UDK 783.6(430) Michael Belotti Hochschule für Musik Freiburg, Freiburg Visoka glasbena šola v Freiburgu, Freiburg Die norddeutsche Choralbearbeitung - rein funktionale Musik? Severnonemške koralne obdelave - čista funkcionalna glasba? Prejeto: 8. avgust 2011 Sprejeto: 9. september 2011 Ključne besede: orgelski koral, praksa alternatim, improvizacijska praksa, severnonemška orgelska glasba Izvleček V baročni dobi je liturgična orgelska igra večinoma slonela na improvizaciji. Severnonemških orgelskih koralov niso pisali za praktično uporabo, temveč kot vzorce različnih kompozicijskih tehnik za študente ali kot dokaze umetelnosti samih skladateljev. Johann Sebastian Bach, ki je v svojih zgodnjih letih prepisal in študiral obsežne koralne fantazije Johanna Adama Reinkena in Dietricha Buxtehudeja, je znal improvizirati na način severnonemških organistov, ko je leta 1720 obiskal Hamburg. Received: 8th August 2011 Accepted: 9th September 2011 Keywords: organ chorale, alternatim practice, improvisational practice, North German organ music Abstract Liturgical organ-playing depended largely on improvisation in the Baroque era. North German organ chorales were not primarily written for practical use but rather as examples of different compositional techniques for students, or testimonies of their composers' skills. Johann Sebastian Bach, who had copied and studied the large-scale chorale fantasias of Johann Adam Reinken and Dieterich Buxtehude in his early years, was able to improvise in the manner of the North German organists during his visit to Hamburg in 1720. Johann Gottfried Walther überliefert die Anekdote von dem holländischen Musiker, der von der Berufung Johann Adam Reinkens als Nachfolger Heinrich Scheidemanns an die Organistenstelle der Hamburger St. Katharinenkirche gehört und gemeint hatte, „es müsse dieser ein verwegener Mensch seyn, weil er sich unterstanden, in eines so sehr berühmten Mannes Stelle zu treten". Reinken schickte ihm seine Choralfantasie An Wasserflüssen Babylon mit der Bemerkung, „hieraus könne er des verwegenen Menschen Portrait ersehen", woraufhin es zu einer Begegnung der beiden kam: „Der Amsterdammische Musicus ist hierauf selbst nach Hamburg gekommen, hat Reincken auf der Orgel gehöret, nachher gesprochen, und ihm, aus veneration, die Hände geküsset."1 Mit der genannten Choralfantasie Reinkens sind noch weitere Geschichten verknüpft. Johann Sebastian Bach reiste 1720 von Cöthen nach Hamburg und ließ sich dort auf der Orgel der Katharinenkirche hören. Es wird berichtet, dass er den Choral An Wasserflüssen Babylon „aus dem Stegreife, sehr weitläuftig, fast eine halbe Stunde lang, auf verschiedene Art, so wie es ehedem die braven unter den Hamburgischen Organisten in den Sonnabends Vespern gewohnt gewesen waren, ausführete" und danach von Reinken folgendes „Compliment" erhielt: „Ich dachte, diese Kunst wäre gestorben, ich sehe aber, daß sie in Ihnen noch lebet".2 Nicht unerwähnt bleibt in der Erzählung des Nekrologs, dass der Katharinenorganist „vor langen Jahren diesen Choral selbst, auf die oben gemeldete Weise gesetzet hatte". Seit dem Fund der Weimarer Tabulatur wissen wir, dass Bach Reinkens Choralfantasie schon lange vorher gekannt hat. Seine Abschrift dieses Stücks ist auf das Jahr 1700 datiert; wahrscheinlich wurde es durch Georg Böhm vermittelt.3 Anscheinend hat Bach seine Schulzeit in Lüneburg dazu benutzt, sich mit der norddeutschen Orgelkunst vertraut zu machen - so sehr, dass er 20 Jahre später einen ihrer letzten großen Vertreter durch seine Improvisation beeindrucken konnte. Während sich Philipp Spitta in seiner Bach-Biographie lobend über Reinkens Stück äußert4, steht ihm August Gottfried Ritter, der Magdeburger Domorganist und Sammler älterer Orgelmusik, distanziert gegenüber. Er betrachtet es als Beispiel einer „von der amtl. Praxis des Organisten gänzlich abgelösten und lediglich auf sich selbst beruhenden Kunst-Arbeit".5 Auch den Choralfantasien Buxtehudes spricht er bei aller Anerkennung ihrer kompositorischen Qualität das Vermögen ab, „die Gemeinde erbaulich zu sammeln".6 Bei dieser kurzen Betrachtung der Rezeption von Reinkens Choralfantasie sind schon einige wichtige Themen angeklungen. Es ist nicht schwer, die Zeitgebundenheit der Urteile Ritters zu erkennen. Die Frage des Verhältnisses von liturgischer Funktion und künstlerischer Eigenständigkeit muss aber ernst genommen werden. Weist der Bericht des Nekrologs auf die Ursprünge der Gattung Choralfantasie im Vesperspielen der Organisten hin, so lässt die von Walther überlieferte Anekdote 1 Johann Gottfried Walther, Musicalisches Lexicon Oder Musicalische Bibliothec (Leipzig: Deer, 1732), art. "Scheidemann." 