welche die Eltern abkürzen, weil sie dem Kinde verzeihen. Und thatsächlich liehen Blätter, die so ') Was beispielsweise gegen Ende der Regierung Alexanders II. dem Re-d.'icleur Korseh von der russ. Petersburger Zeitung gesehen ist. '2) Statistische Angaben, die dem Europäischen Boten, Juni 1880, entnommen sind. ") Der „Porädok" und die „Molwa", Organe des gemässigten Liberalismus sind so nach kurzem Bestehen unter der Regierung Alexanders Iii. verschwunden. Bei solchem System ist nichts schwerer, als ein neues Blatt am Leben ZU erhalten. gestraft worden sind, oft demüthig um Gnade und schwören, in Zukunft artiger zu sein. Die Strenge der Regierung trifft nicht allein die unabhängigen Blätter mit mehr oder minder liberalen Tendenzen, denn eigentliche Opposifionsblätter kann es ja bei solchem System nicht geben: Verwarnungen und Suspendirungen fallen mitunter auch gelegentlich auf die conservativsten Organe, als wolle die Regierung in ihrer eifersüchtigen Bevormundung geflissentlich zeigen, dass sie zwischen ihren Mündeln keinen Unterschied mache. Oer „Denj", die „Moskwa", der „Grashdanin" — Blätter, die ausser jedem Verdacht der „Böswilligkeit" stehen, — sind der Reihe nach gezwungen wurden, von der Rildlläehe zu verschwinden, und so haben die Slawophilen, von allen Bussen die wenigst revolutionären, es immer schwer gehabt, sich stetig ein Organ zu erhalten. Diese Art, mittelst der ( ommuniquös und Verwarnungen die täglichen Irrthümer der Zeitungen einen nach dem andern zurechtzustellen, bringt einen grossen Uoholstand für die Regierung mit sich; die Versuchung liegt nahe, sie für alle die Meinungen verantwortlich zu machen, denen sie freien Umlauf lässt. Namentlich sieht das Ausland, das die Regierung für Herrin und Lenkerin alles Dessen hält, was im Reiche veröffentlicht wird, in Allem, was in Russland gedruckt wird, ihre Hand. Daher in Zeiten europäischer Verwickelungen die schlecht begründeten und oft für die kaiserliche Politik und Diplomatie verhängnissvollen Ürtheile. Das hat sich vor und nach dem Kriege von 1877 und 1878 bei Anlass der bittern Polemik gezeigt, die wiederholt zwischen russischen und deutschen Blättern zum Ausbruch kam. Duldet die Regierung iu der Presse Angriffe auf ausländische Ministerien, so wirft man den Ministern des Zaren vor, die nationalen Leidenschaften grosszuziehn. Die thörichten Declamationen der Zeitungsschreiber fallen auf die Regierung zurück, die in den Verdacht geräth, Allem zuzustimmen, was sie nicht verbietet. Die Gegner ihrer Diplomatie machen, als hielten sie die schreierischen Stimmen der Zeitungen für das Echo des Ministeriums des Auswärtigen. So wird diese Abhängigkeil der Presse für die Regierung, welche sie nach ihrem Belieben schweigen oder reden lässt, weniger eine Hülfe, als eine Verlegenheit1). ]) Die Regierung hat sieh daher ol'l veranlass! gesellen, der Presse ZU bedeuten, welche Haltung sie in einer bestimmten Krage einzunehmen habe. Das ist beispielsweise am IT). Oct. 1N7Ö in Bezug auf die orientalischen Angelegenheiten und abermals im August 1870 und im März 1882 in Bezug auf die Polemik mit der deutschen Kresse geschehen. Die Russen kennen ihre Zeitungen zu gut, um in ihnen nur Automaten, welche die Regierung aufzieht, oder Vertraute der kaiserlichen Kanzlei zu sehen. Sic fragen sich zwar auch bisweilen, ob nicht hinter diesem oder jenem .Blatte gelegentlich eine hohe Fersen vom Hofe oder aus der Regierung stecke. Wenn man zufällig mitten unter den strengen Massregeln, welche die Collegen treffen, ein Blatt die höchsten und peinlichsten Fragen mit Sicherheit seiner Untersuchung unterziehen sieht, vermulhel man in demselben eine Inspi-rirung von irgend einem Gliede der Regierung oder einem Rathgeber der Krone. Man denkt an eine Art von russischem La Guoronnicre, der hinter den Coulissen steht und Andern die Feder führt ')• Auch sind solche Vermuthungen nicht immer ganz grundlos, nicht etwa weil die Zeitungen oft von der Regierung benutzt werden, um die öffentliche Meinung zu sondiren, sondern weil mehrere von den ein-flussreichsten Blättern einige hochgestellte Freunde, einige machtvolle Gönner hinter sich haben, die sie gelegentlich mit ihrem Gewicht unterstützen. So erklärt Bich ein grosser Theil der Freiheiten und Licenzen, die sich zu gewissen Zeiten die hauptstädtische Presse ungestraft genommen hat. So erklären sich auch die mehr oder minder leisen Einflüsterungen, die mehr oder minder verkappten Angriffe, die öffentlich gegen die eine oder die andre Verwaltung oder Person gerichtet wurden. Was einen von den Männern am Ruder verletzte oder reizte, das erfreute bisweilen dessen Collegen oder Nebenbuhler. In den absoluten Staaten giebt es — das darf nicht vergessen werden, — weit weniger inneren Zusammenhang, als man gewöhnlieh annimmt. In Russland, wo es keine solidarischen Minister giebt, haben die Glieder der Regierung nicht immer über Sachen und Personen gleiche Ansichten oder Ürtheile. Alle solche Meinungs- und fnteressenunterschiede, alle wohl oder übel versteckten Nebenbuhlereien legen aber in die bureaukratische Bastille kleine Breschen durch die sich mit Geschick und Gewandtheit die Kritik zu gegebener Zeit einzuschleichen weiss. Ueberdies sind einige Minister liberaler oder duldsamer, als die andern. Unter der Verwaltung des Grafen Tolstoi war es beispielsweise gefährlich, an den Volksunterricht zu rühren, während man zu derselben Zeit fast ungestraft an den Finanzen mäkeln konnte. „Ihre ') Ich will beispielsweise eine Reihe von anonymen Artikeln anführen, die 1875 und IS7G von dem Generale Fadejew im „Busski Mir" veröffentlicht wurden und später unter dem Titel: „Was sollen wir sein?" (russ.) in einem Bande erschienen. Excellenz sind zu gut", stellte .Jemand in meiner (legenwart einem der höchsten Beamten dieses Ministeriums vor, „die Zeitungen missbrauchen Ihre Langmuth". End zu derselben Zeit, gegen Ende der Regierung Alexanders IE, sagte mir die Gattin eines hohen Würdenträgers vertraulich: „Mein Mann ist zu geduldig; er duldet die Hiebe der Presse. Ich werde genöthigt sein, dafür zu sorgen, dass dieses Geschwätz ein Ende nimmt". Bei den Angriffen oder Anklagen einer bisweilen nicht sehr gewissenhaften Presse ist es schwer, den loyalen Ausdruck des Patriotismus von den Anschwürzungen des Neides und den gemeinen IntrigUen zu unterscheiden. . Unter einem System der Willkür, das jedem Argwohn Baum bietet, weckt die Nachsicht, wie die Strenge der Regierung mitunter böswillige Vermuthungen. Erlaubt sich eine Zeitung ungestraft einige Kühnheiten, so ist man geneigt, in der Regierung Mitschuldige oder Helfershelfer derselben vorauszusetzen. So erregte in den Jahren 1879 und 1880, zur Zeit als der „Golos" mit allen möglichen Strafen heimgesucht wurde, die Duldsamkeit, die seinem Nebenbuhler „Nowoje Wremü" (neue Zeit) zu Theil wurde, den Argwohn, dass die Verwaltung der Censur an dem Erfolg des letzteren Blattes pecuniär interessirt sei. Es wurde sogar die Zitier der Jahreszahlungen der „Nowoje Wremü" an die Censore genannt, welche diese von der Concurrenz des „Golos" befreien sollten. Missbrauch oder Verläum-dung — das ist das Ziel, zu dem das Regiment der administrativen Willkür führt. Die revolutionären Attentate, die auf den bulgarischen Krieg folgten, haben die Lage der Presse ausserordentlich verschlimmert. Wurde auch die Präventivcensur nicht wieder eingeführt, so beraubten doch unter Alexander II. der l'kas vom April ls7!i und unter Alexander III. der „Zustand des Schutzes" die Organe des russischen Geistes jeder gesetzlichen Sicherheit. Die Generalgouverneure wurden mit dem Rechte ausgestattet, jede periodische Schrift oder Zeitung, „deren Bestrebungen für schädlich erkannt worden", zu unterdrücken, und zwar ohne irgend welche vorgängige Warnung und ohne jede Darlegung von Gründen. Diese militärischen Dictatore haben übrigens von solchem Rechte häutigen Gebrauch zu machen nicht nöthig gehabt. Minister und Generalgouverneure haben geheimere und nicht minder wirksame Büttel: sie brauchen der Presse nur offiziell anzukündigen, dass sie sich der Besprechung einer bestimmten Frage oder Massregel zu enthalten habe, Die Zeitungen hüten sich, solche Winke unbeachtet zu lassen. Die Censur kann also mittelbar, durch mündliche Mittheilungen oder schriftliche Befehle wiederhergestellt werden, und Besitzer oder Herausgeber werden in der Besorgniss um ihr Eigenthum zu den strengsten (Zensoren ihres Blattes. Verständlich genug, dass zu Zeiten, wo überall die Strafmassregeln floriren, die Regierung nicht häufiger zu Zwangsmitteln gegen eine Presse zu greifen hat, die allzu abhängig von ihr ist, um ihren Zorn zu wecken. Das Gesetz, das trotz aller Erschwerungen und Ausnahmsmass-regeln die Bestimmung hat, das Schicksal der Presse zu regeln, war als vorläufige Verordnung im Jahre 1S65 erlassen, und die Presse bat die Hoffnung nie aufgegeben, mildere Bedingungen zu erlangen. Während der nihilistist dien Krise, in der kurzen Windstille, die das Ministerium des Grafen Loris-Melikow bezeichnete, hatte die Regierung sogar beschlossen, in diesem Punote der öffentlichen Meinung einige Zugeständnisse zu machen. Eine Commission war zur Vorbereitung eines neuen Gesetzes ernannt, Zeitungsredacteuren war es gestattet, derselben ihre Beschwerden vorzulegen. Die Presse verlangte natürlich, nur den Gerichten unterstellt zu werden; wagte sie auch nicht, auf die Unterdrückung der administrativ! n Strafmassregeln zu rechnen, so hoffte sie wenigstens auf die Beschränkung und Milderung derselben. Der jähe Tod Alexanders II. hat dieser Hoffnung auf lange hinaus ein Ende gemacht. Das Provisorium, dass seit beinahe 20 Jahren besteht, kann noth lange fortdauern; Kussland hat sich daran gewöhnt und das noch in vielen antlern Dingen, als in den Press-zuständen. Untertless hat die Regierung Alexanders III. bis jetzt das Misstrauen und die (Quälereien der vorhergehenden gegen die Presse nur überboten. In einer seiner beissonden Satiren sagt der grosse Humorist Schtschedrln: „Wozu Gesetze? Was liegt den Schriftstellern (Iran, dass sie nach festen Hegeln der Gesetzgebung gemassregelt werden? Die Zeitungen sagen nichts, um so besser! Das Glück Russlands ist immer in der Stille aufgebaut worden, und darum steht es so fest" M Briefe an meine Tante. Vaterl. Annale»!. Juli LS81 u. I'. (russ.). — 398 — Zweitos Kapitel, Von don Büchern und Zeitungen, die der Präventivcensur unterliegen. — Die auswärtige t.Vnsur. - J >er Kaviar der ('ensore. — Persönliches Krlelmiss. — Strenge gegen die inländischen, niehtrussischen Sprachen. — Die Proviuzial-presse. — Ihre Abhängigkeit. — Ein Pressprozess in der Provinz. — Die Knechtschaft der localen Presse als einer der Gründe für die Erfolglosigkeit der Reformen. — Regierung und Publikum sind mangelhaft berichtet. - Folgen des zu dunsten der hauptstädtischen Presse eingeführten Monopols. Auf meiner ersten Reise in der Türkei, vor etwa fünfzehn Jahren, war ich hei meiner Landung in Pera überrascht, als mich ein Zollbeamter bat, ihm meine Bücher vorzulegen. Dieser Zöllner des Gedankens war ein junger Neger, der einige Worte französisch, italienisch und englisch Stammelte und durch einander warf. Fast Gleiches geschieht an der russischen Grenze, doch mit dem Unterschied, dass hier der Bakschisch weniger offen herrscht, und die Prüfung der Bücher nicht von unwissenden Schwarzen vollzogen wird. Die fremdländischen Bücher, die in der Person ihres Verfassers oder Herausgebers nicht verfolgt werden können, gemessen die Befreiung von der Präventivcensur nicht. Wie zu Zeiten Nikolais besteht für sie eine specielle Censur (innostrannaja zensura). Dieser auswärtigen Censur unterliegen die Bücher und Zeitungen, die in Russland eingeführt werden. An Arbeit fehlt es ihr nicht, denn die Russen lieben die Sprachen und die Literatur des Westens. Um die Mitte der Regierung Nikolais führte der Buchhandel jährlich 350,000 Bände aus dem Auslande, zumeist aus Frankreich ein '); die Mehrzahl davon gehörte freilich der frivolen, wenn nicht schlüpfrigen Gattung an, die vor der Strenge der Censore am leichtesten Gnade fand. Wenn die Zahl dieses Imports auch noch bedeutend gebliehen ist, so hat sie doch bei der Entwicklung der nationalen Literatur und Presse wohl eher ab- als zugenommen. Die auswärtige Censur hat trotzdem noch jährlich lausende von Werken zu prüfen. Sie kann sie gestatten oder verbieten; sie kann ihre Zulassung auch nur unter der Bedingung der Oensurstriehe genehmigen. Ein besonderes Blatt zeigte bis vor Kurzem die erlaubten und die verbotenen Werke dem Publikum an. fader Alexander II. erwies sich die auswärtige Censur im Allgemeinen entgegenkommend und milde, wenn sie mitunter auch eigentümliche Bedenken erhob Die radikalsten Schriften der Philosophie und Nationalökonomie, ja ') Angabe für liSüf» von Schnitzlor: Statistique de la Bussie. der Politik, namentlich die berühmtesten socialistischen Abhandlungen, konnten in Russland eingeführt und dort übersetzt werden1). Im Gegensalz zu dem römischen Index zeigte sich die russische Regierung immer weniger streng gegen Lehren und Theorieen, als gegen die Beurtheilung der Thalsachen und Personen. Das ist einer der Charakterzüge der russischen Censur, und durch diese Richtung hat sie unabsichtlich und unbewusst die Verbreitung der radikalen Theorieen begünstigt, vor denen sie das Reich schützen sollte. Auf diesem, wie auf andern Gebieten haben die