^/4r Land und Leute der sächsisch e n Lausi tz. Von ! V. Sigismund. vessassn' d« „teßen^üisdn »om sächsischen Erzgebirge.' (tHt—tfbtj I. Jandschaftsbiider. Der Dampfwagcn trägt so rasch durch dir Kiefernwälder, welche die legend uon Dresden nach ^st begrenzen, daß seine Insassen kaum .^eit gefunden haben, das liebliche Vild des eben verlassenen Eibthales verklingen zu lassen, wenn einzelne im Nu v^schiuind(!nd>.' Durchblicke uerkündcn, daß d:c Straße in neue schöne Landschaften führte: die Grenze der sächsischen (irblande, die Schwelle der Lausitz. Zur Linken öffnet sich ein weiter Vlick über sanftwelligcs Land, in dem Saatfelder und Gehölze sich aninuthi^ mischen; zur Rechten haftet das Aua,e an einem nahen Zuqe schöner waldiger Verge, die sich in mannigfachen Formen und Gruppen bis zur Neis;e strecken und dort an das Ieschken-ssebnsse anreihen. Eine schmale maucrgleiche Gebirgskette zwischen Böhmen und Sachsen, wie es nach der Frontansicht oder nach der -Darstellung unvollkommener Generalkarten erscheint, ist aber das ..Lnusitzer-Gebirge" keineswegs. Es stellt vielmehr eine ziemlich breite, wellenförmige Hochfläche dar, auf welcher einzelne Bippeu und uon Südost nach Nordwest streichende, "nt mehreren steilen Gipfeln besetzte Höhenzüge aufsteigen; me Eisenbahn verläuft nicht längs dem Fuße, sondern längs 4 der sanften nördlichen Abdachung des Gcbirgs, welches hügelige Vorposten bis in die Tiefebene vorschiebt. Der Felscn-kern dieses Verglandes ist Granit, der aber zum großen Vortheil des Reliefs an vielen Stellen von Basalt und Klingstein durchbrochen ist. Der Granit, der sich am Harz und an vielen andern Stellen reckenhaft wild gebart, trägt hier ruhige breite Formen; aber jene vulkanische Emporkömmlinge stellen meist schroffere, kühnere Gestalten dar und steigen wie Kuppeln und Thurmknäufc aus den flachen Dächern der Granitberge empor. Im Südosten schiebt sich eine Gruppe von Quadersandsteinbergen ein, welche hier, wie anderwärts, einen bizarren Barockstil einhalten. Es ist ein anmuthiges Stück der deutschen Erde, was man hier durchfliegt — so lautet wol das Urtheil Aller, die auf dem lausitzer Schienenwege fahren; vielleicht finden sich Manche an die schöne Bahnlinie erinnert, welche längs dem Nordfuße des Thüringer Waldes läuft. Indeß verlassen hier lange nicht so viel Vergnügungsreisende den Dampfwagen, um ins Gcbirg zu steigen, wie es in Thüringen geschieht. Das Lausitzer-Gebirg ist zwar mit vielen Reizen ausgestattet, welche einen nicht zu anspruchsvollen Wanderer in Mittelgebirge Zu locken vermögen, ja es besitzt einige Glanzpunkte der Art, welche bei Lustreisenden in höchster Geltung steht; aber es befindet sich in der schwierigen Stellung, zwei der gewaltigsten Mitwerber in unmittelbarster Nachbarschaft zu haben, nämlich das Elbsandsteingebirg und die Sudeten, deren kühne Umrisse von allen seinen Gipfeln sichtbar sind. Deshalb ist das Lausitzer-Gebirg, obgleich einige seiner Sehenswürdigkeiten eine Stelle im rothen Buche Vädcker's gefunden haben, bisher kein in die Mode gekommenes und über-fluthetes Wanderziel geworden. Wer weift, ob auf tausend Norddeutsche, welche die Quellen der Ilm und Bode aufsuchen, vier kommen, welche die Spreequelle besucht haben! Dagegen halten die Landeskinder ihr Gebirge in verdienten Ehren. Sie wissen löblicherwcise das einheimische Schöne zu schätzen, ohne (was bei manchen Gebirgern der Fall war) 5 der Anregung durch Fremde zu bedürfen. Kaum giebt es ein aussichtlustigeres Völkchen, als die Lausitzer; haben sie doch auf der kürzen Strecke von Vischofswerda bis Herrnhut fünf Aussichtsthürme erbaut, um ihre schiine Heimat recht nach allen Seiten überschauen zu können. Ohne dem übrigen mit einem Luginsland bekrönten Gipfeln Unrecht zu thun, läßt sich behaupten, das; die Aus-siclMberge von Bautzen und Löbau dcm Fremden am meisten zu empfehlen sind. Auch ein Naturfreund, der um-schränkte malerische Ansichten manchen vielgepriesenen, landkartenähnlichen Aussichten vorzieht, wird sich durch den Rundblick von diesen Höhen belohnt finden, zumal wenn er den Zweck verfolgt, ein Reliefbild der ganzen Landschaft zu gewinnen. "Der Czorneboh (dessen wendischer Name den schwarzen Gott bedeutet) steigt eine Meile südlich von Vautzen über die Schlachtfelder von Hochkirch und Mehltheuer sanft empor zu einer Höhe von 1717 Fuß. Auf seinein waldigen Nucken ragen etliche Granitfelsen empor, welche Teinvel-mauern, Kanzeln und Altäre nachahmen. Da nun einige Felsblöcke sonderbare, wol durch Auswaschung besonders verwitterbarer Partien entstandene Gruben und Rinnen zeigen, so lag der Voltsdichtung nahe, diesen Berg für eine heidnische Opferstätte Zu erklären, zumal da neben dem schwarzen Gutt ein „weißer Gott" (der Njeleboh) aufsteigt. Der Granit ist überhaupt die Felsart, an welche sich, auf dem Vrocken und überall, die ältesten Sagen am liebsten anschlingen; darum hat die granitreiche Lausitz eine Auswahl von Teufelssteinen, Teufeis-Kanzeln und Fenstern und von Hollen. Die Rundsicht vom Czorneboh, erleichtert durch einen sturmfesten Granitthurm, darf sich mit dem Panorama jedes deutschen Mittelgebirges messen. Sie umfaßt, im Westen durch die Hohen des Eibsandsteingebirges und im Osten durch die des Niesengcbirgcs umrahmt, fast die ganze Ober- und Niederlausitz, im Vordergrunde die „goldnen Auen" der lausitzer Fluren mit ihren weltgeschichtlichen Schlachtfeldern, im Hintergrunde die an Kiefernge- 6 holzen reichen Niederungen. Viele Teiche, welche im Norden aus dem Waldgrün aufblitzen, ersetzen einigermaßen einen großen See oder Flußspicgel, welcher der weiten Landschaft als Allsse zu wünschen wäre, da die Neiße, Spree und Elster, deren Flußgebiete man Zum Theil überschaut, nicht merklich hervortreten. Im Süden erscheinen jenseit eines Längenthales die waldigen Höhen, welche die Lausitz von Böhmen trenneil und hinter denselben einige dem Estergebiet nngehörige Kegelberge, Die Aussicht ist wirtlich so reich und das Auge Zum Spähen in duftige Fernen lockend, daß man beinahe das Steckenpferd eines liebenswürdigen Bautzener Herrn besteigen möchte, der an jedem qeschäftsfreicn schönen Tage seinen Czorneboh besucht und die Aussicht mit derselben Lust und Gründlichkeit mustert, wie ein Astronom seine Sterne oder ein Sammler seine Steine oder Kupferstiche. Auch der 1373 Fuß hohe Löbauer Berg hat einen begeisterten Liebhaber gewonnen, einen Freund, der sich nicht begnügen mochte, seine liebe Höhe häufig Zu besteigen, sondern sie wirtlich bezog und im Jahre 1^5>4 mit einem Aussichtsthurme «ersah, wie vielleicht ein schlichter Vürger nie einen ähnlichen aufführen ließ. Dieser achteckige gußeiserne Thurm, dessen Wände so reich mit Fenstern und Maßwerk durchbrochen sind, daß sie fast einein Spitzen-gründe gleichen, steigt 100 Fuß empor; eine eiserne Wendeltreppe führt auf seine drei Galerien. Die dazu verwandte Eisenmasse soll 140N Zentner wiegen und der Bau 14,000 Thaler tosten. Die Hoffnung, dieses Capital durch das Eintrittsgeld auch nnr leidlich Zu verzinsen, war so unsicher, daß blos begeisterte Raturfreude den Bäckermeister Vretschnei der bewogen haben kann, einen Bau zu beginnen, der nach einer kurzen Neihe von Jahren Eigenthum der Stadtgemeinde werden soll. Der langrückigc und in drei Gipfeln aufsteigende Löbauer Vera, ist eine geologische Berühmtheit. Er besteht aus Vulkanischein Gestein,' zum Theil aus Basalt, zum Theil (namentlich in der Nähe des Thurmes) aus der seltenen 7 Felsart des Nephelin-Dolerit, dessen krystallinisches Oemeng aus schwarzem Augit und weißlichem Nephelin.Feldspath die steifenden einladet, sammelnden Freunden ein Pröb-chen als Neisegabe mitzunehmen. Was aber besonders die Aufmerksamkeit der Stcinforscher erregt hat, sind die auf der östlichen Kuppe oberflächlich liebenden schlackenartigcn Dolcritblöcke, welche offenbar durch Muth gelitten haben. Welcher Art war die Hitze, die sie verschlackte? bitten sie als heidnischer Opferherd unter einer durch Menschenhand entzündeten Flamme oder wurden sie durch vulkanische Gluthen zu blasigen Schlacken? Wo die Gelehrten sich streiten, ist es nicht gerathen, eine Meinung zu äußern; doch sei die Frage gewagt, ob es nicht die Probe durch ein Oetoberfeuer verdiene, um zu erkunden, ob wirtlich ein Scheiterhaufen solche Dinge thun könne. Die Aussicht, welche der „Löbauer Berg" eröffnet, ist der auf dein Czorneboh genossenen ähnlich, bietet aber neue, lehrreiche und erfreuliche Blicke in das innere Berggehäuf der Oberlausitz, unter dessen zahlreichen Höhen sich einige Charakterköpfe hervorthun. Solche sind zumal: im Osten die Landskrone bei Görlitz, dann der 1120 Fuß hohe Hut-bc'rg, an den sich Herrnhut anschmiegt, der 1765, Fuß hohe Kottmar, in dessen Nähe die Spree quillt, noch mehr der 1560 Fuß hohe Oderwitzer Spitzberg, welcher sich durch die schroffen Abfälle seines Klingsteinkegels hervorthut, und im fernen Südosten zwei hohe blauduftige Bergrücken, welche die höchsten Gipfel des Lausitzer Gebirgs darstellen. Bon den letztgenannten, durch schöne Linien ausgezeichneten Bergen ragt der östliche langrückige, der Hochwald, etwa 2300, der westliche, mehr kegelförmige, die Lausche, etwas über 2400 Fuß über den Meeresspiegel. Der Fels-lörper von beiden besteht aus Mingstcin, dessen massenhaft umherliegende Trümmerblöcke hier und da mit den rothen, beim Anhauchen duftenden Algen überzogen sind, welche die „Veilchensteine" des Riesengebirges zu Andenken machen. Beide Berge sind schön bewaldet. Ihre Gipfel gewähren besonders südwärts einen überraschenden Blick. Es wird 8 ' nicht viele Wanderer geben, die Lust fühlen, die stolze Angabe der Gipfelbewohner zu prüfen, daft man allein auf böhmischer Seite 9 Städte, 22 Schlösser und 50 Dörfer sehe; aber dcr Anblick von Schaaren schüngeformter Kegel-berge über welche die vorrückende Abendsonne ein Zauber-spiel von Lufttönen ergießt, wird gewiß Aller Augen laben. Fürwahr, keine Höhe der sächsischen Gebirge vom Kapellenberge des Voigtlandes an bis zum Kcilberg des Erzgebirges und zum Winterberge gewährt einen so schönen Ausblick in das schöne Nachbarland, wie dieses Lauscher Zwillingspaar. Auf beiden Gipfeln finden Vcrgfreunde, welche eine Nacht in der Wolkennä'hc zu verbringen lieben und die Täuschungen des Wetters mit guter Laune zu ertragen wissen, eine so empfehlenswerthe Herberge, wie in den besten Sonnenaufgangs-Warten des Harzes oder des Rie-fengebirges. Welche von beiden Höhen das bessere Luginsland bilde, ist eine von Führern und Reisenden vielbesprochene Frage. Am nördlichen Abhänge dieser höchsten Zinnen des Lausitzer-Gebirges lagert sich eine Gruppe Quadersandstein-Berge von 1700 bis 1900 Fuß Höhe, welche durch ihre Fclsengebildc großen Ruf genießen. Der Liebhaber schlichter Schönheit möge nicht verfehlen, auch ihren nördlichen, der Zittaucr Flur zugewandten Abhängen einen Besuch abzustatten. Besonders lohnend ist der Besuch des Gebirgspasses, welcher von Zittau über Lückendorf nach Böhmen führt. Eine bequeme Straße, welche freundliche Rückblicke in die lachenden Fluren Zittau's gewährt, führt durch prächtigen bunten Wald, der parkartig durch saftige Wiesen unterbrochen ist, über den Vergkamm in das liebliche Nie-sengründchen des Grenzortes Lückendorf, dessen Bach nach Böhmen rauscht. Von hier aus möge man nunmehr die benachbarten Thäler besuchen, welche wegen der Seltsamkeit ihrer Formen weitbekannt und vielbegangen sind. Es sind enge, schwchtartige Thäler, in welchen phantastische Berggeister mit kecker Laune geschaffen zu haben scheinen. Hier tritt ein einzelner haushoher Fels auf 9 schwächlichem Gestell als „Kelchsiein" frei hervor, dort ragen aus den Kiefern massige Felsmauern voller Klüfte und Scharten; an einem andern Ort ist der Felsenkamm eines Bergrückens wunderlich gekerbt und ausgezackt, sodaß er einem Hahncnkamm ähnelt; der Nonnenfcls bei Iohnsdorf besetzt eine enge Schlucht mit schroffen, an die Bastei des Eibthais erinnernden Klippen. Kurz, dieser Bezirk des Lausitzcr-Gcbirges ist eine kleine Sammlung von Natur-gebildcn, welche nach den sonderbaren Tropfsteinen mancher Grotten benannt sind und den Stolz der Führer ausmachen-, er ist ein hübsches Gegenbild des Eibthales und des Adersbacher Grundes. Diese Berühmtheiten erreicht nun freilich das Grotesken-Gebiet der Lausitz nicht, da ihn: die Zierde eines Stromes und die Massenhaftigkeit der Elbthalfelsen, sowie die dämonische Bizarrerie der Adersbacher und Wächelsdorfer Schluchten fehlt; aber eine Seltenheit ist ihm eigen, die den Stcinkundigen ernst beschäftigt und auch den Laien anzieht. Jedem, der in den hübschen Anlagen um die Stadt Zittau lustwandelt, müssen die zierlichen fuß- bis ellenlangen Ecksäulchen aus Sandstein auffallen, mit welchem daselbst einige Blumenbeete umrahmt sind. Diese regelmäßigen vier- bis sechsseitigen Prismen, welche von Steinmetzen geformt zu sein scheinen, sind Werke derselben Vild-nerkraft, welche dicht daneben in Callot's Manier traumhaft-regellose Ungeheuerlichkeiten gestaltete. Sie finden sich im Quadersandstein bei Iohnsdorf (im Nabensteinbruche), wo der Fels bald Scheitklaftern, bald Orgelpfeifen darstellt. Während aber die Natur die bizarre Ornamentik der Landschaft durch das Wasser besorgen ließ, übertrug sie die Herstellung dieser formgerechten Gebilde der unterirdischen Gluch, von welcher verkühlend der Sandstein die mathematischen Körper nachahmte, in die sich der Vasalt so oft absondert. Der höchste Glanzpunkt des Zittauer Felsengebirgs liegt unfern der Stelle, wo sich der enge Thalspalt des Töpferund Ameifenberges nach der Stadtflur öffnet. Dies ist der 10 Onbin. In einem engen, schön gewundenen und von hohen Waldbergen uinschlossencn Wiesengrunde ragt nut fast nackten, unhandlichschroffen Wänden ein mehr al^, thurmhoher, freistehender, gewaltiger Sandfelskegel von I5i7^ Fuß Meereshöhe empor, dessen Forin nicht unpassend nnt der eines Bienenkorbs verglichen wird. Seine bedeutendste, durch kühne Modcllirung ergreifende Seite kehrt der ungeheure Felstegel nicht sowohl den« an seinem Südfuße malerisch gelagerten Weberdörfchen, als vielmehr dem nördlichen, einsamen „Hansgrunde" zu, einer tiefen Waldschlucht, der wol unter allen Partien der Lausitz der Preis der Gebirgsro-mantit zukommt. Phantastisch genug ist der an den Lilien- und König: stein erinnernde Oybin-Fcly, von dessen nur auf Treppen ersteigbaren« (Gipfel man in enge, hochumwandete Thälchen schant und blos durch eine enge Bergpfortc einen Ausblick in die freundlichen Auen von Zittau gewinnt. Was aber den Oi)bin vor allen seinen Felsgenossen auszeichnet, das verdankt er der Kunst, die hier im vollen Maße verstanden hat der Landschaft ein Bauwerk anzupassen. Wir besitzen in Deutschland manche schöne Ruinen von Klosterkirchen und darunter mehrere, welche — wie die Zu Memlebcn, Thalbürgel und Paulinzelle — die Kirche des Oybin durch Alter und kunstgeschichtliche Bedeutsamkeit übertreffen; aber in der Harmonie mit der Landschaft, im Anschmiegen an das Terrain, durch welches ein Bauwert wie vom Statur-geist hingedichtet erscheint, überbietet gewift der Oybin alle jene herrlichen Reste altdeutscher Kunst. Der kleine Gottesacker, der sich auf schmaler Felsterrasse an den Fuß der Ruine lagert, die halb in den Felsen gesprengten Kreuz-yänge, welche zur Kirche emporführcn, das schmale einschiffige Langhaus, dessen Wandung zum Theil der lebendige Fels und dessen Decke der Himmel bildet, der wol 80 Fuß hohe majestätische Bogen, der den.Chor vom Schiff abschließt, die Fensterluken, durch deren schwer beschädigtes gothisches Maßwerk dunkle Fichten hereinschauen — Alles das stimmt unter sich und zur Umgebung so wunderschön, daß der Be- 11 schauer nur einen Wunsch fühlt, nehmlich den. einen Lichtbilderapparat zu besitzen, um eine Mappe voll herrlicher Architetturdilder mitzunehmen. Leider hat die Aussichts-Industrie auf dem Ol)bm-Gipfel, der kaum für ein Kloster Naum bot, eine Restauration und allerlei Zuthaten angeklebt, die man von den obcngenannten, im Thale liegenden Kirchen-Nuinen in unschädlicher Entfernung zu halten ge-wuftt hat. Die Geschichte des Oybin roürde ein strenger Nationalist so zusammenfassen: Er war Zuerst eine Naubburg, dann cine Büßeransialt, zuletzt wurde er zu einem Stelldichein für Vergnügungsfahrten. Jedenfalls Wandelungen zum Besseren/ Ueber die Ritterburg, von der noch 'einige Trümmer stehen, berichtet ein Chronist des vierzehnten Jahrhunderte: „Daz woren die ersten rowber, die man ye in desem lande irkante; dacz czogen die hier (nämlich in Zittau) woren vndt zwbrochen das haivs vndt vortreben die Herren.'