2 Siehe den Bericht des Nekrologs über Bachs Reise nach Hamburg (Hans-Joachim Schulze, hrsg., Bach-Dokumente III (Kassel: Bärenreiter; Leipzig: Deutscher Verlag für Musik, 1972), 84). 3 Dafür spricht der Schlussvermerk der Tabulaturabschrift von Reinkens Choralfantasie: „ä Dom. Georg: Böhme descriptum aö 1700 Lun^burgi". Über die Schreiberidentifizierung und die Einordnung der Weimarer Tabulaturen hat sich eine kontroverse Diskussion entwickelt; ich halte aber die Argumentation von Peter Wollny und Michael Maul im Vorwort der Faksimileausgabe (Weimarer Orgeltabulatur. Die frühesten Notenhandschriften Johann .Sebastian Bachs [...]. Kassel: Bärenreiter, 2007.) trotz der von Martin Stähelin ("Beweis oder Vermutung? Zur Publikation der Bach zugeschriebenen Tabulaturblätter," Die Musikforschung 61 (2008): 319-329.) vorgebrachten Zweifel für überzeugend. 4 Philipp Spitta, Johann Sebastian Bach, Bd. 1 (Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1930), 195: "Auf 335 Takte gar hat es der Orgelchoral »An Wasserflüssen Babylon« gebracht, welcher durch Bachs spätere Lebensgeschichte zu einer gewissen Berühmtheit gekommen ist, dieselbe aber auch an sich vollständig verdient." Ibid., 628: "das allerdings hervorragende Stück." 5 A. G. Ritter, Zur Geschichte des Orgelspiels, vornehmlich des deutschen, im 14. bis zum Anfange des 18. Jahrhunderts, Bd. 1 (Leipzig: Hesse, 1884), 176. 6 Ibid., 178. erkennen, dass Reinken die ausgearbeitete Komposition zur Demonstration künstlerischen Selbstbewusstseins nutzte, gewissermaßen als Visitenkarte des Virtuosen und Komponisten. Es erscheint zunächst naheliegend, die überlieferten Choralbearbeitungen norddeutscher Meister in Beziehung zur „amtl. Praxis des Organisten" zu setzen. Zuletzt wurde von Siegbert Rampe ein umfassender Versuch vorgelegt,7 den verschiedenen Gattungen der Orgelmusik anhand von Quellenberichten und daran anknüpfenden Überlegungen einen Ort in der gottesdienstlichen (Vesper, Vormittagsgottesdienst) oder allgemein musikalischen Praxis (Unterricht, Abendmusik, Orgelprobe) zuzuweisen. Dabei bleiben freilich immer noch viele Fragen offen, besonders was die Einordnung der mehrversigen Bearbeitungen angeht. Bekanntlich wurden die Gemeindechoräle bis zum Ende des 17. Jahrhunderts vielerorts, so auch in Lübeck, nicht auf der Orgel begleitet, sondern vom Chor gestützt. Der Organist spielte abwechselnd mit dem Gesang der Gemeinde oder des Chors. Hier scheint die Bestimmung der zyklischen Choralbearbeitungen zu liegen, wie sie in großer Anzahl von Jacob Praetorius, Melchior Schilt, Heinrich Scheidemann, Matthias Weckmann und Dieterich Buxtehude8 überliefert sind. Norddeutsche Ta-bulaturen enthalten viele zweiversige Folgen, wobei der erste Vers die Melodie als cantusplanus im Tenor oder Bass vorstellt, der zweite hingegen sie mit mancherlei Figuren umspielt und meist solistisch auf einem gesonderten Manual darbietet. Diesem Muster folgen schon die Hymnenbearbeitungen der Visbyer Orgeltabulatur, die wahrscheinlich Hieronymus Praetorius zum Verfasser haben,9 sowie viele meist anonyme Bearbeitungen aus den Lüneburger und Zellerfelder Orgeltabulaturen. Interessant ist, dass sich auch in der französischen Orgelliteratur entsprechende Abfolgen finden. Guillaume-Gabriel Nivers gibt in seinem zweiten Orgelbuch10 Hymnenbearbeitungen, die aus einer Bassdurchführung und einem für zweimanualiges Spiel bestimmten 3e Couplet bestehen. Die Wahl dieser Satztypen ergibt im Gefüge des alternatim-Vortrags einen guten Sinn: Die Melodie musste zuerst unverziert vorgestellt werden, der kolorierte cantus-firmus-Vortrag stellte dann ein Wiederaufgreifen und Vertiefen der soeben gesungenen Melodie dar. Die monodischen Orgelchoräle Buxtehudes wären dann eben nicht als „Choralvorspiele" zu sehen, sondern als Bearbeitungen alio modo.11 Immer wieder stoßen wir allerdings auf Zyklen, die für die alternatim-Praxis ungeeignet erscheinen, weil die Verse teilweise ohne Pause ineinander übergehen. Dies Siegbert Rampe, "Abendmusik oder Gottesdienst? Zur Funktion norddeutscher Orgelkompositionen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts," Schütz-Jahrbuch 25 (2003): 7-70; 26 (2004): 155-204; 27 (2005): 53-127. Zu den Choralzyklen Buxtehudes siehe Markus Rathey, "Funktion und Struktur - Zur Zyklenbildung in Dietrich Buxtehudes Choralvariationen," Neues Musikwissenschaftliches Jahrbuch 16 (2008/09): 91-112. Siehe Jeffery T. Kite-Powell, The Visby [Petri] Organ Tablature: Investigation and Critical Edition (Wilhelmshaven: Heinrichshofen, 1979), 14-15. Praetorius, Hieronymus, zugeschrieben. Hymnenfür Orgel aus der Visby (Petri) Orgeltabulatur. Hrsg. Jeffery T. Kite-Powell. Wilhelmshaven: Heinrichshofen, 1978. Nivers, Guillaume-Gabriel. 