Rainer Thurnher DOMESTIZIERTE, LATENTE und eruptive Gewalt im aktuellen Kontext. Die nachfolgenden Ausführungen haben, wie ich gleich vorausschicken möch- 147 te, experimentellen Charakter. Es handelt sich um die Erprobung von Thesen, und so wird das Gebotene zwangsläufig rudimentär und unfertig sein. Es geht mir darum, mittels einiger Thesen Schlaglichter zu werfen auf die Phänomene Gewalt, Solidarität und mediale Vermittlung derselben, aber auch auf den Zusammenhang zwischen diesen Phänomenen. So werden meine Ausführungen zwangsläufig unvollständig, rhapsodisch und sprunghaft sein, wofür ich im vorhinein um Nachsicht bitte. Vielleicht ist aber gerade eine solche dialektische und polyperspektivische Darstellungsform die der Thematik einzig angemessene. Es könnte immerhin sein, daß ein wohlgerundeter Traktat über diese Themen, eine fortlaufende Abhandlung im Ausspinnen eines einheitlichen argumentativen Fadens, an der Oberfläche bliebe, während man mit einer jäh wechselnden Beleuchtung von Aspekten hier eher in das zutiefst Ambivalente und Abgründige dieser Zusammenhänge einigen Einblick gewinnt. Ich möchte im folgenden, und dies ist meine erste These, die Entwicklung der Zivilisation interpretieren und rekonstruieren als Prozeß der Domestikation von Gewalt; als einen Versuch ihrer Bannung und Eindämmung. Für sich allein genommen wäre diese These freilich reichlich trivial und wenig originell. Ich füge ihr deshalb sogleich, als mephistophelischen Kommentar sozusagen, weitere Thesen hinzu, so zunächst die, daß der Prozeß der zivilisatorischen Bändigung von Gewalt stets begleitet war von einem Prozeß der psychischen Verdrängung von Gewalt, einem Prozeß der Lenkung menschlicher Wahrnehmung im Sinne einer Ausblendung oder Abschwächung des Phänomens der Gewalt. So kann man auch die These wagen (es wäre dies meine dritte), die mentale Verdrängung von Gewalt habe wesentlich dazu beigetragen, daß das zivilisatorische Konzept der Bändigung von Gewalt sich bisher als ein erfolgreiches Unternehmen darstellen konnte. Denn meine vierte These lautet, daß jede Form der Bändigung von Gewalt nur unter Gewaltanwendung und in einem äußerst heiklen und delikaten Umgang mit Gewalt möglich ist; einem Umgang mit Gewalt, der potentielle oder aktuelle Gegengewalt evoziert. Anders formuliert: Jedes Eindämmen von Gewalt ist begleitet von einem (autorisierten) Einsatz von Gewalt und einem reaktiven (anarchischen) Rückfluten von Gewalt. These fünf lautet: der eben beschriebene Umgang mit Gewalt ist, neben anderen, einer der Bereiche, und zwar ein nicht unwesentlicher, in dem eine gezielte mediale Vermittlung von Gewalt von alters her statthat. Bei alledem haben wir den Gedanken der Solidarisierung, das Prinzip der Solidarität noch nicht berücksichtigt. So formuliere ich abschließend die These, nicht weniger versuchsweise als die vorangegangenen, daß ohne den Solidarismus die ohnehin stets labile Domestikation von Gewalt gänzlich undenkbar wäre und gewesen wäre. Bevor ich auf einzelne dieser Thesen eingehe, möchte ich den Begriff bzw. das Phänomen der Gewalt zunächst ins Auge fassen. Gewalt stellt sich naheliegenderweise unter zwei Aspekten dar: Unter dem Aspekt dessen, der Gewalt hat und Gewalt ausübt und unter dem Aspekt dessen, der sich der Gewalt gegenübersieht und sie erleidet. Gewalt zu haben oder auszuüben vermittelt ein anderes Selbstwertgefühl, als sich der Gewalt gegenüberzusehen und sie erdulden zu müssen. Es zeigt sich in der Wahrnehmung und Bewertung von Gewalt somit eine signifikante Asymmetrie. Der Gewalt Erleidende ist trivialerweise, was die Wahrnehmung von Gewalt betrifft, empfindlicher als der aktive Part. Dies gilt vor allem für jenen Bereich, wo wir es nicht mit manifester Gewalt, die physische Spuren hinterläßt, zu tun haben, sondern mit latenter Gewalt, die Verletzungen im Bereich des Seelischen zur Folge