^ Dies geschah im I. 1280, aber bald daraufhatten die Ritter, für die eine solche Felsenueste geschaffen zu sein schien, eine neue Burg erbaut, welche der Böhmenkönig, Karl IV., in der Mitte des 14. Jahrhunderts zerstören lieh. An deren Stelle gründete dieser Herrscher für einige Mönche des (von den Aenedictincrn abgezweigten) Cölesti-ner-Ordens, die er von Avignon mitgebracht, im I. 1384 ein Kloster, das auf zwölf Brüder berechnet war. Er stattete seine Schöpfung mit liegenden Gütern und mit Zinsen aus, so das; das Kloster in Besitz mehrerer Dörfer und eines mit Mühle, Bäckerei und Brauhaus verbundenen VäterhofeZ in Zittau tam, in welchem Brot unter die Armen vertheilt wurde. Die Negel des Ordens war streng und scheint immer so befolgt worden zu sein, das; die Sitten der Mönche leinen Anstof; gaben. Schweigen war Hauvtpflicht, nur Mittags war auf kurze Frist ein Zwiegespräch erlaubt. Lautlos schritten die ernsten, in weiße Kutten und schwarze Kapuzen gehüllten Männer einher, wortlos saßen sie in ihren Zellen. Der Oubin stellte 12 eine grabesstille Felseninscl dar Für Fremde wurde in einer Felsen-Nische Vrot und Wein zur Labung ausge-stellt; Vesuch kam nur am Gründonnerstag über die Schwelle, wo die Väter Zwölf Zittauer Schülern die Füße wuschen. Als die Hussiten gleich wilden Fluthen in die Lausitz drangen, brandeten ihre Schaarcn machtlos an der Felsen-bürg des Onbiu und tonnten nur die Klosterdörfer verheeren. Die (5ölcstiner fühlten sich noch im Anfang der Reformationszeit so sicher, daft sie im I. 1516 em Tochterkloster auf dem Königstein an der Elbe anlegten, welches jedoch schon acht Jahre später einging. Indeß konnten sich die Oybiner Mönche, an deren Patmos dieHussitenstürme abgeprallt waren, vor dein Frühlingshauche der neuen Zeit nicht abschließen; Luthers Einfluß machte sich auch in ihre stillen Zellen geltend. Im I. 1525 verheirnthete sich der Prior ihres Klosters zu Wittenberg; 21 Jahre später verließen die letzten Cölestiner den vereinsamten Oubin, um ihre Tage im Bätcrhofe Zu beschließen. Der Kömg ließ die Klostcrschätze nach Prag abführen und verpfändete die Liegenschaften der Stiftung dem Rathe zu Zittau, der sie im I. 1574 um 91,000 Thaler käuflich erwarb. Kloster und Kirche verfielen infolge eincs Brandes, der 1577 durch Blitzschlag entstand. Da die Kirche erst im I. 1«29 von dem Schutt befreit worden ist, der sich durch den Einsturz angehäuft hatte, so muß der Oybin, obgleich fchon in früherer Zeit von Alterthumsfreunden beschrieben, abgezeichnet und besungen, erst spät zu dein wohlverdienten Rufe gekommen sein, in dem er gegenwärtig im In- und Auslande steht. Jetzt verkünden Ponies, Führer, Sträußchenhändler und Harfenspielerinnen hinlänglich, daß er zum modischen Nallfahrts-ziele geworden ist. Weit ernster und stiller, als um diese Klosterruine, . geht es um das Kloster Maricnthal her, welches zwei Meilen östlich von Zittau, nahe bei dem Städtchen Ostritz liegt. Dies Nonnenkloster ist eine Stiftung Kunigundens, der 13 Tochter des Königs Philipp von Schwaben, welche vielleicht ihr Gewissen von einiger Mitschuld am traurigen Ende ihres Vaters belastet fühlte. Obgleich sie dieser dem Pfalzgrafen Otto von Wittelobach zum Dank für geleistete Dienste verlobt hatte, wurde sie im I. 1200 an den Vöh-mcntönig Wenzel vermählt; auy Grimm über diese und eine neue, noch größere Treulosigkeit ihres Vaters ermor-dete Otto denselben zwei Jahre später zu Vamberg. Die alten Mostergebäude Marienthals find wiederholt durch Kriegoverheenmg und Arand zerstört worden; der jetzt bestehende, auc, dem Ende des 17. Jahrhunderte stammende Van ist nichts weniger alü ehrwürdig und schön, da ein Rotoioschl, der seine Unformen nicht einmal durch phantasiereiche Ornamentit bemäntelt, gewiß für ein Kloster unvortheilhaft wirtt. Das Innere der eben restaurirten Kirche, vor deren Seitenaltären zwei prächtig geschmückte Heilige in gläsernen Särgen ausgestellt sind, macht nut seinen zahlreichen Fresken auf Gold und ^asurgrund einen prächtigen Eindruck, Einen zeitgeschichtlichen Ruf hat dies reiche Moster, in dessen Zellen gegen dreißig, meist aus Böhmen stammende sonnen wohnen, dadurch erhalten, daß c5 von einer gefeierten Künstlerin Zur letzten Ruhestätte erwählt worden ist. Die irdischen Bieste der Sängerin Henriette Sonntag sind dem Wunsche der Verstorbenen gemäß aus Amerika hierher gebracht worden, wo ihre Schwester als Nonne lebt. Man irrt wol kaum, wenn man in der überaus wohllautenden Stimme, die trotz ihrer demüthigen Gedämpftheit so ätherisch aus dem Chore betender und singender Nonnen hcrvortönt, die Stimme dieser Schwester vermuthet, welche eine auosichtsvolle Kunst, lerlanfbahn mit diesem stillen Aufenthalte vertauscht hat, Für ein der rauschenden Welt überdrüssiges Herz tann es taum eine geeignetere Stätte geben, als die kleine Thal-weitung der Neiße, in welche sich das Kloster mit seinen Nirthschaftsgcbäuden und Mühlen schmiegt. Das Ncißethal oberhalb des Klosters bis zu dem eine Meile entfernten Orte Hirschfelde, stellt in malerischer Hin- 14 ficht eine Perle unter den lausitzcr Fluftthälern dar. In seinein geschlängelten (Grunde, dessen waldige Bergschranken neben dem rauschenden Flusse kaum der Straße Raum lassen, fühlt man am ledhaftesten, daß das freundlichheitre Gebirge, dem es an wilder Kühnheit und düstrem Trotze fehlt, wenigstens einige tiefernste Winkel voll Waldeinsamkeit besitzt. Nächst diese»! Theile des Neißcthalcs würde ein Maler wol den Oberlauf eines Flusses schätzen, der in seinem Mannesalter durchaus nicht im Rufe der Romantik steht. Wem erweckt wol der Name der Epree Vorstellungen von landschaftlicher Schönheit? Und doch würden selbst die kritischen Berliner ihren Fluß wenigstens nicht übel finden, wenn sie ihn von seiner Quelle an bis Vautzen auf einer Strecke «erfolgten, wo er klar und munter in einem schmalen, gewundenen Niesengrunde zwischen und über Felsen rauscht und die Räder einsam gelegener Mühlen und Fabriken treibt. Tann schlingt sich die Spree in einem engen Felsenthale malerisch um das Borgebirg, auf dem Vautzen fußt und rinnt dem sagenreichen Abgott-Felsen zu, wo ihr Bett unergründlich tief und Badenden verderblich sein soll. Dieser vielgenannte Fels, auf dem der Sage zufolge die Bildsäule des fabelhaften (Gottes Flins gestanden hat, welche jetzt im Flußbette begraben liegt, ist der Markstein der Jugend für die Spree. Sie tritt nun in die Tiefebene, wird flachufrig, spaltet sich in Arme und rinnt langsam, aber oft überfluthend einer der seltsamsten deutschen Landschaften Zu, dem Eprecwalde der Niederlausitz, wo sie in viele»: 'Armen zwischen düsterem Sumpfgehölz und bruchigen Wiesen dahinschleicht. Das Tiefland der Oberlausitz ähnelt nur an seinem nördlichen Saume — besonders im Norden von Königs-warthe — dem einförmigflachen, mit vielen Kieferheiden und Teichen versehenen Tandboden der Niedcrlausitz; der größere Theil des sächsischen Flachlandes ist durch sanfte, zuweilen bergähnliche Hügel belebt, welche manche freundliche Thälchen bilden. Die ^andschastsgärtnerei hätte hier 15 jedenfalls einen dankbareren Boden gefunden, als in der durch ihren Part berühmt gewordenen Mu>)kauer /slur. Artland und Wiesengrund wechseln häufig mit „Vusch" (so heißt hier jedes Gehölz), kleine Schwellungen und Senkungen des Geländes geben manchen Pfaden hübsche Aus-sichts.Ueberraschungen, so daß selbst das Auge des Fußgängers nicht leicht ermüdet und öfter recht angenehm berührt wird. Eine Reihe schlichtanmuthiger, flachhügeliger Landschaften bietet namentlich die Umgebung des Klosters Marienstern, das zwischen Bautzen und Kamenz liegt. Deshalb würde gewiß das benachbarte Dorf Schmcckwitz, dessen Schwefelquellen und Moorschlammbäder kräftige Heilmittel versprechen, mehr Besuch ans der ^ernc anziehen, wenn für Unterkommen und Bequemlichkeit einer größeren Anzahl von Gästen gesorgt würde. Einen besondern Reiz erhält der sanfthügelige und ebene Theil der Oberlausit), namentlich die Umgebung von Bautzen, durch einen Zug isolirter Hügel von auffallender Form, welche fast die ganze Markgrafschaft von Ost nach Nest so dicht besetzen, das; auf einer etwa zehn Meilen langen Strecke gegen fünfzig hervortreten. Es sind kreis-bogen- oder hufeisenähnliche, oft haushohe Erdwälle, welche einen Halblratcr einschließend nach außen steil abfallen. Manche haben einen Durchmesser von fünfzig bis mehreren hundert Schritten und könnten in ihrer Einfriedigung mehrere Bauernhöfe umfassen. Die beoeutensten scheinen die Erdwälle von Grubschütz und Doberschau an der Spree, die von Göda, Dahren und Loga zu sein. Alle sind in der Mhe eines Baches so angelegt, daß sie demselben die Oeffnung ihres Bogens zukehren. An einzelnen von Rasen entblößten Stellen lassen einige dieser Ringwälle Reste verkohlten Holzes hervorblicken; es ist fchr zu wünschen, daß sie keine reichen Lager von Asche bergen, sonst würden sie der Zerstörung durch die Landwirthe, welche schon manch' ähnliches „Unland" abgetragen haben, kaum entgehen. Schanzen oder Schwedcnschanzen nennt der Deutsche, 16 w'oä«Llii8eIlwLjw) die Umwallung, der Wende diese Hügel. Sicherlich hatten sie denselben Zweck, wie die ebenfalls an Flüsse oder Sümpfe angelehnten Erdforts der Rothhäute, deren sich in den Staaten Newyork nnd Pennsylvania mehrere Hundert finden sollen, und wie die Erdwälle der asiatischen Steppen. Es waren Zufluchtsorte, schlichte Vur-gen, in welchem die Nachbarn zur Kriegszeit ihre Habe bargen und vertheidigten*). Aber wer waren die Erbauer? Die wendischen Lausitzer, wenn sie nicht der ganz unwahrscheinlichen Ansicht huldigen, daß die Ringwälle Opferstätten gewesen, behaupten, jene Forts seien von ihren Vorältern angelegt, als dieselben von den Deutschen bedrängt wurden; die Deutschen dagegen, die Sennonen oder wie sonst die Germanenstämme geheißen haben mögen, die hier vor der slawischen Einwanderung hausten, haben diese Schanzen gegen die wendischen Eindringlinge aufgeführt, finde man doch folchc Ningwälle (deren v. Peucker in seiner Geschichte des deutschen Kriegswesens viele aufzählt) auch in rein deutschen, nie von Fremden besiedelten Landschaften. Welche von beiden Ansichten die richtige sei, würde selbst dann noch schwer zn entscheiden sein, wenn Ausgrabungen Waffen und Schmuck zu Tage fördern sollten, da es an sichern nationalen Unterscheidungsmerkmalen für solche urzeitliche Kunstprodukte mangelt. Auf jeden Fall verleihen diese uralten Erdfestungen der Gegend ein besonderes Interesse. Der einsame Wanderer, der im Abenddämmcrn auf einer solchen Schanze steht, fühlt sich bald von schaurigen Phantasie-Bildern umschwebt. In der. Einfriedigung der Schanze erblickt er geängstete Frauen und Kinder, "tröstende und ermuthigende Greise, Knaben, welche die gekoppelten Hausthiere beschwichtigen und andere, welche Geschosse herbeitragen; auf der Höhe des mit Pfahlwerk umstarrten Walles gewahrt er *) In Schmardas Reise um die Welt lese ich, daß die Neuseeländer die Krater ausgebrannter Vulkane alö natürliche Ring-Walle zu Burgen benutzen, sowie sich eiust Spartakus mit dem Sklavmhcer ini Vesuv verschanzte. 17 Jünglinge und Männer, welche den Erdhügel, der ihr Theuerstes birgt, gegen die nnstürmcnden Feinde mit Bo-gen, Lanze und Axt vertheidigen. Welches Kampfgeschrei, welches Angstgewimmer mag auf diesen Schanzen erklungen sein, wo jetzt die Baume so friedlich säuseln! Nie manche Blutlache mag den Boden getränkt haben, wo jetzt Vlau-glöckchen und Sandnelken sprossen! So gewähren diese Erdhügel eine Aussicht in die selbst für die Sage spurlos untergegangenen Nebelfernen der Urzeit, sie dürfen sich deshalb mit gewissem Rechte den Aussichtsbergen gegenüberstellen, welche eine Bogelschau über das heitere Leben der Gegenwart bieten. II. Dir Wendn. Der Besuch der uralten Schanzen führt den Wanderer in Gegenden, welche für die Völkerkunde hohes Interesse haben. Sie sind der Sitz eines slawischen Stammes, der mitten unter Deutschen wohnend und seit Jahrhunderten einem deutschen Staat angchöng, sein Volksthum bis heute bewahrt hat. Es ist derselbe Stamm, der einst weite Strecken zwischen Elbe und Saale inne hatte, dort aber im Deutschthum aufging und nur in einzelnen Ortsnamen und wenigen Bräuchen fortlebt. Das wendische Sprachgebiet, von den deutschen Lausitzern die Wendei genannt, dessen Mittelpunkt und Hauptstadt Vudissin (Bautzen) ist, wird heutzutag ungefähr durch folgende Grenzlinien umschlossen. Im Norden reicht die Wendei bis an die Provinzgrenze, welche zugleich die säch. fische Landesgrenze darstellt und schließt sich daselbst an das dreimal grössere Wendengebiet der Niederlausitz an, dessen Vand u»d ^cutc der sächsischen Vausih, 2 18 Pulsader die Spree und dessen Mittelpunkt Kottbus darstellt. Im Osten ist die sächsische Wendel vom Löbauflusse derart begrenzt, daft die Stadt Lobau den südöstlichen Markstein bildet. Eine von hier bis nahe anBischofswerda gezogene Linie, welche unfern der Eisenbahn nördlich von Cunewalde vorüberstreicht, stellt die der Prouinzgrenze ziemlich gleichlaufende Südmarke der Wendei dar; im Westen wird das wendische Gebiet durch eine östlich von Bischofswerda nach Kamenz gerichtete Linie umrahmt, außerhalb dcren aber die Städte Elstra und Kamcnz liegen bleiben. Auf diesem Gebiete wohnen die Wenden fast nur in den sehr Zahlreichen, aber kleinen Dorfern, von denen im Durchschnitt zwölf zu einem Pfarrspiele gehören. Die im Gebiete liegenden Städte sind deutsch, nur die Vorstadt Scndau in Bautzen ist von Wenden besetzt. Man giebt die Zahl der sächsischen Wenden auf 49,217 an, welche 399 Gemeinden angehören, so daß durchschnittlich nur etwa 125 Seelen auf cine Gemeinde kommen. Die große Mehrheit der Wenden gehört dem protestantifchen Bekenntniß an; die Anzahl der Evangelischen soll gegen 40,000 betragen. Sie bilden 322 Gemeinden und werden in 26 Kirchen von 30 Geistlichen und in 56 Schulen von 65 Lehrern erbaut und unterrichtet. In den Städten Bautzen, KamenZ, Löbau und Weißenberg sind Kirchen, in denen regelmäßig wendisch gepredigt und gesungen wird. Die katholischen Wenden besitzen sechs Pfarrkirchen, darunter eine städtische (in Bautzen) und 12 Schulen. Die Gcsammt-zahl der in der Ober- und Niederlausitz ansässigen Wenden wurde im Jahre 1849 auf 100,266 angegeben. Ohne für die Genauigkeit dieser Zahlen bürgen zu können, dürfen wir doch behaupten, daß die Serben >— so nennen sich die Wenden, die westlichsten aller Slawen, selber — neben ihren Vettern, den Kassuben, einen der kleinsten Stämme der großen slawischen Familie darstellen. Ihre Sprache soll am meisten der böhmischen und polnischen ähneln, aber immerhin von denselben so stark abweichen, daß der Wende sich mit diesen nachbarlichen Ver- 19 wandten nicht verständigen tann. Er bezeichnet den Deutschen als „den Stummen" <^.j^m»!<) und ist in Bezug auf seinen nächsten slawischen Verwandten selbst ein solcher. Aber nicht blos vom Verkehr mit den größeren Slawenstämmen sind die Wenden sprachlich abgeschlossen, auch ihr eigner kleiner Stamm selbst ist dadurch tief zerklüftet, daß die Sprache der Oberlausitz beträchtlich von der Nie-derlausitzer abweicht. Das Serbische der Obcrlausitz zerfällt in mehrere Mundarten: in die Löbauer, welche für die schönste gilt, in die zur Schriftsprache erkorene Budissincr, in die Mundart der Heidegegend, in den Grenzdialett und die Kamenzer oder katholische Mundart, welche auch in der Schreibart mannigfach von der Audissincr abweicht. Die wendische Sprache klingt dem deutschen Ohre zwar weniger weich als die polnische und russische, aber lange nicht so rauh, wie die gedruckten, an Mitlautern überreichen Wörter vermuthen lassen. Ihre vielen Zischlaute werden größentheils durch ein angefügtes .j erweicht, dagegen erklingt oft als Auslaut ein dem Schweizerischen ähnliches, hartes uoli. Einen flüchtigen, gleitenden Rhythmus erhält die Sprache dadurch, das; in mehrsilbigen Wörtern der Ton stets alif der ersten Sylbe ruht. Die Grammatik des Wendischen (von welcher I. E. Schmaler in seiner kleinen Sprachlehre, m:nvl», «m-d«lcg, /X^liimilv»,, und einem Lehrbuche nach Ahns Methode den bequemsten Einblick gewährt) bietet einem nicht gerade zu Sprachstudien Angelegten solchen Formcnreichthum, daß er zurückbebt. Sie hat einen Dual für Declination und Conjugation, zwei überzählige Casus (Lokativ und Socialis), drei Geschlechter, acht Declinationen und sechs Conjugationen. Einige kleine Sprachprobcn sind vielleicht einem Leser, der nie Wendisch gehört, nicht unerwünscht. Wir schreiben sie so, wie die Aussprache lautet, ^n ^ ni^ol, Vater und Mutter. I.nl^ dra^i- » luda «otr^ lieber Aruder und liebe Schwester. 5« brau- »Unv/ ist der Bruder gesund? 20 Mo^ nan mein Vater, na»c:l> nan euer Vater, ^v^^Lli di'H^r euer Bruder. -^ Oomc, das Haus, cimnu des Hauses, clonus zu Hause, äonwi nach Hause. — Iwdr« i-g,n^ guten Morgen, äodru, uo/ gute Nacht! I'oml^i ^ok Gott helf! 5a 8o 6«c;l,!i.kn>u ich danke Ihnen! — ^l.'" .^ nmwo das ist wenig, to iij^o iinnvu, das ist nicht wenig. 1Iki ja, ujt, nein. — l5/in, «/, ^o ich bin, du bist, er ist; der Dual des Hilfsverbs heißt ^mui, ^lni) stai, der Plural «m^, «oll^, »u; d^oli ich war, »^m d)! ich bin gewesen, 1,uän ich werde sein. 1i,^ä«!>! int^c^«,!, r^ä^cika ich rede, du, er u, s. w. K',/仫llu,uli, ich redete, «^in r)'ä««du1 ich habe geredet, r^li8«li6t8oli ich werde reden. So wildfremd diese Sprache dem Deutschen lautet, so erkennt er doch dann und wann Wörter, die auf einen gemeinsamen Wurzelstock des Wendischen und Deutschen hinweisen sz. B. di^tr, 6l6r Thaler, kro«, Groschen, ^^elltai- Wäck)ter, sol'n>un Fuhrmann, t^»<;^r Tischler, munn'j Vtaurer, «l!cl Schlil^e, iuol«n-j Vtüller, dur Bauer, ^cliti'vin^v Strinnpfe, «t.,,n'i:l Stunde, kjor-mn^c,lll>. Kirineß. Die an der Nord- und WestgrenZe der Wenoei wohnenden Serben, besonders die Nachbarn der Städte, sprechen fast alle fertig deutsch. Sie lernen es in den Schulen und haben im Marttuertehre fortwährend Uebung im Sprechen, da ihre deutschen Abnehmer fast nie Wendisch lernen. Das Wendendeutsch, welches natürlich der ^au-sitzer Mundart folgt, hat einen fremden Klang nicht nur durch die Aussprache im fagt der Wende für ^i und setzt Wörtern, die mit einem Selbstlaut anfangen, einen Hauch vor, z. V. „Harbait" für Arbeit), sondern auch durch manche Solozismen. So läßt man öfter den Artikel aus („wenn 21 Wasser kleen ist"), braucht mich statt mir, und bevorzugt die schwache Conjugation s„ich grabte"). Im Innern der Wendei, besonders länqs der Spree sder Stockwendei") fühlt sich dagegen ein Deutscher nicht selten wirklich als „Stummer", er erhält hier auf seine Fragen öfter keine oder die immer mürrisch klingende Antwort des Nichtvcrstehens. In manchen Dürfern dieser Gegend soll nur Pfarrer und Lehrer ordentlich Deutsch können: indessen geben die Lausitzer Deutschen ihren Nachbarn Schuld, mancher Wcnde spiele den „Kannitoerstan" nur deshalb, weil er Zu bequem und den Deutschen nicht „grün" sei. Die Wendei ist eine fast rein ackerbauliche Gegend, darum stellen ihre Bewohner meist kräftige Gestalten dar. Bekannt sind die Wenden als tüchtige Soldaten. Auch die Frauen und Mädchen sind derbe, gesunde Naturen. Die Gesichtsbildung der Bauern läßt die slawische Grundform meist erkennen; besonders kenntlich sind die Bewohner des Klostergebietes durch ihre Gesichtszüge. Die alten Trachten und Sitten haben sich am zähesten in dem katholischen Bezirk erhalten, dessen Mittelpunkt das Kloster Marienstern ist; überhaupt scheint das Voltsthum dieser „Klosterbauern" die ursprüngliche Eigenart des Stammes am reinsten darzustellen. Wie bei allen Völkern sind auch bei den Wenden die Frauen der alten Tracht am treusten geblieben. Den Kopf verhüllen sie zu Haus und im Freien mit einem kunstlos gefalteten, unter dein Kinn gebundenen Tuche, dessen blumen-randiger Zipfel bei den Katholikinnen, welche braune Kopftücher führen, fast den ganzen Rücken bedeckt. Ehefrauen tragen unter der allgemein üblichen Kattunhaube, die mit einer schwarzen Nackenschleife besetzt ist, ein weiftes, über den Ctirnsaum der bunten Obcrhaube vorsehendes Zwirnnetz und bekleiden die Brust statt mit einem Mieder mit einem zugeknöpften Leibchen. Die Katholikinnen tragen einen steifen Brustlatz, fast wie die Altenburgerinnen. Das Kamisol der Wendin hat Schmkcnärmel und ist meist bunt. 22 den Rock tragen besonders die katholischen Frauen sehr faltenreich. Auf dem Felde gehn fast alle Frauen und viele Männer barfuß. Ein weißes Stirnband bezeichnet die leichte Trauer; in der Volltrauer hüllt sich die Wendin in einen weißen, die ganze Gestalt von Kopf bis Zu Fuß einschließenden Ueberwurf, der etwa die Form eines Betttuches hat. Die Männer tragen bei der Feldarbeit eine kurze, dem polnischen Rock ähnliche Pikesche, Sonntags einen langen Tuchüberrock. Im Winter ist der Schafpelz beliebt. Für die Weste wählt man gern die rothe Farbe; als Fußbekleidung dient der steife Stiefel. An den Grenzen der Wendei soll die Nationaltracht fortwährend an Geltung einbüßen, selbst der schwarze Trauerflor hat bei einem Stamme, dem Weiß als Trauerfarbe gilt, Platz genommen. Beklagen würde das Untergehen der wendischen Tracht nur ein Solcher, der alles Alte erhalten zu sehen wünscht, denn sie ist, wenn auch nicht auffallend häßlich, wie die Altenburger, doch so wenig kleidsam, daß es wol noch nie einer Dame, die sich sonst gern als russische oder polnische Bäuerin verkleidet, in den Sinn gekommen ist, als Wendin zum Maskenbälle zu gehen. Uebrigens scheint auch diese eigenthümliche Bauerntracht nicht frei von fremden Beimengungen, da unter den Namen der Kleidungsstücke mehrere deutsche vorkommen (>nnv/v, 111/, nlunt^i, «o!l0r!