letzten Jahre eine Verschärfung der Strenge eintreten lassen, ohne dass jedoch Russland aufs neue der geistigen Abschliessung des nikolaitisidien Regiments unterworfen worden wäre. Der Aufschwung der einheimischen Presse hat. natürlich die Verbreitung und den Pauliuss der auswärtigen Zeitungen vermindert. Man hat daher kein Bedenken getragen, den meisten derselben freien Zugang in das Reich zu gestatten. Ungefähr dreihundert ausländische Zeitschriften, von denen freilich zwei Drittel ohne politischen Inhalt, sind censurfrei. Erkennt man sie für verderblich oder systematisch feindlich, so verschliesst man ihnen die Thore des Reichs, wie in dem letzten orientalischen Kriege dem „Journal des Debats"2). Die ausländischen Zeitschriften, von denen einige, wie die „Revue des deux Mondes" und die „Deutsche Rundschau" einen grossen Leserkreis haben, müssen mitunter der Reizbarkeit der Censur ihren Tribut zahlen. Die beanstandeten Artikel werden nicht immer mit der Scheere ausgeschnitten, wie bis vor Kurzem unter der päpstlichen Herrschaft in Rom; man verwendet in St. Petersburg ein vervollkommnetes S3rstem. Die übelklingenden Sätze werden mit Drucker- J) Es Hesse sich beispielsweise ,,y e. a .1 ii l i a u , d. Reich d. Zaren u. Russen. II. Bd. 2ü plebejen Nationalitäten, welche die russische Politik so gern den Deutschen, Polen und Schweden entgegenstellt. Den slavischen Sprachen und Dialekten gegenüber ist ihre Taktik eine ganz andere; man bemüht sich, sie zu Gunsten der offiziellen Sprache auf den Stand des Patois hinabzudrücken Polnische Blätter dürfen ausserhalb des Weichselgebiets nicht erscheinen. In Petersburg, wo mehr als 60,000 Polen leben, untersagte die Regierung 188t die Gründung eines Blattes in dieser Sprache2). Im Königreich Polen hat das aus den Gerichten und Schulen verbminie Polnisch unter der Seheere der russischen Censur neuen Saft getrieben. Nie hat Warschau soviel Bücher und Zeitschriften in der nationalen Sprache gedruckt; aber die Zeitschriften und Bücher sind meist ausschliesslich wissenschaftlich und literarisch, und die Censur wacht aufmerksam auf die verdächtigen Schriften Galiziens und Posens3). Das Kleinrussische, das allein von vierzehn bis fünfzehn Millionen Unterthanen des Zaren gesprochen wird, ist weniger glücklich als das Polnische. Aus Furcht vor dem Erwachen (lieser Volkssprache und den föderalistischen Neigungen einiger „Ukränophilon" hat sich die Petersburger Verwaltung angelegen sein lassen, die literarische Ent-wickelung dieses wohlklingenden russistdien Provencal niederzuhalten. Ein Erlass von 187b hat alle kleinrussischen Veröffentlichungen und Uebersetzungen der Prüfung der Oberprossvorwaltung unterworfen. Ausser Kalendern und Kirchenbüchern haben seit der Zeit nur sehr wenige Werke in der. Sprache des Dnepr vor den Censoren Gnade gefunden. Die Schriftsteller, die sich des Dialekts der Ukräne bedienen wollten, mussten ihre Werke in Galizien drucken lassen. Ich ') Man zählte im Reiche ausserhalb Finland« 40 deutsche, etwa 12 lettische, 7 bis 8 estnische, 2 finnische, 4 hebräische oder jüdische, 7 armenische, 3 georgische, 4 tatarische Zeitungen oder periodische Rlätter, [Anm. des Uebers.: Es «ei gestattet, hier die neuesten olü/iellen Zahlen für 1SS2, die der Verfasser noch nicht kennen konnte, beizufügen. Ea erschienen in dem genannten Jahre in Russland Periodic.'»: 4ö deutsche, F5 lettische, 10 estnische, 10 armenische, 2 tatarische, 1 finnische, in Finland 43 finnische und 39 schwedische |. *) Anm. dea Uebers.: Das Verzeichnis* für 1882 fuhrt ein in Petersburg erscheinendes polnisches Blatt auf, das somit eben erst gegründet war. 8) Warschau allein besa-ss beim Beginn der Regierung Alexanders III. 50 periodische Blätter, von denen 10 Tages- und fast 30 Wochenblätter waren. [Anm. des Uebers.: Nach dem erwähnten Bericht des Reg.-Anzeigers erschienen in Russland tHH2 im (fanzen M Klätter in polnischer Sprache, in Warschau überhaupt 79, die nicht polnischen mitgezählt.] glaube kaum, dass es in Russland eine kleinrussische Zeitung giebt, während üestreich deren mehrere aufweistJ). Die Provinzialpressc in der Nationalspraehe ist nicht viel glücklicher. Das Gesetz von 1805, das durchaus provisorischen Charakters ist, hat alle Provinzen unter der Präventivcensur belassen. Während die Regierung in Bezug auf Verwaltung und Rechtspflege die zuerst in den Hauptstädten geprüften Einrichtungen allmälieh auf das Innere des Reichs ausgedehnt hat, ist sie in Bezug auf die Presse stillegestanden und hat ihr Werk nicht beendet. Die Lage der Provinzial-blätter ist nicht besser, als sie es unter Nikolai war, ja, in mancher Beziehung sogar noch schlimmer. Unter Nikolai stand die Censur unter dem Ministerium der Volksaufklärung, und die Provinzialcensore waren Schulinspectore oder Schuldirectore, .Männer, die nicht unmittelbar von der Verwaltung abhingen, und die — abgesehen von der Politik — für die Literatur und die Wissenschaft ein natürliches Interesse hatten. Heute sind es Beamte des Ministeriunis des Innern, meist Seeretäre aus den Kanzleien der Gouverneure, die für geistige Interessen weder Verstandniss noch Sinn haben. Diese Henker der Gedanken sind übrigens nicht weniger zu beklagen, als ihre Opfer, da sie unablässig die Polgen einer Versniininiss ihrer Wachsamkeit zu fürchten haben. Ganz von ihren Vorgesetzten abhängig, kennen sie kein anderes Gesetz, als die Ziifriedenslelhmg der Localbehörden und die Schonung der Eitelkeit und Reizbarkeit derselben. So untergeordnet diese Richter der Presse scheinen, so sind doch die Städte glücklich, die solche besitzen. Nicht alle dürfen auf diese Gunst Anspruch erheben. Es giebt im ganzen Reiche nur acht oder neun Censurcomites, die in der Regel mit Arbeit überhäuft sind. Iu den meisten Gouvernementsstädten giebt es zwar „abgetheilte Censore", aber diese sind bei jeder zweifelhaften Krage verpflichtet, den Comites Bericht zu erstatten, die ihrerseits wiederum oft die Oberverwaltung um Entscheidung fragen müssen. Und da Baschheit der Entscheidungen einer bureaukratischen Hierarchie in keinem Falle eigen ist, *) S. Bd. I, Buch II, Kap. III. Den Censoren ist eingeschärft, in den kleinrussisehen Schriften nicht blos die Gedanken, sondern auch die Hecht Schreibung zu überwachen. Sie müssen verlangen, dass diese nicht sowohl der Aussprache, sondern der gewöhnlichen russischen oder der alten Orthographie Kleinrusslands entspreche. Die Regierung Alexanders III. hat von IMSI auf 1882 ein wenig an Strenge nachgelassen; sie hat die Veröffentlichung von klein russischen Wörterbüchern und Texten zur Musik gestattet, zugleich auch einige ruthenische (russische) Zeitungen aus Galizien zugelassen, die neuerdings in Oestreich als panslavistiscli oder moskophil verfolgt werden. 2l>* kehren die Mannscripte erst nach Wochen oder Monaten in die Redaction zurück and verlieren unterwegs ihr Interesse und ihre Bedeutung für den Augenblick. Haben die Städte, in denen es Censore giebt, wenigstens das Recht, Zeitungen zu gründen? Keineswegs. Kein neues Blatt kann ohne Genehmigung ins Leben treten, und da die Präventivcensur noch keine genügende Sicherheit bot, sehen die Loealbehörden die Zahl der Zeitungen ungern wachsen, wäre es auch nur, um die Arbeitslast der Censore nicht zunehmen zu lassen oder den offiziellen Publicationen keine Concurrenz zu machen. Mit Ausnahme einiger weniger Blätter, wie der „Kiewlänin" in Kiew und der „Odessaer Hote" in Odessa, giebt es daher in den Provinzen nur offizielle oder offiziöse Blätter, die fast ebenso abhängig und servil, als bedeutungslos sind. Neben den gefügon Organen der Verwaltung linden sich nur noch Spezialblätter, Organe der Semstwos oder der Stadtverwaltungen, der Universitäten oder der Bischöfe1). Bei einer solchen aller Sicherheit beraubten Presse kann von Freiheit nicht die Hede sein. Unter dem Deckmantel der Censur wird sie von dem Lokalen Tschinownikthum vollständig beherrscht; die Sprache der Schriftsteller hängt von den Ansichten oder von der Laune der Provinzialauturitäten alt. Suweit geht mitunter die Strenge der Censur, dass es schon vorgekommen ist, dass diesen armen Zeitungen nicht allein der Abdruck des einen oder andern Artikels der hauptstädtischen Platter, sondern selbst Roproduetionon aus dem Regierungsanzeiger verboten wurden. Wie vor zwanzig Jahren trifft der Vergleich Samarins noch heute zu; in den Händen der Censore geniesst die Presse soviel Freiheit und soviel Sicherheit, wie die Maus in den Pfoten der Katze2). Nichts Traurigeres, nichts Bescheideneres als die Stellung der Journalisten in der Provinz drei oder vier grosse Städte ausgenommen. „Sie können sich," sagte mir einer, „die Verdriesslich-keiten oder vielmehr die tägliche Marter der unglücklichen Redacteure nicht vorstellen, solange sie noch naiv oder Neulinge genug sind, ihre Publicistenrolle ernst zu nehmen. Sie müssen Tag für Tag, ') Der grösste Theil der Provinzialbla'tter, etwa 70, gehören der Verwaltung, Diese „Gouvernements/.eitungen" (gubernskija wedomosti) werden in der Regel von einem Beamten des Gouverneurs redigirt. In einigen Gouvernements, wie in Kasan, haben die Gouverneure beim Beginn der Regierung Alexanders III. keine Mühe gespart , diese gehorsamen IVovoizialbläUer in ihrem Verwaltung*-kreise an die Stelle der Petersburger Zeitungen zu setzen. a) Ungedruckter Brief von J. Samarin. 22. Aug. 1862. Blatt für Blatt ihre Artikel der lokalen Censur vorlegen, oft in Bürstenabzügen, denn der Censor liest lieber Gedrucktes, als Geschriebenes. Wird der Aufsatz lange vorher eingereicht, so verliert das Blatt den Reiz der Neuheit; werden die Abzüge in der letzten Stunde vorgelegt, so kann das Blatt vielleicht nicht rechtzeitig gedruckt werden. Eine Zeitung erscheint am Morgen; der Censor hat den Abzug am Abend erhalten; er liest ihn nach dem Essen, oft im Halbschlummer und schläft bisweilen ein, ohne ihn in die Druckerei zurückgeschickt zu haben. LTnterdess wachen die Drucker, die Zeit vergeht, der Morgen graut, das Censurblatt kommt nicht zurück. Der aufgeregte Redacteur geht fieberhaft auf und ab, sendet Boten über Boten zum Censor; wehe dem Unklugen, wenn er des Wartens müde, von dem unerklärlichen Verzug erregt, in der Furcht, nicht zu rechter Zeit die Ausgabe besorgen zu können, den Auftrag ertheilt, den Druck zu beginnen, ehe er die Genehmigung dazu erhalten hat. Das erklärt das Erscheinen von Blättern mit mehreren weissen Spalten oder selbst ohne andern Text, als Anzeigen1). Gegen das Ende der Regierung Alexanders H. deckte ein Prozess all die geheimen Qualen der Redactionen auf, welche noch der Censur unterworfen sind. Es handelte sich um eines der bedeutendsten Blätter in einer Provinzialhauptstadt des Reiches, um den „Obsor" in Titus. Der Redacteur dieser Zeitung, ein Armenier oder Georgier, Namens Nikoladse, war angeklagt, durch Nöthigung die Genehmigung des localen Censors erzwungen zu haben'2). Es handelte sich einfach um ein Feuilleton, für das die Zeitung auf soviel Schwierigkeiten nicht gefasst gewesen war. Nichts Seltsameres dieser Art, als die Aussage des allzu gutmüthigen Censors — ein freuendes Bild bureaukratischer Gepflogenheiten. Es sei gestattet sie mit einigen Kürzungen zu übersetzen. „Man hatte mir," sagte der Hüter des russischen Geistes, „am Abend den Abzug eines Feuilletons mit der Ueberschrift: Sonntagsunterhaltungen gebracht. Nachdem ich es gelesen, schickte ich es in die Redaction mit dem Verbot des Abdrucks zurück und legte ') Anm. des Uebers.: Eine Censurverordnung verbietet das Weisslassen des für den Satz bestimmten Raumes, es darf keine erkennbare Spur von der geübten Thätigkeit des Censors in der Zeitung zurückbleiben. Audi die Anzeigen werden censirt, doch nicht von dem Censor, sondern von dem örtlichen Polizeimeister, was Störungen, wie die oben geschilderte noch viel leichter macht, da dieser Beamte sehr beschäftigt zu sein pflegt und nicht regelmässig auf seinem Bureau zu treffen ist. a) S. den Bericht über diesen Prozess im Golos 27. Jan, 1879, mich schlafen. Ks war etwa zwei Uhr Morgens. Eine Stunde später wurde ich durch die Hausglocke geweckt. Ich trete auf den Balkon und frage, wer da sei. Es war der Redacteur des Obsor, Herr Nikoladse. — Ich komme, um Sie zu fragen, sagt er mir, warum Sie unser Feuilleton verbieten. — Offenbar habe ich meine Gründe — sage ich — aber jetzt ist nicht die Zeit, sie anzugeben. Wenden Sie sich an das Censuroomite. — Da Herr Nikoladse darauf bestand, die Gründe des Verbots sofort zu erfahren, zog sich unsere Unterhaltung eine Viertelstunde hin, ich auf dem Balkon, er auf der Strasse. Endlich erklärte ich ihm, dass ich ihn nicht einlassen werde, und ging in mein Zimmer. — Ich werde Sie schon zwingen zu öffnen, schrie er mir von unten zu und fing an zu klopfen und zu spektakeln. In der Nachbarschaft wohnen Leute, mehrere Herrschaften, der Herr N. und der Herr N. N., der Lärm erweckte sie. An den Fenstern auf den Baikonen erschienen Leute, man glaubte, ich sei von Räubern überfallen. Aus Furcht vor einem öffentlichen Skandal war ich gezwungen, aufs Neue auf meinen Balkon zu treten; ich erklärte Herrn Nikoladse, seine Aufregung mache es mir unmöglich, ihn einzulassen. — Fürchten Sie nichts, sagte er, ich werde ruhig sein. — So öffnete ich ihm selbst, denn meine Magd schlief. Als er eingetreten war, bat mich Herr Nikoladse um ein Glas Branntwein zu seiner Beruhigung, und wir begannen das Feuilleton