hat. Wo der Gewaltsame unter Umständen längst nicht mehr die Empfindung hat, Gewalt auszuüben, nimmt das Opfer sehr wohl die Verletzungen des Stolzes, des Selbstwertgefühls, der persönlichen Integrität, seiner Überzeugungen usw. wahr. Und zur Empörung darüber, daß es verletzt wird, gesellt sich die Empörung über die Unempfindlichkeit dessen, der die Gewalt ausübt. Hier entsteht in der Folge beim Gekränkten die Neigung, sich bemerkbar zu machen. Eine zielführende verbale Kommunikation scheint indes in einer solchen Konstellation nur schwer möglich zu sein - eben deswegen, weil die Wahrnehmungsweisen der beiden Parteien aufgrund der genannten Asymmetrie inkommensurabel sind, und sodann auch deswegen, weil das Interesse an einer solchen Verständigung zwischen ihnen ebenfalls ungleich verteilt ist - anfänglich mindestens. Wo aber ein Dialog unmöglich zu sein scheint, ist eine der nächstliegenden Artikulationsformen (wenn dieses Wort dafür überhaupt angebracht ist) - Gewalt, und zwar möglichst auffällige Gewalt, Gewalt mit einem Knalleffekt sozusagen, der - unter den Bedingungen der modernen Kommunikationsgesellschaft - auch medial wahrgenommen und millionenfach verstärkt wird. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Wir kennen das Phänomen mittlerweile leider zur Genüge. Wenn wir von Gewalt reden, blicken wir nur allzugern von uns weg. Die Gewalt ist immer die Gewalt der anderen. Sprechen wir über die menschliche Gewalt im allgemeinen, so blicken wir gerne auf die Tierwelt. Es schmeichelt dem Menschen als animal rationale, zu sagen, nicht er als Vernunftwesen sei gewaltsam, sondern der unbewältigte Rest von Natur in ihm. Blicken wir auf die Tierwelt, so nehmen wir zahme, jeder Gewalt entbehrende Gattungen wahr. Da sie nur begrenzt über Mittel verfügen, sich zu wehren, sind sie, wie schon von den antiken Autoren bemerkt, besonders schnell oder von hoher Reproduktionsfähigkeit. Es gibt die Parasiten, die zwar räuberisch sind, in ihrem eigenen Interesse aber auf eine gemäßigte Weise, so daß der Wirt daran nicht zugrunde geht. Und es gibt die wilden Tiere, die sich von anderen ernähren und sich durch Gewalt gegen andere behaupten. Sie folgen darin ihrem Selbst- und Arterhaltungstrieb. Sprechen wir von der Bestie im Menschen, so haben wir wohl diese Tiere im Auge. Indessen sollte man hier vorsichtig sein. Die Gewalt, die Tiere gegen Artgenossen ausüben, hat ihre Grenzen. Bei Tieren, die in Rudeln leben, gibt es zwar die Hackordnung und innerhalb derselben den ,Prügelknaben'. All dies hat, wie die Zoologen versichern, seine Funktion. Die Hackordnung bewirkt, daß nur die stärksten Tiere sich reproduzieren, und jenes Tier, das die im Rudel bestehenden Aggressionen auf sich zieht, ist unentbehrlich für dessen Zusammenhalt und damit für das Überleben des gesamten Verbandes. In der Tierwelt gibt es aber vor allem weithin die Tötungshemmung gegenüber Artgenossen. Der Mensch scheint sie nicht zu kennen. Jedenfalls kann er sie ausschalten. Der Mensch kann seinesgleichen töten, und er tötet nicht nur aus Notwehr und im Affekt, sondern auch mit nüchterner Berechnung. Die Grausamkeit, die das Tier kennt, ist zielgerich- tet und zweckgebunden. Zwar gibt es auch in der Tierwelt das Phänomen eines sich hinziehenden, qualvollen Verendens des Opfers, aber nicht bedingt durch Rachegelüste oder ein sadistisches Wohlgefallen, die an dem Leiden als solchem sich weiden. Dergleichen delikate Dinge bleiben dem Menschen vorbehalten, und an ihnen ist seine Ratio wesentlich beteiligt. Instrumentalisiert leistet sie bereitwillig ihren Beitrag. Auch darüber muß nicht länger gesprochen werden. Wir kennen es, weniger aus unmittelbarer Anschauung, glücklicherweise, aber vom Hörensagen und aus der (leider auch jüngeren) Geschichte - oder aus gefilterter Anschauung, wie sie die Medien heute einem Publikum darbieten, das an solchem Konsum offensichtlich Gefallen findet. 