2. Liure d'Orgue Contenantla Messe etles Hymnes de l'Eglise. Paris, 1667; Faksimile Courlay: Fuzeau, 1992. Dass am Ende des 17. Jahrhunderts in den Lübecker Kirchen Nummerntafeln eingeführt wurden, weil die Gemeinde aus dem Vorspiel das Lied nicht erkennen könne, hat wohl weniger mit der Freiheit der Kolorierung in den Vorspielen der Organisten zu tun als mit der Tatsache, dass den traditionellen Melodien immer mehr neue Texte unterlegt wurden. So steht die Melodie Vater unser im Himmelreich in Pagendarms Choralbuch bei zehn verschiedenen Texten. ic lässt sich besonders bei Jan Pieterszoon Sweelinck beobachten, der als Organist in städtischen Diensten keine liturgischen Pflichten zu erfüllen hatte.12 Er konnte seine Variationszyklen ohne Rücksicht auf gottesdienstliche Erfordernisse nach formal-logischen Kriterien (Steigerung der Stimmenzahl, Lage des cantus firmus) planen. Aber auch bei seinen Schülern lassen sich Beispiele für Choralzyklen mit verzahnten Variationen finden, wie etwa der Zyklus Mensch wiltu leben seliglich von Heinrich Scheidemann, dem Organisten der Hamburger Katharinenkirche.13 Eine in der Lübbenauer Tabulatur Lynar B 2 anonym überlieferte Variationenfolge Nun freut euch, lieben Christen g'mein14 scheint mit fünf Orgelversen für die alternatim-Praxis ideal geeignet (Luthers Lied hat zehn Strophen), aber der mittlere Vers ist eine Choralfantasie von 248 Takten, und die Außenverse sind jeweils paarweise verbunden (zwei vierstimmige Orgelchoräle mit dem cantus firmus im Tenor bzw. Bass, zwei dreistimmige Bearbeitungen mit der Melodie in der Ober- bzw. Unterstimme). Vollends gesprengt wird der liturgische Rahmen in Matthias Weckmanns Zyklus O lux beata Trinitas15, der nicht nur mit sechs Versen die Strophenzahl des zugrundeliegenden Hymnus verdoppelt, sondern den sechsten Vers in vier Variationen von hoher kontrapunktischer Kunstfertigkeit unterteilt. Fritz Dietrich sah in den Choralzyklen Weckmanns „wahre ,Summen' kontrapunktischer Scholastik".16 Bearbeitungen lateinischer cantus firmi spielten in der älteren norddeutschen Orgelmusik eine große Rolle. Es handelt sich überwiegend um Gesänge zur Vesper, weniger häufig um Messensätze. Erinnert sei an die großen Magnificat-Reihen von Hieronymus und Jacob Praetorius und Heinrich Scheidemann,17 denen sich beachtliche Einzelzyklen von Melchior Schilt, Matthias Weckmann und Delphin Strunck18 zur Seite stellen lassen. Auf den ersten Blick haben wir es hier mit Musterbeispielen der alternatim-Orgelpraxis zu tun: Der erste Vers ist in der Regel ein Plenumstück mit dem cantus firmus im Tenor (bei Scheidemann vielfach im Bass); der zweite, bei Hieronymus Praetorius als Soprandurchführung konzipiert, wird in der Generation der Sweelinck-Schüler für das Spiel auf zwei Manualen und Pedal ausgelegt und zur 12 Die sechs Variationen des Choralzyklus Erbarm dich mein, o Herre Gott sind als Abfolge von drei Verspaaren angeordnet: 1-2 (zweistimmig, Melodie in der Oberstimmedreistimmig, Melodie in der Unterstimme); 3-4 (vierstimmig, cantus firmus im Pedal, erst als Tenor, dann als Bass); 5-6 ("vff 2 Clauier", dreistimmig, Melodie im Sopran, erst plan, dann koloriert). 13 Anlage in zwei Verspaaren: 1-2 (cantus firmus im Pedal, erst als Tenor, dann als Bass); 3-4 ("auff 2 Clavier", zuerst wird die kolorierte Melodie auf dem Solomanual ausgeführt, dann eine kontrapunktierende Unterstimme). Innerhalb der Verspaare gehen die Variationen ohne Zäsur ineinander über. 14 Zugrundegelegt ist die Melodie, die in norddeutschen Quellen meist dem Text Was kann uns kommen an für Not zugeordnet wird. Der Komponist ist im Umkreis der Sweelinck-Schule zu suchen. Edition in: Pieter Dirksen, hrsg., Acht Choralbearbeitungen für Orgel von Jan P Sweelinck und seiner Schule (Utrecht: Vereniging voor Nederlandse Muziekgeschiedenis, 1991), 45-67. 15 Edition: Matthias Weckmann, Choralbearbeitungen für Orgel, hrsg. Werner Breig (Kassel: Bärenreiter 1979), 82-103. 16 Fritz Dietrich, Geschichte des deutschen Orgelchorals im 17. Jahrhundert (Kassel: Bärenreiter, 1932), 58. 17 Siehe die Editionen Kite-Powell, Jeffery T.. The Visby [Petri] Organ Tablature—Investigation and CriticalEdition. Wilhelmshaven: Heinrichshofen, 1979. Praetorius, Hieronymus. Sämtliche Orgelwerke. Hrsg. Klaus Beckmann. Bd. 1. Mainz: Schott, 2002. Praetorius, Jacob. 3 Praeambula — Magnificat-Bearbeitungen. Hrsg. Michael Belotti. Stuttgart: Carus, 2000. Scheidemann, Heinrich. Magnificat-Bearbeitungen. Hrsg. Gustav Fock. Kassel: Bärenreiter, 1970. 