zusammen zu lesen. Er stritt so heftig, wurde so halsstarrig, ging mir so gewaltsam zu Leibe, dass ich endlich sein Feuilleton, freilich mit einigen Aenderungen, genehmigte, obgleich ich es für besser hielt, es zu verbieten. Ich versichere Sie, ich bin bei der Erlaubniss zum Druck nur dem Zwange gewichen.'1 Der arme Teufel von Censor that also aus Furcht vor seiner Verantwortlichkeit sein Möglichstes, um seine Schwäche und Milde zu entschuldigen. Der Angeklagte, der zähe Redacteur, vertheidigtc sich mit viel Geschick. Er erklärte seinen Respekt vor den Press-gesetzen und beklagte sich nur über die persönliche Willkür der Censore, über ihre Launen und ihre bösen Stimmungen, mit denen man bei jeder Nummer rechnen muss. „Und bedenken Sie, sagte er, „dass wir auf diese Weise 305 Entscheidungen im Jahr, 365 Genehmigungen erhalten müssen, die grösstenteils nur im Fluge erreicht werden können/1 Der Angeklagte wurde zum Ankläger. Zur Ehre seiner Richter wurde er freigesprochen, und was die merkwürdige Mischung von Freiheit und Willkür kennzeichnet, die in Russland so häutig ist, diese ganze Geschichte und diese Verhandlungen wurden mit Genehmigung der Censore ausführlich in der angeklagten Zeitung erzählt, von wo sie in die Petershurger Blätter übergingen, um die Reise durch das Reich zu machen. Man darf indess nicht glauben, dass die Censur sich geschlagen gab, oder dass ihre einmalige Nachsicht sie für die Zukunft entwaffnete. Nur wenige Wochen nach diesem Siege zeigte der „Obsor" von Tiflis an, dass Gründe, die „von dem Willen seiner Redacteure unabhängig" seien, ihn zwängen, sein Erscheinen auf unbestimmte Zeit einzustellen Derartige Erklärungen sind nicht selten und Jedermann verständlich. Der starrköpfige Armenier hatte schliesslich den Kampf aufgegeben; so machen es in kurzer Zeit alle Zeitungen, welche vermessen genug sind, ihre Unabhängigkeit mit der Censur vereinigen zu wollen. Dieser Eall ist freilich selten: die „Anzeiger'4 und „Kurjerüi" der Provinz haben weder die Energie noch die Naivität, einen solchen Kampf aufzunehmen; sie fügen sich in ihr Loos, begnügen sich, offizielle Bekanntmachungen zu reprodueiron, alte, ungefährliche Geschichten abzudrucken und offiziös die Diners und Gesellschaften der örtlichen Autoritäten zu melden. Halten sie darauf, ihren Lesern Neuigkeiten mitzutheilen, so belehren sie sie über die Vorgänge in Deutschland, England, Frankreich, Amerika, China, ja bisweilen sogar über die in Petersburg, Moskau, Turkestan, Sibirien; aber was speciell die Provinz betrifft, das hüten sie sich wohl zu berühren. Diese Knechtschaft der Provinzialpresse ist eines der grössten Hindernisse für die praktische Wirksamkeit der Reformen und für jede Controle der Verwaltung wie der öffentlichen Meinung. Sie nimmt der neuen Selbstverwaltung, den Semstwos und Stadtverwaltungen, ein gutes Theil ihres Nutzens. Sie ist auch einer der Gründe, weshalb die Russen der Hauptstadt, die hohen Staatsbeamten und die Regierung selbst oft so schlecht über die Vorgänge im Innern des Reichs unterrichtet sind. Wie könnten die Leiden der Bevölkerung, die Missbräuche der Verwaltung, die Gesetzwidrigkeiten der örtlichen Behörden zur Kenntniss der höbern Autoritäten gelangen durch eine Presse, die kaum mehr Unabhängigkeit besitzt, als die Telegramme und Berichte der Gouverneure? In Russland ist die Provinz stumm; die schwachen Organe, die in ihrem Namen zu J) Die Censur in Tiflis ist seither nicht entgegenkommender geworden. Sie hat unter Alexander III. zu einem Verfahren gegriffen, das bis dahin noch nicht in Gebrauch gewesen war: sie bestrafte ein Blatt für etwas, was auf ihr Verbot nicht veröifentlicht war. Im November 1S81 liess sie ein satirisches Blatt „Phalanx" suspendiren, weil ihr dasselbe Zeichnungen und einen Text vorgelegt hatte, die sie nicht genehmigen konnte, sprechen versuchen, haben keinerlei Freiheit noch Selbständigkeit; ihre Sprache — die Sprache der Automaten — belehrt Keinen. Was den eigentlichen Nutzen einer Provinzialpresse bildet, die Veröffentlichung lokaler Vorkommnisse, das gerade wird durch die misstrauischc Reizbarkeit der Autoritäten am meisten behindert. Der geringe Widerhall des provinziellen Lebens, der zu den Ohren des Publikums und der Regierung dringt, gelangt durch Correspondenzen Petersburger und Moskauer Blätter dahin, die aber nicht überall ihre Berichterstatter haben können. In Bezug auf die der Censur unterliegenden Tagesschriftsteller bestehen übrigens eigenthümliche Widersprüche. Ibis Gesetz gestattet der Presse, Missbräuche der Verwaltung zu melden, aber es verbietet, Namen und Ort zu nennen. Die Censur-verordnungen dagegen gestatten nur Klagen mit genauer Angabe des Ortes und der Personen zu veröffentlichen. In einem Staat, in dem die räumlichen Verhältnisse allen Anstrengungen der Regierung soviel Erschwerungen in den Weg legen, ist nichts 80 beklagenswerth, als diese Un kenntniss des Landes seitens Derjenigen, die es regieren. In Petersburg, selbst in den Kanzleien der Minister weiss man thatsächlich oft nicht, wie die Reformen und die neuen Institutionen im Innern des Reiches wirken. Mag man die Verwaltungsberichte häufen, spezielle Commissionen und Untersuchungen aller Art ins Leben rufen: die locale Presse und die unmittelbare Stimme der Bewohner lassen sich nicht ersetzen. Von der andern Seite droht die Miederhaltung der Provinzialpresse den hauptstädtischen Organen eine Macht zu verleihen, die dereinst der Regierung allzu ausgedehnt erscheinen könnte. Aus Besorgniss, die administrative Ueberwaehung zu sehr zu erschweren, hat die Regierung ein Monopol zu Gunsten der Petersburger Plätter geschaffen, wie wenn sie darum bemüht gewesen wäre, die Macht der Presse zu mehren, indem sie dieselbe in wenigen Händen concentrirte. Bekanntlich besitzen die einzelnen Zeitungen umsowoniger Einfluss, je zahlreicher sie sind und je mehr sie sich gegenseitig im Gleichgewicht halten. Das Privilegium, das thatsächlich den hauptstadtischen Plättern zugestanden ist, macht diese zu Herren über die ganze Ausdehnung des Reiches; es überliefert die Leitung des russischen Geistes einigen Petersburger und Moskauer Publizisten. So wirkt dasselbe Repressivsystem, das dem Misstrauen gegen die Presse entsprang, dahin, deren Gewalt ins Uebermässige wachsen zu machen. Diese Wahrheiten springen Jedem, der nicht blind ist, in die Augen. Die Regierungskreise scheinen seit Kurzem auf eine Umgestaltung der Verordnungen für die Provinzialpresse Werth zu legen; aber wie viele andre Reformen, die in Bearbeitung genommen sind, lässt auch diese immer noch auf sich warten. In Wahrheit hätten die Provinzialzeitungen übrigens in den letzten Jahren vielleichl wenig dabei gewonnen, wie ihre Collegen in Petersburg von der Praventivoensur befreit zu sein, so illusorisch und gefährlich haben die G-ewaltmassregeln der Verwaltung diese Ausnahmestellung gemacht. Zu bestimmten Zeiten, wo sie, einer nicht allzu misswollenden Verwaltung begegnete, hat diese gefesselte Presse ebensoviel Freiheit unter dem Joch der Censur gemessen können, als die hauptstädtischen Blätter, welche durch die Furcht vor Suspendirung oder durch offiziöse Communinues lahmgelegt waren. Thatsache ist: die Provinzialpresse bat trotz der Bande, die sie fesseln, in einigen grossen Städten wenigstens, selbst während der nihilistischen Krise bemerkbare Zunahme erfahren1). Drittes Kapitel. Einfluss des Presswesens auf die russische Literatur und die russische Denkweise. — Paradoxen eines Censors. — Wie sich aus Mangel an Freiheit die Politik in die Dichtung und den Roman einschleicht. — Tendenzliteratur. — Missstande dir die Literatur, Missstände für den öffentlichen (-reist. — Wie die Censur den Geschmack an Neuigkeiten und die Neigung zum Radikalismus fördert. — Geheime Presse und Journale der Emigration. — Nihilistische Druckereien und Organe der revolutionären Comings. — Wirkungslosigkeit der Verordnungen über den Bücherdruek. — Wie das Presssystem zu geheimen Gesellschaften drängt — Warum die Pressfreiheit in Russland mehr Vortheile und weniger Nachtheile haben würde, als anderswo. „Was denken Sie von uns?" fragte mich ein früherer Censor, ein gebildeter und in seiner Art liberaler Mann, nachdem er mir den 1) Die Knechtschaft der Provinzialzeitungen ist nicht das einzige Hindernis», das die Censur der geistigen Entwicklung des Landes entgegensetzt. Es giebt noch eine Präventivcensur, deren Aufrechterhaltung sich leichter erklärt, deren Verfahren aber nicht weniger Schaden stiftet, die Censur der Colportagc und der Volksbibliotheken. Die Dorfbibliotheken, die von den Semstwos oder von Privaten gegründet sind, dürfen nur Werke anschaffen, die das wissenschaftliche Comite beim Ministerium der Volksaufklürung genehmigt hat, und die Wahl dieses Comites ist ausserordentlich beschränkt. Die einzigen Bücher, die freien Zugang zum Landvolke haben, sind populäre Veröffentlichungen aus Moskau, die meist kindisch und kenntnisslos und offenbar aus diesem ({runde allein zu dem Vorrecht zugelassen sind, nur der gewöhnlichen Censur zu unterliegen. Mechanismus der Censur auseinandergesetzt hatte. Ich glaube, antwortete ich ihm, dass ein solches System, wenn es auf Generationen angewandt worden ist, einen wesentlichen Einfluss auf das öffentliche und private Leben, auf den nationalen Charakter haben muss. In meinen Augen ist seine Wirkung nicht blos in Allem, was die Verwaltung und die Regierung betrifft, wahrnehmbar, sondern auch in Ihrer Denkweise und in Ihrem geistigen Leben, in Ihrer Kunst und Literatur, kurz im gesammten russischen Geiste. „Und diese vielfältigen Wirkungen sind ungünstig? nicht wahr?4' fragte mein Bekannter mit halb höflichem, halb spöttischem Lächeln weiter; „ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sie mir zeigen wollten, denn ich bin, wie jene Leute, die eine Landschaft immer vor Augen haben und drum nichts von Dem sehen, was den Fremden in ihr überrascht. Reden Sie nur ganz frei, hier ist weder Censur noch Censor." — „Aufrichtig gestanden," erwiderte ich, „von Ihrem Pflegeamt über Schriftthum und Schriftsteller habe ich keine hohe Meinung. Sei es nun Vorurtheil oder Unverständniss. Sie scheinen mir die Verantwortlichkeit für einen grossen Theil der Leichtfertigkeit, der Unwissenheit und Gleichgültigkeit, der Leichtgläubigkeit und vor-gefassten Neigungen gewisser Classen Ihres Volkes zu tragen. Ich weiss wühl, dass auch anderwärts die Frivolität heimisch ist, aber durch Ablenkung Ihrer Landsleute von den grossen Fragen der Politik, Religion, Gesellschaft scheint mir die Censur sie unfreiwillig auf erbärmliche Vorurtheile zu beschränken, sie zu müssigen Erörterungen oder bedeutungslosen Abhandlungen zu verdammen, Beschäftigungen, die sehr unschuldig und ohne jede Gefahr für den Staat sind, wie Sie sagen werden, aber die den Fehler haben, die Geister herabzustimmen, die Charaktere zu verweichlichen und die Kräfte und Leidenschaften der Einzelnen ohne Nutzen für den Staat aufzureiben. Ich bin geneigt, dieser allzu lang andauernden Bevormundung des Geistes mehr als einen von den Fehlern und Mängeln zuzuschreiben, die Sie selbst oft beklagen. Auf die Literatur, wie auf die Gesellschaft scheint mir diese Art Unmündigkeit des Gedankens, der stets als ungeschickt behandelt wird, einen entnervenden Einfluss geübt zu haben. Die Censur hat ohne es zu wollen die untergeordneten und niederen, die leichtfertigen und frivolen Gattungen der Literatur und Kunst auf Kosten der höheren begünstigt. Abgesehen von der Politik schreibe ich diese Entkräftung des Geistes auf ihre Rechnung. Sie sind zuweilen überrascht, dass trotz so vieler Anzeichen natürlicher Ursprünglichkeit, trotz so vieler Aeusserungcn eines lebendigen, raschen, leichten Geistes Ihre junge Literatur noch nicht derjenigen älterer, kleinerer Länder, als das Ihre ist, gleichgekommen ist; glauben Sie, dass die lange Knechtschaft des Gedankens daran keinen Antheil hat? dass bei diesem System die Literatur, die Wissenschaft, der Geist selbst nicht an angeborener Frische, wie an freischaffender Kraft verloren haben? „Ist das Ihre wirkliche Meinung?" unterbrach mich der frühere Censor in ruhigem, etwas sarkastischem Ton. „Ich bedaure, dass Sie in diesem Puncte nicht an den Gemeinplätzen der Masse vorübergegangen sind. Sie hätten mit besserem Rechte die abgebrauchte Behauptung kühn umkehren können; Sie wären dabei der Wahrheit nicht ferner geblieben. Sie klagen den Mangel an Freiheit an, er habe in unserm Garten leichte Blumen und schlechtes Unkraut auf Kosten nützlicher und nahrhafter Bilanzen wuchern lassen; wie undankbar Sie gegen uns sind! Kennten Sie uns besser, so würden Sie vielleicht finden, dass wir uns um die Literatur wohlverdient gemacht haben. Wer hat mehr gethan, das Publikum und die Schriftsteller bei der hohen Literatur, bei erhabenen Gedanken, bei der Wissenschaft zu erhalten? Sind es nicht gerade diejenigen, die sie vor dem Findringen der anmasslichsten, der fürchterlichsten Feindin der Literatur, vor der Politik, geschützt haben? Die Zeitung ist die Nebenbuhlerin des Buchs, und die laufende Politik ist der Urf'eind des Studiums und des Wissens. Es ist nicht unsre Schuld, wenn Russland aus diesem Grunde dem geistigen Niedergang und dem literarischen Verfall des Westens nicht entgangen ist. Statt den Geist sich nach allen Seiten zersplittern, sich in unfruchtbaren Streitigkeiten verschleudern zu lassen, zwangen