150 Mit diesem Exkurs über den Blick des Menschen von sich weg zur Tierwelt hin waren wir zugleich bei den Verdrängungsstrategien von These zwei. Die soeben besprochene jedenfalls erweist sich bei näherem Hinsehen als zweischneidig. Zu seiner Demütigung muß der Mensch erkennen, daß er nicht nur über das Tier sich erheben, sondern auch unter das Niveau des Tieres sinken kann. Gewalt ist im Deutschen ein mehrdeutiger Begriff und meint - ähnlich wie das italienische forza - einerseits die Macht, das Vermögen, die Stärke (etwa wenn von der Regierungsgewalt oder der Staatsgewalt die Rede ist) und andererseits die Gewaltsamkeit, die Gewaltanwendung, die Verletzung anderer. Die Mehrdeutigkeit des Begriffs ist nicht zufällig, denn Gewalt im Sinne von Macht, von potestas bedeutet latente, gebündelte Möglichkeit - die Möglichkeit nämlich, jederzeit und überall, wo es zur Erhaltung und Entfaltung der potestas erforderlich ist, Gewalt anwenden zu können: potestas ist potentia violandi. Und: das Maß der Macht ist, wenngleich nicht ausschließlich, so doch wesentlich bestimmt durch den Umfang dieser Potenz, durch die efficacitas und die ubiquitäre Präsenz ihrer möglichen Aktualisierung. Und noch etwas gilt es zu beachten: es scheint ein Gesetz folgenden Inhalts zu geben: Je größer die potentia violandi, um so weniger wird sie actualiter zur Anwendung kommen müssen. Macht verschafft sich Respekt, der verhindert, daß sie in Frage gestellt und zur Anwendung von Gewalt herausgefordert wird. Dieses Gesetz allerdings dürfte nur bedingt gültig sein. Trifft unsere vierte These zu, daß die Domestikation von Gewalt stets begleitet ist von einem Rückfluten von Gewalt, dann muß dieses Gesetz durch Berücksichtigung zusätzlicher Faktoren wohl modifiziert werden. Jedenfalls sind wir über die Untersuchung der Mehrdeutigkeit des Wortes Gewalt zum Thema der „Kultur der Gewalt", zum Thema der Bändigung und Kanalisierung von Gewaltpotentialen geführt worden. Wir kommen so auf unsere erste These zurück, die Entwicklung der Zivilisation lasse sich interpretieren und rekonstruieren als Prozeß der Domestikation von Gewalt. Bei Giovanni Bat- tista Vico heißt es in der „Scienza Nuova" sinngemäß: Die Vorsehung, die sich der Leidenschaften der Menschen als eines natürlichen Mittels bedient, hat die Dinge so eingerichtet, daß im Übergang zum mondo civile aus der Grausamkeit die Kriegskunst, aus dem Ehrgeiz die Staatskunst und aus der Habgier der Menschen der Handel entstand.1 So gesehen ist die Staatsgewalt transformierte, gebändigte und im Zuge dieser Bändigung akkumulierte und gebündelte Gewalt. Nach Martin Luther gründet sich alle Gewalt auf die göttliche Ordnung. Er ist Vertreter der Zwei-Reiche-Lehre, wonach die weltliche, im Schwert sich darstellende Gewalt ebenso auf Gott zurückgeht wie die geistliche, im Wort sich ausdrückende Gewalt. Aufgabe der erstgenannten ist es, den rechtschaffenen Bürger zu schützen, d.h. die Einhaltung der Gesetze zu erzwingen und den Staat nach außen zu sichern. So steht Luther in der Tradition des theologischen Rechtfertigungsmodells politischer Gewalt. Dieses konnte sich im Bereich des Christentums auf Worte der Schrift berufen, etwa auf die Bezeichnung Jahwes als Herr der Könige.2 Inthronisierungsrituale, wie beispielsweise die Salbung und die Entgegennahme von Insignien, wurden als Zeichen göttlicher Legitimation in der Nachfolge Davids verstanden. Wie der Herrscher die Gewalt, die er ausübt, Gott zu verdanken hat, wird er diesem gegenüber dereinst auch Rechenschaft über sein Gebaren abzulegen haben. Der Übergang vom theologischen zum vertragstheoretischen Rechtfertigungsmodell brachte, was die Auffassung politischer Gewalt betrifft, einen grundlegenden Paradigmenwechsel. Initiiert durch Hobbes und Spinoza steht er am Beginn des neuzeitlichen Denkens und ist ebenso Ausdruck