18 Editionen: Melchior Schildt, Choralbearbeitungen (Organum II/24), hrsg. Werner Breig (Köln: Kistner & Siegel, 1968), 27-54; Delphin Strungk, Zwei Choralfantasien (Organum II/12), hrsg. Wilhelm Krumbach (Köln: Kistner & Siegel, 1960), 10-22; Matthias Weckmann (wie Anm. 15), 70-75. Die Tabulaturfragmente aus Schloss Clausholm (aufbewahrt in Kopenhagen, Det kongelige bibliotek) enthalten Bruchstücke von Magnificat-Bearbeitungen von Johann Rudolph Radeck (um 1610-1663), eine davon datiert 1638 (siehe Musikhandskrifterne fra Clausholm. Samlet og udgivet af/ The Clausholm MusicFragments. Reconstructed and edited by Henrik Glahn og/and Soren Sorensen (Kobenhavn: Hansen, 1974), 26, 40, 85-86. Eine Rekonstruktion durch den Verfasser ist in Vorbereitung). Choralfantasie ausgebaut. Anzahl und Satztypen der danach folgenden Verse sind in den erhaltenen Magnificat-Zyklen sehr unterschiedlich, und hier stößt die rein liturgisch-funktionale Betrachtungsweise schon gleich an ihre Grenzen. Das lateinische Magnificat besteht (einschließlich des Gloria Patri) aus zwölf Versen; nimmt man an, dass Chor und Orgel einander regelmäßig abwechselten, so hätte die Orgel sechs Verse zu spielen. Keiner der norddeutschen Magnificat-Zyklen enthält aber so viele Verse: Bei Hieronymus Praetorius sind es in der Regel drei, gelegentlich vier, bei Scheidemann und Weckmann vier, bei Schilt fünf, bei Jacob Praetorius schwankt die Zahl zwischen einem und fünf. Man könnte nun an spezifische Ausführungsbedingungen denken, die weitere vokale oder instrumentale Gestaltungen einschlossen oder die Orgelverse als Interludien zum vollständigen Gesangsvortrag des Magnificat vorsahen.19 Vielleicht ging es den Komponisten aber gar nicht darum, einen vollständigen Orgelpart für die alternatim-Ausführung des Magnificat zu schreiben, sondern um die exemplarische Darstellung verschiedener in der Orgelpraxis anwendbarer Satztypen. In den dreiversigen Zyklen von Hieronymus Praetorius werden die einzelnen Verse nach der Lage des cantusfirmus definiert: in tenore, in discantu, in basso. Die Magnificat-Bearbeitungen Heinrich Scheidemanns folgen einem festen Plan: Orgelchoral mit cantus firmus in tiefer Lage - Diskantkolorierung oder Choralfantasie - Choralricer-car - dreistimmiger Orgelchoral. Hier liegen also ganz eindeutig nach musikalischen Gesichtspunkten geplante Zyklen vor. Werner Breig weist darauf hin, dass bei einer alternatim-Ausführung „die Orgelverse die Chorverse an Länge um das Vielfache" übertreffen würden.20 Die musikalische Formgebung triumphiert in diesen Zyklen über die liturgische Bestimmung. Erst recht gilt dies für die beiden Bearbeitungen des Magnificat I. toni durch Buxtehude. Sie sind keine Versuszyklen, sondern haben das Aussehen von mehrteiligen Toccaten mit freien und fugierten Teilen. Ihr cantus-firmus-Bezug blieb lange Zeit verborgen. Jeder ihrer Abschnitte verarbeitet aber, wie William Porter21 überzeugend nachgewiesen hat, einen der vier Teile22 des gregorianischen Tonus, der so in der kürzeren Bearbeitung (BuxWV 204) einmal durchlaufen wird, in der längeren (BuxWV 203) zweimal. Auffallend ist, dass die Arbeit mit Kontrasubjekten und die Technik des doppelten Kontrapunkts breiten Raum einnehmen. Wie könnte man sich die Verwendung dieser Kompositionen in der alternatim-Praxis vorstellen? Manche der fugierten Abschnitte erinnern an süddeutsche Orgelversetten, und Siegbert Rampe hält tatsächlich die abschnittweise Darbietung der Magnificat-Bearbeitungen und sogar cantus-firmus-freier Praeludien Buxtehudes in diesem Rahmen für möglich. Die übergeordnete Gesamtform der mehrteiligen Orgelwerke Buxtehudes bleibt dabei unberücksichtigt. Rampe, "Abendmusik oder Gottesdienst?...", 2005, 57-62. Der immer wieder zitierte Nachtrag zur Hamburger Agende von 1699, nach dem das Magnificat "in 4 sätzen abgetheilet" wird "und alle Zeit wen ein satz aus ist, die Orgel dazwischen spielet", bezieht sich auf das deutsche Magnificat und ist deshalb in diesem Zusammenhang mit Vorsicht zu bewerten. Werner Breig, "Der norddeutsche Orgelchoral und Johann Sebastian Bach. Gattung, Typus, Werk," inGattung und Werk in der Musikgeschichte Norddeutschlands und Skandinaviens; Referate der Kieler Tagung 1980, hrsg. Friedhelm Krummacher, Heinrich W. Schwab (Kassel, Basel, London: Bärenreiter, 1982), 79-94. William Porter, "Psalm-Tone Formulas in Buxtehude's Free Organ Works?," in Charles Brenton Fisk, Organ Builder. Essays in His Honor, hrsg. F. Douglass, O. Jander and B. Owen (Easthampton Mass.: The Westfield Center, 1986) 161-174. Initium (f g a) - Mediatio (auf