wir ihn, sich auf sich selbst zurückzuziehn und seine Kräfte zu sammeln; wir nöthigten ihn, seine Studien zu vertiefen und seine Worte zu wägen; wir gaben ihm zugleich grössere Kraft und Elastizität und aus unsern Händen ging er ebenso stärker, wie feiner hervor. Welche Zeit war die glänzendste Epoche unserer Literatur, unserer Dichtung, unserer Kritik? War es nicht die, wo die Presse die geringste Freiheit hatte, war es nicht die Regierung Nikolais? Wie der Baum, den das Messer des Gärtners beschnitten, wuchs der russische Genius, aller kleinen, niedern Schösslinge, die den Stamm verunzierten, entledigt, in die Höhe und breitete sich in seiner Krone zu dichtem Lauhgezweige aus. Was ist denn nur allzuoft die Politik für die Literatur? Einer dieser parasitischen Aeste, die aus dem Wurzelstamm des Baumes hervorwachsen , ihm den besten Saft entziehen und den höheren Aesten ihre Nahrung rauben." Diese Paradoxen waren nicht ganz ohne Wahrheit; ich konnte nicht umhin, das anzuerkennen. Ennuthigt durch diese Zustimmung und meine Aufmerksamkeit fuhr der Censor fort: „Insbesondere die Kritik, die an Alles rührt, Alles auslegt und erklärt, hat bei uns ihre Bedeutung und ihre unbestreitbare Höhe nur der Unterordnung der Politik zu danken. Der Censur dankt Bussland den grossen, den einzigen Uelinski '). Lei jedem andern System wäre Beliuski nur gewesen, was so viele Andre sind, ein einfacher Zeitungspolemiker. Das ist so wahr, dass seit Ausdehnung der Hechte der Presse die Kritik bei uns weder die Macht, noch den Werth hat, wie früher. Und in Ihrem Frankreich, in dem die Politik so breiten Raum einnimmt, könnte man sagen, giebt es keine Kritik mehr. Saintc-Bouve that wohl daran, mit dem zweiten Kaiserreich zu sterben. (Hauben Sie mir, geehrter Herr, der Geist kann, wie der Körper von Entbehrungen, die nicht seine Kräfte übersteigen, Vertheil haben. Sehn Sie unsere Presse an! Was hat sie dabei gewonnen, dass sie von der Präventivcensur befreit worden ist? Sie ist Behlechter, gemeiner geworden; sie hat den Erfolg in Sensationsneuigkeiten und im Skandal gesucht ; sie ist ein Werkzeug der Verläumdung und Bedrohung geworden; sie ist in Zügellosigkeit verfallen, noth ehe sie ganz frei ist. Auch ist sie nie weniger geachtet gewesen. Bei jener so vielgerühmten Freigebung des Gedankens haben Literatur und Journalismus vielleicht mehr zu verlieren, als zu gewinnen. Auf dem Gebiete des Geistes wie auf dem der Sittlichkeit ist nicht Alles Wohlthat, was die Freiheit bringt." Auf diese Rede hätte ich vielerlei zu antworten gehabt, wenn ich in diesem Lalle nicht lieber gehört und reden gemacht hätte. Ich hälfe fragen können, ob die Derbheit und das Ungestüm der Petersburger und Moskauer Presse nicht das Verdammungsurtheil über ein System seien, das leichter die Einfälle in das Privatleben, als die Prüfung des öffentlichen Lebens dulde. Ich hätte an die russische Literatur erinnern können, an ihr finsteres Wesen und an ihre Spottlust, an die Leiden, die Verbannung, das vorzeitige Ende oder gebrochene Alter der berühmtesten russischen Schriftsteller, an die stillen Thränen, die, wie Gogol sagt, aus ihrem Lachen hervorquellen. Ist es wahr, dass Literatur, Kunst, Wissenschaft aus der Müsse Gewinn ziehen, welche ihnen von keiner Tagespolitik gestört wird, so ist es ebenso sicher, dass unter solchem System Literatur, Geschichte, Philosophie, Kritik entstellt, verunstaltet, beeinträchtigt worden, durch Leidenschaften und Ziele, die ihnen unnatürlich sind, ') Schriftsteller, der kurz vor der Revolution von 1818 starb. *ber da sie nicht offen hervortreten können, sieh hinter jenen, wie hinter einem Schirm oder einer Larve, verstecken. Roman, Erzählung, Dichtung werden von vorgefassten Tendenzen beherrscht, die ihnen hätten fernbleiben müssen; das ganze, weite Feld der Literatur ist im Geheimen von dem bösen Kraut der Politik durchwachsen, das von seinem natürlichen Gebiete verbannt ist, Dichter und Romanschriftsteller lassen Erzählung, Schilderung, Ergreifen der Gemüther bei Seite, um sich als sociale Reformators zu drapiren, zu Aposteln der Idee aufzuspreizen und als Kitter des Fortschritts auszustaffiren. So ist es in Russland gewesen zur Zeit, da die Presse am wenigsten Freiheit besass. Beengt in den Zeitungen und Fachblättern, setzte sich die Politik in der Kritik und in der Geschichtsforschung fest; sie schlich in die Novelle, sie glitt in das Drama und das Lustspiel ein; so sickert das Wasser, das den ihm gesetzten Damm nicht zu durchbrechen vermag, in alle anliegenden Felder ein. Der Parteigeist hat auf diese Weise nur zu oft verdorben und verschlechtert, was er neu zu beleben meinte: Kritik, Geschichte, schöne Literatur. Daher im heutigen Russland, wie in Italien vor 1860, der Auf-sehwung der sogenannten Tendenzliteratur, ein Aufschwung, der noch S(iin Ende nicht erreicht hat, wie mehrere der verbreitetsten Monatsschriften von St Petersburg beweisen. Nirgend in der Welt hat die Kunst als Kunst, und, was ernster ist, nirgend hat die Wissenschaft als Wissenschaft, haben das Schöne und Wahre an sich geringere Gewalt über die Gemüther. In dieser Beziehung gleicht das Land, dem Qach dem Gesetze die Politik den geringsten Raum einnimmt, S(dir den Ländern, wo die Politik schliesslich Alles ergriffen hat; so wahr ist der Satz, dass die Gegensätze sich berühren. Im Studium der Vergangenheit oder des Auslandes jagte man nach Anspielungen auf die Gegenwart oder auf das Inland. Auch heute noch fordert so manche Kritik, fordert das Publikum so mancher Monatsschrift von den Romanen, wie von der Geschichtsschreibung, dass sie beweisen: »scribitur ad probandum". Erfindungen, Leidenschaften, Intrigue sind nur eine Beigabe, um eine Lehre zu entwickeln und sie den Lesern wie den Censoren schmackhaft zu machen. Am höchsten schätzt man bei dem Schriftsteller die sociale Bedeutung seines Werkes, die Theorie, 'bis System. Ks liegt auf der Hand, wie sehr eine derartige Richtung an einer sonst reichen, mannigfaltigen, machtvollen Literatur sündigen musste, die ohne die Störung vielleicht, in diesem Jahrhundert keine andre über sich gehabt hätte. Keim ersten Blicke erscheint es, als ob das Feld, je enger seine Freiheit unigrenzt war, um so besser hätte bebaut werden und um so fruchtbarer sein müssen; aber die Arbeiter gefielen sich darin, dort Pflanzen wachsen zu lassen, die nicht dahin gehörten; in den leichten und wenig tiefen Boden, der ihnen zur Verfügung stand, säeten sie eigensinniger Weise Saaten, die für andre Bodengattungen geschaffen waren, auf die Gefahr hin, nur Stroh oder magere und leere Achten zu erndten. Wenn das Uebel nur die auf selche Weise systematisch irregeleitete und pedantisch niedergedrückte Literatur allein getroffen hätte! 0 nein! es traf das Land, den durch solche literarische Production entwegten und verwirrten Volksgeist. Der Dichter oder Romanschriftsteller, der ein patriotisches Werk zu thun meinte, wenn er seinen sozialen Träumen uml Theorieen den verlockenden Schleier freier Erfindung oder dramatischer Handlung umhing, ward sich dessen nicht bewusst, dass diese geborgten Kleider die Ideeen, die er im Volke verbreiten wollte, nur entstellten, dass auch die höchsten Wahrheiten, so aufgeputzt und travestirt, mit ihrer romanhaften Maske zugleich einen Zug der Unwahrheit, der Unzuverlässigkeil, der Phantastik annahmen, der sie bis zur Unkenntlichkeit entstellte. Unter dem Vorwande, die Einbildungskraft mit ihrer Erfindungsgabe in den Dienst ernster Ideeen zu stellen, führte diese Literatur der Propaganda das Gefühl und die Phantasie mit ihren Erregungen und Täuschungen auf ein Gebiet, wo sie am wenigsten hinpassen und somit am verderblichsten werden können. In die Fragen, welche die strengsten Methoden der Untersuchung forderten, gewöhnte sich der in solcher Schule erzogene Geist, unklare Ideeen, wirre Gedanken, ungeordnete Träume hineinzumischen. Nicht sowohl auf Grund der Vernunft und Erfahrung, als auf Grund der Phantasie und Empfindung schuf man eine soziale Wissenschaft und Politik, und für den Leser wurde diese Art der Behandlung der grossen Interessen, die der Censur die unschuldigste schien, die schlimmste von allen, weil sie die zweideutigste und trügerischste war. Ein derartiges Uebel ist durchaus nicht Bussland allein eigen; aber Bestrebungen dieser Art sind um der Gesammtheit willen am gefährlichsten in einem Lande, wo es leichter ist, die grossen Fragen auf Umwogen, in dramatischer oder romanhafter Form zu berühren, als sie gründlich, in rationeller und wissenschaftlicher .Methode zu bearbeiten, in einem Lande, wo es lange dem Erzähler oder Romanschreiber leichter wurde, die Wunden und Leiden des Volkes zu schildern, als dem Nationalökonomen oder Philosophen, Heilmittel gegen dieselben zu suchen. Man stelle sich nur vor, dass unter Alexander II. das volkswirtschaftliche Gebiet oft ebenso schwer zugänglich war, als das politische, und dass die Regierung immer wieder sich bemühte, die Journale von der Aufnahme allzuvieler Artikel über die elende Lage der Bauern und Arbeiter abzubringen; man denke daran, dass die Presse nur unter dem kurzen Ministerium des Generals Loris-Melikow mit ein wenig Freiheit auf jene grosse Bauerfrage zurückkommen durfte, — und man wird sich darüber nicht wundern, dass Romane und Novellen so oft zu politischen und sozialen Brochüren ausarteten. Freilich sind seit zwanzig Jahren viele Schriften, die ex professo alle Reformen behandelten, gedruckt worden; aber auch hier veranlasst die Furcht, Missfallen zu erregen und eine Verfolgung sich zuzuziolm, die Schriftsteller, womöglich in der luftigen Sphäre der Allgemeinheiten und Abstractionen zu bleiben, wo weniger Gefahr vorhanden, gegen Verhältnisse und Menschen zu stossen, statt die wirklichen und concreten Thatsachen, die Handlungsweise der Regierung und ihrer Beamten ihrer Prüfung zu unterziehn. In Russland ist es immer weniger gefährlich gewesen, eine kühne, ja selbst eine radikale Theorie auszusprechen, als mit der Federspitze die bestehenden Missbräuche oder hochgestellte Persönlichkeiten anzutasten. Am leichtesten entgehen den Massregelungen diejenigen Schrift-steller, die bei Verwirrung und Fälschung des Volksgeistes geschickt genug sind, den Autoritäten zu schmeicheln oder sie zu schonen. Und wäre dem nicht so, so ist doch die Neigung zu allgemeinen Sätzen, wie die Censur sie naturgemäss befördert, um so verderblicher, als sie nur allzusehr dem Nationalcharakter entspricht. So trägt die Regierung selbst dazu bei, die Vorliebe zu abstracten Ideeen, die Neigung zu radikalen Speculationen und absoluten Schlussfolgerungen zu befestigen, die überall einer der Ausgangspuncte des revolutionären und radikalen Geistes ist. In dieser Beziehung steht das russische System dem alten französischen Regime auffallend nahe, das ebenso die Unterthanen zu theoretischen Spekulationen herangezogen und ihnen Freiheit nur im Reiche der Träume gelassen hatte 1). Wo das politische Gebiet bedenklicher und gefährlicher ist, lassen die Theorieen auf dem sozialen ihre Zügel freier schiessen; so entwickeln und verbreiten sich im Lande die sozialistischen Bestrebungen, denen gewisse Ueberlieferungen und gewisse Züge der Gemeindeverfassung bereits Vorschub geleistet haben. Das ist noch nicht Alles. In gewissen, die Regierung am meisten betreffenden Fragen scheint der Mangel an Freiheit den Sinn für x) S. Rev. d. d. M. 1. Jan. 1882: Un philosophe historien, Studie des Verfassers über Taine und die Anfänge der Revolution. Kritik verwirrt zu haben. Durch Unterdrückung des Widerspruchs gewöhnte man die Geister daran, alle scheinbar wahren und verführerischen Ideeen ohne Prüfung aufzunehmen; man mehrte die Neigung zu Sophismen, zu neuen und kühnen Behauptungen, man erhöhte das Ansehn der extremen Meinungen, welche gemässigte Meinungen nicht neben sich dulden. Statt bei einem besonnenen Liberalismus stehen zu bleiben, hat sich die russische Intelligenz den Kopf voran mit um so grösserem Eifer auf die überspannten Theorieen gestürzt, je verdächtiger Diejenigen sind, die ihr die Tiefe des Abgrunds zeigen, dem sie entgegen stürmt. Wenn die Regierung den „gesunden Lehren" eine Art von Privilegium oder Monopol sichern will, so nehmen ihnen ihre Vertheidiger den "Nachdruck und das Ansehen, weil sie nur noch unter dem Schutz eines offiziellen Sehildes zu kämpfen scheinen. Ein System, das dem Irrthum den Mund zu versohliessen sucht, beraubt die Grundsätze und Lehren, die es verkünden Lässt, allen Gewichtes. Wo die Kritik unfrei ist, glaubt der Mindergebildete leicht, dass bei grösserer Duldung die verpönten Meinungen ohne Weiteres über den Widerspruch 1 riuniphiron würden. Die, Furcht, welche die Staatsgewalt vor ihnen zeigt, lässt sie in imposanter Gestalt erscheinen; der Schatten und das Dunkel, in dem sie Schutz sin heu müssen, verleihen ihnen eine Bedeutung, deren sie nur das helle Tageslicht entkleiden könnte. Dagegen nehmen die geschützten oder einfach gestatteten Lehren ein offizielles oder offiziöses Ansehn, einen Zug der Unterwürfigkeit und Servilität an, der sie anrüchig macht und das Publikum, zumal die Jugend, ihnen fernhält »). Um die Wirkungen eines derartigen Systems zusammenzufassen, muss ich hervorheben, dass es Zugleich die wohlmeinenden Emplin- ') Nichts ist lehrreicher in dieser Beziehung, als die Geschichte des „IJereg" eines Blattes, das 1880 auf Anregung Alexanders II. gegründet