«i«nl,ku Schürze, nclUi'vm^ioÄ). Interessani wäre es zu wissen, ob sich in den nunmehr gcrmanisirten Wendenortcn der Lausitz Sprache oder Tracht früher verloren hat; das Verhalten der Altenburger scheint anzudeuten, daß den Wenden ihr Nationalkleid noch mehr ans Herz gewachsen ist, als selbst die Muttersprache. Thatsache ist, daß gerade die reichsten Bauern der Wendei, die Klosterbauern, an: wenigsten Lust Zeigen, ihre Tracht aufzugeben; sie lassen zwar gern ihren Reichthum sehen, geben bei Festen kostspielige Gelage und prunken bei AufZügen mit stattlichen Gäulen und schönen Geschirren, aber 23 sich oder ihre Töchter in städtische Tracht zu stecken, soll keinem einfallen. In Stände gliedern sich die Wenden nicht, sic sind, wie die Donauserben, ein Slawenstamm ohne Adel, Die Besitzer der Rittergüter ihres Gebietes sind sämmtliche Deutsche. Aber deshalb herrscht keineswegs Gleichheit. Der I!ur (Großbauer), der eine etwa 30 Morgen umfassende Hufe besitzt, worauf er zwei Pferde und etwa 20 Ätinder halten kann, wird kaum jemals seine Tochter einem 1'oütm^c (Halbhüfner) oder gar einem linxl^rj geben, der nur Garten und Haus besitzt. Großbauern finden sich hauptsächlich in der Klostergegend bei Kamenz; in den Nittcrgutsdörfern wohnen viele vom „Gute abgebaute" Gärtner und Häusler, welche meist als Taglöhner auf dem Hof arbeiten. Der Schulze (^kuliu) ist, zumal wenn er Zugleich Schenkwirt!) (Xs»l't«clunm'j), ein hochangesehener Mann, fast immer bekleidet ein Reichbegüterter dies Amt. Im Gemeindeleben ist bemertenswerth, daß die Bauern-versammlungen im Sonnner meist unter der Durflinde stattfinden und daß der Schulze die Nachbarn auf eigne Art zusammenruft; er läßt nämlich ein Krummholz (kokul»,) oder einen hölzernen Hammer im Dorf umhergehn, an dem die Ladung angeheftet ist, dieser Briefbeschwerer wird von Haus zu Haus gereicht oder dem Nachbar über den Zaun zugeworfen. Die wendischen Dörfer unterscheiden sich uon den deutschen der Lausitz zunächst durch ihre Kleinheit, dann durch die dichte Stellung ihrer Gebäude Zu geschlossenen Gassen. Der altwendische Bauplan (eine einzige zweizeilige Gasse mit der Kirche in der Mitte) ist an vielen Orten verwischt. Die Wohnungen kehren ihre Giebel der Gasse zu. haben nur ein Erdgeschoß und bestehen auo Fachwerk oder aus Schrotwänden. Bunter Anstrich, Schnitzerei und Inschriften scheinen ganz zu fehlen. Jene eigenthümliche Ueberbrückung der Fenster durch Holzbogen, welche von der Saale an bis ins Voigtland für ehemalige Wendenorte bezeichnend ist und sich auch in den Lausitzer Weberorten häufig findet, 24 sieht man in der Wendei nicht regelmäßig, nicht einmal häufig. Leider wußte Niemand zu berichten, ob diese Eigenheit der Bauart früher allgemein gewesen sei. An der dem Hofe zugekehrten Langseite des Hauses springt das Strohdach stärker vor, so daß es eine Art Laube bildet, der aber eine Freitreppe fehlt. Die Häuser, selbst die Hütten der Armen, sind in gutem baulichen Stande, ihr Strohdach wohlerhalten und ihr ganzes Aussehn so wohnlich, daß ein Wanderer, dem Bilder von polnischen und tassubischen Dörfern vorschweben, freundlich überrascht wird. Blumengärten vor den Fenstern sind selten, und noch seltner wohlgepflegt. Die Ställe liegen unter demselben Dache mit dem Hause; die Scheune steht abgesondert, ihr Thor trägt öfter das Balkengerüst nach außen, was in den ehemals wendischen Gebieten des Boigtlandes und Egerlandes Regel ist. Beim Eintritt ins Haus gelangt man in eine Flur, welche zugleich die Küche vorstellt. Flur und Stube sind meist ohne Vrettcrdiele, nur mit Estrich aus Lehm versehen. In der niedrigen Stube nimmt der Ofen und seine „Hölle" großen Raum weg, er ist mit Bänken, Ofentopf und Trockenstangen ausgerüstet. Um den Tisch laufen Wandbänke. Das Schüssclbrett ist der hauptsächlichste Wandschmuck, Wandbilder sind selten. An den Thüren fand ich die Wochentage oft mit deutschen Anfangsbuchstaben angekreidet. Auch die Namen mancher Ctubengcräthe erinnern ans Deutsche, so «püilil der Spiegel, WI«' Teller, >vimj» Wanne, 8cktim6:l Wasserständer, t>v<^l2, Quele, Handtuch, In!ä«o1ik:>. Hütschc, Fußschemel. In Stall und Scheune gelten nur echtserbische Worte, unter den Ackergcräthen hat bloa der Pflug d'Iun oder jnvuli) einen entlehnten Namen. Die Wohnstuben der Wenden, soviel ich deren sah, kommen an Sauberkeit denen der meisten mitteldeutschen Ackerbauern gleich, ohne Zweifel sind diese westlichen Slawen ebenso die reinlichsten Glieder ihrer Familie, wie die Holländer und Engländer unter den Germanen. In der Oenügsamteit wetteifern die wendischen Bauern 25 mit den Bewohnern der sächsischen Gebirge; doch ist ihre Kost nahrhafter und der Kaffee hat nicht dieselbe Herrschaft wie dort. Zum Morgenbrot dient eine Suppe, zum Mittassessen ein Gericht aus Milch, Quark, Mchl und Kartoffeln; Heidegrütze wird in der sandigen Niederung viel genossen. Fleisch kommt nur Sonntags auf den Tisch. Unter dem Gebäck find die Blinscn, deren slawischer Name auch in längst germanisirten Wendenorten anderer Gegen-den geblieben ist, in hohem Anschn. Mohnsamen braucht mau hier nicht als Zukost, obgleich dies von Schlesien an durch den ganzen slawischen Osten gelten soll und auch in den ehemals wendischen Orten Thüringens Brauch ist. Bei Festgclagen, wo aufgetragen wird, daß sich die Tischplatten biegen möchten, wird die Suppe nicht zu Anfang des Gastmahls, sondern als Zwischengericht aufgesetzt. Von den Getränken scheint der Branntwein beliebter zu sein, als das Vier, obgleich das Sprichwort sagt: I^Ion^.ju w,ul«n!2, d. i. Branntwein ist ein Umwerfer. Indeß sieht man, außer bei außerordentlichen Festgelagen, keine „Umgeworfenen"; die Wenden dürfen nicht nur in Betreff ihrer Reinlichkeit, sondern auch ihrer Nüchternheit unter ihreu slawischen Brüdern einen Ehrenplatz beanspruchen. Wie sehr zeichnen sie sich durch diese Tugenden namentlich vor ihren nächsten Verwandten, den Kassuben, aus, denen die Trunksucht als allgemeines Laster Zugeschrieben wird! Geselligkeit ist ein Hauptzug des wendischen Charakters. Die Wenden find unter sich vielleicht noch gesprächiger, als die deshalb berühmten Sachsen. Ich habe öfter die Unterhaltungsnabe wendischer Leute bewundert, welche ich unterwegs stundenlang plaudern hörte, ohne daß nur eine minutenlange Stockung in das Gespräch kam. Wenn die Wenden den Deutschen gegenüber weniger mittheilsam find, ja oft zurückhaltend und mißtrauisch erscheinen, so liegt das wol größtentheits an dem Zwange der fremden Sprache, in der man sich nie nach Herzenslust ergeht und immer ängstlicher bewegt als in der Muttersprache. 26 Für die Alten ist das Wirthshaus die Hauptstätte des Verkehres, für die Jugend der Tanzplatz und die Spinnstube. Die Tanzlust der Wenden ist fast Leidenschaft zu nennen. Ihr Nationalreigen (»u,>1iu,) hat in Melodie und Bewegungen Eigenthümliches. Die Tänzerin bewegt sich eine Zeit lang allein, dann wird sie von ihrem Tanzge-nossen umkreist, der durch Stampfen, Singen und Jauchzen seine Sehnsucht ausdrückt, endlich reicht sie ihm die Hand zu gemeinsamem Tanzen und dann nehmen mehrere Paare am Nundtanze theil. Ein Tanzliedchen, wie man sie noch häufig statt oder neben der Musik singt, lautet so Njemski rav5, liod^il, ^i-ju^ll) die Windesburschen (VV.joti- tiol?.)'), welche im Sturmwind toben. Auch die „Wehklage" gehört wol ursprünglich dem wendischen Sagenkreis an, wenigstens scheint sie in Thüringen bloß an weiland slawischen Orten bekannt zu sein. Von der Musikliebe der Wenden zeugt ihr hübsches Sprüchwort: „Der Musikant spielt auf, tausend Schmerzen 2!1 heilen". Die Weisen ihrer Lieder, welche — außer dem Tanzreigen — alle sehr langsam einherschrciten, tragen ein entschieden fremdländisches und zwar slawisches Gepräge, wenn sich auch dann und wann offenbar deutsche Tongänge hineinmischen. Oft kommen grelle Sprünge aus Dur in Moll uor, nicht selten bewegt sich die Melodic in so widerhaarigen Gängen, daß man sie nur mit Mühe in die üblichen Tonfolgen einzureihen weiß und wol begreift, warum die Wenden ihre bieder nicht so naturwüchsig zwei-stimmig zu singen vermögen, wie die Thüringer die ihrigen. Süßcinschmeichclnde Melodien, wie sie unter den russischen vorkommen, scheinen nicht darunter zu sein. Der übliche Vortrag dieser bieder will dem deutschen Ohr nicht behagen, da er mit Schnörkeln, Uebcrschlägen und Pralltrillern überladen ist; ein Lied fängt sogar frischweg mit einem Triller an. Freilich muß man sich dabei der nationalen Vorurtheile erinnern und besonders eingedenk sein, daß die Wenden bei einem recht widerwärtigen Vegegniß ausrufen: „da möchte man gleich deutsch singen!" Der Kirchengesang der protestantischen Wenden hat seine Weisen den deutschen Choralbüchern entnommen. Höchst eigenthümlich, aber keineswegs schön, lauten die kirchlichen Weisen der Katholiken, die ein Vorsänger nut sonderbar näselndein und tre-mulirendem Ton angiebt; man begreift kaum, wie diese Tonreihen sich dem Gedächtniß der Gemeinde einprägen konnten. Ueber die Festgebräuche giebt Schmalers Voltsliederbuch ausführliche Schilderungen. Folgendes dürfte das Vemertenswertheste sein. An den Kirchenfesten legen die Vauern dem Pfarrer ein Geldopfer auf den Altar. An den Sonntagabenden der Fastenzeit und in der Osternacht singen die Dorfmädchen im Freien bieder. Christbaum und Pfmgstmaie find auch bei den Wenden voltsthümlich. Das Todaustragen, ein altheidnischer, vielleicht ursprünglich slawischer Gebrauch, der von Schlesien bis Thüringen galt, ist jetzt auch in der Wendei abgekommen. Als Osterspiel wird nicht „das Stutzen" mit Eiern, sondern das Eier- 30 wälzen (>vll1kat»^) geübt, ein Wettspiel, bei dem ein Ei nach einem zweiten gerollt wird; besonders geübt wirb dies Spiel am Brodschenberge bei Vautzcn. Vei der Taufe finden folgende Eigenthümlichkeiten statt. Die Pathen sagen, wenn sie sich beim Weggang zur Kirche von der Wöchnerin verabschieden.- „Einen Heiden gebt Ihr uns, einen Christen werden wir Euch bringen!" und bei der Rückkehr: „Einen Heiden gabt Ihr uns, einen Christen bringen wir Euch!" Zum Pathcngelde werden Münzen verschiedener Gattung genommen; in den Pathenbrief eines Knaben legt man gern neunerlei Gesäme, in den eines Mädchens etliche Körner Lein und eine Nähnadel. Ein Säugling wird an den ersten sechs Sonntagen seines Lebens während des Gottesdienstes mit seinem Taufschmucke bekleidet. Das Taufhemdchen eines Knaben hängt man gern an einer Sense, das eines Mädchens an einem Nocken auf. Ein Sterbender wird vom Bett hinweg auf frisches Strohlager gebracht, was viele Kranken selbst verlangen; in der Sterbestunde gilt der Brauch, ein Fenster zu öffnen. Den Bienen zeigt man das Ableben des Hausherrn mit den Worten an.- „Vicnchen, steht auf, euer Herr ist todt!" Die Leiche wird stets nur in weißes Linnen i,l^l>' Kit^l) gekleidet. Die Herstellung der Gräber besorgen die Ge-meindemitglieder der Neihe nach. Vei der Leichenrede sagt an vielen Orten der Geistliche der Trauerversammlung im Namen des Verstorbenen dodni im/ sgute Nacht) und dankt für alles demselben erwiesene Gute. Die meisten Eigenthümlichkeiten zeigt das wendische Volksthum bei Hochzeiten, welche besonders von den reichen Klosterbauern mit größtem Pomp gefeiert werden. Diese Feste locken gewöhnlich viele Schaulustige herbei, so daß sich ein frivoler Sveculant veranlaßt fand, auf der Leipziger Messe eine Wendenhochzeit schauspielsweise darstellen zu lassen. Eine große Nolle spielt bei den Hochzeiten der ^r^olikä, der sein viel Geschick erforderndes Geschäft meist gewerbs- 31 mäßig betreibt. Er besorgt die förmliche Werbung, ladet und begrüßt die Gäste, deren sich zuweilen über hundert versammeln, weist ihnen die Plätze an, spricht das Tischgebet, theilt die Speisen aus, segnet das Ehebett, fordert und empfängt die Geschenke, verabschiedet die Vraut vom Aelternhause und führt sie in ihren Hausstand mit einer Rede ein, in welcher er ihr die neuen Pflichten einschärft. Er stellt also in einer Person den Ecremonienmeister und Hauspriester dar. Ein artiger, freilich dem Ernste des Tages nicht entsprechender Brauch, der an die Pantominen von Pierrot und Columbine erinnert, findet am Hochzeitmorgen statt, wenn der Bräutigam mit dem Braschta in das Haus der Braut geht, um sie abzuholen. Sie finden Thüren und Fenster verschlossen, erst nach langem Klopfen wird aufgethan. Wenn nun der Nraschka die Werbung erneuert, führt man dem Bräutigam eine alte Frau vor, nachdem er diese zurückgewiesen, ein Mädchen, und erst, wenn er auch diese abgelehnt, erscheint seine Verlobte. Ein ganz ähnlicher Brauch findet im Livincrthale des Kantons Tessin und in Mecklenburg statt. Die ehrbare Braut trägt einen Schmuck, welcher nur beim Hochzeitfcste zum Vorschein kommt, nehmlich eine schwarze, mit grünen Bändern geschmückte, kegelsiumpfartige Sammetmütze (darUl), an deren oberem Saume zwölf goldne Sternchen füttern; an diesem Kopfputze hängt der Brautkranz aus Raute, die hier die Stelle der Mnrthe vertritt. Der Anzug der Vraut besteht aus einem blauseidenen Jäckchen, von dem aber fast blos die Aermel sichtbar sind, da ein weißes, mit breiten grüngarnirten Falbeln besetztes Busentuch darüber getragen wird, und aus einem faltenreichen schwarzen Tuchrocke, der fast völlig von zwei weißen Schürzen bedeckt ist. Schaumünzen, Perlen und grüne Bändchen vollenden den Schmuck. Die Brautjungfern sind ähnlich angethan, tragen aber keine Raute und statt der grünen rothe Bänder. Der Bräutigam heftet seinen Rautenkranz nicht an die Brust, sondern an den Hut. 92 Beide Brautleute werden von ledigen Ghrendienern und Dienerinnen („Züchtjungfern") und von einer ältern Frau, gewöhnlich der Pathe, welche in diesem Ehrenamte ^!oi>k:>, heißt, zur Kirche geleitet. Während der Fahrt zur Kirche laben sich die auf Leiterwagen sitzenden Gäste an Kuchen und Branntwein und singen - „Haben sie ja, haben sie ja, geben nun Niemandem sie!" Erst auf dem Heimwege fitzen die Brautleute auf demselben Wagen. Sie werden öfter aufgehalten („verschnürt"), mit Pistolenschüssen und Musik begrüßt uud mit Dali dnk /do.lsolljt! (Gott gebe Glück) beglückwünscht. Bei der Mahlzeit sitzt das Brautpaar so, daß die Tischecke zwischen Braut und Bräutigam vorspringt; das vor ihnen stehende ^icht darf nicht geputzt werden. Der Hochzeitschmaus dauert bis in die Nacht; zuweilen tritt zum Zeitvertreib ein Possenreißer auf oder man tanzt zwischen den Gängen einen Neigen. Am Tanze, der gewöhnlich auf der Scheuntenne gehalten wird, darf der Bräutigam am ersten Tage nicht theilnchmen, die Braut dagegen tanzt mit und hat den Vorreigen. Am zweiten Hochzeittage beginnt der Tanz gleich nach dem Frühstück. Nach Tische werden die Hochzeitgaben öffentlich dargebracht, wobei jeder Schenkgeber den naiven Wunsch aufspricht: „Gott gebe, daß es Euch viel helfe und mir wenig schade!" Endlich mahnt der Braschka zum Aufbruch und hält eine Abschiedsrede, in welche er die Braut zu dankbarem Andenken an die „ehrsamen und lieben Ael-tern", an Geschwister, Pathen und Freunde ermahnt und im Namen der Braut Verzeihung und Segen erbittet. Während des Verabschiedend wird mit Musikbegleitung folgendes allerliebste, naive Lied gesungen: Nun schict' dich zur Reis' an, liebliche Maid, Fort mußt du jetzt unter der Freunde Geleit! Vier Nösselcin sind an den Wagen gespannt, Und alle zum Hofe hinaus gewandt. 33 Mit diesen mußt fahren Du, Mägdelein, Hinweg aus dem Hause, so gut und so fem, Ins andere Haus, daS noch besser wird sein. Jetzt fall um den Hals dem Väterchen, Dein, Und öebewohl sage dem Mütterlein, Sag'S auch Deinen Brüdern und Schwestcrleinl Gute Nacht, alter Bater mein, gute Nacht! Für Abend und Morgen, fltr Sorge und Wacht, Für die Hochzeit stilllöblich sei Dank Dir gebracht! Gute Nacht, alte Mutter mein, gute Nacht! Nicht mehr bin ich jetzt Euer Töchterlein, Gehöre dem Manne, mein Herzchen ist sein. Gute Nacht, Ihr Schwestern mein, gute Nacht! Zu lieben Euch seid immer bedacht, Wie Schwestern sollen, wie wir es gemacht! Nun spendet das Lied noch Abschiedsgrüße an die Brüder, dann an die Gespielinnen, „die wir zusammen gelacht und Tänzchen gemacht". Während die Mitgift nicht ohne Gepräng aufgeladen wird, singt der Chor: Bringt her mir nur alle Sachen mein, Mitnehmen will Alles ich, reich will ich sein. Wenn das Brautpaar an seinem Wohnort ankommt singen die Begleiter: Schon seh' ich auf's Haus, ans' neue, dorthin, In- welches ich traurig und fröhlich muß ziehn, 'Gott geb' uns Gesundheit und Friede darm! Von den Schwiegereltern mit Händedruck und Kuß empfangen, tritt die Vraut ein, wobei ihr der Braschka eine Vermahnungsrede hält. Nach der Abendmahlzeit trägt sie den Aermsten des Dorfes Brot und Fleisch zu. In diesen Hochzeitgebräuchcn, wie im wendischen Volks-thum überhaupt, liegt neben einzelnen Derbheiten so mancher schöne, ein warmes Gemüth und schlichte Natürlichkeit offenbarende Zug, daß man sich zur näheren Bekanntschaft mit den Wenden eingeladen fühlt. Diese ist aber für einen der Sprache nicht mächtigen „Stummen", der nur kurze Land unb Leute der sächsischen Lausitz. 