wie Teil desselben. Dem Individuum wird ein ursprüngliches und natürliches Recht auf Selbsterhaltung zuerkannt. Im Naturzustand führt die Ausübung dieses Rechts zum Krieg aller gegen alle (bellum omnium contra omnes) und dazu, daß der Mensch dem Menschen mit offener Gewalt, bildlich gesprochen als Wolf (homo homini lupus) gegenübertritt. Dem Vorteil, ohne Zwang seine Willkür ausüben und sich des anderen und seiner Güter uneingeschränkt bemächtigen zu dürfen, steht der Nachteil gegenüber, sich im Genuß der eigenen Güter sowie seiner Freiheit und Unversehrtheit ständig bedroht zu sehen. Aus wohlverstandenem Eigeninteresse unterwerfen sich daher die Individuen einem die staatliche Gewalt konstituierenden Vertrag, mit welchem der Naturzustand beendet und der bürgerliche Zustand begründet wird: Jedes Individuum tritt einen essentiellen Teil seiner Willkür, nämlich das 151 1 Cf. Giovanni Battista Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausgabe von 1774 übersetzt und eingeleitet von Erich Auerbach, Allgemeine Verlagsanstalt, München 1924; photomechanischer Nachdruck, De Gruyter Berlin 1965, S. 77. 2 Cf. Altes Testament, Buch Daniel 4, 22 u. 29. In: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Die Bibel. Gesamtausgabe, Katholische Bibelanstalt, Stuttgart 1980, S. 1002. Recht der Gewaltausübung, an den Souverän ab, der dafür dem Individuum sein Eigentum, seine Unversehrtheit und seine Freiheit garantiert. Der so gewonnene sichere Genuß des Eigentums, der Freiheit und der Integrität steht allerdings unter Einschränkungen, die im Gesetz definiert sind. Der Sinn des Gesetzes besteht darin, die Freiheit des einzelnen so zu begrenzen, daß sie, wie Kant es formuliert, „mit der Freiheit anderer bestehen"3 kann. Bei Popper findet sich eine humoristische und sehr anschauliche Umformulierung dieses Grundsatzes, die sinngemäß lautet: „Die Freiheit, mit den Fäusten um Dich zu schlagen, ist begrenzt durch die Position der Nase Deines Nachbarn."4 Die Einschränkungen durch das Gesetz sind ohne Zweifel schmerzlich: Was mein Eigentum betrifft, so habe ich Steuern zu entrichten. Liegt es im allgemeinen Interesse, kann ich partiell auch enteignet werden. Meine Freiheit ist durch eine Vielzahl von Regelungen eingeschränkt. Verletze ich das Gesetz, kann sie mir entzogen werden. Was die Integrität betrifft, kann ich im Kriegsfall gezwungen werden, meine Unversehrtheit und mein Leben aufs Spiel zu setzen. So ist es klar, daß das Gesetz zu seiner Durchsetzung der Gewalt bedarf, der potentiellen latenten zunächst und im Bedarfsfalle der aktualisierten und manifesten. 152 Hier besteht für die Staatsgewalt ein Interesse an medialer Präsentation. Strafen sollen bewirken, daß sie in Hinkunft gar nicht mehr verhängt werden müssen, weil die Bürger durch deren abschreckende Wirkung sich an das Gesetz halten. Das statuierte Exempel, die staatliche Gewalt in actu, muß also öffentlichkeitswirksam in Erscheinung treten. Frühere Zeiten kannten den Pranger, den Schauprozeß, die Hinrichtung als öffentliches Spektakel, die tagelange, auf erhöhtem Orte gut sichtbare Präsentation der abgetrennten Häupter, der Gehängten und Geräderten. Die Frage, wie in unseren Tagen die mediale Präsentation aussieht, die diesem Bedürfnis der Staatsgewalt (und mehr noch dem Bedürfnis des besorgten Spießbürgers) entspricht, sei hier nur in den Raum gestellt. Nach Kant gewährleistet der bürgerliche Zustand im Staat jenen inneren Frieden, der unerläßlich ist für die individuelle und kollektive Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten. An dieser Entfaltung, so meint Kant, habe die Natur selbst ein Interesse. Um sie zu erreichen hat die Natur, wie Kant ausführt, in den Menschen das gelegt, was er in einer paradox anmutenden Formulierung als „ungesellige Geselligkeit"5 bezeichnet. Der Mensch ist ein geselliges Wesen. Er kann nicht ohne die Gemeinschaft mit anderen sein (möglicherweise ist er, diesem Be- 3 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 5. Satz, A 395, in: Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden, ed. Weischedel, Bd. VI, 5. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstad 1998, S. 39. 4 Cf. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. II, Francke, Bern 1958, S. 153. 5 Kant, op. cit., 4. Satz, A 392, a.a.O. S. 37. dürfnis folgend, auch bereit für die anderen Opfer zu bringen, dann wäre hier die Stelle, wo bei Kant der Solidarismus seinen Ort hat). Gäbe es im Menschen nur diesen Hang zur Gemeinschaft, dann liefe er Gefahr, sich einem bequemen, dösigen Leben hinzugeben, in welchem seine Talente zu verkümmern drohten. So hat die Natur in den Menschen auch eine gegenläufige Neigung zur Dissoziation, zur Unterscheidung, zur Konkurrenz gelegt. Ihr verdanken sich die Errungenschaften des Kunstfleißes und des Handelsgeistes.6 Das bellum omnium contra omnes findet somit in sublimierter, gesetzeskonformer und dem Staatswohl außerordentlich zuträglicher Weise darin eine gewisse Fortsetzung. Kant sah diesbezüglich noch kein Problem. Es aufzuzeigen blieb anderen vorbehalten. Das Problem besteht darin, daß das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte die abundant, aber dennoch im ganzen nur begrenzt zur Verfügung stehenden Güter sehr rasch ungleich verteilt, und zwar so, daß die Akkumulation von Gütern einen zusätzlichen Konkurrenzvorteil bewirkt. Verschärfend kommt hinzu das Machtgefälle innerhalb des politischen Gefüges, insbesondere seit der politischen Emanzipation des Bürgertums. Die Industrialisierung schafft neue Umbrüche, beschleunigt den Prozeß ungleicher Verteilung zusätzlich und generiert eine wachsende Zahl von Menschen, die nichts weiter besitzen als ihre Arbeitskraft. Wo sie sie verlieren oder bei mangelnder Nachfrage gar nicht erst zum Einsatz bringen können, sind sie dem drohenden Untergang ausgeliefert. In Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts" finden wir bereits die Vorwegnahme der Marxschen Verelendungstheorie: „Wenn die bürgerliche Gesellschaft", so heißt es dort, „sich in ungehinderter Wirksamkeit befindet, so ist sie innerhalb ihrer selbst in fortschreitender Bevölkerung und Industrie begriffen. [Es] ... vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer ... auf der einen Seite, wie auf der anderen Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse" sich zeigt. Ein „Pöbel" bildet sich, und es ist absehbar „daß bei dem Übermaß des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist ... dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern". „Durch diese ihre Dialektik", so fährt Hegel fort, „wird die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben..."7 Bei der zuletzt zitierten Wendung denkt Hegel8 an den Kolonialismus und Imperialismus, d.h. der Weltgeist und seine „List der Vernunft" nutzt das hier sich abzeichnende Aggressionspotential, um die bürgerliche Gesellschaft und die abendländische Zivilisation über die ganze Erde zu verbreiten. In anderer Lesart allerdings führt 153 6 Cf. ibid., A393f., a.a.O. S. 38: „Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben, oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unterentwickelt schlummern!" 7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 243 — 246, in: G.W.F. Hegel, Werke, ed. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 7, Suhrkamp Frankfurt/M. 1970, S. 3890?. 