wurde. Der Redakteur, Herr Zitowitsch, Professor in Odessa, hatte sieh 1S7U durch eine oder zwei Brochüren bekannt gemacht, die der (ieneral Totleben nach Livadia gebracht hatte. „Das ist ein Mann von Muth", hatte der Kaiser von Zitowitsch gesagt. Er hatte ihn sich vorstellen und ihm die Mittel zur Gründung einer Zeitung anweisen lassen, die den Radikalismus bekämpfen sollte. Trotz des Talents seines Redakteurs, den seine Collegen in den Rann gelhan, konnte dieses Rlatt aus Manuel an Abonnenten und Lesern nicht länger, als ein Jahr bestehen. Ks war vergeblich, dass die Regierung ihm — zur Aufbesserung seiner Popularität — eine Verwarnung erthcilte. Iu der That hat bis jetzt kein einziges Regierungsblatt gedeihen können; es giebt nur solche COnservative Blätter, die sieh für die slavophilen oder ultronatiuiialcn Lehren begeistern und in Ihrer Weise (Ippofiition treiben. muss ich hervorheben, dass es zugleich die wohlmeinenden Empfindungen wie die bösen Instincte gegen die Regierung lenkt; es ruft gegen sie das Misstrauen der Geister und die edlen Wallungen der Herzen wach und verleibt zugleich den verdächtigen Meinungen die gewürzreiche Süsse der verbotenen Frucht und den prickelnden Reiz des Muthes. Was erlaubt ist, wird fade und langweilig, was verbeten ist, wird interessant und wohlgefällig. Das heutige Russland zeigt uns, wie trügerisch jede Geistes-dictatur ist; sie schwächt, wo sie kräftigen seil, sie stärkt, wo sie zerstören will. Ihr muss unbedingt ein grosser Theil der Gunst zugeschrieben werden, welcher die gewagtesten revolutionären Ideeen in den gebildetsten Klassen der Gesellschaft begegnen. Wenn bis jetzt die Festigkeit des Staates dadurch nicht erschüttert ist, so war das, weil die Masse der Bevölkerung lesensunkundig ist und jene Einwirkungen nicht empfindet. Soll ein solches System Frfolg halten, so müsste es dahin gelangen, die von der Regierung verpönten Ideeen in ihrem Anbeginn ersticken zu können. Aber wenn der Sieb der Censur die Samenkörner nicht durchliesse, so würde der Wind von draussen die Saat hinüberwohon und der Reisende sie hinüberfragen. Ein einziger Mann, der Kaiser Nikolai, hat dreissig -Jahre lang das einzig logische System in Anwendung gebracht: er hat Russland ganz von Kuropa trennen, seine Unterthanen wie in einen geschlossenen Bark einmauern wollen. Wenn er die Hussen hinderte, seine Staaten zu verlassen, und die Ausländer, diese Staaten zu betreten, so übte Nikolai das einzige Verfahren, das seine Censur wirksam machen konnte '). Zum Unglück lässt sich ein grosses Reich nicht auf die Dauer einer solchen Absperrung unterwerfen. Alan ergab sieh darein, die Russen reisen zu lassen, und sobald er im Auslande ist, wirft sich der Russe mit Begier auf Alles, was ilim daheim untersagt ist. Fr verschlingt gierig die verbotenen Speisen, er trinkt von den aufregenden und ungesunden Getränken, die ihm zu Hause vorenthalten werden, er berauscht sich an ihnen und seine Vernunft unterliegt ihnen um so rascher, je weniger sie ihrer gewohnt ist. Die erste Sorge jedes Russen, der die Grenze überschreitet, ist die, verbotene 1) Zu diesem Zwecke hatte Nikolai den Preis der Auslandspässe masslos erhöht und der Mehrzahl seiner Unterthanen das Reisen untersagt. Ich habe einen russischen Unterthan aus den westlichen Provinzen gekannt , der fünfzehn Jahre lang vergeblich um die Erlaubniss angesucht halte, die böhmischen Räder zu besuchen. „Wir haben Heilquellen im Lande, beispielsweise im Kaukasus", antwortete man ihm. „Wollen Sie baden, so gehen Sic in den Kaukasus". Li e r oy - II o a u 1 i e u , Keich d. Zaren u. U. Kiibhoii. II. Bd. 27 Bücher zu kaufen; das wissen die deutschen Buchhändler und halten eine Auswahl davon für die reisenden Moskowiter auf Lager. Um die verbotene Fracht zu gemessen, braucht man übrigens nicht ins Ausland zu gehn; revolutionäre Bücher sind immer heimlich in das Land gedrungen, es giebt nur wenig junge Leute, die nicht welche besitzen oder gelesen haben. Ja, die „nihilistische" Propaganda hat Mittel gefunden, Druckerpressen und Typographieen innerhalb des Reiches seihst in ihren Dienst zu stellen. Mein erster Aufenthalt in Neapel reicht in das Frühjahr 1860 zurück, die Bourbons regierten noch. Da ich die Historiker des sechzehnten Jahrhunderts zu lesen beabsichtigte, fragte ich in einem Buchladen nach Macchiavell oder Guicciardini: „Beide Schriftsteller stehen auf dem Index, Sie werden sie in Neapel nicht erhalten", sagte man mir. Ich war im Begriff, fortzugehn, als mich der Buchhändler zurückrief: „Sie sind ein Fremder, Signore, aber Sie scheinen ein Gentleman, der mit der Polizei nichts zu thun hat; ich kann Ihnen beide Werke verschaffen". Und bald darauf kehrte er aus dem Hinterstübchen zuzück, im rechten Arm den Guicciardini, im linken den Macchiavell. Dasselbe kommt aus gleichen Gründen mitunter in Russland vor; mehr als ein Hinterstübchen birgt Bücher, die man sich hüten würde, auszulegen, und manche sehr wenig radikale Buchhandlung treibt gelegentlich den einträglichen Handel mit verbotener Waare. Die revolutionäre Literatur wird zur Zeit auf zweierlei Weise versorgt, bald durch Schriften, die aus dem Auslande kommen, bald durch Pamphete, die heimlich in Russland gedruckt werden. Bei der Verfolgung verbotener Schriften sind Polizei und Zollbehörde nicht immer zuverlässige Hülfsgenossen der Censore; es liegt hierin für jene beiden Aemter eine neue Versuchung zu Bestechlichkeit und Käuflichkeit. Bei gegebener Gelegenheit wird das Schweigen der Polizei wie des Zolls erkauft. Der letztere mag immerhin rings um das Land eine Gesundheitskette ziehen, das hindert die Ansteckung nicht, und diese ist um so schlimmer, je heimlicher sie eintritt. Die Geistessperre hat kein andres Resultat, als den literarischen Schmuggel nur lebhafter zu machen. Im Auslande gedruckte, aufrührerische Brochüren werden eingeschmuggelt, und die Regierung kann ihre Hand um so schwerer auf die Schuldigen legen, als dieselben bisweilen Mitschuldige unter den Beamten jener haben. Hat man doch unter Alexander II. eines Tages entdeckt, dass sich die Hauptniederlage von revolutionären Schriften in den Zollspeichern in Petersburg befand. Ein hoher Beamter dieses Amtszweiges liess sich aus dem Auslande Ballen von diesen Schriften kommen und benutzte seine offizielle Stellung, um die letztere frei einzuführen. Solche Erscheinungen sind keineswegs durchaus neu. Seit dem Beginn der Regierung Alexanders IL gab es im Auslande eine reiche revolutionäre Literatur, die umsomehr Macht besass, je weniger die Censur gestattete, ihr Concurrenz zu machen. Was im Inlande nicht gedruckt werden durfte, wurde im Auslande gedruckt. Ein russische Bruckerei, die Herzen gegen Ende der Regierung Nikolais in London gegründet hatte, gab Werke aller Art, offizielle Dokumente, die den Staatsarchiven entnommen waren, und leidenschaftliche Pamphlete heraus. Diese Wochenschrift, die „Glocke" (Kolokol), die von einem Verbannten in England redigirt wurde, war mehrere Jahre lang das gelesenste und einflussreichste Blatt des Reiches. Die „Glocke" besass ebensoviel Macht über die Regierung, die sie verbot, als über das Publikum, das sie heimlich las. Durch Correspondenzen aus allen Theilen des Reiches unterrichtete das Journal Herzens die Minister und den Kaiser selbst von Dem, was in Russland vorging. In Ermangelung freier Zeitungen erfüllte ein auswärtiges, eingeschmuggeltes Blatt bei der Regierung und bei der Gesellschaft den Dienst der Belehrung, der von Haus aus der Presse obliegt. Alexander II. war der eifrigste Leser des „Kolokol," dem er eine Reihe von Mittheilungen entnahm, die er in den Berichten seiner Minister vergeblich gesucht hätte. Hierüber cursirte eine bekannte und für die Zeit wie für das Land charakteristische Anekdote. Der Kolokol hatte, auf Beweise gestützt, mehrere Personen am Hofe angegriffen. In ihrer Verlogenheit wussten die so ins Gefecht Gezogenen sich nur durch ein Mittel vor den Denunciationen Herzens zu schützen: sie Hessen für das kaiserliche Kabinet eine revidirte und corrigirte Nummer des verpönten Blattes drucken. Herzen erfuhr das und nach einiger Zeit fand der Kaiser auf seinem Schreibtisch ein authentisches Exemplar der gefälschten Nummer. Die Emancipation, deren feuriger Fürsprecher der „Kolokol" gewesen war, machte dieser Art moralischer Dictatur eines Refugie" ein Ende. Das Mass von Freiheit, das der Presse und Literatur innerhalb des Reiches gestattet wurde, verdrängte für etwa 15 Jahre das Ansehn der ausländischen revolutionären Presse. Strafmassregeln der Regierung mussten den geheimen Veröffentlichungen im Reich und im Ausland erst ihr Gewicht wiedergeben. In der Schweiz, namentlich in Genf ist eine ganze russische Presse entstanden, die zuerst ein peinvolles Dasein fristete, jetzt aber zahlreiche Leser gefunden hat. Wenn alle diese Blätter zusammen auch nicht den 27* Einfluss von Herzens „Glocke" haben, so besitzen sie doch, wie diese, Mitarbeiter im ganzen Reiche und bieten — mit wie grossem Rechte sie auch verdächtig sind — mitunter Belehrungen, die man in der Petersburger oder Moskauer Presse vorgeblich suchen würde.1) Diese1 unter dem Schutze ausländischer Gesetze erscheinende Presse ist nieht dir einzig*1 mehr. Seit der Zeit Herzens haben die Feinde der Regierung an Kühnheit und Gesehirk Fortschritte gemacht; nicht zufrieden damit, Druckereien und Zeitungen ausserhalb des Reiches zu haben, wollten sie auch Druckerpressen innerhalb desselben und selbst in der Residenz. Unzählige Pamphlete uml Anschläge aller Art, die der Censur und Polizei zum Trutz in llussland seihst gedruckt waren, sind im Geheimen von den Parteigängern vertheilt oder öll'entlich an die Mauern der Städte geklebt worden. Schon vor dem bulgarischen Kriege cursirten zahlreiche anonyme Aurrufe: „An das junge llussland," „An die junge Generation," ,,An das russische Volk" u. s. w., abgesehen von den allegorischen Erzählungen, die für das Volk speziell bestimmt waren, wie die „Geschichte der vier Brüder" und „die sinnreiche Maschine." Später genügten auch diese Broehüren dem Eifer der Agitatore nicht mehr: sie gründeten Blätter, von denen das erste das gewöhnliche Stichwort des russischen Radikalismus zum Titel hatte: „Land und Freiheit!" (Semlä i Wohl).3) Dieses kleine geheime Blatt war IS78 und LS71I das offizielle Organ der Kevolutionäre. In ihm wurden die von geheimen Uichtern gefällten Frllieilsprüche veröffentlicht. Ausser Leitartikeln und einem sozusagen ofliziellen Theile enthielt dieses eigen- ') Die Revuen und Rlätlcr der russischen Emigration, alle mehr oder minder revolutionär, meist rein sozialistisch, sind iu den letzten Jahren sehr zahlreich geworden. Kinige von ihnen erschienen nur ab und zu, wie der Wperod (Vorwärts), eine doctrinäre, verhiiltnissinässig massvolle Zeitschrift, die bis vor Kurzem von dem aus Paris ausgewiesenen < »bristen Lawrow redigirt wurde. Neben den extremen Organen wie da» „Nabat" oder „Tocsin" von Tkatschew, der „Rabotnik" (Arbeiter), die ,,< »bsehtschina" (Gemeinde), „Obschtscheje Delo" (die allgemeine Sache) hat sieb 1881 ein constitutionelles und föderalistisches Blatt „Wolnoje Slowo" (das freie Wort) gestellt, das seine leidenschaftlicheren Collegen seltsamer Weise als eine (Gründung des (ieuerals Ignatjew und der russischen Regierung zu denunziren beliebten. Dieser Liste kann noch die „Hromada" ((ieineindel, eine ukruinojihile Monatsschrift zugefügt werden, die DragomanOW in kleinrussischer Sprache redigirt a) „Land und Freiheit" war schon der Name oder die Devise einer revolutionären Verbindung gewesen, die gegen Isi'.u oder lsiiJ gegründet war, um das Randvolk zur Erhebung zu reizen und den früheren Leibeigenen unentgeltlich Landbesitz zu verschallen. thümliche Blatt Correspondenzen, Feuilletons, ja selbst Anzeigen und den Verkaufspreis der Nummern. Die Art der Vertheilung ist bei diesen Blättern oder Pamphleten verschieden; sie werden unter Couvert durch die Post versandt, zwischen conservative Blätter geschoben, unwissenden, des Lesens unkundigen Leuten zum Strassen-verkauf übergeben, an den Thüren der Häuser niedergelegt, unter die Sitze der Omnibus und der Lohnwagen geschoben. Wie einst der „Kolokol" Herzens wurden „Land und Freiheit" und die andern gleichartigen Blätter von unsichtbaren Händen unter die Papiere der höchsten Staatsbeamten gelegt und „im Namen des Executive!»mit es-den bei dem Zaren beglaubigten Gesandtschaften zugeschickt. Das Erscheinen dieser nicht fassbaren „Semlä i Wolä" nahm ein Ende, nicht weil die Regierung sie unterdrücken konnte, sondern weil die Herausgeber uneins wurden. Das Blatt wurde gegen Ende des Jahres 1870 durch zwei Blätter ersetzt, welche die beiden Fraetionen vertreten, in die sich die russischen Revolutionäre theilen: die „Narodnaja wolä" (Volkswille oder Volksfreiheit) und der „Tschornüi peredee" (die schwarze Umtheilung), jene das Organ der Terroristen, dieses das der sozialistischen Propaganda.1) Diese beiden Fortsetzungen von „Land und Freiheit" wurden in Petersburg von männlichen wie weiblichen Verschworenen gedruckt. Die nihilistischen Druckereien oder richtiger Druckerpressen konnten nicht immer den Verfolgungen der Regierung entgehen. Die Polizei legte schliesslich ihre Hand auf jene und auf die Redactionsbureaus der beiden rivaiisirenden Blätter; aber wenn auch die Setzer und Redacteure nach Sibirien geschickt wurden, sind die genannten revolutionären