a schließend) - Initium der 2. Vershälfte (gfisj a c'a) - Terminatio (auf d schließend). LS Darüber hinaus ließe sich über die Einteilung der Stücke23 und die Eingliederung der einzelnen Abschnitte in den Ablauf des alternatim-Vortrags trefflich streiten. Es scheint, als habe Buxtehude in seinen Magnificat-Bearbeitungen primär eine Gesamtdarstellung des I. Magnificat-Tons beabsichtigt. Er schuf damit eine sehr persönliche Synthese verschiedener Gattungstraditionen. Über das lateinische Te Deum laudamus schreibt Buxtehude einen Versuszyklus (BuxWV 218) nach Art der Magnificat-Zyklen der älteren Meister, mit einer ausgedehnten Choralfantasie als zweitem Vers.24 Während der dritte Vers eine konventionelle cantusfirmus-Bearbeitung darstellt, ist in allen anderen die Technik des doppelten Kontrapunkts gegenwärtig. Im folgenden wird eine Übersicht über die in diesem Werk verwendeten Satztechniken gegeben. Dabei erweist es sich als sinnvoll, von der Gliederung der zugrundeliegenden Verse auszugehen, die im Notenbeispiel nach Franz Elers Cantica Sacra wiedergegeben sind, dem bis Ende des 17. Jahrhunderts in Norddeutschland maßgeblichen Kantionalbuch. Eler bietet eine lateinische und eine niederdeutsche Version. Wie bei den Magnificat-Tönen beginnt in den Versen des Te Deum auch die zweite Vershälfte mit einem Initium, das innerhalb der Orgelverse eine eigene Durchführung erfährt. Buxtehude tut dies sogar in dem Vers Te martyrum can-didatus laudat exercitus, der nur in der niederdeutschen Fassung ein zweites Initium hat (der lateinische Text ist dafür zu kurz). Notenbeispiel 1: Franz Eler, "Canticum Sanctorum Ambrosii & Augustini'," in Cantica Sacra (Hamburg: Wolff, 1588), i-iii. Wie Rampe zu einer Einteilung von BuxWV 203 in vier "Verse" kommt, deren erster bis Takt 47 geht ("Abendmusik oder Gottesdienst?...", 2005, 65), bleibt unerfindlich. Dem kritischen Bericht Philipp Spittas zufolge war der Vers Pleni sunt cceli et terra in der verschollenen Abschrift des Instituts für Kirchenmusik mit „Secundus versus" überschrieben (diese Information ist in der Abschrift Walthers verlorengegangen). Dass er am Ende des Zyklus notiert ist, mag mit schreibtechnischen Gegebenheiten zu erklären sein, die wir infolge des Verlusts der Quelle nicht nachprüfen können. Es ist kaum wahrscheinlich, dass Buxtehude in der Reihenfolge der Verse einer Sondertradition folgt. H Notenbeispiel 2: Franz Eler, "Dat TE DEUM LAUDAMUS Düdesch," in Cantica Sacra (Hamburg: Wolff, 1588), iii-vi. Notenbeispiel 3: Franz Eler, "Magnificat I. toni," in Cantica Sacra (Hamburg: Wolff, 1588), cclviii. Te Deum laudamus BuxWV 218 Versus 1: cantus planus mit Kontrasubjekt 2- bis 3-stimmig Te Deum laudamus, Versus 2: Echofantasie/ Ciaccona Pleni sunt coeli et terra Versus 3: dreistimmiger Satz mit c. f. in der Te martyrum candidatus (De gantze schaer der hilgen Versus 4: Fugato mit Bass-c. f. Tu devicto mortis aculeo Fugato mit Kontra- Fuge mit Kontrasubjekt, subjekt, 5-stimmig 4-stimmig te Dominum confitemur. Permutationsfuge Fragmentierung, Diskantkol. maiestatis gloriae tuae. Mittelstimme (pedaliter) laudat exercitus. marterer lavet dy mit hoger getüchniß.) Permutationsfuge verzierter 4-stimmiger Satz aperuisti credentibus regna coelorum. Wiederum stehen wir vor der Frage, ob und in welcher Weise Buxtehudes Zyklus für die alternatim-Praxis gedacht und verwendbar war. Von den dreißig Abschnitten in Elers Notation werden nur vier Verse für Orgel bearbeitet. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass ein Großteil der Verse nach wiederkehrenden Psalmmodellen des III. und IV. Tons gesungen wird; dafür konnten Buxtehudes dritter und vierter Vers als exemplarische Bearbeitungen stehen. Der Vers Te ergo qu&sumus/ O Herr wy vormanen dy/ Nun hilf uns, Herr, den Dienern dein, der ebenfalls noch im IV. Ton steht, wird in den Kantionalbüchern in doppelten Notenwerten notiert; hier scheint ein natürlicher Schlusspunkt gegeben zu sein, jedenfalls finden sich die danach folgenden Verse weder bei Buxtehude noch in Franz Tunders Bearbeitung des lutherischen Herr Gott, dich loben wir.25 Der Vers Pleni sunt coeli et terra/Dein göttlich Macht und Herrlichkeit wird bei Buxtehude besonders reich ausgestaltet, mit Echoresponsionen und Fragmentierungstechnik; Vergleichbares ist in den entsprechenden Abschnitten von Tunders Choralfantasie und Jacob Kortkamps Versus-Zyklus zu finden. Mögen also die Komponisten zunächst an die alternatim-Praxis angeknüpft, teilweise sogar auf besondere lokale Gegebenheiten reagiert haben, so wird man letzten Endes doch nicht sagen dürfen, dass sie Musik „für den gottesdienstlichen