3 34 Zeit in der Gegend weilt, sehr schwierig. Der wendische Landmann erscheint obgleich er den sprüchwörtlichen Vorwurf „des stöckischen Schweigens" nicht verdient — doch keineswegs mittheilsam gegen Deutsche, wenn er auch ihre Sprache so gut bemeistcrt, wie es nur irgend einem Fremden möglich ist. Mag nun die Ursache in dem auch bei deutschen Bauern geltenden Vorurtheile liegen, daß Einer, der ungewohnte Fragen stellt, nur hänseln wolle, oder mag eine Bitterkeit gegen die Deutschen herrschen, deren Stamm den wendischen einst unterjocht und lange Zeit in feudaler Abhängigkeit gehalten hat, der Wende verhält sich so zugeknöpft und wortkarg, daß er leicht den Schein mißtrauischer Vorsicht erregt. Ich muß mich daher bei der Charakteristik der Wenden meist auf das beschrän-ken, was ich im Lande als geltende Ansicht hörte. Freilich mag in solchen Ansichten, wie es bei den meisten Grenz-Nachbarn der Fall ist, manches Vorurtheil stecken, aber ganz ohne Begründung sind sie selten. Die deutschen Lausitzer geben Manches als Eigenart der Wenden an, was allgemeine Eigenschaft aller Bauern ist. So hörte ich von einem in der Wendei angesessenen Deutschen die Aeußerung: „man brauche deu Wenden nur recht uneigennützig etwas Gutes zu bieten, um sicher zu sein, daß "er dasselbe mißtrauisch Zurückweise." Nun, dieser Zug findet sich in vielen Dörfern, und namentlich solchen, die lange in Erbunterthänigkeit gestanden haben, fast allgemein. So ist es noch mit mhrcren (5harnkterzügen, die man in der Lausitz für eigenthümlich wendisch hält Allseitig gerühmt werden die Wenden wegen ihrer Kirchlichkcit. Der Gottesdienst wird von ihnen fleißig besucht, wenn auch die Mutterkirchc, zu der zehn bis zwanzig Dörfchen gehören, über eine Stunde weit abliegt. Ein warmes, religiöses Gefühl spricht sich in manchen Redensarten aus, deren Eeitenstücke im Sprachgebrauche vieler deutscher Bauern durch neuere, der gottseligen In nigkeit entbehrende Ausdrücke verdrängt sind oder werden Der ständische Gruß ist: „Pomhai boh" (Gott helf), beim 3b Abschied: „Sei Gott befohlen, geht in Gottes Namen, euer Gatt geleit'Euch!" Der übliche Glückwunsch lautet: „Gott gebe Segen", sogar beim Zutrinken ruft man: „In Gottes Namen", oder: „Geseg'n es Gott!" — „Willkommen aus Gottes Wort!" ist der Gruß für die aus der Kirche Heimkehrenden. Erblickt der Wende etwas auffallend Schönes, so ruft er: „durch Gott!" als wolle er ebenso den Urgrund alles Schönen andeuten, wie der Moslem durch seinen Ausruf der Verwunderung: „Gott ist groß!" Vielleicht liegt aber in dieser Redensart zugleich eine Verhütung des Berufens, wie deutsche Bauern, wenn sie etwas loben, zufügen: „Gott behüt' es!" Der schlichte Deutsche sagt: „die liebe Sonne, das liebe Vrot"; der Wende spricht: „Gottes Sonne geht nach Hause" (geht unter), er redet von „Gottes 3tcgen, Gottes Gewitter, Gottes ^eldfrüchten", und der Bettler bittet run ein Stückchen „Gott^brot." „Die Hand Gottes hat ihn berührt" heißt es von Einem, den der Schlag gerührt. Daß die Wenden nur (?) deutsche Flüche brauchen — was mir ein Wende als besondere Tugend seines Stammes anführte — möchte ich nicht für einem Beweis gelten lassen, daß sie von den Deutschen mit dieser Unsitte angesteckt seien; drücken doch viele Völker Unanständiges und Rohes gern in fremder Zunge aus, und namentlich gern in der Sprache eines Voltes, das ihnen imponirt. In Betreff der Schulbildung stehen die sächsischen Wenden gewiß allen andern slavischen Stämmen voraus. Ihre Lehrer werden im deutschen Seminar zu Vautzen gebildet; für wendische Schulbücher hat die neuere Zeit ausreichend gesorgt. In allen Schulen bildet auch die deutsche Sprache einen Unterrichtsgcgenstand, auch der deutsche Volksgesang wird insofern gepflegt, als die Kinder serbische Texte, die zum Theil Uebcrtragungen aus dem Deutschen sind, nach deutschen Wesen singen lernen. Es klingt überraschend, wenn die Kinder ein Höltyschcs Frühlingslicd in serbischen Worten nach deutscher Melodie vortragen. Kinder- 36 lieder nach urthümlich wendischen Melodien scheinen in den Schulen gar nicht eingeübt zu werden. Auch in der Bewirthschaftung ihrer Felder übertreffen die oberlausitzer Wenden wol alle Stammesgenossen. Ihr Fleiß ist hoch zu rühmen. — „Wer einen Mund hat, der hat Hände", sagt ihr Sprüchwort, und sie leben ihm treulich nach. Der Häusler bearbeitet, nachdem er den ganzen Tag auf dem Gute thätig war, am Feierabend sein Pachtfeld, öfter sollen Arme selbst den Pflug ziehen. Auch der reiche Bauer greift wacker zu und hält seine Kinder streng zur Arbeit an. Neue Verfahren des Landbaus soll der Wende erst dann sich aneignen, wenn er durch die Beobachtung des gutsherrlichen Feldes sich von den Vorzügen derselben überzeugt hat; zum Vahnbrechen hat er also, so wenig wie der deutsche Kleinbauer, Mittel und Geschick. Der Genügsamkeit des Wenden, welche die der Erzgebirger erreicht oder gar übertrifft, ist schon gedacht. Ueberlegen ist der wendische Arbeiter, auch wenn er in Fabriken dient, dem deutschen durch seine Sparsamkeit, eine Tugend, welche manchen seiner Verwandten, z. V. den Kassuben, gänzlich abgesprochen wird; er ist nicht so dem Verjubeln des Wochenverdienstes an Sonntagen ergeben, wie der Weber, dies Urtheil Hort man von vielen Seiten äußern. Die Arbeitslöhne stehen in der Lausitz niedriger, als in andern Gegenden Mitteldeutschlands; aber selbst dabei erhält der Häusler seine Familie in Ehren und sucht durch den Ertrag eines Pachtgrundstücks, auf das er einige Ziegen hält, nachzuhelfen. Zerlumpte Leute und Bettler sind mir nirgends vorgekommen. Der Fremde wundert sich wol, wie man im Stande sei, von solchem Wochenlohn das Leben zu fristen; aber manche dieser Taglöhner sollen sogar Schulden abtragen oder sparen. Und doch hat nach dem serbischen Sprüchwort „das Jahr einen langen Schnabel und der Winter einen großen Bauch", aber nach einem andern Spruche „scheint auch auf die kleinste Hütte Gottes Sonne." Wegen ihrer kräftigen, wetterfesten Naturen, ihrer 37 Arbeitsamkeit und Genügsamkeit sind die wendischen Burschen und Mädchen als Dienstboten gesucht, sie sind zwar — so hört man deutsche Herrschaften sagen — nicht eben stink, aber zäh; sie find nicht zuthunlich und zuvorkommend, aber ehrlich und treu. Obgleich die Wenden in ihrer Geschichte sich stets friedfertig und duldsam erwiesen haben, wird ihnen doch Schuld gegeben, daß sie leicht derb ausfallen und zu Thätlichkeiten schreiten, die nur deshalb weniger gefährlich ausfallen sollen, weil der Wende „eine dicke Hirnschale besitze." — Wenn man den Aussagen deutscher Dienstherren trauen darf — und in solchen gang und gäben Urtheilen liegt meist Wahrheit — so muß dem Wenden eine besondere Abneigung gegen rauhe Behandlung eigen sein. „Flattiren muß man den Wenden — so heißt es —; giebt man ihm harte Worte, so wird er muckisch und schlägt aus." Beobachtet man wendische Feldarbeiter, welche den adeligen Grundherrn begrüßen, von dem sie ganz abhängen, so findet man in ihrem Benehmen keine Spur der kriechenden Unterwürfigkeit von Polen und Nüssen, vielmehr ein kurz angebundenes, und Selbstachtung bekundendes Wesen. Häufig ist der Vorwurf zu hören, daß so viele wendische Mädchen als Ammen dienen, und daß deshalb Unsittlichkeit unter dem Volke herrschen müsse. Ob wirklich die Geburtstabellcn dieser Gegend ein ungünstiges Zeugniß ausstellen, ist mir unbekannt; baß in Dresden die Lausitzer Ammen so häusig sind, wie die Altenburger Kindermuhmen in Leipzig, beweist nur, daß die Wendinnen für kräftige Frauen gelten. Doch scheinen in der That hier, wie in manchen deutschen Ackerbaugegendcn, die Sitten der Jugend etwas locker. Ueber die Spinnstuben wird selbst von Wenden nicht günstig geurtheilt im Volksliede, wo der Kiltgang als üblich dargestellt wird, kommen öfter Stellen vor, wie diese: „Kauf' keine Vorta, keinen Kranz, kauf' lieber mir ein Wiegelein!" Die größte Schuld an diejen Verhältnissen scheint in den gesellschaftlichen Zuständen zu liegen. Der Hausherr 38 sknsi^Äi-) übergiebt selten sein Anwesen bei Lebzeit einem Kinde (gewöhnlich erbt der jüngste Sohn); selten setzt sich ein Alter im Ausgedingstübchen zur Ruh. Alle zu Haus entbehrlichen Kinder müssen in fremde Dienste gehen, selbst wenn der Vater keineswegs arm ist. Nun leben die jungen Leute, fern von älterlicher Aufsicht, in der Ungebundenheit des Verkehrs, wie ihn das Dorflelien mit sich bringt; die Schwierigkeit, einen eignen Herd zu gründen, ist aber groß, oft für eine Reihe uon Jahren unübcr-steiglich. Da kommt es denn öfter vor, daß eine arme Mutter sich als Amme verdingen muß, um für ihr Kind, das meist bei Verwandten in Pflege ist, etwas zu erwerben. Gemildert werden die Folgen dieser Unsitte dadurch, daß fast jeder Wende sich angelegen sein läßt, für sein Kind zu sorgen und, sobald es die Umstände gestatten, dessen Mutter zu heirathen. Für den Familiensinn des Völkchens zeugt ihr schönes Sprüchwort: „Eine Ehe ohne Kinder ist eine Welt ohne Sonne." So oft auch junge Leute die Heimat auf Jahre verlassen, um in der Fremde zu dienen, so selten, ja fast unerhört ist es, daß ein Wende für immer auswandert; wer weiß, ob Amerika einen einzigen Wenden beherbergt. Sie folgen ihrem Wahrworte: Lobt das draußen, bleibet drinnen! Auch solche Wenden, denen ihre Bildung ein Unterkommen im Auslande ermöglicht, wie Lehrer und Geistliche, ziehen fast immer eine Stelle in der Heimat vor. Natürlich drängt sich jedem, der hier einen kleinen, rings von Deutschen umschlossenen Volksstamm fremde Sprache und eigenes Volkvthum behaupten sieht, die Frage auf: warum in der Lausitz die Wenden, die anderwärts dem Deutschthum wenig Widerstand geleistet, sich erhalten haben. Zwischen Saale und Elbe ging das Wendische schon vor vierhundert Jahren ein, und doch wird man kaum annehmen wollen, daß jene westlicher wohnenden Serben ihre Muttersprache weniger geliebt haben. Die Hauptursache scheint weniger in den Menschen, als in den Verhältnissen zu liegen. Eine wesentliche Aegün- 39 stigung fanden die lausitzer Wenden darin, daß sie zu den Zeiten, wo die Deutschen, gleich allen ihren Zeitgenossen, kein Bedenken trugen, fremdsprachige Unterthanen mit Gewalt zu entnationalisircn, einem Slawenfürstcn, nämlich dem König von Vöhmen, angehörten, und daß die sächsische Negierung, unter der die Lausitz seit I!'>!j5 steht, nie Druck gegen die fremde Nationalität ausgeübt hat. Nie sind hier Iosephinischc oder gar dänische Maßregeln gegen ein fremdes Volt^thum vollzogen worden, Von nicht geringem Einfluß auf die Erhaltung des Wendischen war ferner der Umstand, daß die Serben, infolge der Beschaffenheit des Bodens, sowie noch mehr infolge des lange geltenden Fcudalwcsens und des ausschließlichen Zunftgeistes der Städte ein fast durchweg ackerbaulicher Stamm geblieben sind. Sie scheinen überhaupt mehr Neigung zum Landbau als zu Gewerben zu haben; denen, welche zum Handwerk Lust verspürten, war der Eintritt in die Innungen der Städte sehr erschwert, und dao Aufkommen von Dorfhandwerkern juchten die Städte möglichst zu verhüten. Den Deutschen dagegen war die Niederlassung im Innern der Wcndei nicht wohl möglich, da die Erwerbung von Grundstücken zu freiein Eigenthum fast unthunlich und das abhängige Leben eines Häuslers nicht lockend war. So haben denn mittelalterliche Einrichtungen, die in der Oberlausitz längere Zeit und in strengerer Form sich erhielten, als in andern Gegenden Sachsens, viel zur Erhaltung des Wendischen beigetragen. Vielleicht erklärt sich daraus zum Theil das instinctavtige conservative Verhalten der Wenden in Zeiten, wo in andern Gegenden an den. alten Formen gerüttelt wurde. Ein völlig unangefochtenes Dasein hat übrigens das Wendenthum'in der'Oberlausitz nicht gehabt. Auch hier ist ununterbrochen der Wettstreit rege, der nie fehlt, wo zwei Nationalitäten unter demselben Herrscher stehen, auch hier begnügt sich der entwickeltere Voltsstamm — so wenig als in'Wales, Schottland und Irland, in der Bretagne And im Elsaß — mit ruhigem Gcwahrenlassen; auch hier 40 wogt — obgleich die an Nachrichten über Nationalitätsfragen strotzenden Zeitungen fast nie von der Lausitz melden — der Sprachenkampf. Lange hat die Sprache, der die höhere Bildung eignet, fast widerstandslos das Nachbarufer angegriffen und ist tief ins fremde Land vorgerückt. Das Gebiet des Wendischen war einst viel umfänglicher, alle größern Städte der Lausitz tragen wendische Namen und reindeutschc Ortsbenennungen finden sich fast nur im Gebirge. Jede Stadt glich aber einem Vorbau, welcher die Strömung des Germanismus noch weiter nach dem slawischen Ufer drängte. In den Städten wurde das Deutsche früh allein herrschend; in Budissin, der Hauptstadt der Wendei, die doch eine wendische Vorstadt besitzt, sah ich blos zwei Firmen, welche neben der deutschen Inschrift auch eine serbische trugen. Valo machte die deutsche Sprache auch auf den Nachbardörfern, wo die Hausindustrie aufblühte, Fortschritte, sodas; in einer Schule nach der andern auf den Wunsch der Einwohner, der Unterricht deutsch ertheilt wurde. Selbst auf den Gottesäckern mehrerer Wendenorte, wo als Umgangssprache nur das Serbische gehört wird, fand ich auf den Grabsteinen fast nur deutsche Inschriften. Mehr und mehr deutsche Worte, welche neue Culturerrungenschaften bezeichnen, bürgerten sich in das Wendische ein. Leider scheinen genaue Aufzeichnungen, nach denen sich eine geschichtliche Karte über die Umgestaltungen der Sprachgrenze entwerfen ließe, nicht vorhanden, was gerade hier, wo der Sprachenkampf nur mit geistigen Waffen geführt worden ist, doppelt belehrend wäre. Aber nicht blos die Sprache, auch die Sitte der Wenden wich vor dem deutschen Einflüsse zurück; noch heutigen Tages schleifen sich besonders in den Grenzorten der Nendei die scharfen Kanten des Volksthums mehr und mehr ab. Nie tonnte es anders sein, da die Bauern im regelmäßigen Marktvertehr mit Deutschen stehen, da heimkehrende Soldaten und Dienstboten Manches mitbringen, was bei längerem Aufenthalt in der Fremde anfliegt, da Lehrer 41 und Geistliche ihre Bildung deutschen Gymnasien und Universitäten verdanken und deutsche Bücher lesen? Lange schien es, als ahnten die Wenden nicht, was ihrem Volksthum bevorstand, oder als ergäben sie sich entsagungsvoll oder gleichgültig dem unabwendbaren Aus-gange des still aber mächtig wirkenden culturgeschichtlichen Prozesses. Erst in unserem Menschenalter, das man geradezu als die Aera bezeichnen könnte, in der srit der Erhebung der Griechen gegen die Türken die Nationalitätsfrage in den Vordergrund trat, erst seit etwa zwanzig Jahren begann sich unter den Wenden eine Gegenwirkung zu regen, um das urväterliche Volksthum zu vertheidigen. Der erste Schritt ging von der gebildeten Jugend aus, die sich überall am leichtesten für das Voltsthümliche begeistert. Im Jahre 1830 bildeten die serbischen Gymnasiasten in Bautzen einen Verein mit dem Zwecke, sich im Sprechen und Schreiben der Muttersprache zu üben. Dies muß sehr nothgethan haben, da ein gebildeter Wende versicherte, unter den früheren Geistlichen seien manche gewesen, die ihre Muttersprache nicht tadelfrei zu schreiben verstanden. Rechten Ernst, rege Triebtraft und praktisches Geschick gewann die nationale Reaction der Wenden besonders durch die Thätigkeit eines Niederlausitzers, des Candidate« Schmaler, der jetzt als Buchhändler in Bautzen lebt. Voll Sinn für Volksdichtung und Volksthum (er ist der Sammler der serbischen bieder),' hatte er in Nrcslau die slawischen Sprachen studirt und machte sich die Erhaltung und Ausbildung seiner Muttersprache zur Lebensaufgabe, für die er mit eben so viel Geschick als Ausdauer arbeitet. Als sichersten Grundstein für Stützung des Volksthums erkannte er die Literatur. An dieser fehlte es den Serben gar sehr. Einige Schul- und Erbauungsbücher machten das ganze Schriftenthum aus; eine vollständige Bibelübersetzung war erst im Jahre 1728 erschienen. Wendische Zeitungen, die man seit 1790 wiederholt zu gründen versucht hatte, waren — wie man sagt, großentheils deshalb, 42 weil die Orthographie nicht für die verschiedenen Mund. arten paßte — bald wieder eingeschlafen. Um die Sprache Zu reinigen und auszubilden, und cine wendische Literatur zu schliffen, gründete man im Jahre ittW die ^i^Inka 5«>ku (serbische Mutterkasse). Dieser Verein hat seither eine anerkennenswcrthe Thätigkeit entwickelt. Seine sprachkundliche Abtheilung läßt unter Leitung des Hr. Pfuel ein serbisches Wörterbuch erscheinen, zu dessen Druck der Staat und die Provinzialstände beisteuern; die alterthumsforschendc Abtheilung hat eine Tannin lung von Alterthümern begonnen, die naturwissenschaftliche cine wendische Pflanzenkunde herausgegeben, die schön-wissenschaftliche veröffentlicht ihre Dichtungen in Zeitungsbeilagen und Monatsschriften. Als der vorzüglichste und fruchtbarste Dichter gilt der Pfarrer Seiler; den jungen Poeten Dutschmann, der die Glocke übersetzt hat, hört man den wendischen Schiller nennen. Cantor Katzer setzt wendische Oratorien, zu denen Seiler die Texte schreibt, in Musik, und läßt sie durch wendische Singvereine aufführen; jetzt arbeitet er an einer serbischen Oper. Für wissenschaftliche Abhandlungen bestehen Zwei Monatsschriften, die ^Llm5(>i>i^ welche in 300 Exemplaren gedruckt wird, und der >Vnl.