Blätter doch von Neuem in der Hauptstadt herausgegeben worden. „Die „Narodnaja wolä" erschien noch im Sommer 1882. Unter Alexander III. wie unter Alexander II. sind in Städten und auf dem Lande, in Kiew, Charkow, Odessa, selbst in Petersburg und Moskau mehrere geheime Druckereien entdeckt worden. Und wo waren sie versteckt? Etwa immer bei Privaten und Studenten oder in den Werkstätten, in welchen Propagandisten als Werkführer oder Arbeiter dienten? Keineswegs: in öffentlichen Gebäuden, in Häusern, die der Krone oder den Ministerien gehörten, in geistlichen Seminarien und Klöstern hat man einige von diesen Druckereien, wie auch Laboratorien • für Sprengmittel aufgefunden. Vielleicht entdeckt man dereinst geheime Pressen in den Bureaus der (Jensur. *) 8. unter Buch VI, Kap. II. In ihren beiden ersten Nummern zeigte sich die „Narodnaja wolä" ziemlieh gemässigt, aber von der dritten ab neigte sie sich dem Terrorismus zu, dessen Organ sie geblieben ist. Um solchen Unordnungen ein Ende zu machen weiss sich die Regierung nicht anders zu helfen, als durch Verschärfung der Gesetze und Verordnungen über die Presse und den Buchdruck. Schon früher gab es Typographieinspectore, schon früher war es verboten, ohne Genehmigung eine Druckerei anzulegen. — Das schien jetzt nicht mehr zu genügen. Man verbot den Kauf und Verkauf von Pressen und typographischem Apparat ohne Genehmigung und wandte alle Beschränkungen, die ungefähr um dieselbe Zeit dem Handel mit Waffen auferlegt worden waren, auf Alles an, was mit der Buch-druckerei in Verbindung steht. Um diese Gleichstellung ganz durchzuführen, wurden die Leute, welche die Verordnungen über den Buchdruck verletzten, wie die Attentäter auf Staatsbeamte, ausserhalb der bürgerlichen Gesetze gestellt. Verordnungen von L879 und 1880 haben „zeitweilig" alle derartigen Sachen dem Urtheilsspruch der gewöhnlichen Gerichte entzogen. Diese drakonischen Massregeln haben bis hierzu das Erscheinen revolutionärer Blätter und Brochüren nicht zu ersticken vermocht; aber auch wenn die Regierung dahin gelangte, alle Druckerpressen den Händen ihrer geheimen Gegner zu entziehen, so hätte sie ihnen doch noch nicht alle Mittel ihrer Propaganda genommen. In Ermangelung des Buchdruckes und der anderen Erfindungen bleiben den Agitatoren doch das Verfahren des Alterthums und des Mittelalters, die handschriftliche (Jopie; auch bei diesem primitiven und archaistischen Verfahren lassen sich die Ideen aufrecht erhalten und verbreiten. Unter der Regierung Nikolais war es eines der Haupt-hülfsmittel der Revolutionäre und der Unzufriedenen. Es gab lange Zeit eine ganze handschriftliche oder geheime Literatur, die an Popularität den verbreitotsten Werken des Buchdrucks nichts nachgab. .Mehr als eine Allen bekannte Schrift ist nie, mindestens nicht in Hussland gedruckt worden, denn im Auslande haben Sammlungen dieser verbotenen Sachen mehrere Aullagen erlebt. Einzelne Collegien und Seminare haben noch jetzt ihre geschriebenen Journale, und auf dem Gymnasium, wie auf der Universität haben die meisten jungen Leute und jungen Mädchen nichts Eiligeres zu thun als verbotenen Schriftstücken nachzuspüren und sie abzuschreiben. Wo die handschriftliche Copie nicht vorschlägt, bleiben noch das Wort, das keine Spur hinterlässt, und das Gedächtniss, in welches sich ungestraft aufrührerische Reden und revolutionäre Lieder einprägen, ohne dass Censur und Polizei davon etwas vernehmen. Das geschieht täglich ; mehr als ein Russe hat mir erzählt, dass er verbotene Verse und Geschichten auswendig gelernt habe, weil er aus Furcht vor der Po- lizei eine Copie derselben nicht aufbewahren wollte. Das mag Alles unschuldig und kindisch erscheinen, aber diese schülerhafte Neugier, die man für Jugendpossen halten möchte, bringt ein ernstes Uebel mit sich: sie erzieht die Jugend zur Verstellung nnd zu geheimnissvollen Zusammenkünften und reizt ihre Lust an geheimen Verbindungen. Fragt man, wem der Mangel an Pressfreiheit den grössten Vortheil bringt, so muss die Antwort lauten: den geheimen Gesellschaften. A priori lässt sich von jedem Staate sagen: je freier das Wort, um so weniger geheime Gesellschaften. Alles was der öffentlichen Presse entzogen wird, fällt der unterirdischen Propaganda als Erbtheil zu. Diese Erscheinung ist im heutigen Russland, wie in Italien vor 1860, leicht nachzuweisen. Ich fragte vor etwa 15 Jahren einen Russen, ob es zu seiner Zeit auf der Universität geheime Verbindungen gegegeben habe. „Eigentlich nicht," antwortete er, „wir versammelten uns nur in kleinen Kreisen, um verbotene Bücher zu lesen und verbotene Lieder zu singen." So hat mehr als eine revolutionäre Verbindung begonnen und manche derartige Zusammenkunft ihre Saat aufgenommen. Man leiht sich verbotene Bücher, man schreibt sie ohne Wissen des Besitzers ab, man thut sich zusammen, um sie zu kaufen und allmälieh ist man durch ein gemeinsames, gefahrdrohendes Geheimniss aneinander gebunden. Die Furcht vor Spionen oder Angebern führt zum Schwur des Schweigens, und je argwöhnischer die Polizei ist, um so mehr fühlt man sich solidarisch verbunden. Bei solchem Treiben werden die Freundschaftsbündnisse der jungen Leute leicht zu einer gemeinsamen Schuld; es werden Ketten daraus, die bisweilen schwer zu brechen sind. Selbst dort, wo es im eigentlichen Sinne geheime Gesellschaften nicht giebt, sind doch alle Elemente dazu vorhanden. So entwickelt sich unter dem Schutze der Gesetze gegen die Gedankenfreiheit selbst bei der Jugend der revolutionäre Geist in seiner verderblichsten Form. Und in Russland ist das nichts Neues, das Uebel weist auf Nikolai oder richtiger Alexander I. zurück, als bei dem Tod dieses Kaisers die geheimen Bände des Nordens und des Südens sich stark genug meinten, eine Revolution zu versuchen. Das beste Mittel gegen die Heimlichkeit ist die Oeffentlichkeit. Es heisst häufig, die schlechten Lehren fänden durch die Presse ihre Verbreitung; das hat seine Richtigkeit, aber von allen Mitteln der revolutionären Propaganda ist dies vielleicht noch das wenigst gefährliche, da es am leichtesten zu überwachen und mit gleichen Waffen zu bekämpfen ist, Die mündliche und geheime Propaganda, wie sie in Russland in Gebrauch ist, diese geheimnissvolle ungreif-bure Propaganda, deren Fortschritt nicht verfolgt, deren Gang nicht gehemmt werden kann, untergräbt im Stillen die Ordnungen, die äusserlich von Allen unerkannt zu sein scheinen, und übt um so tiefere Verheerungiii, je mehr Spielraum sie den Täuschungen und Ueberraschungen bietet Seltsam genug: dasjenige Land Europas, wo die Presse am meisten gefürchtet zu werden scheint, ist ein Staat, in dem die Zeitungen nur ZU einer kleinen Zahl des Volkes gelangen können, da die immense Mehrheit noch des Lesens unkundig ist. In einem Kampfe mit den Lohren des Einsturzes müsste jede Regierung die Forderung jenes homerischen Helden stellen, der von den Göttern verlangte, dass sie ihm sichtbar seien, wenn er mit ihnen kämpfen seile. Niemand hätte ein grösseres Interesse, als die russische Regierung, ihre Leinde mit offenem Angesicht zu bekämpfen, denn wenn sie ihnen nicht die Zeil Messe, sich im Schatten zu vervielfachen , so wäre die erste Wirkung des Lichtes, Allen die geringe Zahl der Truppen zu zeigen, welche sie Dank dem Dunkel, in dem sie sich verbergen, jetzt im Schach halten. Das Beispiel Russlands beweist, dass heutzutage die Pressfreiheit allein für die Fortschritte des revolutionären Geistes nicht verantwortlich ist. Sicherlich ist diese Freiheit keine Panacee, sie heilt nicht alle Wunden, in die sie ihre Sonde senkt, sie schärft mitunter das Lehel, das sie Indien will. Mehl als jede andre Freiheit hat sie ihre Mängel und Fehler; aber — abgesehen von politischen Fragen — bietet sie dem Staate Vortheile, die nichts ersetzen kann. Vielleicht halle der Geist der Revolution hei bestehender Pressfreiheit nicht weniger Opfer gefordert, aber sicher wäre er nicht furchtbarer, nicht ansteckender, und Regierung und Volk wären über ihre eigenen Bedürfnisse und ihre eigenen Kralle besser unterrichtet gewesen. Bei der Freiheit der Besprechung und dem Rechte der Kritik wären der Staatsgewalt gründlichere Aufschlüsse geworden, die Verwaltung, die Justiz, der Öffentliche Unterricht, die Finanzen, selbst die Armee hätten mehr Vortheil davon gehabt, als die Revolution. Wenn die Länder, in denen die Presse jeder Beschränkung ledig ist, uns auch mitunter durch eine Freiheit abstossen, die sich mit Zügellosigkeit verbindet, so bieten wohl die Staaten, wo die Freiheit allzubeschränkt ist, ein Schauspiel, das uns wieder mit der Pressfreiheit versöhnen muss. Zwei Gründe lassen die Freigebung des Gedankens in Russland von grösserem Nutzen und von geringeren Schattenseiten erseheinen, als in den meisten andern Staaten. Der erste ist, dass es dort keine Frage der Dynastie, selbst: keinen Streit über die Form der Regierung giebt, dass der überaus grösste Theil der Nation in allen Classen über das Prinzip der höchsten Gewalt einig, dass desshalb ausserhalb der äussersten Reihen der revolutionären Partei keine systematische und rein negirende Opposition möglich ist. Der zweite Grund ist der, dass unter einem automatischen Regiment die Presse das einzige Mittel ist, durch welches das Land auf seine Regierung Einfluss üben kann, und fast das einzige Mittel, durch welches die Regierung die Wünsche und Bedürfnisse der Nation kennen lernen kann. Je mächtiger die Staatsgewalt, um so weniger hat sie die Ansprüche, die Kühnheiten, selbst die Angriffe der Presse zu fürchten, denn sie bleibt immer Herrin darüber, ihr das Ohr zu leihen oder ihr den Mund zu schliessen. Bei der autokratischen Staatsform genügen in der Praxis Gesetze nicht, um die Rechte des Denkens sicher zu stellen; auf diesem, wie auf jedem andern Gebilde kann die souveräne Gewalt schwerlich durch ihre eigenen Ukase gebunden werden. Die Freiheiten, die sie der Presse schenken würde, wären für sie um so weniger Anlass zu Befürchtungen, als trotz aller gesetzlichen Bürgschaften, mit denen man sie ausstatten wollte, diese Freiheiten immer nur geduldete wären. Sechstes Buch. Die revolutionäre Agitation und die politischen Reformen. Erstes Kapitel. Warum haben die Reformen scheinbar den Geist der Revolution entwickelt? — Erklärung der Conservativen. — Erklärung der Liberalen. — Russland im Zwiespalt mit sich selbst und mit dem Ausland. — Classen, aus denen sich die Revolutionäre rekrutiren. — Was die „Intelligenz" zum Radikalismus drängt. — Die Schulen und das „Abiturienten-Proletariat". — Die Frage des Volksunterrichts und der Nihilismus. — Abneigung des Volkes gegen die radikalen Theorieen. — Schlimme Erfahrungen der Agitator« und Misserfolg ihrer Propaganda. ■— Welchen Einfluss der Geist der Revolution auf das Volk gewinnen kann. — Agrarfrage und Socialismus'). Es giebt im Lüben der Volker Zeiträume, die der Geschichte ein Räthsel werden. Ein solcher ist die Regierung Alexanders II. Nie sind in einem christlichen Staat soviel Veränderungen in so kurzer Zeit ohne Beihülfe einer Revolution vollzogen worden. Wer hätte in den schönen Tagen der Freigebung vorauszusagen gewagt, dass all die grossen Massregeln, von denen zu andern Zeiten eine einzige für den Ruhm einer Regierung genügt hätte, ihren Schluss-act in der Ermordung des Befreiers der Leiheigenen linden und Russland enttäuscht, irre an seinem Wege, ungewiss seiner Zukunft zurück l) In dem ersten Rande dieses Werks, Buch III, Kap. IV, wurde der Nihilismus als eine Aeusserung des Nationalcharakters betrachtet, hier wird die revolutionäre Bewegung in ihren politischen Ursachen, in ihren verschiedenen Wendungen und in ihrer Organisation der Untersuchung unterworfen. lassen würden ? Und doch — wer das heutige Russland, seine Enttäuschung durch Frieden und Krieg, den öffentlichen und privaten Druck durch finanzielle Verlegenheiten, durch niedrigen Stand des Papiergeldes, Hungersnoth und schlechte Erndten kennt, — wer den bittern Rückschlag nachfühlt, den die wirkungslosen, unausgeführten, unvollendeten grossen Reformen geübt: den überrascht nicht mehr die Leidenschaft und Verwegenheit der Regierungsfeinde, nicht die Gleichgültigkeit und scheinbare Erstarrung der Gesellschaft, noch die moralische Verlassenheit und Unentschlossenheit der Regierenden1). Auf jedem Schritt, — in Bezug auf die Freigebung, auf die Verwaltung, auf die Gerichtsbarkeit, auf die Presse — haben wir bestätigen müssen, dass keine der grossen Reformen der Regierung und dem Lande gebracht haben, was Land und Regierung von ihnen erwarteten. Fast überall, auf jedem Gebiet des Öffentlichen Lebens haben wir wahrgenommen, dass der vertrauensvolle Optimismus der ersten Jahre einem entmuthigten Pessimismus oder ängstlichen Skeptizismus Platz gemacht hatte. Angesichts des Missbehagens der Nation, der Verwirrung der Geister, der Haltlosigkeit der Staatsgewalt möchte man sagen, die Reformen hätten allein dem Geiste der Revolution Nutzen gebracht. Gegenüber der Gablung in der Jugend und den gebildeten Classen, gegenüber dem tiefen, undurchdringlichen Schlafe des Volks, gegenüber dem Zaudern und den Widersprüchen einer Staatsgewalt, die ihren Weg verloren und sich programmlos, fast überzeugungslos zeigt, da erscheint die Zukunft des von der Leibeigenschaft befreiten Russlands düsterer, als in den letzten Tagen Nikolais, als in den Tagen der Niederlagen in der Krim. Unsere Arbeit wäre allzu unvollständig, wenn