8 Cf. ibid. § 248, a.a.O. S. 292f. 154 der Hegelsche Satz geradewegs zu Marx und zu seiner Theorie von der Unvermeidbarkeit der proletarischen Revolution, welche der bürgerlichen Gesellschaft ein Ende setzt. Für Marx sind Staat und Recht ebenso wie Religion, Philosophie und Kunst nur der ideologische Überbau, in dem sich die ungleichen Besitzverhältnisse spiegeln. Er dient dazu, diese zu legitimieren und durch List und Gewalt aufrechtzuerhalten. Gelingt es, die ökonomische Basis zu verändern und durch die „Expropriation der Expropriateure" den gesellschaftlichen Antagonismus zu beseitigen, dann, so meinte Marx, würde auch der Überbau und mit ihm die Staatsgewalt entbehrlich. Ich führe dies aus, nicht um im Auditorium philosophiehistorische Kenntnisse aufzufrischen, sondern um die These zu illustrieren, daß die Kultur der Gewalt als Bändigung und Bündelung derselben im Zusammenspiel mit zusätzlichen Faktoren leicht zu massiver struktureller Gewalt, zur Verletzung berechtigter Ansprüche von Menschen führen kann, wodurch Potentiale der Gegengewalt, aber auch, wie bei Marx, utopische und verhängnisvolle Delirien generiert werden. Außerhalb einer sinnvoll organisierten und von der Mehrheit der Bürger akzeptierten Staatsgewalt gibt es nämlich nicht die klassenlose Gesellschaft, sondern nur die Anarchie und das Chaos und den Weg in neue, barbarische Formen der Diktatur. Was Anarchie bedeutet, haben wir vor einigen Jahren ansatzweise in Albanien vorgeführt bekommen. Und es wird uns vorgeführt in jenen Territorien von Entwicklungsländern, die wegen besonderer Umstände der staatlichen Kontrolle entzogen bleiben und somit der Willkür von Banden und lokalen Kriegsherren ausgeliefert sind. Es darf aber auch nicht übersehen werden, daß sich selbst im Inneren demokratischer Rechtsstaaten insulare mafiose Strukturen bilden können, die sich dem Durchgriff staatlicher Gewalt erfolgreich entziehen. So entstehen in den Staaten selbst Inseln der Anarchie, in welchen Mord, Erpressung, Menschenraub, Sklaverei und Menschenhandel, im ganzen also massive Formen von Gewalt, sich breitmachen können. Auch dort kann es in den Rechtsstaaten zu Strukturen einer schleichenden Anarchie kommen, wo infolge des rasanten technischen Fortschritts die Materien so komplex werden und sich dermaßen ständig verändern, daß ihre rechtliche Regulierung mit dem Tempo der Entwicklung nicht Schritt halten kann. Das kontraktualistische Rechtfertigungsmodell politischer Gewalt geht von der prinzipiellen Gleichheit der Rechtssubjekte aus. Wenngleich diese niemals Realität werden kann, sollte sie doch als regulative Idee im Politischen stets wirksam sein. Der drohenden krassen Ungleichheit durch einen ungehemmten Wirtschaftsliberalismus im Verein mit politischer Machtkonzentration begegneten die Staaten der westlichen Hemisphäre mit geeigneten Maßnahmen, wie etwa der Gewaltenteilung, dem Aufbau demokratischer Strukturen und Kontrollmechanismen, dem allgemeinen Wahlrecht, der Herstellung von Chancengleichheit im Bereich der Bildung, durch Umverteilung im Wege der Steuerpolitik, durch soziale, ausgleichend wirkende Gesetzgebung, durch Definition der Bedingungen, unter welchen allein legal gearbeitet werden darf, und anderes mehr. All diese Errungenschaften der entwickelten Demokratien europäischen Zuschnitts sind gegenwärtig allerdings durch die Globalisierung und den Anpassungsdruck an den Wirtschaftsliberalismus amerikanischer Prägung gefährdet. Die Steuerleistung, die Einhaltung von Umweltstandards, die Respektierung von Schutzbestimmungen für Arbeitnehmer können von den weltweit operierenden Konzernen umgangen werden durch Auslagerung der Produktion in Gebiete mit unterentwickelter Gesetzgebung oder lückenhafter Überwachung der Einhaltung bestehender Gesetze. Von wirksamen Gegenstrategien, die sowohl die Gefährdung der sozialen Errungenschaften in den entwickelten Industriestaaten als auch ausbeuterische Arbeitsverhältnisse in Entwicklungsländern unterbinden würden, ist noch wenig zu sehen. Das Problem liegt hier darin, daß im zwischenstaatlichen Bereich den innerstaatlichen politischen Strukturen vergleichbare Strukturen und Organisationsmöglichkeiten nicht gegeben sind. Sie sind vielleicht nichteinmal wünschenswert, denn ihre Einführung würde