^m'wokan (d. i. der Lausitzer). ssür den Vifer des Vereins, eine volksthümliche Literatur zu schaffen, Zeugt eine Ncihe von Volkyschriften. Es sind erschienen: Vollmalender,' Lieder für die Jugend, biblische Geschichten, Erzählungen, im Ganzen 3s> Hefte. Die Stärke der Auflagen (die Voltoschriften erscheinen in 5-600, die Kalender in :l000 Abdrücken), beweist, daß diese junge Literatur sich rasch einen in, Verhältniß zur Volkszahl von 5,0,000 Seelen ansehnlichen Leserkreis erworben hat. Ein sehr wirtsames Mittel zur Einigung der Wenden scheint eine von Schmaler herausgegebene und jetzt in 1200 Exemplaren verbreitete Wochenschrift, „die Nowmy," .zu sein, in welcher die Weltneuiglciten mitgetheilt und Zuschriften aus allen Theilen der Wendei abgedruckt wer- 43 den. Diese Zeitung wird mit deutschen, dem Volke be-quemeren Lettern gedruckt, während die wissenschaftlichen Bücher in lateinischen erscheinen. In allen neueren Drucksachen wird eine etwas abgeänderte Schreibweise angewandt, welche durch neue Zeichen und Accente die verschiedenen Mundarten vereinigen und Zugleich das Wendische den andern slawischen Sprachen näher bringen soll. In dieser Zeitung erkennt auch ein der Sprache nicht Kundiger, wie man strebt, das Wendische vom Deutschen unabhängig zu machen. Eingebürgerte deutsche Wörter werden durch wendische Neubildungen ersetzt, denen man das betreffende deutsche Wort in Klammern beifügen muß, um sie verständlich zu machen; so fanden sich in einigen Nummern des Blattes: Steigbügel, Schlcußc, Tagesbillet, Rettungscomvagnie als erklärende Zugaben hinter neuen wendischen Worten. Die strengsten Puristen sollen sogar vollständig eingebürgerte Fremdwörter wie: ainw,, iniminm-. kwmlll verbannen wollen. Ob es diesen Maßregeln nicht ergehen wird, wie dem Nadicalismus deutscher Puristen, wird die Zeit lehren. — Welches sind nun die Aussichten, die sich den Wenden für die Erhaltung und Fortbildung ihrer Sprache bieten? Die meisten deutschen Bewohner der Lausitz scheinen die Anstrengungen der Wenden für völlig aussichtslos zu halten. Das wendische Schriftenthum findet natürlich unter Deutschen, die sich selten die Mühe nehmen, anch nur die wendische Umgangssprache zu lernen, wenig Beachtung, Manche spotten über das begeisterte Iungserbenthum, welches auch Familiennamen, die seit Menschenaltern verdeutscht seien, wieder wendisiren wolle, Andere fürchten gar, daß diefe sprachliche Reaction im Interesse des Panslawismus arbeite. Gegenbestrebungen, welche die Fortschritte, des deutschen Elementes zu fördern versuchen, werden indeß von den Deutschen gar nicht gemacht. So sehr man den Eifer der Serben für ihre Muttersprache, die ihnen mit Recht theuer ist, anerkennen muß, so kann man sich doch nicht verhehlen, daß kaum ein slawi- 44 scher Stamm in ungünstigerer Lage in Betreff der Erhaltung und Entwickelung seiner Nationalität ist, als die Oberlausitzer Wenden. Die Niederlausitzer Serben, welche obendrein seit 1815 einem andern Staatskörper angehören, sprechen eine so verschiedene Mundart, daß an ein enges Zusammenwirten kaum zu denken ist, da zumal weder große geschichtliche Ueberlieferungen, noch eine alte bedeutende Literatur Zusammenhalt geben. So sind denn die Oberlausitzer Serben auf sich beschränkt. Nie ist aber ein Völkchen von 50,000 Seelen, dessen Glieder fast alle mit Ackerbau beschäftigt sind, das fast nur in seinen Geistlichen und Lehrern Höhergebildete besitzt, im Stande, ein selbständiges Leben zu führen und eine eigene, im höhern Sinne schöpferische Literatur und Kunst zu gestalten? Der geistige Anschluß an die Slawen — wenn der Panslawismus irgend protestantischen Sachsen im Traum als erwünscht erscheinen sollte — würde sie doch nur von fremden Völkern abhängig machen, und welchen geistigen Gewinn könnten sie daraus ziehen? Sonach wird ihre Literatur, ihr ganzes Bildungsleben doch stets nur ein Ableger des deutschen Geistes sein können, sie werden, um sich auf der Höhe der Cultur zu erhalten, aus dem deutschen übersetzen und nachahmen müssen. Ob ihnen aber im Interesse der Culturenttvickelung nicht heilsamer wäre, wenn sie, um die Errungenschaften des deutschen Geistes für sich zu verwerthen, nicht erst eines Mediums bedürften, welches immer den Gang der geistigen Wellen so gut verlangsamt, wie ein dichteres Mittel die Wellen des Lichtes verzögert? Natürlich würde sich ein Volksstamm, wenn er sich auch von den Vortheilen eines Svrachemvechscls fest überzeugte, doch nie freiwillig zum Aufgeben der Muttersprache als seines innersten Eigenthums entschließen können und man kann das Streben der Wenden, ihre Position mit aller Kraft Zu behaupten, nur billigen, da hier im schlimmsten Falle der stolze Spruch gilt: Viotrix clni««, Nil« ^I^uib, «c>ä viola (.'atoni. Die äußern Verhältnisse erscheinen für das Wendische 45 keineswegs günstig. Die vielfältigen neuen Verkehrsmittel, welche die Berührungen der Nationalitäten vertausendfachen, die landwirthschaftlichen Vereine, in denen deutsche Verhandlungen gepflogen und deutsche Schriften gelesen werden, die an den Grenzen der Wendei stets wachsende Industrie der Deutschen, in deren Dienst manche Wenden treten, und nun vollends die mit nächstem Jahr ins Leben tretende Gewerbefrciheit und Freizügigkeit werden gegen die sprach-liche Abschlicßung eines von Deutschen umringten slawischen Gebietes ankämpfen und vielleicht die Serben allmählich in eine ähnliche Lage versetzen, wie die czechischen Einwohner von Zittau, die im Jahre 1650 eine Exulantengemeinde von 1000 Seelen bildeten und allmählich zu Deutschen geworden sind. Der Gang der Cultur scheint nun einmal nicht zu dulden, daß zwei in einem Staate eng verbundene Nationalitäten für immer in schroffer Ra^eneigenthümlichleit fortbestehen; auch ohne gewaltthätige Eingriffe verähnlicht sich der stärkere oder mehr entwickelte Volksftamm dem andern, um ihn am Ende mit sich zu verschmelzen. Ein solcher Assimilationsproceß verläuft stets langsam; ein Glück, wenn der Sprachenkampf mit ehrlichen Waffen geführt wird und mit dem Gefühle wahrer Brüderlichkeit endigt! III. Olumcnlcse aus lausiher Chroniken. Auch ein flüchtig Reisender wird in der Oberlausitz durch geschichtliche Stätten und eigenthümliche Namen häufig an die Vorzeit erinnert. Noch immer offenbaren die Bewohner der Markgraf-fchaft, daß sie sich den „Erbländischen" gegenüber als Lau- 46 fitzer fühlen, und werden deshalb Zuweilen als Sonder-thümler bezeichnet; noch halten dic Lausitzer Provinzialstände ihre Sondcrlandtagc; noch fühlt sich Bautzen als Landtags-stadt und Löban als ehernalige Conventstadt; noch hören die Glieder des alten Städtebundes sich gern „Vicrstädte" nennen und die Bürger gedenken nut Stolz der lausitzer Hansa, des Sechvstädtebundes, wo die Bürgerschaften mit eignen Fähnlein Zu Felde zogen und fast so selbständig waren, wie die freien Reichsstädte. In einer Landschaft, die eine eigenthümliche, der Selbstthätigkeit der Bürger nicht entbehrende Geschichte hinter sich hat, setzt man einen regen geschichtlichen Sinn der Ein^ wohner voraus. Dies scheint sich in der Lausitz zu bestätigen. — Wol in leiner andern Gegend Sachsens hört man so viel Sagen und geschichtliche Erinnerungen aus dem Nolksmunde. .Natürlich fehlt es in einer solchen geschichtreichen Landschaft nicht an Chronisten. Gelehrte Gcschicht-forscher, die in der „Lausitzcr Gesellschaft der Wissenschaften" ihren Mittelpunkt haben, giebt es in größerer Anzahl; ein überaus fleißiger war der Archidiakonus Pcschcck, der außer manchen andern Werten eine Chronik uon Zittau in zwei Bänden zu 7 —80u Seiten hinterlassen hat. Aber auch mancher Ungelchrtr hat fleißige Aufzeichnungen gemacht. So füllte der Kupferschmied Techell in Bautzen vierzehn starke Foliobände mit Nachrichten über seine Vaterstadt und die allgemeine Geschichte des letzten Menschenalter^ und illustrirte sie durch eingeheftete Flugblätter und Bilder. Cinige solchen Chroniken entlehnte Notizen, wie fie ein Wanderer gelegentlich am Nastorte inacht, scheinen der Mittheilung nicht unwcrth, da sie einzelne Theile der deutschen Culturgeschichte mit kräftigen Zügen illustriren und vielleicht manchem Leser so unbekannt sind, als fie dem Reisenden waren, der sich mit dem Durchstöbern von Ortsgeschichten einige durch Regenwetter verhängte Stubenarreste würzte. Ueber die Geschichte der Wenden finden sich in den deutschen Chroniken wenig werthvolle Angaben. Man er- 47 fahrt blos, daß die Serben lange Zeit um ihre Unabhängigkeit kämpften, im 10. Jahrhundert deutschen Herren und später zum Theil den Städten, welche adelige Güter erwarben, unterthänig wurden. Das Christenthum wurde unter Kaiser Otto unter ihnen eingeführt. Seit acht Jahrhunderten führt der Wendenstamm ein dörflichstilles Leben, er tritt nie wieder in Kampf gegen die Deutschen. Alle großen Erwerbnisse der Cultur werden den Serben von den Deutschen dargebracht, ohne daß sie selbst danach gerungen; die Reformation, sowie die erst vor einem Menschenalter bewirkte Aufhebung der Erbunterthänigkeit — Alles tam ihnen wie geschenkt. Ein bewegtes, thaten- und kampfreiches Leben tritt uns dagegen in den lausitzer Städten vor Augen. Die größeren sind sämmtlich alt, nur zwei der kleinsten Landstädtchen zählen bloß ein Jahrhundert. Des höchsten Alters rühmt sich Löbau; Vautzen hatte schon im zehnten Jahrhundert Mauern und Stadtrechte; den Flecken Zittau erhob König Ottokar von Böhmen — die ganze Markgrafschaft stand nämlich unter dem Böhmenkönig, Zittau gehörte sogar eine Zeit lang zu Böhmen unmittelbar — im Jahr 1255, zur Stadt, indem er einen Marktplatz durch Pflugfurchcn umschreiben ließ, Mauern zu bauen befahl und Steuerfreiheit versprach. In diesen größeren Städten äußerte das deutsche Vür-gerthum frische Kraft. In Zittau. wo fast die Hälfte Einwohner böhmisch war, verschwand allmählich die tschechische Sprache, die übrigen Städte verdrängten in ihren Mauern rasch das Wendische durch deutsche Sprache und Sitte. Einige dieser Städte schwangen sich schnell durch Gewcrb-fleiß und Handel empor; sie erkauften von den immer .geldbcdürftigen BöhmeMnigcn durch klingende „Verehrungen" und durch Vorschüsse selbständigere Verfassungen, sowie werthvolle Vorrechte in Handel und Wandel und wirkten von jedem neuen König durch „untcrthänigstc Bezcigungen", d. h. Dukaten, die Bestätigung derselben aus. So erlangten di« Vierstädte (Bautzen, Kamenz, Löbau und Zittau), 48 im 14. Jahrhundert das Recht, daß sich innerhalb der Bannmeile kein Kretscham (Schantwirthschaft) und kein Handwerker außer den unentbehrlichsten Schuhflickern und Schmieden aufthun dürfe; Zittau erhielt den Allein-Groß-Handel mit Blei und Seefischen; der Stadt Vautzen wurde zugesagt, daß auf acht Meilen, Entfernung von der Stadt keine Bleicherei getrieben werden dürfe. Die Lausitzer Großstädte thaten alles Mögliche, ihre Vorrechte Zu erhalten und zu mehren, sie scheuten selbst nicht vor harten Maßregeln zurück, welche ihre unterthäni-gen Dörfer von „städtischer Nahrung" fern zu halten versprachen. Ueberhaupt Zeichneten sie sich nicht immer durch väterliche Milde gegen ihre Unterthanen aus; öfter liest man die Klage, daß die „stadtmitleidcndcn" Orte zu fchwer übersteuert würben. Auch gegen die kleineren Städte erwiesen sich die größeren zuweilen sehr streng. Als die Bürger des Landstädtchens Ostritz im Jahre 1386 ein Nathhaus erbaut hatten, zogen die Zittauer hin und rissen dasselbe sammt den neuen Stadtmauern nieder. Kurz, diese Städte verfuhren gegen ihre Landesgenossen oft mit derselben Patricier - Herbigkeit wie die Berner gegen die „zugewandten Orte." Die Wohlhabenheit zu der sich die Lausitzer Städte durch Gewerbe und Handel, namentlich mit Tuch und Leinwand emporschwangen, setzt in Erstaunen. Es ist, als ob der Glücksstern der Fuggcr auch ihnen gedeihliche Strahlen zugesandt habe. Die Communen verwandten große Summen auf ihre Befestigungen und Nüstzeuge, gründeten Kirchen, Krankenhäuser und Schulen, und hatten immer noch so viel Uebcrschuß, um ihr Stadtgebiet fast in jedem Menschenalter durch den Ankauf einiger Dörfer zu vergrößern. So erwarb sich Vautzen 29 Dörfer und einige Bauerngütern, Zittau gar 37 Dörfer und mehr als eine Geviertmeile Waldung. Fast alle diese Ankäufe geschahen im 15. und 16. Jahrhundert. Kein Wunder, daß die Ritterschaft endlich auf dies starte Wachsthum der Communen eifersüchtig wurde und 49 hei dcn Ständen durchsetzte, ein Landsasse dürfe sein Gut nur an einen „Vicrschildigen" verkaufen. Indes; waren schon viel früher zwischen den Städtern und einzelnen Rittern heftige Kämpfe entbrannt. Die lausitzer Bürgerschaften vollführten selbständig, was in Brandenburg durch die Markgrafen, in Thüringen durch König Rudolf geschah. Zu Schutz und Trutz gegen die „Landesschädiger und Landplacker", welche die Straften unsicher machten, vereinigten sich im Jahr 1340 sechs Städte der Lausitz, die nicht in Vasallenhänden waren — wahrscheinlich nach dem Vorbilde des 70 Städte umfassenden „Rheinischen Bundes" —> zu einer Hansa, dem „Sechsstädtebunde", welcher in der Conventstadt Löbau tagte. Es waren: Bautzen, Görlitz, Kamenz, Lauban, Löbau und Zittau, welche dadurch zu einem „Stande" wurden und auf den Landtagen in allgemeinen Landesangelegenheiten eine besondere Stimme erlangten. Der König verlieh ihnen Vollmacht, „dieselben hove vnde vesten czu brechin vnde czu burnen (verbrennen), als ab wir selbir kegenwertig weren." Die Städte machten von dieser Erlaubniß wacker Gebrauch und zeigten sich als rüstige Brecher und Ver-bren«er. Im Jahr 1350 zerstörten sie die Veste Kirschau, 13'< Rohnau, von der noch Mauerreste von ungeheurer Dick. übrig sind, 1476 die Falkenburg am Hochwalde. Gute Dienste leistete die große Bautzener Kanone. Man zählt 23 in der Lausitz, in Schlesien und Böhmen gelegene Naubburgcn auf, die von den Sechsstädtern erobert und geschleift wurden. Noch nach der Errichtung des ewigen Landfriedens im Jahr 152? brachen die Vautzener und Zittauer die Veste Tollenstein. Mit gefangenen Raubrittern machten die Städter kurzen Proceß; im Jahr 141!) wurden in Zittau neun gehenkt und neun enthauptet. Oefter hatten diese Städte offene Fehden durchzufechten. Im Jahr 1347 war ein Strauß mit dem Bischof von Meißen zu bestehen; im Jahr 1415 schickte Herzog Johann von Münsterberg den barschen Absagebrief: „wisset, ihr Städte, daß wir euer Feind sein wollen." Im Jahr 1476 Land und i!eutc ber sächsischen Lausitz - 4 50 wurden die Sechsstädte durch Hans von Oelsnitz befehdet, weil ihm der Landesherr, König Matthias, Geld schuldete. Aber auch unter den Sechsstädten selbst fehlte es nicht an Streit. Namentlich wurde die Brauerei, die gleichfalls einen Zankapfel zwischen Städten und Rittern abgab (der Vrauurbar-Proceß zwischen beiden dauerte uon 1614 bis 17W) Veranlassung zu Zwist. So entbrannte 1491 ein „Bierstreit" zwischen Görlitz und Zittau. Die Görlitzer wollten das berühmte Zittauer Gebräu nicht in ihrer Stadt dulden, und ließen die eingeführten Fässer auslaufen; da schickten die Zittauer einen Absagebrief, in den: sie erklärten : „sie wollten ihre Feinde sein, wo sie wüßten, könnten und möchten, bei Tag und Nacht, an Leib und Gut Schaden zuzufügen", und fingen die Görlitzer Heerden weg. In der Sittengeschichte uon Zittau sielen mir besonders folgende Züge auf. Zuerst eine mittelalterliche Antigone; die Frau eines wegen Brandstiftung Hingerichteten entwandte bei Nacht den am Thor ausgehängten Leichnam ihres Gatten und begrub ihn, dafür wurde sie eingekerkert und starb im Gefängniß. — Oefter erneuerte und verschärfte „Hoffahrtsordnungcn" bestimmten, wie man sich kleiden und wie viel Gäste man einladen dürfe, unter andcrm auch, daß die Gevatterinnen ihre Besuche bei der Wöchnerin nicht über eine Stunde ausdehnen sollten. Noch im Jahr 1702 verbot der Rath Bauern und Handwerkern, Sammt und Seide, Gold und Silber zu tragen. Die Landestrauer wurde (noch 1781) so streng gehalten, daß während derselben die Bräute keinen Brautkranz tragen, sondern ihre Würde höchstens durch einen Rosmarinzweig kundgeben durften. — Das Tabakrauchen kam im Jahr 1620 hiehcr durch die Soldaten eines Königs, der das neue Laster fo bitter haßte, daß er eine neue Warn. und Drohschrift, den Mx«?ivo5, drucken ließ, nämlich durch englische Hilfstruupen, welche König Jakob der Erste dem protestantischen Gegenkönig der Böhmen, Friedrich von der Pfalz, seinem Schwiegersohn sandte. Schon im Jahre 1633 erwies sich ein Verbot des Rathes gegen den Tabak 51 unwirksam. — Ein allerliebster Gebrauch bei der Bürgermeisterwahl, der bis zum 16. Jahrhundert stattfand, war folgender: Wenn das neue Haupt der Stadt im feierlichen Zug an sein Haus sseleitet worden war, „da kommt die Frau herunter und empfähet die Herren alle. Nachdem hebet der alte Bürgermeister an und saget der Frauen, daß aus Gottes Vorsehung und Erkiesung Eines Edeln Rathes ihr Herr zum Bürgermeister erkoren. Dieweil es aber große Mühe und Beschwernis; hätte, so sollte sie sein mit Essen und Trinken desto besser und mit Fleiß versehen. Das wolle Ein Edler Nath desto besser und mit Fleiß um sie verschulden." — Das Geineindeleben der lausitzer Städte bietet ein lehrreiches, von tragisch-balladenhaften Vorfällen durchwirktes Bild. Durch vier Jahrhunderte dehnen sich die Kämpfe zwischen Patriciern und Plebejern und einige Male wird es blutiger Ernst. Die Bürger waren schon im 13. Jahrhundert in Zünfte gegliedert. Die Innungen waren und sind zum Theil noch geschlossen; in Zittau durften bis in die Neuzeit nur 28 Fleischer, :;6 Schuhmacher und !2 Tischler als Meister schaffen; eine Tischler., Fleischer- oder Schuhbank war nur durch Vererbung oder Kauf zu erlangen. Unter den Zunft ten galt eine strenge Rangordnung, in welcher die Tuchmacher obenan standen. Diese beengenden Satzungen haben indeß hier nie offnen Hader erregt und die neue Gewerb-ordnung wird in der Lausitz mehr und höhere Schranken wegzureißen haben, als anderswo. Viel Streit erregte dagegen die Verwaltung der Com-mun. Konnte er ausbleiben, wo der Stadtrath seine Amtsnachfolger selber wählte, wo die Mthsglieder durch die Verwaltung von Conummalgütern besoldet waren und ihre Sitzungen'in tiefes Geheimniß hüllten? wo, als es im Jahre'i 487 den Bürgern gestattet wurde, „Rathsfreunde" zu wählen, welche die Verwaltung einigermaßen überwachen konnten, blos die „Kürhandwerkcr/' nehmlich Tuchmacher, Fleischer, Schuhmacher und Bäcker wählen und Zwar blos 4» 52 Männer aus ihrer Mitte abordnen durften, und nio diese Einrichtung über 300 Jahre bestand? Schon aus dein 14. Jahrhundert meldet die Ortsgeschichte, daß es in Zittau „zwischen Rath und Handwerkern wunderlich stand und das; eine große Ueppigkeit wider den Nath war;" indeß verhinderte ein Abgesandter des Königs, der „so nachdrücklich Ding hegte, daß sich das ganze Handwerk fürchte und bebte," vor der Hand gewaltsame Ausbrüche. In Vautzen empörten sich im Jahre 1405 alle Zünfte, außer den Fleischern, wegen der Nraugerechtsame; sie setzten den Rath ab, wählten einen neuen und ließen sich von der Leidenschaft so weit furtreißen, daß sie die Ortenburg, auf der des Landvogts Sohn wohnte, beschossen. Die Rache zögerte, traf aber um so schwerer. Im Jahre 1408 kam König Wenzel und hielt Gericht. „Hier sitz' ich als der rechte Bürgermeister; wer was zu klagen hat, der thu es!" Sein Urtel lautete auf Todesstrafe für den neuen Rath. Wirklich wurden mehrere Rathsherrn auf dem Markte geköpft und der König mit seiner Gemahlin sah vom Fenster des Rathhauses dem schrecklichen Schauspiele Zu. Endlich bat die Königin, erschüttert vom Wehgeschrei der Frauen, um Gnade für die übrigen Verm-theilten, welche nun mit Verbannung davon kamen. Die Stadt verlor das freie Kürrecht, die Fleischer erhielten eine Fahne Zur Belohnung. Trotz dieses abschreckenden Beispiels entbrannte 14s7 in Zittau heller Aufruhr wider den Rath. Eine starke, mit den Spitznamen: die Wiescnherrn belegte Partei, geleitet uom Mbürgermeistcr Pabst, verlangte, „der Rath solle nicht Heimlichkeiten haben, nichts eigenmächtig ohne Vorwissen der Bürger untcrsiegeln und von den Gemeinde-Einkünften nicht Zu viel für sich verwenden." Die Ankunft des Landvogts, welcher Untersuchung der Mißstände versprach, beschwichtigte anfangs die Gährung. Man zeigte demselben im Kaufhause die großen Zechen, welche die Rathsherrn angekreidet hatten. Da standen Posten: il,«in aus- 53 getrunken zwei Lägel Muskateller; iwm zwei Lägcl Rheinfall u. s. w." — „Da lächelte der