wir nicht die Erklärung für eine so traurige Erscheinung suchen sollten. Für all diese Enttäuschungen, die allzu zahlreich und zu gleichzeitig sind, als dass sie nicht eine gemeinsame Ursache haben sollten, lassen sich leicht zwei Gründe linden, die einander entgegengesetzt und von gleicher Einfachheit sind. Erklärt sich jene Erscheinung nicht zuerst aus der Zahl und der Hast der so zusammengedrängten Reformen? Von allen Antworten, die auf eine solche Frage gegeben worden, ist dies die natürlichste. Man kann nicht, so heisst es, an alle Gewohnheiten und Gesetze eines Landes rühren, ohne Unordnung zu erregen, ohne in vielen Gemüthern eine Verwirrung zu erzeugen, deren Wirkungen violleicht furchtbar sind. Jede Veränderung hat ]) S. Rev. (1. d. M. vom 1. Apr. IHM : L'empercur Alexandre I et la mission du nouveau tsar, Uebelstände; selbst die unvermeidlichsten bringen zeitweilig Verwirrung hervor. Jede Reform hat ihre Mängel, wären es auch nur die Hoffnungen und Illusionen, die jede weckt. Die russische Gesellschaft ist seit einem Vierteljahrhundert in allzugrosse Bewegung versetzt, um ihre Fassung wiederzufinden. In ihrem Fortschrittsdurst hat die öffentliche Meinung Alles für möglich gehalten und ist überall unbefriedigt geblieben. Statt den neuen Gesetzen Zeit zu lassen, Früchte zu tragen und zu reifen, ist man nur bemüht gewesen, Neuerungen auf Neuerungen zu pfropfen. Unruhe der Geister, unbestimmte Wünsche und unbedachte Forderungen, Ernüchterung nach trügerische]i Träumen, Ungeduld über die Hindernisse und die Länge des Weges, Zorn und Groll gegen Menschen und Verhältnisse — wäre es nicht auch ohne die grosse Erschütterung der Emanzipation, der gefährdeten Vermögen und der wankenden Existenzen schon an alledem genug, um die Eroberungen des revolutionären Geistes in einer Jugend zu erklären, die blind in ihrer Selbstüberschätzung und bar jeder Erfahrung ist, und das in einer Nation, die selbst keine Erfahrungen besitzt, unerprobt auf sich selbst vertraut, sieh dabei als zurückgeblieben hinter den andern erkennt, diese Denuilhigung — oft ohne sie einzugestehn, — empfindet und in ihrer Hast, die andern einzuholen oder zu überholen, nicht begreifen will, dass die ersten Bedingungen eines gesunden Fortschritts Zeit und Geduld sind? Irrthum! — so hören wir in einem andern Lager rufen; — die Ursache allen Uebels ist, dass es an diesen zahlreichen Reformen noch nicht genug war, dass sie meist schlecht verstanden oder schlecht ins Werk gesetzt wurden, dass der Gesetzgeber in seinen Gesetzen nicht nach seinen Prinzipien zu handeln wagte, und dass die Staatsgewalt bei ihrer Ausführung nicht ihren eigenen Gesetzen folgte. Man hat keineswegs zuviel, man hat zu wenig gethan; man ist nicht dem Uebermass verfallen, man ist vor dem Notwendigen zurückgewichen. Wie die Revolutionen, ruft eine Reform die andre hervor; sie ergänzen und stützen sich gegenseitig, sie können vereinzelt nicht bestehen, und von allen, die seit fünfundzwanzig Jahren versucht wurden, ist keine einzige, die entbehrlich gewesen wäre. Reformen sind eine Kette, in der ein Hing den andern hält, aber in Russland fehlen dieser Kette noch manche Ringe. Das Uebel liegt in den halben Massregeln, in den Beschränkungen, in den Widersprüchen; es liegt darin, dass man bei den Neuerungen zuviel des Alten erhalten hat, dass man — der evangelischen Vorschrift uneingedenk, neues Tuch auf alte Kleider gesetzt, neuen Wein in alte Schläuche gefüllt hat, auf die Gefahr hin, diese zu sprengen. In der complizirten Welt der Politik hat die Wahrheit oft mehrere Gesichter. Zwei scheinbar anvereinbare Behauptungen können beide eine halbe Wahrheit enthüllen. Dies ist hier der Fall. In jedem Lande isl es schwer, grosse Veränderungen zu vollziehen, ohne die Träume von noch grösseren zu wecken, schwer den Untergrund der Gesellschaft in Bewegung zu setzen, ohne das ganze Gefäss zu erschüttern. Bei politischen Umgestaltungen kann einem Volk wohl die Revolution, doch schwerlich die Regung des revolutionären Geistes erspart bleiben. In Russland ist, dies jedoch nur der geringste Grund für die augenblicklichen Schwierigkeiten. Die tiefste, die hauptsächlichste Ursache ist — wie wir schon wiederholt hervorgehoben haben, — der Mangel an Folgerichtigkeit, an einem allgemeinen Flau aller dieser Reformen, die oft ohne inneres Band, selbst ohne Verkettung ihrer einzelnen Theilo an einander gesetzt und fast alle in der Ausführung schon beschränkt, umgangen und wie absichtlich von Denen disereditirt worden sind, denen ihre Anwendung übertragen war. Es ist der Mangel an Übereinstimmung der neuen Gesetze unter sich und dieser Gesetze mit den alten Sitten und den Ueberbleibseln der alten, noch fortbestehenden Institutionen. Das Russland der Reformen gleicht einem alten Hause, das in einzelnen seiner Theile neu aufgebaut, in andern fast unverändert erhalten ist, ohne dass der Architekt sich die Mühe gegeben hätte, die einzelnen Theile in Einklang zu bringen und die Unterschiede der Stockhöhen auszugleichen, so dass niedrige und dunkle Säle auf hohe und gut beleuchtete Zimmer folgen. Wie wäre es zu verwundern, dass unter den Bewohnern die einen den zerstörten Theil beklagen, während die jungem fordern, dass Alles niedergerissen werde, um neu aufgebaut zu werden. Dieser doppelte Mangel an der inneren Uebereinstimmung der Institutionen und der Uebereinstimmung der Institutionen mit dem Verfahren der Regierung wäre schon genügend, den revolutionären tieist grosszuziehn. Aber für die Verbreitung des Radikalismus und der Umsturzideeen giebt es noch eine mindestens ebenso wichtige Ursache, die nicht übersehen werden darf. Neben dem Zwiespalt Russlands mit sich selbst und seinem Mangel an Fühlung mit seinem eigenen Gebiete, besteht ein Zwiespalt zwischen llussland und dem modernen Europa, ein Gegensatz der Formen und Grundsätze seiner Regierung zu Allem, was es umgiebt und ihm angrenzt, zu dem Geiste unseres Zeitalters und unserer Civilisation. Wenn die Revolution im Zarenreiche keine Wurzeln fassen soll, muss Russland vor Allem mit sich selbst in Frieden und mit der äussern Welt in Ein- tracht stehn, mit joner Welt von heute, die, ohne es zu wollen, einen grossen Druck auf jenes übt. Von diesen beinahe gleich wesentlichen Bedingungen fehlt ihm aber die eine wie die andere. Die Hussen betrachten die Revolutionen gern wie eine Art von Greisenkrankheit, die durch Störung oder Mangel an Gleichgewicht in den sozialen Organen, hier durch Atrophie dort durch Hypertrophie entstehen. Da sie sich jung fühlen, schmeicheln sie sich des Glaubens, durch ihre sozialen Zustände vor solchen greisenhaften Anfällen geschützt zu sein. In ihren Augen ist die Revolution das Resultat des Proletariats und des Classenkanipfes; wie könnte der revolutionäre Geist in ein Land eindringen, das Dank seiner besondern Besitzform weder Proletariat, noch Standesgegensätze kennt? So lange der Mir des Bauern besteht, ist derartiges nicht zu fürchten. Um zu zeigen, wie unbegründet dieses Axiom des Nationalstolzes sei, brauchte man nicht abzuwarten, bis Verschwörungen den Vertrauensvollsten die Augen öffneten. Gegen die Forderungen der Revolutionäre ist der moskowitische „Mir", wie wir es wiederholt ausgesprochen1), eine durchaus ungenügende Sicherheit. Nicht alle Revolutionen gehen aus ('lassenkämpfen hervor. Die radikalen Lehren entspringen nicht allein in den Werkstätten der Arbeiter und Proletarier; finden sie hier auch den günstigsten Boden, so ist es doch nicht der einzige, in dem sie keimen können. Allerdings ist die Atmosphäre, in welcher sich in Russland die Neuerungstriebe und die revolutionären Neigungen entwickeln, weit verschieden von derjenigen, in welcher sie im Westen die meisten Anhänger finden. Die Behauptungen und Forderungen, die Systeme und die chimärischen Wünsche sind sieh im Grunde dort wie hier sehr ähnlich; aber durchaus verschieden sind die Apostel und die Proselyten des Radikalismus. Dies ist eine von den Erscheinungen, die am meisten Beachtung verdienen. Es giebt noch andre Gründe für die Erregung der Einzelnen, als Entbehrungen und Leiden des materiellen Lebens; es giebt für die Völker noch andre Bedürfnisse, als die wirthschaftlichen. Russland selbst ist ein Beispiel hiefür; mögen immerhin viele Russen behaupten, dass es in ihrem Lande keine politischen Fragen giebt, sondern nur wirtschaftliche: die Ereignisse strafen diese Art von Materialismus Lügen. Wenn die von den meisten Revolutionären aufgestellten For- ') S. Band 1, Buch VIII, Kap. VII und Rev. d. d. M. vom 15. Nov. 1876 und 1. März 187!). derungen auch den Sozialismus und den Umsturz in den Vordergrund schieben, so sind doch der ökonomische Zustand und die materielle Lage des Landes durchaus nicht die einzigen noch auch die hauptsächlichsten Ursachen des Anpralls der revolutionären Ideen. Vor Allem haben der moralische Druck, die geistigen Schranken und Entbehrungen, die dem politischen System eigen sind, die Entwicklung des Radikalismus begünstigt. Es war die geistige Diät, welche die Geister erbittert und irreleitet, die Charaktere schwächt, das Nervensystem überreizt und so die Russen zu seltsamen Gelüsten, zu leidenschaftlichen Erregungen und zu krankhaften Traumgebilden geneigt macht. Wie liesse sich anders die Nachricht und die Gunst erklären, welche die Oppositionsideen oder gar die revolutionären Sophismen in den Gesellschaftsclassen linden, die ganz offenbar an der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung interessirt sind? Wir haben es bereits hervorgehoben ]): in Russland rekrutiren sich nicht die zahlreichen, und die leidenschaftlichsten Gegner der Regierung aus dem niedern Volke der Städte und des Landes, nicht aus den enterbten Classen, die am meisten Grund zur Klage hallen. Nein, aus den gebildeten ('lassen, die bis vor Kurzem noch die privilegirten hiessen, aus der dünnen Schicht, die im Gegensatz zu den Volksmassen mit dem Namen der „Intelligenz" bezeichnet wird1). Es ist nichts Wunderbares dabei, da den Gebildeten der innere Zwiespalt des Landes am fühlbarsten und schmerzlichsten sein muss. So haben zuerst durch sie und die hohe Aristokratie die revolutionären Ideeen zugleich mit den liberalen seit Alexander I. in das Reich Eingang gefunden. Seil jener Zeit, seit dem Misserfolg der Verschworenen von 1825 sind viele Fortschritte vollzogen und viele Missbräuche unterdrückt, aber — wrie Tooqueville treffend mit Bezug auf das alte Frankreich sagt — gerade in dem Augenblick, wo die Missbräuche weniger schwer werden, erbittern sie oft am meisten. Wenn die schrankenlose Wildheit der umstürzenden Lehren und die grausamen Mordanfälle der revolutionären Gesellen den Credit der revolutionären Ideeen und des radikalen Dilettantismus in der hohen Gesellschaft auch wesentlich hinabgedrückt haben, so bleibt doch bei fast Allein, J) S. Bd. I, Buch V, Kap. III und Buch II, Kap. III. a) Nuch statistischen Angaben von 1H80 sind vier Fünftel der von der Polizei ergiflenen Agitators Adlige, Sühne von Priestern, von Beamten, Offizieren, Kauftentec und Ehrenbürgern. ^0% sind kleine Beamte, Arbeiter oder für die Propaganda angeworbene Bauern. was durch Stellung und Charakter unabhängig, bei Allem, was nicht persönlich an den Missbräuchen intorossirt ist, ein (iührungsstoff der Opposition und des unbestimmten Liberalismus zurück, den die Regierung zu allererst mit der Revolution zu verwechseln pflegt. Ks giebt heute vielleicht kein Land, in dem der Geist der Opposition so verbreitet ist. Die Gesellschaftselassen, die anderwärts für die conservativen und leitenden gelten, sind von ihm mehr oder minder durchdrungen. Der hohe Adel und die hohen Staatsbeamten halten sieh in der Regel klüglich innerhalb der Grenzen einer spöttischen Fronde; aber der kleine Adel und das aufkommende Bürgerthum, die niedern Classen des Tsohinownikthums und die Söhne des niedern Klerus sind für die Agitation eine unerschöpfliche Pflanzschule. In den Schichten der „Intelligenz," die dem Volke nahestehn, in den ärmeren und halbgebildeten ('lassen macht die revolutionäre Propaganda die meisten Proselyten. Das ist natürlich: hier verbinden sich mit dem moralischen Missbehagon und den geistigen Entbehrungen der materielle Zwang und die Lasten des täglichen Lehens; in die ideale Empörung des Gemüths gegen die Ungerechtigkeiten und Widersprüche eines Regiments der Willkür mischen sich der selbstsüchtige Groll und die persönliche Erbitterung gegen die scheinbaren oder wirklichen Mängel einer sozialen Ordnung, die aus einem grossen und fruchtbaren Reiche ein Land des Elends zu machen scheint. Die Schulen sind — wie der Leser bereits weiss — die Hauptherde des Radikalismus, und je höher die Sehlde, um so revolutionärer der Geist ihrer Zöglinge1). Das kann nicht überraschen, da die Schule in verhängnissvoller Weise die Jugend für Ideale vorbereitet, welche das Regierungssystem des Landes nicht befriedigen kann. In dieser Beziehung kann sich die Staatsgewalt keiner Täuschung hingeben; durch die Bedürfnisse, welche Wissenschaft und Bildung grossziehn, durch den Geist der Forschung, den sie wachrufen, durch den Glauben an Recht und Vernunft, den sie einflössen, durch den Wissensdurst, den sie wecken, und durch die Vergleiche, zu denen sie auffordern, — durch all dieses-wegen Wissenschaft und Bildung, *) Auch hier giebt die Statistik interessante Autschlüsse. In diesem Volke, dessen unermessl iche Mehrzahl noch analphabct ist, findet sich kaum ein Lcsens-kuudiger unter 100 feurigen Revolutionären. Unter den Verschwörern haben 80% eine höhere oder Mittelbildung, die meisten in Kronsschulen, erhalten. Gleiche Ergebnisse beim Weihlichen Geachlecht. („Abiturienten = Proletariat" hat Bismarck in seiner Keichstagsrede vom !