die Etablierung einer weltumspannenden Staatsgewalt bedeuten. Es wäre dies die Realisierung einer höchst problematischen und fragwürdigen Vision. Fassen wir die Auswirkungen extremer wirtschaftlicher Ungleichheit als Gewalt auf, so sehen wir auch in diesem Fall das Projekt der Domestikation von Gewalt begleitet, ja im innersten gefährdet, vom Phänomen eines reaktiven Rückflutens von Gewalt. Das neuzeitliche vertragstheoretische Rechtfertigungsmodell politischer Organisation geht in der Regel von isolierten Individuen aus, die ausschließlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Ihr Eigeninteresse, ihr Egoismus veranlaßt sie dazu, sich den rechtlichen Normierungen zu unterwerfen und an deren Durchsetzung durch die Staatsgewalt interessiert zu sein. Kant bringt den Gedanken auf den Punkt, wenn er in zugespitzter Weise formuliert: „Das Problem der Staatserrichtung ist ... selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar ..."9 Ob dies freilich eine ausreichende Basis darstellt für das tatsächliche Funktionieren eines Gemeinwesens, ist fraglich. Jedenfalls ließe sich dem die Einsicht Platons entgegenhalten, daß die Staaten - und nicht nur sie, sondern jede Solidargemeinschaft, ja selbst eine Räuberbande10 - nur dann Bestand haben und etwas ausrichten können, wenn die Mitglieder sich selbst in der Gewalt haben. Es ist nach Platon für das Funktionieren des Staates unabdingbar, daß 9 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Zusatz, B 61, a.a.O. S. 224. 10 Cf. Platon, Politeia, 351c ff, in: Platon, Sämtliche Dialoge, ed. Otto Apelt, Bd. V, Der Staat, Meiner, Hamburg 1988, S. 4iff. 155 156 die Bürger in sich gewissermaßen ein Regime errichten und aufrechterhalten, das eine ungehemmte Entfaltung der Begehrlichkeiten ebenso unterbindet wie ein Ausleben der Neigung zur Gewalt. Platon wußte sehr wohl Bescheid um die Dynamik, die sich ergeben kann, wenn Menschen sich zusammenrotten und als Masse den niederen Instinkten freien Lauf lassen. Gibt der einzelne dem Hang, sich in der Masse zu verlieren und die Kontrolle über sich preiszugeben nach, dann verletzt er sein Gefühl der Selbstachtung, sein Scham- und Ehrgefühl.11 Nur ein Zusammenwirken desselben mit der Vernunft vermag nach Platon den Menschen davor zu bewahren, ein Getriebener seiner sinnlichen Neigungen und zuletzt auch ein Vollstrecker der in ihm schlummernden verbrecherischen Anlagen zu werden. In dem Maße, in dem die einzelnen sich zu beherrschen vermögen und die bürgerliche Tugend der Gerechtigkeit erlangen, ist nach Platon auch die Stabilität des Staatsgefüges gewährleistet. Ich möchte aber abschließend die These wagen, daß weder eine kluge und entwickelte, d.h. auf Gewaltenteilung und Ausgleich bedachte, mit angemessenen Mitteln auf ihre Einhaltung dringende Rechtsordnung allein, noch diese im Verein mit einer weithin verbreiteten Bürgertugend, die für den Bestand unserer Gemeinwesen, wie ich meine, ebenfalls unerläßlich ist, für sich genommen schon ausreichend wäre, um deren gegenwärtigen, im ganzen doch stabilen Zustand zu gewährleisten. Ich meine, daß das letztlich doch beträchtliche Maß an freiwillig erbrachten Solidarleistungen der Menschen ebenfalls eine tragende Säule des Bestandes unserer Gemeinwesen darstellt. Man kann sich leicht davon überzeugen, wenn man in Gedanken gewissermaßen die ,Gegenprobe' darauf macht: Man denke sich in unseren Staaten all jene Organisationen und Gemeinschaften weg, die, auf der Opferbereitschaft und dem selbstlosen Einsatz einer großen Zahl von Mitgliedern der Gesellschaft basierend, für das Gemeinwesen und innerhalb desselben gerade für die Bedürftigsten hilfreich tätig sind - man denke sich all dies weg und stelle sich die Frage, ob unsere Gemeinwesen dann so funktionieren könnten, wie es der Fall ist, ja ob sie überhaupt bestehen könnten. ii Cf. ibid. 439 e - 440, a.a.a.O. S. 165.