Landvogt ein wenig", fand es aber doch zu bunt und fetzte den Bürgermeister und mehrere Rathsglieder ab. Die sanfte Umwälzung verlief aber nicht ohne Greuel. Ein früherer Nathsherr, vom Landvogt verklagt, er habe ihn und den König geschmäht, wurde von den Bürgern, welche Geständnisse über die Mißvcrwaltung zu erpressen hofften, gefoltert; er trug m-deß seine Qualen standhaft. Bei der nächsten Kür wählte der Rath mit Zustimmung des Landvogtcs den Führer der Niesenherrn zum Bürgermeister. Herr Pabst sollte aber das traurige Ende vieler Volkstribunen erleben. Er wurde mißliebig, weil er strebte, „dem Rathe die frühere Gewalt wieder zu erringen, weil er strengen Gehorsam verlangte und das Ge-fchehene vergessen wissen wollte." Bald wurde er auch beschuldigt, er habe, um sein Ansehen zu befestigen, Truppen vom Landvogte verlangt. Da wurde er überfallen und ohne Prozeß uor dem Rathshaus enthauptet. Von einer entsprechenden Bestrafung dieser Frcvelthat meldet die Ortsgeschichte nichts; ein vom Landuogt eingekerkerter Aufrührer entzog sich der Strasc durch die Flucht. Nach diesen wilden Zeiten wurde die Stadtverwaltung, die ins alte Gleis zurückgekehrt war, lange geduldig ertragen. Im Jahre 1620 ertrotzten sich die Zittauer Bürger das Recht, Gemeinde-Aelteste zu wählen, welche den Magistrat überwachen sollten. Diese Einrichtung muß aber wenig wirksam gewesen sein, da sick) 172l1 die Staatsrc-gierung veranlaßt fand, eine Commission zu entsenden, um zu ermitteln, ob die Vernachlässigungen und Mängel, über welche die Bürger klagten, wirklich vorhanden seien. Die Commission fand des Wustes genug, in den Kassen sollen mehr als 100,000 Thaler gefehlt haben. Ein neuer Rath ward eingesetzt und Zugleich verordnet, daß die Rathsherren feste Gehalte bekommen sollten. Die Kur dieser Staatsärzte kam der Stadt auf 22,000 Thaler zu stehn; sie war aber, sowie die einer in, Jahre 1802 entsandten Revi- 54 sions-Commission mir eine ungründliche Palliativkur. Das rechte Heilmittel verschrieb erst das 19. Jahrhundert in der neuen Städteordnung. Eine vor dem Hauptthore der Stadt errichtete Constitutionsfäule bezeugt die Freude der Bürger über die Verfassung, welche für das Gemeindeleben ein neues Zeitalter begründete. Es ist erfreulich Zu hören, wie die Zittauer jetzt auf die gute Verwaltung ihrer städti^ schen Angelegenheiten, welche unter deren gegenwärtigem Oberhaupt einen stetig fortschreitenden Aufschwung genommen hat, fast sc> stolz sind, wie auf ihr Nalhhaus, „das schönste in Sachsen." Aehnlich wie in Zittau scheint auch in den übrigen Städten, über welche keine ausführlichen Ortsgeschichten vorlagen, die Entwickelung der Communalverfassung gewesen zu fein. Die kirchliche Geschichte der Laufitz weicht in mehreren Punkten von der Geschichte der übrigen Theile Sachsens ab. Die Markgrafschaft ist die einzige Provinz, in welcher ganze Gruppen von Ortschaften den« Katholizismus treu blieben, und die einzige, in welcher die evangelische Confession eine Secte aus sich hervorgehen sah, welche Dauer und größere Verbreitung fand. Die Katholiken der Lausitz wohnen grösitcntheils in den um die beiden Nonnenklöster liegenden Ortschaften, die Angehörigen der Arüoer-Unität in Herrnhut und Kleinwelka. Die Reformation fand in der Lausitz freudigen Anklang und wurde ohne Hindernisse durchgeführt, da der Landesherr eben durch einen Türtenlrieg beschäftigt war. Stürmische Auftritte scheinen nur in Vautzen stattgefunden zu haben. Hier wurde einmal in der Kirche nach einem katho^ lischen Priester mit Steinen geworfen und ein anderer verhöhnt, als er den aus seiner streitsüchtigen Predigt Fortlaufenden nachrief, sie möchten zum Teufel gehn. Noch im 17. Jahrhundert gührte hier die Zwietracht, l619 nurde das Domstift von Schaaren gestürmt, welche sich mit dem Liede: Erhalt' uns, Herr, bei deinem Wort! anfeuerten, Im nächsten Jahre erhielten die Protestanten einen Theil 55 des Doms eingeräumt und jetzt halten - ein schönes Zeugniß für ihre Duldsamkeit — beide Confessionen Gottesdienst in derselben, blos durch ein Gitter in zwei Theile geschiedenen Kirche. Gleich dem Erzgebirg und dem Voigtlande gewährte die Lausitz böhmischen Neligionsflüchtlingen gastfreundliche Aufnahme. Die Mährischen Vrüder fanden in Zittau, wo ihnen eine Kirche geschenkt ward, und in Herrnhut, wo sie den Stamm der Brüdergemeinde bildeten, eine Freistätte. Mit dieser Duldung reimt sich freilich schlecht, daß die Sechsstädte außer Vautzen, längere Zeit jedem Katholiken die Aufnahme verweigerten, daß die Zittauer 1675 einen aus Holland heimgetchrten Tuchmacher, nachdem er sein ganzes Vermögen für die Kosten der wider ihn verhängten Untersuchung hatte aufwenden müssen, aus der Stadt verwiesen, „weil er quäkerischcr Ansichten verdächtig war," und noch im Jahre 1?W einen andern Tuchmacher verbannten, weil er „zu den Herrnhutcrn hielt". Auch die Katholiken der Lausitz machten sich der Unduldsamkeit schuldig; die Ostritzer gaben im Jahre 1661 den Nau einer evangelischen Kirche in ihrer Stadt nicht zu und mißhandelten einen Geistlichen, welcher den Protestanten des Ortes das Abendmahl reichte. Dies erzählt die Chronik des Klosters Marienthal mit gerechtem Tadel. Von den Klöstern ging fast gleichzeitig mit dem Oybin das Franziskanertlostcr in Löbau und ill Zittau ein, die Mönche wurden „endlich ganz arm und verachtet" und die letzten mit einem Onndcngehalt versorgt. Die beiden reichen Nonnenklöster der Markgrafschaft dagegen erhielten sich, und mehrere der ihnen unterthänigen Orte blieben dem Glauben ihrer Väter treu. Marienthal war in der Reformationszeit dem Schicksale des Oybin nahe. Mehrere Nonnen, selbst Aebtissinnen wurden abgesetzt (noch 1503); im Jahre 1622 wurde eine Oberin durch Soldaten nach Prag abgeführt, weil sie „das Kloster, dessen baldige Auflösung sie voraussah, Zu einem weltlichen Stift erklären wollte". Seit der Reformation stehen merkwürdigerweise 50 diese beiden Klöster unier der Obhut protestantischer Klostervögte. Der Landesherr, dem die Ketzerei seiner Lausitzcr gewiß schon lange zuwider gewesen war, ergriff im Schmal-kaldischen Kriege eine gunstige Gelegenheit, seine Ungnade zu äußern. König Ferdinand, der die Reichsacht gegen die protestantischen Fürsten von Sachsen und Hessen zu vollstrecken hatte, forderte 151? von der Lausitz Hilfstruv-pcn „bei Vermeidung des Pönfalles." Ungern genug mögen sich die protestantischen Lausitzer entschlossen haben, gegen Glaubensgenossen zu Feld zu ziehen; indeß war es nicht zu umgehen und sie stellten ein Fähnlein von 500 Kricgstnechten auf zwei Monate. AIs diese Zeit ohne Entscheidung verflossen war, riefen die Sechsstädte ihre Truppen zurück; die Ritterschaft aber blieb, obgleich sie mit den Städten den Hcimzug beschlossen haben soll, im Feldlager. Als der König forderte, die Städte sollten ihre Söldner auf weitere zwei Monate zu seinem Heere schicken, wurde dies für unmöglich erklärt, weil die Leute schon entlassen wären; man schickte indeß Geld und Lcbens-mittcl zum Heere. Der König wies diesen halben Gehorsam in Ungnade Zurück und forderte nach der Schlacht bei Mühlberg die Städte nach Prag, um wegen Zwölf An-tlagepuntten gerichtet Zu werden. 'Mit Bangigkeit sahen die Städte ihre Abgeordneten ziehn, welche alle Freibriefe mitnehmen mußten, und schlössen sie in das Kirchengebet ein. Der Adel hatte — wie ein Chronist andeutet, nicht aus guter Absicht — gerathen, die Städte möchten sich ganz der Gnade des Königs anheimgeben. Die Abgesandten befolgten den Rath und warfen sich dem Herrscher zu Füßen. Der Gnadenweg wurde ihnen gewährt; aber härter hätte das strengste Recht nicht sein können, als Ferdinands Gnade. Die Städte wurden aller bürgerlichen Vorrechte, namentlich der Rathstur, verlustig erklärt, sie sollten alle Geschütze ausliefern, alle ihre liegenden Güter an den König verwirkt haben, mußten die Kirchentleinodc herausgeben, 100,0W Gulden Strafe zah- 57 len und die Rädelsführer ausliefern. Die Abgeordneten, welche über solches Urtheil Vorstellungen machten, wurden mit dem Tode bedroht, wenn sie die Strafartikel nicht unterschreiben wollten, mehrere wurden ,,wegen zu kühner Reden" eingekerkert, eine Anzahl derselben mußte als Gei-sein bleiben. Der König setzte nun Stadträthe ein und ließ die reichen Stadtgüter durch seine Beamten für seinen Nutzen verwalten. Einige den Städten aberkannte Güter wurden frischweg verkauft. Die Kriegsgeräthe der Sechs-städte wurden nach ungarischen Grenzfestungcn geschafft; Zittau allein sandte achtzig Wagen voll Nassen und Geschütze, Bautzen über 150 Kanonen nach Prag, Man begreift kaum, wie es den Städten möglich wurde, diesen „Pönfall" zu überstehn. Sie erholten sich mit einer Schnelligkeit, welche an das aus der Asche erstehende 'Tan Franciseo erinnert. Die Zeit drängte, die Güter wieder einzulösen, da der König nicht abgeneigt schien, sie alle zu verkaufen und der Adel Lust Zeigte, sie zu erwerben. Die meisten Commungütcr wurden durch beträchtliche Summen in kurzer Zeit wieder- eingelöst. Vielleicht stimmte das den .König zur Milde, nach Zwölf Jahren gab er den Städten Bautzen und Zittau die freie Rathswahl Zurück. Aber die Wehrkraft der Städte war und blieb gebrochen. Proben ihrer Kriegstüchtigkeit hatten die Bürger besonders in den Hussitenkriegen abgelegt. Zum Haß gegen die Markgrafschaft hatten di'e Hussiten manche Veranlassung; Lausitzer Herren hatten in Kostnitz ihren Reformator ver-urtheilen helfen und an der Schlacht bei Aussig theilgenommen, die Scchsstädte, welche den Vundesbrüdcrn den Anschluß versagt hatten, gaben böhmischen Geistlichen, die wider „die verdammten Ketzer" eiferten, eine Freistatt. Darum machten die Böhmen öfters Verheerungszügo in die Lausitz, berannten den Oybin, verwüsteten Ostritz, Hirschfelde und Marienthal, im nächsten Jahre (1428) Kamenz und Marienstern. Zittau wurde dreimal von ihnen beschossen-. aber nur die in Brand gerathenen Vorstädte ergaben sich. Sehr wacker wehrten sich auch die Vautzoner, 58 Als man im Jahr 1421 nöthig fand, die Stadt in bessern Vertheidigungszustand zu setzen, schanzten Hunderte von Männern und Frauen und der Rath ließ viele neue Geschütze gießen. Acht Jahre darauf belagerte Molesto die Stadt. Da kämpften auch die Vürgcrfrauen mannhaft mit, sie rollten Steine von den Mauern und gössen heißes Wasser und Pech hinab. Drei Tage lang wurde gestürmt, der vierte Theil der Stadt brannte ab; als jedoch Molesto auf der Mauer gefallen war, zogen die Hufsiten ab. Der verrätherische Stadtschreibcr, der einen Pulvervorrath unbrauchbar gemacht und dem Feinde Briefe zugesandt hatte, wurde auf einer Kuhhaut durch die Stadt geschleift und auf die schrecklichste Art hingerichtet, man schnitt ihm das treulose Herz aus und schleuderte es ihm ins Gesicht. Im dreißigjährigen Kriege litt die Lausitz schwer. Das platte Land wurde von Tieffenbachcrn, von Isolanis Kroaten, „die wie die lebendigen Teufel hausten", von Torsten-sons und Wrangels Rotten über zehn Jahre lang heimgesucht, ausgesogen und verwüstet. Zittau wurde, als es eben von Kaiserlichen besetzt war, Zweimal (1032 und 1634) von sächsischen Truppen beschossen und bei der zweiten Belagerung erstürmt; im Jahre 1041 wurde es von den Schweden, im nächsten Jahre wieder von den Kaiserlichen belagert und nach starker Beschießung und nach Sprengung von Minen genommen. Bautzen wurde im Jahr 103^ von den Wallensteinern beschossen, im folgenden Jahr eroberte es der Kurfürst zurück, wobei es fast gänzlich abbrannte; im Jahr 1639 wurde es von Torstenson beseht und geplündert und in demselben Jahre wieder von den Sachsen genommen. Die Schweden, welche das Schloß inne behalten hatten, belagerten nun die Stadt und zwangen endlich die vom Hunger bedrohten Bürger Zur Uebergabe auf Gnade und Ungnade; das Schloß ging bei diesen Kämpfen in Flammen auf, die Stadt erlitt die schwersten Verwüstungen. Fürwahr, es giebt wol wenig deutsche Städte, die ohne 59 eigentlich Festungen zu sein, so oft Belagerungen erlitten, als diese Städte der Lausitz. Der siebenjährige Krieg, in welchem Hochkirch eine traurige Berühmtheit erlangte, brachte für Zittau das schwerste Unheil. Am 23. Juli' 1757, als eine kleine Abtheilung Preußen in der Stadt lag, wurde diefelbe von den Oester-rcichern einen halben Tag lang mit glühenden Kugeln beschossen, so daß sie am Abend nur noch ein Haufen rauchender Trümmer war. Drei Viertheile aller Wohnungen, die meisten öffentlichen Gebäude (von den Kirchen blieb nur die Klosterkirche mit der Stadtbibliothek unzerstört) lagen im Schütte. Von den Einwohnern, welche sich zumeist in Keller geflüchtet, kamen 7^! um das Leben, eine Wittwe verlor dabei vierzehn Kinder und Vnkel. Acht Tage lang rauchten die Trümmer von 584 Gebäuden. Daß die Stadt selbst nach dieser „unnöthigen Barbarei", wie es Friedrich N. nannte, sich rasch erholte, Zeugt für ihre rüstige Kraft auf das glänzendste. Die FranZosentriege drangen spät in die Lausitz vor. Der erste Sturmvogel war der Herzog von Braunschweig, der 1800 mit einer kleinen Schaar seiner Schwarzen aus Böhmen nach Zittau kam, um gegen Napoleon zu werben, aber keinen Anklang fand und bald von sächsischen Truppen vertrieben wurde Im Jahre 1813 erlebte die Lausitz den Brand von Bischofswerda und die furchtbare Schlacht bei Bautzen; ini August besuchte Napoleon Zittau, wo Poniatowsti Quartier hatte. Man begrüßte ihn mit einer Ehrenpforte, welche die Inschrift trug: H^Ivu (^««»r! Möge dies der letzte Triunrphbogen gewesen sein, den Deutsche einem fremdem Eroberer setzten! — Zwei der erwähnten Kriege hatten für den politischen Zustand der Lausitz wichtige, bleibende Folgen. Im dreißigjährigen Kricge kam die Markgrafschaft an Sachsen. Die Lausitzer hatten sich, obgleich sie dem König Ferdinand gehuldigt, der Sache des Oegenkönigs Friedrich angeschlossen, dessen Herrschaft den Protestanten Duldung versprach. Der Kaiser übertrug dem Kurfürsten von Sach- 60 sen die Unterwerfung der Nebellen. Dieser eroberte demzufolge im Jahre 1620 Bautzen, das übrige Land ergab sich kampflos, als die Kunde von der Schlacht am weißen Berge eingetroffen war. Zur Sichcrstellung für die aufgewandten Kriegskosten war dem Kurfürsten die Markgrafschaft als Pfand gegeben worden, und da die protestantischen Bewohner derselben das sonderbare Ansinnen des Kaisers, ihr Land mit 72 Tonnen Goldes (d. i. über 7 Mill. Thaler) einzulösen, ablehnten, wurde die Lausitz im Prager Frieden (1635) erb- und eigenthümlich an Sachsen abgetreten. Sonach kau: diese Provinz auf dieselbe Weise, wie das Vointlcmd, erst als Unterpfand, dann als Eigenthum aus dem Besitze Böhmens an Sachsen. Die Stände erwirkten vom neuen Landesherrn die Zusage, daß die Lausitz als sächsische Provinz einige ihrer besondern Ner-fassungsrechte beibehalten dürfe. Der Friede, welcher die napoleonische 5triege schloß, trennte die Niederlausitz und den nordöstlichen Theil der Oberlausitz vom Königreich Sachsen ab, wobei Görlitz und Lauban an Preus;en kamen, so daß von den „Scchsstäoten" der Lausch nur noch vier als „Vierstädte" Zusammen blieben. Werfen wir zum Schlusi unseres chronistischen Ueber-blickcs, der natürlich weder Neuerforschtcs noch Vollständiges bieten konnte, einen Blick auf die im Felde des Geistes hervorragenden Männer, welche der Lausitz entstammen, so finden wir deren eine ansehnliche Reihe, und darunter mehrere, welche in der Entwicklung des deutschen Geistes Epoche gemacht haben. Als Originale, welche durch Seltsamkeiten und Verirrungen berühmt oder berüchtigt wurden, sind zwei Lausitzer allbekannt. Zu den volksthümlichen Figuren, welche die Sage zu Anekdotenhelden erklärt, gehört der Freiherr von Kyau, geboren in Strawalde, der durch wilde Streiche und derbe Antworten durch ganz Deutschland sprüchwörtlich wurde. Viel Lärm hat zu seiner Zeit der Bischofswerdaer Bahrdt als deistischcr Professor der Theologie und endlich als Gastwirth gemacht. 61 An Autodidakten ist die Heimath des Philosophen Jakob Böhme ziemlich reich. Ein Bauer, Namens Eckarth, begründete im Jahr 173! durch sein historisches Tagebuch eine Zeitschrift, die sich über hundert Jahr erhielt und zu Anfang unseres Jahrhundert bis zu zehntausend Exemplaren abgesetzt wurde. In der Wendei wird der Bauer Gelanskn viel genannt, der 36 Sprachen für sich erlernt hatte; noch zeigt man in Göda respectuoll das Häuschen, indem der schlichte Rival von Mezzofanti gewohnt hat. Wer wollte alle Gelehrte aufzählen, welche in der Lausitz geboren wurden! Der Pfarrer Otto hat in seinem Lexikon der Oberlausitzer Schriftsteller und Künstler, das er mit rührender Aufopferung ins Werk gesetzt, versucht, eine Walhalla seiner Heimath Zu begründen. Wir beschränken uns auf einige allbekannte Namen aus dem Kreise der Verstorbenen. Im 17. Jahrhundert wurden zwei Männer in der Lausitz geboren, welche sich als populäre Schriftsteller verdient gemacht haben und deren Werke noch in solchen Häusern aufbewahrt werden, wo »nan in edler Pietät alle Bücher aufhebt, aus denen Väter und Großväter gelernt haben. Der eine war der Nachfolger des drzgebirgers Adam Riefe, der Rechenmeister Pescheck (geb. 1676 zuZittau); der andere, der als Herausgeber geographischer Bücher und Landkarten und der biblischen Historien bekannte Hamburger Rector, I. Hübner (geb. 1068 bei Zittau), dessen Geographie während seiner Lebzeit 36 mal, dessen biblische Historien mehr als hundert mal aufgelegt wurden. Für die Natur-Wissenschaft entstand in der Lausitz der größte Geognost seiner Zeit, welcher Schüler aus allen Theilen der gebildeten Welt nach Freiberg zog, Werner, geboren in Wehrau. Als Philosoph und Patriot errang sich einen unvergänglichen Namen Fichte aus Rammcnau. Im Bereiche der schönen Literatur thaten sich im 18. Jahrhundert eine Reihe von Lausitzer Schriftstellern hervor. Die Chroniken erwähnen als Söhne Zittau's: den früh verstorbenen hoffnungsvollen Dichter Michaelis, den Barden Ringulph Kretzfchmar und den Dramatiker Chr. Weife, als s.2 ein Nautzner Kind den fruchtbaren Belletristen Meißner, dessen Skizzen und historische Romane einst vielleicht noch mehr Leser fanden, als die der L. Mühlbach in unsrer Zeit. Aber tief in Schatten treten all diese Männer, deren Werke heutzutage nur ein Litcraturgeschichtschreiber liest, vor dem unsterblichen Sohne von Kamenz, dcr in Wissenschaft und Kunst eine neue Epoche begründete. In Messing und Fichte schenkte die Lausitz dein Vaterlande zwei der mannhaftesten kerndeutschen Männer, die sich, so sehr auch ihre Talente uer-schieden waren, durch ihre Geistesschärfe, ihren tapfern Sinn, ihren erfolgreichen Kampf für das deutsche Wesen gegen das Franzosenthmn und ihre strenge, durch keine Verketzerung hinwegzuleugnende Sittenreinheit ähneln. Als Musiker thaten sich die Söhne zweier Lausitzer Weber durch geistliche Tondichtungen hervor: I. G. Schicht aus Reichenau mU» F. Schneider aus Waltersdorf; als Operndichter, dcr volksthümlichen Ton mit männlicher Kraft zu verbinden wußte, erwarb sich der Zittauer H. Marschner einen geschätzten Namen. Der bildenden Kunst schenkte die Lausitz in neuester Zeit einen Koryphäen, und zwar einen Bildhauer höchsten Ranges, der durch die dem Dichter des Nathan geweihte Bildsäule seinen Ruhm begründete, den Küstersohn Rietschel aus Pulsnitz. Eine keine Landschaft, welche, ohne eine Universität und Kunstschule oder eine Residenz zu besitzen, der deutschen Wissenschaft und Kunst solche Männer stellte, steht gewiß hinter keinem Theile des Vaterlandes zurück. 