>. Mai ISSt die Nihilisten genannt. Der Uehera.) so sehr man sie unter Aufsicht stelle, unabweislioh den Trieb zur Kritik, zu freier Forschung, folglich zum Liberalismus und zum Geiste der Neuerungen an. Aus diesem Grunde werden die Unterthanen eines Selbstherrschers um so weniger zuverlässig sein, je mehr die Grenzen ihres geistigen Gesichtskreises sich erweitern. Die kaiserliehe Regierung hat dies dunkel empfunden; daher — trotz ihres cdeln Bemühens um die Hebung des geistigen Niveaus der Nation — ihre häufigen Beschränkungsmassregeln gegen Wissenschaft, Universitäten und Schulen. Nikolai hatte bekanntlich die Zahl der Studirendeii systematisch beschränkt und den Unterricht gekürzt. Alexander II. gebührt die Ehre, einem solchen Beispiel nicht gefolgt zu sein; aber trotz aller offiziellen Ermuthigungen, die verschwenderisch ihr zu Theil wurden, blieb die AVissenschaft, — Lehrer wie Schüler, — in den Augen der Regierung mehr oder minder verdächtig. Es kann kaum anders sein, dieser Verdacht, der sich schlecht hinter lästigen Massregelungen und eifersüchtiger Bevormundung verbarg, musste unausbleiblich Lehrer und Schüler verstimmen. Je beschränkter die den Wissenschaften auferlegte Führung war, um so misstrauisohef war die Jugend. Wir haben schon des politischen Misserlolgs des Classizismus und der verschiedenen pädagogischen Methoden erwähnt, die von den verschiedenen Ministem nach einander empfohlen wurden1). Ob classisch oder „real," ob von dem antiken Idealismus oder von dem modernen Realismus durchdrungen, jedes Studium musste die Widersprüche des russischen Lebens in gefährlicher Weise klarlegen und in der Aufgabe, Unterthanen für die Autokratie zu bilden, scheitern. Hierzu bedurfte es der alten Familienerziehung, die ganz äusserlich, ganz formal und oberflächlich war. In jedem Lande, das Russland ähnlich ist, hätte die Verbreitung der Bildung im Anfange zu Gunsten der Revolution gewirkt; aber diese Erscheinung ist durch die Bedingungen des russischen Unterrichtswesens besonders scharf hervorgetreten. Ich rede hier nicht allein von den Nörgeleien, die über Lehrende und Lernende verhängt werden, nicht von den tyrannischen Verordnungen einiger Minister, von der herabwürdigenden Behandlung der Universitätskörper, von dem aufregenden Reizen, welche die Gensur den verbotenen Schriften und Schriftstellern verleiht: ich rede von der allgemeinen Organisation des Unterrichtswesens und den besonderen Schuleigenthümliohkoiten des Reichs. Zuerst ist Russland, wo früher der häusliche Unterricht fast allein bestand, jetzt vielleicht das Land, in dem der ») S. Bd. I, Buch III, Kap. IV. I.eroy-Heaulleu, Keioli ie . verschmolzen werden, die sonst in zwei getrennte Kammern ge-theilt sind. In jedem Falle wäre es ausserordentlich leicht, ein gleiches Verfahren auf Hussland anzuwenden; man hätte nur dem Reichsrath (gossudarstwennüi Ssowet) neben einigen hohen Würdenträgern des Civil- und Militärstandes und der Geistlichkeit gewählte Vertreter der Nation, beispielsweise Abgeordnete der Landschaften (semstwo) hinzuzufügen. Aus einer solchen Verquickung würde eine Versammlung von gemischtem Charakter hervorgehn, die für die Regierung sehr wenig Beunruhigendes hätte. Bekanntlich ist in den letzten Jahren wiederholt von einer derartigen Massnahme die Rede gewesen. Das wäre ein Repräsentativsystem in kleiner, sozusagen in homöopathischer Dosis gewesen. Eine solche Verfassung hätte sicherlich ihr Neues, etwas Russisches und Nationales. So wenig sie zu bieten scheint, wäre sie doch zur Zeit ein grosser Sehritt, laue halbbureau-kratische Versammlung, wie sie vor Kurzem den Bulgaren vorgeschlagen wurde, hätte zum Uebergang, gleichsam zur Brücke von dem jetzigen autokratischen System zu einem wirklich constitutione!len dienen können, wenn später, bei fortschreitender politischer Bildung, eine derartige Versammlung getheilt würde, so dass in einer Kammer die unmittelbaren Vertreter der Nation, in der andern die hohen Würdenträger mit den Delegirten der Krone süssen. Es ist gegen Ende der Regierung Alexanders 11. von einer andern Combination die Rede gewesen, deren Ausführung allein durch das jähe Ende dieses Fürsten gehindert wurde. Es handelte sich um nichts Geringeres, als um die Berufung einer ganz von den Gouvernementslandschaften und Dumen der grossen Städte gewählten Versammlung. Es war im Anfang des Jahres 1881 unter dem Ministerium Loris-Melikow. Der General und mehrere seiner Collegen empfanden die Noth wendigkeit, sich der wirksamen Unterstützung der Nation zu versichern, und erkannten wohl, dass sie dieselbe nur erhalten konnten, wenn sie Vertreter des Volkes zusammenriefen. Es war schwer, einen solchen Gedanken dem Kaiser Alexander IL annehmbar zu machen, der zwar persönlich an dem absoluten Regiment nicht hing, aber sich nicht für berufen hielt, die constitutionelle Aera zu eröffnen. Um seine Bedenken und Einwendungen zu beseitigen, wie auch um den Uebergang von der alten zur neuen Ordnung zu ebnen, hatten seine Mildster nur gewagt, ihm eine berathende Versammlung vorzuschlagen. Wie jetzt der Reichsrath, hätte der neue russische Ssobor nur die Gesetze zu prüfen gehabt, die der Entwurf ihm vorlegen sollte. Die Entscheidung wäre immer dem Kaiser verblieben. Man stellte dem Zaren vor, dass auf diese Weise die Selbstherrschaft unangetastet bliebe. Alexander II. scheint gefühlt zu haben, dass die Thatsachen der Theorie nicht entsprechen könnton, und dass man — einmal auf diesen Weg gedrängt, — des Punctes nicht mehr Bichel sei, wo man stillestehn könne. „Meine Herren", sagte er in einer ('onseilssitzung, „was man uns vorschlägt, ist die Notabelnver-sammlung Ludwigs XVI. Man darf nicht vergessen, was ihr folgte. Halten Sie es dennoch für nützlich für das Land, so erhebe ich keinen Widerspruch" 1). Die Vorlage wurde in einer Sitzung herathen, an welcher mehrere Grossfürsten, namentlich auch der Thronfolger, jetzt Kaiser Alexander III. theilnahmen. Nach einer langen Verhandlung wurde der vom General Loris-Melikow, von Abasa und dem Grafen Walujew lebhaft unterstützte Entwurf im Prinzip angenommen. Eine Commission wurde beauftragt, die Einzelheiten zu prüfen und die Grundbedingungen festzustellen. Sie hatte sich im Anitschkowpalais, beim Grossfürst-Thronfolger versammelt, auf dessen Zustimmung natürlich ein grosses Gewicht gelegt wurde, und der überdies schon vorläufig von dem General Loris-Melikow sondirt war und hierbei seine ermuthigenden Aeusserungen nicht zurückgehalten hatte. Im Februar 1881 stand also Russland vor der .Berufung einer Repräsentativversammlung, die der Ausgangspiinet einer Umwälzung gewesen wäre, deren Ende Niemand absah. Der Beschluss war ge-fasst, die neue Verfassung mit Zustimmung des Herrschers und seines Thronerben redigirt. Eine Art Verhängniss hinderte ihre Veröffentlichung und warf vielleicht für lange Zeit Russland in das Ungewisse zurück. Von Natur zum Aufschieben geneigt, zu jener Zeit von den späten Freuden seiner jungen morganatischen Ehe in Anspruch genommen, verschob Alexander II. die Veröffentlichung der Acte, von der des Reiches Zukunft und seine eigene Existenz abhing, auf einige Wochen, bis nach Ablauf der Fasten, bis nach dem Osterfest. Er hatte vergessen, dass Niemand Herr des nächsten Morgens ist. Das geschah, wie es scheint, nicht weil er schwankte oder seinen Ent-schluss umstossen wollte. Tragisch genug, ein Hinweis darauf, an welchen Umständen mitunter das Loos der Fürsten und Reiche hängt: !) Ich habe diese und die führenden Einzelheiten aus sicherer Quelle, namentlich von einem der damaligen Minister. Ich hatte schon früher, gleich nach dem Tode Alexanders IL, gemeldet, dass dieser Eürst im Begriffe gestanden, eine National Versammlung zu berufen, aber ich kannte damals die Bedingungen noch nicht genau. Rev, d. d. M. 1. April 81. an seinem Todestag, am Morgen des Sonntags, 1./13. März 1881, vor seinem Aufbruch zur Parade, von der er sterbend zurückkehren sollte, hatte Alexander, dem am Abend vorher die Gefangennahme Sheläbows und die Entdeckung einer neuen Verschwörung gemeldet worden, dem Ministerium des Innern den Befehl zugesandt, am Montag im „Regierungsanzeiger" die wichtige, seinen Unterthancn gewährte Reform zu veröffentlichen. Ein Tag Verspätung in den Vorbereitungen der Sophie Perowski und des Kibaltschitsch, und Russland wäre auf den Weg politischer Freiheit gewiesen worden. So unvollkommen diese Art von berathender Versammlung und diese embryonische Verfassung scheinen mochten, so hätte ihre Veröffentlichung doch vielleicht die Hand der verirrten Fanatiker zurückgehalten und Russland eine grosse Trauer, der Dynastie und dem Lande aber grosse Gefahren erspart. Wenige Augenblicke, bevor Alexander IL das Winterpalais ver-liess, sagte er seiner neuen Gemahlin, der Fürstin Jurgiewski: „Ich habe soeben ein Papier unterzeichnet, das — wie ich hoffe — einen guten Eindruck machen und Russland bekannt geben wird, dass ich ihm Alles, was möglich ist, gewähre". Und nach seiner Gewohnheit bei feierlichen Gelegenheiten, bekreuzte er sich und fügte hinzu: „Morgen wird es veröffentlicht, ich habe Befehl dazu gegeben"x). Der Befehl wurde thatsächlich überbracht, der offizielle Text in die Druckerei geschickt; man war in derselben Stunde, in welcher der Zar verschied, mit dem Setzen beschäftigt. In der Verwirrung, die dem Attentat folgte, mitten in der Unordnung des Trauerpalasts trat General Loris-Melikow auf den neuen Herrscher zu, theilte ihm den am Morgen erlassenen Befehl mit und fragte, ob er ihn ausführen solle. „Aendere nichts an den Befehlen meines Vaters", antwortete Alexander III., „das soll sein Testament sein". Warum ist er nicht bei dieser Entscheidung geblieben, warum hat er den letzten Willen seines Vorgängers nicht in Ehren gehalten! Mit Anerkennung dieses Vermächtnisses, das mit dem noch feuchten Blute des „Märtyrer-Zaren" gezeichnet war, wäre Alexander III. vielen Verlegenheiten und Schwankungen entgangen. Die neue Regierung wäre nicht den gefährlichen Versuchungen der Reaktion, noch der lähmenden Unschlüssigkeit verfallen. Wenn sie unverzüglich, im Namen des *) Diese Worte, die unsre Darstellung bestätigen, sind einem Ideinen Rändchen entnommen, das der Fürstin Jurgiewski zugeschrieben wird (Alexandre II, Details inddits Sur sa vie intime et sa mort par V. Lafertö. Georg. Basel. Genf 1SK2). In dieser Schrift wird der Inhalt des fraglichen Dokuments nicht enthüllt, aber für uns macht das die Sache nicht zweifelhafter. ermordeten Kaisers gehandelt hätte, so wäre sie den Wünschen der öffentlichen Meinung zuvorgekommen, ohne den Schein der Nachgiebigkeit gegen die Gewalt des Aufruhrs auf sich zu laden; sie hätte zugleich das Andenken des Vaters geehrt und den Zauber der Krone wiederhergestellt. Man stelle sich vor, was das Volk empfunden hätte, wie die Verschwörer bestürzt gewesen wären, wenn Kussland und Europa gleichzeitig den gewaltsamen Tod und die Berufung einer Repräsentativrersammlung durch den Verblichenen erfahren hätten. Biese bescheidene posthume Verfassung hätte aus den so dramatischen Einständen eine Art von Weihe geschöpft. An diesem Tage, am Abend des 1./13. März konnte Alexander III. die Gelegenheit aufs Neue wahrnehmen, die Alexander II. sich hatte entgehen lassen. Man stand in einem jener kritischen Momente, in denen eine flüchtige Stunde über die Zukunft einer Regierung entscheiden kann. Alexander III. erkannte das nicht. Unter dem Einflüsse einiger Hathgeber änderte der kaiserliche Zögling Pobedonos-zews seine ursprüngliche Absicht. Der Minister des Innern erhielt mitten in der Nacht Gegenbefehl. Der von Alexander II. genehmigte Entwurf, der soeben in der Druckerei abgezogen werden sollte, erschien am Morgen nicht in dem Begierlingsanzeiger. Die neue Massregel, hatte man dem jungen Kaiser gesagt, sei noch nicht gründlich genug geprüf! worden; vor einem solchen Schritte müsse man all seine Fullen wägen. Einige Tage später verhandelte ein ausserordentlicher Conseil, zu dem einige Ueberlebendo aus der Regierungszeit Nikolais und erklärte Parteigänger des Status quo geladen waren, die Angelegenheit in Gegenwart des Kaisers noch einmal. Diesmal trium-phirte die Politik des Stillstands. Die Berufung einer Versammlung wurde für unklug und für verfrüht erklärt. Die Frage wurde vertagt, das heisst ins Ungewisse verschoben. Augenzeugen versicherten mir, dass der Kaiser gegen Ende dieser Berathung von einer Art Unwohlsein oder Schwäche befallen sei, als habe er das Verhängnissvolle in seinem Bündniss mit dieser Partei vorgefühlt. So hat die Autokratie in einer kurzen Spanne Zeit, in den letzten Tagen Alexanders IL, in den ersten der Regierung Alexanders III., zwei- oder dreimal aus Mangel an Entschlossenheit die günstige Stunde vorübergehn lassen. Sie wird vielleicht einen so günstigen Augenblick nie wiederfinden. Aber, dass man gestern die Gelegenheit verpassto, ist das ein Grund, heute nichts zu thun? Dass die Feinde des Thrones von Neuem zu Minen und Bomben gegriffen haben, dass trotz ihrer Versprechungen einige Fanatiker der Revolution wohl kaum vor den L or ..}• - Jl o;i u 1 i i! u ,