Gebrauch" geschrieben hätten. Von Organisten wurde im 17. Jahrhundert allgemein erwartet, dass sie die liturgischen Anforderungen durch ex tempore-Spiel erfüllten. Bei Probespielen wurden verschiedene Bereiche des gottesdienstlichen Orgelspiels abgefragt; Andreas Werckmeister nennt als Prüfungskriterien: Durchführung eines vorgegebenen Themas, Variieren und Transponieren einer Choralmelodie, Realisierung eines bezifferten Basses. Bewerber, die vorher einstudierte Stücke nach der Tabulatur oder auswendig „daher machen", sind für ihn keine guten Organisten.26 Wozu dienten dann niedergeschriebene Kompositionen? Man wird ihnen in erster Linie Beispielcharakter zusprechen dürfen: Ein Komponist konnte mit ihnen demonstrieren, wie er eine satztechnische Aufgabe aufgrund seiner Beherrschung der Kompositionslehre und seiner figurativen Phantasie zu lösen verstand. Solche Beispiele konnten sich einerseits, wie die Reinken-Anekdote zeigt, an sachverständige Kollegen richten, andererseits konnten sie im Unterricht eingesetzt werden. Wie viele Quellen zeigen, spielte in der Organistenausbildung die Aneignung von Kompositionen des Lehrers (und anderer Meister der Kunst) durch Abschreiben eine wichtige Rolle.27 Die pädagogische Zielsetzung wird am klarsten im Titel von Bachs Orgel-Büchlein formuliert: „Orgel-Büchlein Worinne einem anfahenden Organisten Anleitung gegeben wird, auff allerhand Arth einen Choral durchzuführen, anbey auch sich im Pedal Studio zu habilitiren [...]". Die Fertigkeit, die anhand des Studiums der hier versammelten Orgelchoräle erworben werden sollte, erstreckte sich also nicht allein auf bloße spieltechnische Geläufigkeit im Pedal, sondern auch und mehr noch 25 Zu Buxtehudes Te Deum und dem Verhältnis zu Tunders Herr Gott, dich loben wir siehe auch Matthias Schneider, Buxtehudes Choralfantasien - Textdeutung oder „phantastischer Stil"? (Kassel, Basel, London, New York, Prag: Bärenreiter, 1997), 109-117. 26 Andreas Werckmeister, Erweiterte und verbesserte Orgel-Probe (Quedlinburg: Calvisius, 1698), 77. 27 Siehe dazu Michael Belotti, Die freien Orgelwerke Dieterich Buxtehudes. Überlieferungsgeschichtliche und stilkritische Studien (Bern-Frankfurt/M: Lang, 2004), 33-44; ders., "Johann Pachelbel als Lehrer," in Bach und seine mitteldeutschen Zeitgenossen. Bericht über das Internationale musikwissenschaftliche Kolloquium Erfurt und Arnstadt, 13.-16. Januar 2000, hrsg. Rainer Kaiser (Eisenach: Wagner, 2001),8-44. auf ein satztechnisches Verständnis, das zur selbständigen Lösung gottesdienstlicher Aufgaben befähigte. In diesem Zusammenhang sollte nicht vergessen werden, dass im 17. und 18. Jahrhundert normalerweise nicht an der Orgel unterrichtet wurde, sondern an einem besaiteten Tasteninstrument. Im Haushalt des Organisten befand sich meist ein Übungsinstrument, das aus zwei übereinandergelegten Clavichorden mit einer Pedalklaviatur bestand.28 Auf derartigen Instrumenten erklangen also die Stücke, die den Organistenschülern zum Studium aufgegeben waren - womit nicht gesagt sein soll, dass sie nicht als Orgelmusik geschrieben wurden, sind sie doch, wie vielfach zu spüren ist, auf die Spiel- und Klangmöglichkeiten der Orgel hin konzipiert. Gelegentlich sind in Quellen norddeutscher Orgelmusik sogar Registrierangaben anzutreffen, so in der Pelpliner Tabulatur, die Choralfantasien von Heinrich Scheidemann, Nicolaus Hasse und Franz Tunder enthält, und in der Lüneburger Tabulatur KN 209, die Einblicke in Matthias Weckmanns Registrierungspraxis gibt.29 Ein weiteres Betätigungsfeld der Organisten muss in die Betrachtung miteinbezogen werden, nämlich die konzertartigen Darbietungen, von denen aus Kopenhagen (Johann Lorentz)30 und Lübeck (Franz Tunder)31 berichtet wird. Konnten hier komponierte Werke zur Ausführung kommen? Die Quellen geben auf diese Frage keine Antwort. Allem Anschein nach war die Improvisation nicht nur in der Gottesdienstpraxis und in Probespielen, sondern auch in außerliturgischen Demonstrationen vorherrschend; der Nekrolog erwähnt ausdrücklich, dass Bach vor Reinken „aus dem Stegreife" gespielt habe. Philipp Spitta hielt es für möglich, dass Bach seine Choralbearbeitung Ein feste Burg ist unser Gott BWV 720 zur Einweihung der umgebauten Mühlhäuser Orgel im Jahr 1709 vorgetragen hätte.32 Verleihen die überlieferten Registrierungsangaben dieser Vermutung eine gewisse Plausibilität, so ist es doch weit schwieriger, die Kompositionen der vor-Bachschen norddeutschen Meister mit einer konkreten Aufführungssituation in Verbindung zu bringen. Pieter Dirksen meint, dass Buxtehudes Choralfantasie Nun freut euch, lieben Christen g'mein BuxWV 