63 IV. Wald und Feld. Die Landschaften der Oberlausitz erhalten auch da, wo das Terrain wenig Neize hat, eine anmuthige Mannigfaltigkeit dadurch, daft dem Acker- und Wiesenland kleinere und größere Waldflächen in bunter Reihe eingefügt sind. Freilich ist die Martgrafschaft keine waldreiche Gegend, vielmehr nächst dem Leipziger Kreise die waldärmstc Provinz Sachsens, es fehlen ihr die Staawforsten ganz und gar, es fehlen ihr die meilenweit sich dehnenden Fichtenwälder mit Holzhauer-, Köhler- und Schnitzerdörfchen, mit Hammerwerken und Glashütten, welchc andern Mittelgebirgen den Gattungsnamen „Wald" verschafft haben; aber ihre kleineren Waldflächen sind wohl vertheilt, selten ist eine Flur ohne Gehölz, nirgends ist der Horizont ohne den tiefgrünen Saun,, der die schönste Grenze zwischen Saatengrün und Himmelblau bildet. Ein Liebhaber der Waldromantik findet indeß in der Lausitz schwerlich Befriedigung. Die Kieferheiden der nördlichen Gegenden wiegen eher in stilles schwcrmüthiges Träumen, als daß sie zum fröhlichen Walbjauchzer verlocken; die schönen Waldungen von Bautzen und Zittau sind zu parkähnlich, als daß sie das ehrfürchtige Schauern erwecken könnten, das man in den großen dunkeln Forsten anderer Gebirge fühlt. Die Waldpflege scheint in der Lausitz — soweit ein Dilettant urtheilen darf — nicht überall der Bedeutung zu entsprechen, welche der Forst auch in solchen Gegenden hat, denen die Natur unterirdische Holzmagazine geschenkt hat. Der Wald leidet hier und da unter der Kleinwirthschaft. Der zu Bauerngütern gehörige „Busch" wird oft als Stiefkind behandelt, sein Boden wird zwar gern abgeerntet, aber saumselig bepflanzt, er muß dem Acker so 64 viel Strcu liefern, daß er dabei verkümmert. Dagegen stehen einige gutsherrlichc Waldungen und besonders die großen Communalforste (Zittau besitzt über eine Geviertmeile Waldboden) sichtlich in bester Pflege und geben den kleineil Waldherren ein ähnliches Vorbild, wie anderwärts die Staatsforsten. Diese sorgliche Pflege wurde indeß, wie die Chronik lehrt, dem Forste spät zu Theil. Zwar sorgten die Städte durch Ankäufe ganzer Reviere, für Vergrößerung ihrer Waldungen; aber eine nachhaltige Wirthschaft konnte unmöglich aufkommen, wo Zimmerleutc, die das Fällen mehr lieben und besser verstehn als das Anpflanzen, den Förster machten, wie es in Zittau der Fall war. Ein ordentliches Forstamt wurde hier erst im Jahr 1730 eingesetzt, eine vollständige Vermessung kam 182l) zu Stande. Daß die Thätigkeit der Forstpflegcr verdiente Anerkennung findet, beweist ein Andenken, das die Stadt Vautzen ihrem Oberförster Walde auf dem Czorneboh gestiftet hat. Wie selten finden doch wackere Forstleute eine so wohlverdiente Auszeichnung! Dem Forstmann, der freilich auch in der ärmsten Haide lernen kann, erscheint die Lausitz wol kaum als eines der bevorzugten Reviere, die er wegen besonderer Seltenheiten der Natur und Forstvflegc Zu besuchen Lust fühlt; dem Landwirthe dagegen muß diese hochangebaute Gegend, in der an vielen Orten eine intensive Wirthschaft nach streng-wissenschaftlichen Grundsätzen betrieben wird, viel Lehrreiches bieten. Der Feldbau hat hier im letzten Menschen-alter augenscheinlich die rasch fortschreitende Industrie nicht nur nicht vorausgelassen, sondern sogar überflügelt. Wie würde der brave Naturforscher Leske staunen, wenn er den heutigen Stand der Lausitzer Landwirthschaft mit dem Zustande vergliche, den er in seinem Prachtwerke (Reisen durch Sachsen in Rücksicht auf Naturgeschichte und Oekonomie 1785) beschrieben hat! Im südlichen, mehr gebirgigen Theile der Lausitz bilden die Ackerbauer (wie ein Blick in H Langes trefflichen t>5 Atlas von Sachsen anschaulich zeigt) nur einen sehr kleinen Theil dcr Bevölkerung. Die Felder werden auch dort überall höchst sorgfältig angebaut und geben besonders in der fruchtbaren Gegend der „Kornstadt" sZito heißt auf Wendisch Korn^ guten Ertrag. Ihren Höhepunkt erreicht indes; die Landwirthschaft in den fast ausschließlich von Ackerbauern bewohnten Gegenden uon Löbau und Zittau, wo die Industriellen nur etwa Fünf vom Hundert der Einwohner ausmachen. Zahlreiche, ansehnliche Rittergüter lim Amte Bauhcn kommen auf 135 Landgemeinden gegen <'<() große Güter) bieten hier Gelegenheit zum Großbetrieb und die Gutsbesitzer leuchten den Bauern als Muster in ihrem Fache voraus. Eo wenig auch ein Laie, der höchstens einige Gartenbeete bewirthschaftet, Beruf fühlt, über die Landwirthschaft Zu reden, so darf er doch einige seiner oberflächlichen Beobachtungen nicht unterdrücken, um nicht eine zu arge Lücke im Bild eineü Landes zu lassen, in dein der Feldbau eine so große Rolle spielt. Unter den Feldfrüchtcn nehmen die Handelsgewächse keine hervortretende Stelle ein; Hopfenbau und Zuckerrübenpflanzungen kommen kaum im Großen vor; auch der Uardcnbau scheint nur um Bautzen und blos versuchsweise betrieben zu werden, so daß die Lausitzer Tuchmacher den größten Theil der unentbehrlichen Naturbürsten aus der Oschatzer Pflege und aus Frankreich beziehen. Die Gärtnerei ist besonders um Zittau im Schwünge; die Qbst-baumzucht jedoch scheint, obgleich die meisten Dörfer von Baumgärten umgrünt sind, noch nicht zu bedeutender Höhe entwickelt. Auf den Sandfelocrn des Nordens wird häufig Buchweizen erzogen. Die Kartoffeln haben erst seit der großen Theuerung uon 1772 die volle Anerkennung gefunden und werden jetzt so viel ausgelegt, daß ihr Anbau die Cultur des Flachses, welche für die Industriegeschichte des Landes bedeutsam war, ansehnlich beschränkt hat. Sonst bestand ein ansehnlicher Theil des Gesindelohnes in dcr Vand und kculc dcr iüchsijchen Lausitz, ü 00 * Benutzung eines Flachslandes; noch jetzt bekommt eine Magd von einzelnen Herrschaften zwei Metzen Vand Zur Leinsaat. Flachsbau im Großen, zu dem die einheimische Spinnerei und Weberei auffordern tonnte, scheint nicht betrieben zu werden, da Anstalten zur iunstmäßigen Rüstung und Vorbereitung der Ernte fehlen. Dio. Felder werden sorgfältigst bestellt, auch in den Höfen schlichter Bauern sieht man verbcsse.rte Aäergcräthe, die künstlichen Düngungsmittel finden die ausgedehnteste Anwendung. Die Gctreideerträge finden auf den großen Kornmärkten von Löbau und Bautzen bequemen Absatz. Futterlräuter werden auf Feldern und manchen Kunstwiesen erzogen. Die Viehzucht erzielt durch sorgfältige Pflege der Hausthiere und durch Einführung edler Etämme schöne Erfolge. Auf vielen Gutshöfen find veredelte Schafe (englische in Drehsa und Glossen) und stattliche breitnackige Rinder Zu bewundern, welche ihren Ursprung von englischen Kurzhörnern oder von Alpenstieren kundgeben. Fast wird man von der Bangigkeit befallen, daß in kurzer Zeit die Thiergestalten, die wir als Kinder auf den Bauernhöfen kennen gelernt, von der Erde verschwinden und neuen, vielleicht nützlicheren, aber weniger hübschen Formen Platz machen müssen. Was find die „veredelten", den Bauch schleppenden Grunzer, und die plumpbeinigcn, häßlich krähenden Brahmaputra's für Ungestalten gegen ihre unedeln Vorgänger? Wer eine englische Thierausstellung gesehen hat, wird zugeben müssen, daß man sich angesichts mancher Preisthiere, besonders der Schweine und Fancu-Kaninchen, wirklich oft fragen muß, zu welcher Thiergattung ein vielbewundertes Ungethüm eigentlich gehöre. Die Bienenzucht wird in der Heimath Schirachs — der unsere Großväter als ersten Immker ebenso hoch bewunderten, wie wir seinen Amtsbruder Dzierzon — viel betrieben; neben altvaterischen Klotzbeuten und Strohkörben finden sich nicht selten Bienenwohnungen, welche andeuten, daß auch die neue, den Staatshaushalt der Thiere vollkommen be- 6? herrschende Pflegart geübt wird. Die alte Waldbienen-Zucht, welche der Lausitzer Dichter Willkomm in einer Novelle geschildert hat, soll selbst in den Heidegegenden gänzlich erloschen sein. Die Fischzucht ist in den flachen Gegenden, wo viele Teiche vorhanden sind, nicht unbedeutend und soll gute Erträge liefern, wahrend anderswo das Sprüchwort wahr ist: Garten und Teich macht Niemand reich. Sollte cin Wanderer in der Wendei von Husaren reden hören, die auf dem Felde weilen, so darf er nicht an eine Heerschau denken; Husaren heif;en die Hirten, denen die schwierige Obhut über die Gänseheerden anvertraut ist; die Prophezeiung von Huß über Gans und Schwan Zeigt, daß Huft auf Slawisch die Gans bedeutet. Die landwirthschaftliche Industrie ist durch große Branntweinbrennereien vertreten. Hochgerühmt wird der Einfluß des landwirthschaftlichen Krcisvereines, der unter Leitung eines ausgezeichneten Landwirthes, des l>i>. Hermann, steht. Die gedruckten Mittheilungen dieses Vereines beweisen, wie wohl derselbe versteht, durch das Einbürgern vorzüglicher Sämereien und Thierstämme, durch Einführung zweckmäßiger Geräthe und Maschinen, durch Verbreitung nützlicher Schriften das Gute anderer Gegenden der Lausitz zuzuführen, wie er durch Belohnungen und Ausstellungen zum Wetteifer anzuspornen weiß und besonders auch, wie trefflich man es anstellt, die Zweiguereine Zu fruchtbaren Versuchen und Gesprächen anzuregen. Die wichtigste Schöpfung des Vereines, zu welcher Staatsregierung und Provinzialstände bedeutende Mithilfe gewähren, ist die mit einem Versuchsfeld und Laboratorium ausgestattete landwirthschaftliche Versuchsanstalt zu Neidlitz, welcher der Chemiker Nr. Leh-mann vorsteht. Dieser Naturforscher, welcher der Wissenschaft werthvolle Aufschlüsse zuführt und die Praxis durch chemische Werthbestimmungen von Erdartcn, Düng- und Futtermitteln fördert, erwirbt sich außerdem durch Vorträge, die er den Zweigvereinen hält, große Verdienste um die Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse in Stadt und Land. 68 Beweist nicht schon die Gründung einer solchen Anstalt, daß die Landwirthschaft der Industrie vorausgeeilt ist? Wic stcht hinter dem Wirken eines solchen Vereins die Thätigkeit der Gewcrbvereiue zurück, die selten zu frischer, gedeihlicher Entwickelung kommen? Wo besteht ein ähnlicher Verein der Industriellen einer ganzen Prom'nz, der aus gemeinsamen Mitteln Männer anstellt, welche die Fortschritte der Wissenschaft Allen durch das lebendige Wort zuführen und jedem Rathsuchenden Auskunft geben? Die Gerechtigkeit fordert zu bedeuten, daft den Land-wirthcn ein solches Zusammenwirken erleichtert ist. Sie brauchen die Mitwerbung ihrer Nachbarn, auch des Auslandes nicht zu fürchten, da selbst England, der furchtbarste Gegner der deutschen Industrie, unserm Ackerbau vielmehr ein förderliches Vorbild, als ein gefährlicher Concurrent ist. Die ^ausitzer Landwirthschaft genießt, obgleich der Voden der Markgrafschaft im Ganzen kein reicher ist, besondere Vortheile. Vortreffliche Handelswege eröffnen die bequemste Ausfuhr; einzelne Gutshüfe, die vor dreißig Jahren um Zwei Tagereisen von Dresden entfernt lagen, tonnen jetzt auf der Eisenbahn täglich frifche Milch in die Hauptstadt senden. Ferner stellen die Häusler der wendischen Dörfer den Gutsherren treue, kräftige Arbeiter, die um geringen Lohn wacker schaffen. Gegenwärtig stehen in der Lausitz, wo auch die Gewerbsleute sich mit geringem Verdienst begnügen müssen, die Löhne der Feldarbeiter ziemlich niedrig. Aus glaubwürdigen Mittheilungen ergiebt sich, daft ein Gutstaglöhncr, der von früh bis Abends mit Ausnahme einer stündigen Mittagsrast, wacker arbeitet und keinerlei Kost erhält, im Sommer 1 Thlr. 7 Ngr., im Winter nur 1 Thlr. wöchentlichen ^ohn empfängt, und daß es eine weibliche Arbeiterin wöchentlich bis auf 1 Thlr. bringt. Nenn es gelingt, die Wenden an die Gedingarbeit zu gewöhnen — was nicht leicht sein soll — werden sie gewiß zu ihren: und der Arbeitgeber Vortheil auch höhere Löhne erwerben. Aber selbst bei diesem Einkommen sind die Wenden 69 keineswegs unzufrieden, Niemand denkt an Auswanderung ins Dollarland. Vielleicht rührt diese Zufriedenheit zum Theil von dem beruhigenden Gefühle her, das; sich ihre .Lage seit dem letzten Menschenaltcr so wesentlich verbessert hat. sowie von der darauf gestützten Hoffnung auf fortschreitende Verbesserung derselben. Bis uor dreißig fahren galt nämlich in der Lausitz die C'rbunterihänisskeit. Ein vollständiges Bild der ehemaligen feudalen Zustände bietet die gewis; nicht parteiische, zur Jubelfeier deü Gutsherrn im Jahr 1843 veröffentlichte Geschichte des Rittergutes von Nennersoorf. Welche starre, den höheren Aufschwung des Ackerbaues hemmende Zustände der Unfreiheit hatten sich hier fortgeschleppt! Der /srohndienste, wozu auch das Spinnen gehörte, waren vielerlei. Unentgeltlich wurden indeß nur Jagddienste und Flachsbrechen geleistet; für die übrigen „Hefedienste" wurde neben der Kost ein Tagelohn verabreicht, das freilich selbst als Trinkgeld gering erscheint. Ein Gärtner erhielt 4^/,, bis !w Gewerbtreibende; dort liegen kleine Baucrdörfchen mit dichtgedrängten Häusern; hier dehnen sich den Thälern entlang volkreiche Weberdörfer, welche selbst die größten ^and-orte des Erzgebirges an Voltszahl übertreffen. Auch hier scheint es als ein Naturgesetz zu gelten, daß, wo Slawen und Teutsche zusammen wohnen, diese die städtischen, jene die landwirthschaftlichen Arbeiten übernehmen und daß in gebirgigen Gegenden die Slawen weit mehr der Germani-sirung ausgesetzt sind, als in der Ebene. Die Dichtheit der lausiger Bevölkerung ist bedeutend, es wohnen auf -U) Geuiertmeilen gegen ''>W,()l)<> Menschen, also kommen im Mittel über 70<)<) auf die Meile. In den einzelnen Gegenden ist aber dio Bevölkerung sehr ungleich vertheilt, so daß eine bildliche Darstellung die nördliche Hälfte licht, die südliche, besonders die Umgegend Zittaus, sohr dunkel schrafsiren würde. Ursprünglich sind fast alle Gewerbe der Oberlausitz bodenständig gewesen; doch haben sich mehrere, und besonders die jetzt am stärksten besetzten, so entwickelt, daß sie nunmehr vorzugsweise ausländische Rohstoffe verarbeiten. Bodenständig im strengsten Sinne sind von den stärker besetzten Gewerben besonders drei. Zuerst das der Steinbrcchen und Steinmetzen, welches unter allen die meisten Wenden zählt. Man giebt die Zahl der lausitzer Steinbrüche auf 0(X> an, unter welchen einige, namentlich die von Iohnsdorf und Häßlich, bedeutend sind. 72 Für die im besten Zustande erhaltenen Straßen liefert Granit, Klingstein und Vasalt treffliches Material. An guten Bausteinen fehlt es, mit Ausnahme der NordgrcnZe, nirgends, Für da« Ausland werden viel Granitplatten zu fast unverwüstlichen Schwellen und Trittsteinen zugerichtet. Am weitesten in der Ferne gehen die Mühlsteine von Iohnsdorf, die bis Stockholm und die Türkei versandt werden. Gegen 70 Arbeiter sind in den IolMdorfer Brüchen beschäftigt, deren feste und gleichförmige Sandfel-sen leicht massige Tafeln absprengen lassen. Diese Brüche gehören der in jeden: Sinne steinreichen Eomnmn Zittau, welche jetzt für die Ausnutzung derselben jährlich 2400 Thaler einnimmt, wahrend sie zu Ende des vorigen Jahrhunderts nur 320 Thaler erhielt. Wenn sich die Pacht eines Steinbruches in 80 Jahren uerachtfacht, dann muß wol sein Gestein Anerkennung gefunden haben. Neuerdings stellt man für Mühlen, welche seit Aufhebung des Mahl-Zwanges für Verfeinerung ihrer Produete sorgen müssen, auch gekittete Steine her, welche möglichst gleichartige Reibungsflächen haben. Erze fehlen der Obcrlausitz, mit Ausnahme des Naseneisensteins von Königswartha und Mirta, gänzlich. Darum ist auch die Metallindustrie spärlich vertreten; sie beschränkt sich auf eine Eisengießerei und einen Kupferhammer bei Bautzen und eine Maschinenbauers. Statt der Erze werden namentlich in der Umgegend von Bautzen und Zittau Braunkohlen gefördert. Roch im Anfang unsres Jahrhunderts lagen diese Bodenschätze unbeachtet; jetzt sind über 1000 Menschen, denen 1') Dampfmaschinen Hilfe leisten, mit ihrer Hebung beschäftigt. Im Jahre 1854 lieferten 30 Werte der Lausitz 1,382,009 Scheffel, fast die Hälfte des Gesammtausbringens von Sachsen, seitdem ist die Förderung bedeutend gestiegen. Die Braunkohle wird nicht blos zur Heizung der Wohnungen, sondern auch zur Düngung und besonders zum Betriebe von Dampfmaschinen benutzt. Die Kohle bewährte sich auch hier als mächtiges Förderungsmittel der Industrie, 73 ' ' es rauchen jetzt in allen größern und manchen kleineren Städten Fabritschlote. Um die Nachhaltigteit ihrer Lager braucht es den Lausitzern im nächsten Jahrtausend kaum zu bangen, da die fluchen der Urzeit hier außerordentliche Massen von Treibholz zusammengeschwemmt haben. Bei Zittau sind Strecken vorhanden, wo die Kohlen mit Einschluß der Thonzwischenlager achtzig Fuß Mächtigkeit erreichen. Auch an Tors fehlt es nicht; vielleicht giebt derselbe mit der Zeit Anlaß zu einer neuen Industric, da Proben einiger Lager sich zur Herstellung von Paraffin und Photogen geeignet erwiesen haben. So wie die Steinkohle durch ihre Einlagerungen von Eisenstein zur Metallarbeitung herausfordert, so ruft die Braunkohle durch die Thonlager ihrer Nachbarschaft häufig eine bestimmte Industrie hervor. An einzelnen Orten der Lausitz hat sich die Töpferei schon vor Alters zu beträchtlichein Umfang entwickelt, eine Thonwaarenfabrik ist aber erst seit Entdeckung der Braunkohlen entstanden. Die Städte Kamenz, Elstra, Pulonitz und Uönigobrück, in denen eine ansehnliche Anzahl Töpfer arbeiten, stellen die Erdwaarcn-Provinz der Lausitz dar. Eine sehr haltbare und glatte, bleifreie (Glasur sichert ihren Geschirren auch im Auoland Abnehmer. Die volle Entwickelung, deren sie fähig ist, wird diefe Industric wohl erst durch den Großbetrieb erreichen, wenn Wedgewoodo auftreten, die auch den schlichtesten Gefäßen durch schöne Form Neiz zu verleihen und der einfachen Thonwaare neben dem Eisengeschirr und und dem Porzellan Geltung zu verschaffen wissen. Im Pottery-Bezirk Englands sieht man einfache Thongefäße, die sich