210 als „presentation piece" zu seinem Amtsantritt als Organist der Lübecker Marienkirche entstanden sein könnte.33 Die „Präsentation" muss aber nicht in einem einfachen Abspielen des Stücks nach der Tabulatur bestanden haben; vielmehr könnte man sich vorstellen, dass es den Musikverständigen schriftlich überreicht und bei einem öffentlichen Vorspiel in frei paraphrasierender Weise dargeboten wurde. Hier kann die Reinken-Anekdote zum Ver- Siehe dazu die weiteren Beiträge dieses Symposions. "1 Dobbelt ClauCordium med pedalef wurde beispielsweise im Nachlass des dänischen Organisten Esaias Erichsen Hase (1645-1688), des Nachfolgers von Hans Buxtehude in Helsingor, gefunden (Skifteprotokol, Helsingor Landsarkivet). Siehe dazu Michael Belotti, ""Die Registrirung des seel. Jacob Schultzen." Zur Wiedergabe der Orgelmusik von Jacob Praeto-rius," in 375Jahre Scherer-Orgel Tangermünde; Symposium "Die norddeutsche Orgelkunst zu Beginn des 17. Jahrhunderts", Tangermünde, 30./31. Juli 1999, hrsg. Christoph Lehmann (Berlin: Freimut & Selbst, 2005), 39-49. Bo Lundgren, "Johan Lorentz in Kopenhagen - organista nulli in Europa secundus," in Bericht über den 7. Internationalen MusikwissenschaftlichenKongress Köln 1958 (Kassel: Bärenreiter, 1959), 183-185. Caspar Ruetz, Widerlegte Vorurtheile von der Beschaffenheit der heutigen Kirchenmusic und von der Lebens-Art einiger musi-corum (Lübeck: Böckmann, 1752), 44-49. Wiedergegeben in Volker Scherliess, Arndt Schnoor, "Theater-Music in der Kirche." Zur Geschichte der Lübecker Abendmusiken; Katalog der Ausstellung in der Musikhochschule Lübeck 24. -27. September 2003 (Lübeck: Bibliothek der Hansestadt, 2003), 36-38. Spitta, Johann Sebastian Bach, 394. Pieter Dirksen, "Dieterich Buxtehude and the Chorale Fantasia," GOArt Research Report 3 (2003): 149-165. 29 30 31 32 ständnis weiterhelfen: Der „Amsterdammische Musicus" erwartete in Hamburg sicher nicht, das Werk, das ihm Reinken bereits in geschriebener Form übersandt hatte, nun von ihm notengetreu vorgespielt zu bekommen. Und Bach, der jede Note von Reinkens Choralfantasie kannte, wollte bei seinem Vorspiel in St. Katharinen dem anwesenden Komponisten nicht zeigen, dass er das Stück eingeübt hatte, sondern vielmehr, dass er die zugrundeliegenden Satztechniken beherrschte. Es erscheint durchaus möglich, dass Buxtehude, Reinken und Bach aus geschriebenen Kompositionen (eigenen wie fremden) zitierten und sich den Wiedererkennungseffekt zunutze machten, den diese Zitate bei den Kennern auslösten.34 Ihre Darbietungen bestanden aber nicht in bloßem Reproduzieren. Zwischen komponierter und improvisierter Musik sind mannigfache Wechselbeziehungen denkbar: eine Improvisation konnte nachträglich niedergeschrieben und zu einer Komposition geformt werden, ein schriftlich fixiertes Stück konnte zum Ausgangspunkt einer phantasievollen Ausgestaltung werden. Die Vorstellung, dass die norddeutschen Orgelkompositionen in der Fassung, wie sie uns schriftlich überliefert sind, tatsächlich auch erklangen, ist daher problematisch. Sie wurden kopiert und studiert, teilweise in der Organistenpraxis als „Improvisationsmuster"35 verwendet, aber wohl nur selten einfach „gespielt". Im Licht dieser Praxis ist es nicht verwunderlich, dass Choralbearbeitungen Buxtehudes und anderer Komponisten in den umfangreichen Sammelhandschriften Johann Gottfried Walthers oftmals in bearbeiteter Fassung erscheinen: ornamentiert, rhythmisch und harmonisch geglättet, gekürzt. Vor Verallgemeinerungen muss aber auch hier gewarnt werden, denn Walther verfolgt in seinen Sammlungen unterschiedliche Ziele: Die Handschriften „aus dem Krebsschen Nachlass"36 sind von einem starken Studieninteresse geleitet und enthalten die großen Choralfantasien von Buxtehude, Reinken, Lübeck und Bruhns zusammen mit einer Anzahl Bachscher Orgelchoräle; die Manuskripte aus dem Besitz von Joseph Seeger37, Friedrich August Gotthold38 und Heinrich Frankenberger39 stellen Material für die Praxis bereit: einzelne, meist kürzere Choralbearbeitungen (darunter einen Großteil der monodischen Orgelchoräle Buxtehudes) sowie Variationsreihen. In den Studienhandschriften versucht Walther die Stücke der norddeutschen Meister zu dokumentieren; dabei treten infolge ihrer komplexen Struktur manchmal notationstechnische Probleme auf, die dazu führen können, dass die vom Komponisten beabsichtigte Ausführungsart nur noch schwer zu erkennen ist.40 Die praktischen Sammlungen sind in zwei Versionen von Walthers Hand erhalten; wenn er ein Stück zum zweitenmal abschrieb, brachte er fast immer kleinere oder größere Veränderungen an. Der Umgang 35 Diese Überlegung wurde durch einen Diskussionsbeitrag von Marko Motnik während des Symposions angeregt, dem ich dafür herzlich danke. Rampe, "Abendmusik oder Gottesdienst?...", 2005, 75 u. ö. 36 Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Mus. ms. Bach P 801 und 802. Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Mus. ms. 22541-1, 2, 3 (enthalten Choräle zum Kirchenjahr). Vormals Königsberg, Universitätsbibliothek, Slg. Gotthold 15839 (verschollen; teilweise in Fotografien erhalten). Den Haag, Nederlands Muziek Instituut, Ms. 4.G.14. Die zuletzt genannten Handschriften enthalten Choräle omni tempore; siehe dazu den Kritischen Bericht in Dieterich Buxtehude, The Collected Works., hrsg. Michael Belotti, vol. 16: Organ Chorales. New York: The Broude Trust, 2010. Dies trifft insbesondere für die Echostelle innerhalb der Choralfantasie Gelobet seist du, Jesu Christ BuxWV 188, ab Takt 99 zu (ausführlich dargestellt im Kritischen Bericht der Gesamtausgabe, siehe Anm. 39). 34 mit den Vorlagen ist somit auch von jeweils herrschenden Sammlerinteresse (Studium oder Praxis) abhängig. Welche Folgerungen ergeben sich aus diesen Betrachtungen für die heutige Rezeption alter Tastenmusik? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass sich unser Umgang mit norddeutscher Orgelmusik wesentlich von der Praxis des Barock unterscheidet. In gewisser Weise begegnen wir den Kompositionen mit mehr Respekt, insofern wir bemüht sind, möglichst korrekte Notentexte mit Hilfe unseres Wissens über die historische Aufführungspraxis stilgetreu wiederzugeben. Unsere Kenntnis des Repertoires hat sich seit der Zeit, da Philipp Spitta die erste Gesamtausgabe der Orgelwerke Buxtehudes edierte (1875/76), bedeutend erweitert. Vieles davon ist selbstverständlicher Bestandteil der organistischen Praxis geworden. Wenn wir aber die Kompositionen der älteren Meister in Gottesdiensten und Konzerten darbieten, setzen wir retrospektive Musikpflege an die Stelle einer lebendigen Kunstübung, wie sie im Barockzeitalter üblich war. Oben wurde gezeigt, dass sich die Aufführungssituation eines niedergeschriebenen Stücks norddeutscher Orgelmusik nicht rekonstruieren lässt; auch der liturgische Kontext ist heute meist nicht mehr nachvollziehbar. Eine Interpretation, die immer und überall Gültigkeit hat, ist angesichts der Verschiedenheit der Instrumente und Räume nicht denkbar; und die Einsicht in die Verzierungs- und Bearbeitungspraxis des Barock eröffnet viele Aufführungsmöglichkeiten, die sich einer einfachen Kategorisierung in „richtig" oder „falsch" entziehen. Die Wiedergabe einer Orgelkomposition kann Authentizität für den jeweiligen Ort und Zeitpunkt, für ein bestimmtes Instrument und eine individuelle Künstlerpersönlichkeit beanspruchen; wenn sie auf diese Weise als glaubwürdig wahrgenommen wird, kann sie mithelfen, dem aufnahmebereiten Zuhörer heutiger Zeit Beispiele einer hochentwickelten Satz- und Ausdruckskunst nahezubringen, sei es in schlicht dienender oder frei nachschaffender Spielhaltung. Povzetek Severnonemške orgelske korale ponavadi opisujemo v zvezi z njihovo liturgično funkcijo. Zlasti variacijske nize lahko povežemo z izmenjalno (alternatim) prakso tistega časa, ko so orgle in pevci izmenjaje izvajali korale, himne in psalme, medtem ko se je liturgična orgelska igra pretežno opirala na improvizacijo. Zapisani ciklusi uglasbenih magni-ficatov (Hieronyma in Jacoba Praetoriusa, Melchi-orja Schildta, Heinricha Scheidemanna, Johanna Rudolfa Radecka in Mathiasa Weckmanna) često vsebujejo manjše število verzov, kot je potrebnih za alternatim izvajanje, kar napeljuje na misel, da skladateljem ni šlo toliko za pisanje glasbe za praktične namene, ampak za ustvarjanje reprezentativnih vzorcev različnih kompozicijskih tehnik, ki bi rabili študentom liturgične improvizacije. Višek te umetnosti, ki so jo - pa čeprav je slonela na različnih žanrih liturgične orgelske igre - gojili z namenom, da bi demonstrirali tehnične kompozicijske veščine skladateljev, je najti v obsežnih koralnih fantazijah Johanna Adama Reinkena in Dietricha Buxtehudeja. Reinken je svojo koralno fantazijo Na valovih Babilona poslal nekemu nizozemskemu kolegu z namenom, da bi dokazal, da je vreden naslednik svojega učitelja Scheidemanna. Buxtehude je zložil dva orgelska magnificata v maniri severnonemške toccata in razdelal štiri verze Te Deuma kot primere kontra-punkta, ki ga je možno zaobrniti. Mladi Johann Sebastian je podobno preštudiral Reinkenove in Buxtehudejeve koralne fantazije, tako da mu je Reinken, potem ko je slišal njegovo imrpovizacijo Na valovih Babilona, dejal, da je »ta umetnost v njem še vedno živa«.