besser zum Zimmerschmuä eignen, als viele unsrer prunkenden Nivpeo aus Porzellan. Roch besteht in der Lausitz keine Porzellanfabrit, obgleich bei Mirka und Eibau mächtige Lager von Kaolin-Erde gefunden sind. Eine große Thomvaaren-Fabril, welche feuerfeste Backsteine, Platten zu erstaunlicher Größe, Röhren und Cäureflaschen und ihrer Dauerhaftigkeit wegen gerühmte Gasretorten fertigt, besteht in Mirta bei Bautzen. ' ' 74 In den meisten Städten der nördlichen Lausitz hat sich außer der Töpferei ein oder das andere Gewerbe zu einer Erzeugungskraft entwickelt, welcher das Inland als Abnehmer nicht genügt. Einige Orte genießen Ruf durch ihre Lcbküchlcr; Ostritz ist für die Markgrafschaft, was der Leipziger Brühl für Europa, es ist eine Kürschner-Stadt; eine Reihe kleiner Städte ist von zahlreichen rührigen Schuhmachern bewohnt, welche für den Markt arbeiten. Nirgends scheint sich indeß dicsec, Handwerk zum eigentlichen Fabritbetrieb entwickelt zu haben, auch hört man nicht, daß die Schuhmacher, nach dem Beispiele der Delitzscher, gemeinsamen Betrieb und Handel erstreben, was ihrem Gewerbe, im Nettstreit mit den Nähmaschinen und der neuen Maschine, die in einem Tage gegen 200 P^ar Sohlen aufschraubt, so dienlich wäre. Einen weit größeren Handelsbezirk, als diese Hand-werte, hat die lausißer Tuchmanufaktur, deren jährlicher Umsatz auf 6 big 800,000 Thaler geschätzt wird. Die Tuchmacherei ist ein seit 500 Jahren in der Lausitz blühendes Handwerk dein Bautzen und Zittau einen guten Thcll ihres Reichthums und ihrer ehemaligen politischen Bedeutsamkeit verdanken mögen; gewis; standen nicht ohne Grund die Tuchmacher in der Rangordnung der Zünfte obenan. Nach Görlitz soll dieses Handwert durch Flamänder gekommen sein, vielleicht verdanken auch die übrigen der Sechsstädte solchen Einwanderern die Grundlage dieser Manufaktur. Im 17. Jahrhundert wanderten nach Zittau viele böhmische, durch Unduldsamkeit aus der Heimath getriebene Tuchwirter ein. Schon im 13. Jahrhundert blühte aber der Tuchhandel in Zittau; die oft von Raubrittern bedrohten Tuchwagen gingen nach Böhmen, Ungarn und Schwaben. Mehrere lausitzer Städte, die sonst in der Tuchmanufaktur hervorragten, haben ihren Vorrang nicht behauptet, so Bautzen, Zittau und Bernstadt, in welchem Städtchen sonst NO Meister lebten. Jetzt führen den Reigen ka-menz und Bischofswerda, in welchen je 25)0 Meister und 75 Gesellen beschäftigt sein mögen. In beiden Städten sind in neuerer Zeit einige Fabriken begründet worden, welche mit bedeutendem Großbetriebe spinnen und weben und sehr geschätzte Stoffe liefern. Die Firma Mos;ls und Blayl in Kamcnz erfreut sich verdienten Rufes besonders durch ihre starten und bunten Tuche, die weit nach den: Orient gehen; das Geschäft von Hermann in Vischofswerda steht dnrch seine feinsten schwarzen Tuche in Ansehen. In Bautzen hat ein Kamcnzer Bürger, Herr Mörbitz, eine grosie Fabrik begründet, in welcher — was bis jetzt sonst nirgends in der Lausitz der Fall ist — auch eine Anzahl .^raftstühle in Betrieb find, welche doppelt so viel fertigen als ein Handstuhl. Fast noch interessanter als die Besichtigung dieser Fabrik, welche sich die neuesten Fortschritte des Gewerbes rasch aneignet, ist die Lebensgeschichte des Besitzers, die man veröffentlicht wünschte, um der Jugend ein anregendes Muster zu geben, wie ein armer Knabe durch Talent und Strcbsamteit „mit Gottes Hilfe" emporkommt. Leider fehlt es noch an einem Plutarch des Bürgerthums, welcher die deutschen Männer schildert, die sich in der Industrie emporgeschwungen und als sinnreiche Erfinder oder als tüchtige Geschäftsführer ausgezeichnet haben. In Bautzen findet ein Schaulustiger noch einige sehenswerthe industrielle Anstalten. Bei Herrn Fabian sieht er Fcsi weben, mit denen Qsmancn ihre kahlgeschorenen Schädel bedecken, im Spreethalc kann er einen ^upferhammer, mehrere Papierfabriten und, falls er nicht ängstlicher Natur ist, Pulvermühlen besuchen. In der großen Fabrik des Herrn Fischer, einer der größten Sachsens, deren Pappdeckel auf der Ausstellung zu Paris Anerkennung fanden, sah ich zum ersten Mal die bedeutende Elektricität, welche das eben trocken gewordene geharzte Papier beim Abwickeln von der letzten Walze erzeugt. Unter beständigem Knistern sprühten Funken um Funken aus der weißen Rolle. Gäbe das nicht Stoff zu einem Sinngedicht über das Funtcnfprühcn des Druckpapiers? Den westlichen Industrie-Bezirk der Lausitz besucht ein 76 Wanderer schon deshalb gern, weil in ihm die Wiege eines großen deutschen Mannes stand. Dies ist der Bandmacher. Bezirk, der etwa zwölf um Pulsnitz liegende Dörfer umfaßt. Unter diesen ist Nammenau, der Geburtsort Fichtes. Deü Philosophen Vater war bei diesem, damals neuen Geschäfte thätig; und wenn nicht ein adeliger Herr dessen Sohn, der durch seine Gabe gehörte Predigten zu wiederholen, Aufsehen erregte, hätte bilden lassen, so würde wahrscheinlich unser Fichte sein Leben am Websiuhle verbracht haben. In den Dörfern dieses Bezirken werden auf wenigstens tausend Stühlen vielerlei Artikel für Band- und Knopfhandlungen gefertigt: glatte und gemusterte Vä'nder aus Lein, Baumwolle und Wolle, Schnurfäden, Kordeln und sitzen und wie all die kleinen Unentbehrlichteitcn heilen, welche der Mann kaum den Namen nach kennt. Diese Waaren werden durch die in Pulsnitz und Groß-rührsdorf bestehenden Handelsgeschäfte vertrieben. Der Verdienst der Bandwirter (höchstens 1 '/2 Thaler die Woche) gilt in der genügsamen Lausitz für einen guten. Diese Manufaktur, erst vor hundert Jahren durch einen Einheimischen, Namens Gärtner eingeführt, ist sonach eine der jüngsten der Lausitz und vielleicht ein Ableger des Posa-mentirer-Bezirtes von Annaberg. — In der nördlichen Lausitz, als deren Grenze die Eisenbahn gelten darf, bilden die eben erwähnten Gewerbe nur kleine industrielle Inseln. Anders ist es in der Umgebung Zittaus und in den Gebirgsorten überhaupt. Dieser südliche Landestheil ist durchgängig industriell, und zwar hat in demselben die Weberei die Alleinherrschaft. Weberdorf reiht sich an Weberdorf, fast Haus für Haus klappern die Geschirre, in vielen Stuben sind vier oder mehr Stühle im Gange. Der wahren Bauern sind verschwindend wenig, Männer und Burschen, Frauen und Mädchen werfen das Schiffchen. Leben und Weben sind hier wirklich gleichbedeutend. Ein Besuch dieser Gegend ist aber keineswegs durch Einförmigkeit ermüdend. Man lernt in jeder einzelnen ?? Gruppe von Orten, in welche sich die Provinz gliedert, neue Arbeiten kennen. Hier wird binnen, dort Baumwolle gewebt; hier werden im aussichtslosen dampfe gegen den Kraftstuhl glatte Baumwollenstoffe hergestellt, welche nur sehr knappe Löhne gewinnen lassen; in Iohnsdorf fertigt man sechs bis acht Ellen breite Malerleinwand, an anderen Orten schmalen Drell; bald sieht man wohlfeilste binnen für Neger auf Zuckerrohrpflanzungen, bald hübsche Iac-quarddecken, bald kostbare Tafeltücher für Paläste weben; hier klappt im einförmigen Takte der uruäterliche Webstuhl im engen tleinfensterigen Ctübchen, dort arbeitet mit wildem Eifer ein faufender Kraftstuhl in den: durch Oberlicht erhellten Fabritsaale. Man braucht fürwahr tein Fachmann zu sein, der sich — wie mißtrauische Neber meinen — etwas absehen oder Geschäfte machen null, um sich zum Betreten der Webstuben angeregt zu fühlen. Ueberall lernt man spielend etwas Technologie und schaut vieler Menschen Loose und bitten. Um Zeitvertreib auf den Straßen braucht man auch nicht bange Zu fein. Welche Fülle von Phantasie-Bildern um-ringen den Wanderer, der die Geschichte des Spinnens und Webens überdenkt! Penelope und Königin Bertha; Tyrer, ^noer, Fläminge, Deutsche und Engländer; Mi-nerua und Jacquard; die urmütterliche Spindel, Jürgens Spinnrad und die Flachsspinnmaschine, die Fugger und die schlesischen Weber — doch solche Abschweifungen sind hier nicht gestattet, wo uns nur die Geschichte der Lausitzer Weberei angeht. In einigen Städten der Lausitz war Leinwcberei und Linncnhandel schon im 18. Jahrhundert im Schwünge. Der einheimische Flachsbau mag den ersten Anlaft zum Marktbetriebe des Handwerks gegeben haben. Der Handel ging anfango vorzüglich durch Böhmen nach Nürnberg und Italien, später über Hamburg nach Spanien und England; nach dcm letzteren Land eröffnete sich die Ausfuhr damals, als die Hugenotten, welche bisher die Briten mit Linncnstoffen versorgt hattenl, aus ihrer Heimath ver- 78 trieben wurden. Zu Luthers Zeit fingen auch die Bewohner von Dörfern an, für die Auofuhr Zu weben. Die Bürger waren über diese Anmaßung sehr ungehalten; die Stadtmeister von Zittau zogen öfter mit den Rathstnechten umher, um den unzünftigen Dorfwebern die Stichle zu zerschlagen. Indes; war diese Ausschließlichteit nicht lange durchzusetzen, da die Kaufleute mehr Leinwand verlangten, als die Städter fertigen konnten, und die adeligen Gutsherren, welche das Recht hatten, Gewerbs-Concessionen zu ertheilen, ihren Unterthanen die Weberei gestatteten und so auf dem Lande Stifter einer Art von Gewerbefreihcit wurden. So mussten endlich auch die Städte ihren unter-thänigcn Bauern gegen ein „Stuhlgeld" das Weben erlauben. Immer aber suchten die Bürger das Abschöpfen des Rahms für sich zu behalten. Der selbstständige Linnenhandel wurde von Dorfwebern verboten, nur im Kaufhause durften sie ihre Waaren veräußern, wobei sich die Städter bis um zehn Uhr den Vorkauf vorbehielten; auch Flachs und Garn follte blos in der Stadt vertauft werden. Noch im Jahre 1705 ivurde eine Verordnung vom Kurfürsten ausgewirkt, welche Dorfwebern den Besuch der Messen verbot. Aber Alles konnte nicht die Ausbreitung des Geschäftes auf das platte Land verhindern. Auf man^ chen Dörfern entstanden Faktoreien und große Geschäfte; mit besonderem Glück schwang sich Hcrrnhut als Handelsplatz für Leinwand empor. Manufaktur und Handel blühten so mächtig auf, daß der Stadtrath von Zittau einst ein Gebot erließ, welches für die volkswirtschaftlichen Ansichten der Zeit bezeichnend ist' „das Neibsvolk solle nicht mehr weben, weil es an Dienstboten fehle." Seinen Höhenpuntt erreichte das Linnengeschäft zu Anfang des vorigen Jahrhunderts und blühte noch in dessen Mitte so freudig, daß es sich nach den Stürmen des siebenjährigen Krieges rasch erholte und dem erschütterten Wohlstand aufhalf. Allein gegen Ende des 16. Jahrhunderts begann das alte, scheinbar urkräftige und mit unvertilgbaren Wurzeln 79 umstockte Gewerbe schwer Zu kränkeln. Die Nachfrage nach deutscher Leinwand nahm erschreckend ab, die Löhne für Neber und Spinner sanken bis Zu einer Tiefe, welche selbst den Genügsamen Magen auspreßte. Leider war man hier, wie anderwärts, in der Erkenntnis; und Behandlung der Krankheit nicht glücklich. Der älteste Feind der deutschen Leinweberei war die Baumwolle, ein Emporkömmling, der — so sehr man ihn auch für „unsolid" erklärte — bald den Markt eroberte. Seit 1774, wo in England die ersten reinen Baumwollengewebe aufkamen, nahm die Anwendung dieses Webstoffes außerordentlich zu. Deutschland begnügte sich lange nut dem Versuche, durch Zollschutz Widerstand zu leisten. Dies war aber ein wenig zu lobendes Palliativ. Die große Menge, die nach dem Wohlfeilen greift, wollte keine reine Leinwand mehr und die Gewerbe beeilten sich leider nicht, von den Briten Zu lernen. Der zweite Feind des deutschen Linnengefchäftes war die zunächst durch Napoleons Preisaufgabe hervorgerufene Flachsspinnmaschine, welche in England bald weiter ausgebildet wurde. Wie sollten ihr gegenüber die Handspinner bestehn? Zwar tonnte die Maschine die allerfeinsten Garne nicht liefern, aber in den mittlern, am meisten gebrauchten Nummern, überbot sie die Menschenhand nicht allein in der Masse, sondern auch in der Gleichförmigkeit der Stärke und Drehung ihres Gespinnstes, und hat das einst allgemeine Vorurtheil, das; Maschinengarn weniger haltbar sei, längst besiegt. Die seit 1819 in der Lausitz gestifteten Spinnschulen vermochten bei aller Verdienstlichkeit nicht zu verhindern, daß die Handspinnerei in immer bedrängtere Lage kam. Und wie könnte sie jetzt noch bestehn, da in England über Zwei Millionen Spindeln schnurren, von denen jede im Mittel jährlich einen halben Centner Flachs verarbeitet, zumal da die Maschine auch das sorgfältigst zubereitete Werg zu hübschen Fäden verspinnt? So ist denn gegenwärtig die Lohnspinnerei in der Lausitz fast verschollen und 80 selbst als Nebenarbeit für den Hausbedarf so in dcn Hintergrund getreten, daß viele Bürger und Bauern ihre Mägde nicht mehr spinnen lassen, weil dabei nichts herauskomme. In der Lausitz wurde im Jahr 1840 — am frühesten in Sachsen — die rechte Maßregel ergriffen, um zu verhüten, daß die deutschen Weber nicht völlig uon England abhängig bleiben möchten. Die Flachsmaschinenspinnerei uon Hirschfelde bei Zittau ist unter der Leitung des Herrn Müller so bedeutend herangewachsen, daß sie jetzt über 7W Arbeiter aus Sachsen, Böhmen und Preußen beschäftigt. Von der Neiße getriebene Kreiselräder und mehrere Dampfmaschinen setzen über NO Spindeln und eine Reihe kunstreicher Mechanismen, welche die Fasern zum Spinnen vorbereiten, in Bewegung. Erzgebirgischer, belgischer und baltischer Flachs, italienischer Hanf und indischer Dschut (Corchorus-Faser), welche in den Magazinen in großen Vorräthen aufgespeichert liegen, werden versponnen und zum Theil sogleich zu Zwirn, Bindfaden und Seilen weiter verarbeitet. Einzelne Besucher einer solchen Fabrik, die sich, — wie der König in Tiecks Lustspiel — gern mit Zahlen abgeben, bei denen der Verstand stillzustehn droht, fühlen sich vielleicht gereizt zu berechnen, wie uielmal die hier jährlich gesponnenen Fäden den Aequator umschlingen tonnten, da ein Pfund Flachs sich zu einem Faden uon mehr als einer Million Fuß Länge nusziehn läßt. Bei den meisten Beschauern dagegen überwiegt sicherlich das Erstaunen über den Triumph der menschlichen Erfindungskraft, die sich hier bewährte, so sehr, daß man taum an das ruhige Sinnen und Denken kommt. Eine des Spinnens kundige Hausfrau würde Zuerst die Sorgfalt bewundern, mit welcher der Flachs geschwungen und gehechelt wird. Da widerlegt sich recht das alte Vorurtheil, als ob in den Fabriten nur so obenhin gearbeitet werde. Nachdem der Flachs von den hölzernen Messern der Schwingmaschine gewaltig durchgepeitscht worden ist, 81 so daß er sich alles Staubes entledigt hat, wird er auf einer Hechelmaschine durch Stahlbürsten, welche sich auf einem Band ohne Ende umdrehen, mit einer Geschicklichteit durchgekämmt, welche die Fertigkeit der Haarkünstler über-bietet. Immer aber wird der so gestrahlte Flachs, da Auge und Hand des Menschen doch nie ganz durch Maschinen ersetzt werden können, von Handhechlern sorgfältigst durchgenommen. Auf diese kommt für das Gelingen der späteren Arbeiten so met an, daft sie höhere Löhne erhalten. Der gehechelte Flachs wird nun einer, der Baum-wollenkrcmpel ähnlichen Maschine übergeben, dann von feinen Hecheln in Bänder getheilt, welche wieder zusammengelegt und dann gestreckt werden. Feine Hechelkämme halten die faserigen Bänder locker, während sie durch Umdrehung der Spindel zu Fäden gedreht werden. Auf der Feinspinnmaschine läuft der Faden, der hier Feinheit und Drehung erhält, durch warmes Wasser, welches ihm Glätte verleiht. Das Gespinnst wird in einer trefflich ausgedachten Trockenanstalt rasch von der Nässe befreit. Auch die Vorrichtungen zum Weifen des Garnes, zum Drehen und Glätten des Zwirns sind so zweckmäßig und Menschenkraft sparend, daß sie jeder Hausfrau einen Ausruf der Bewunderung abnöthigen würden. Zur Bewunderung wird sich gewiß jeder denkende Mensch beim Besuch einer solchen Spinnerei angeregt fühlen, auch wenn er, mit den Leistungen der neueren Mechanik nicht ganz unbekannt, sich kaum mehr wundert, wenn durch rohe Naturkräfte bewegte Maschinen Lasten heben und fahren, Hämmer, Zangen und Schceren handhaben, ja wenn sie die leicht zu Fäden vereinigbaren Fasern der Wolle und Baumwolle spinnen. Wer aber selbst am Flachsspinnrade Lehrgeld gegeben, wer erprobt hat, wie die zupfenden, drehenden und streichenden Finger all ihr Feingefühl, all ihre Hurtigkeit aufbieten müssen, um nicht dünne Stellen oder „Würste und Meiseldraht" entstehen oder gar den Faden abreißen zu lassen — der staunt es als das größte Wunder der Mechanik an, daß eiserne Rädchen und Walzen, Land und Veutc bcv ftchsischcn Vausih, v-^Äi-n) muß er größtentheils den englischen Spinnereien abkaufen, und soll doch ebenso billige Waare liesern, wie die durch den Handel bevorzugten Engländer. Das ist natürlich blos da möglich, wo man webfertige und genügsame Arbeiter findet, welche sichs bei der schlichtesten Lebensweise saurer werden lassen, als ihre Kunden, die Arbeiter auf den Zucker- und Kaffeepflanzungen Westindiens. Die Baumwollenweberei ist über die ganze Weberprovinz der Lausitz verbreitet. Lange hat man sich dawider gesträubt, einer fremden Pflanzenfaser, der doch einmal die Weltherrschaft bestimmt ist, neben dem deutschen Lein die gebührende Stelle einzuräumen, und manche Familie hat für diesen Eigensinn büßen müssen. Im Jahre 1780 kam die Baumwollenweberei in der Lausitz auf, seit 1R>9 wurde sie häusiger betrieben, seit etwa dreißig Jahren ist der Sieg der baumwollenen und gemischten Gewebe entschieden, und es haben sich seitdem gewisse Bezirke abgegliedert, deren Bewohner sich besonderer Webverfahren vorzugsweise befleißigen. 8S . Die einfachste Baumwollenweberei, welche dem Kraftstuhl gegenüber kaum bestehe» kann, findet sich blos noch in einzelnen Orten um Ostritz. Der Mittelpunkt für die Herstellung baumwollener Köper ist Ebersbach; Männerkleider-Stoffe werden mafsenweis in Gersdorf und Leuters-dorf gefertigt; in und um Zittau, besonders in der Nähe der Lausche, beschäftigen sich etwa 2000 Weber mit Linnen-drell (^outii) für Männerkleidung. Orleans wird in Zittau auf 700 Maschinenstühlen und in der Gegend von Neichenau auf 2000 Handstühlen hergestellt, in Vernstabt wirken gegen 100 Kraftstühle Shirtings; gegen 1000 Weber sind mit der Verfertigung von Tischdecken auf Iacquardstühlen und etwa KOOO mit bunten baumwollenen Zeugen beschäftigt. Der jährliche Umsatz der Lausitzcr Weberei wird so geschätzt, daß von Orleans für 5—600,000 Thlr., eben so viel für Drells, von Baumwollenen Waaren für 1—1^ Mill. Thlr. und von leinenen und halbleinenen Stoffen 1^—2 Mill. Thlr. an Werth in den Handel kommen. Der berühmteste Zweig der Lausitzer Neberei, der auf allen Ausstellungen Preise davon gelragen und seinen Erzeugnissen Eingang in die Prachtsäle der Reichsten und Höchstgestellten von halb Europa verschafft hat, ist die Da-mastwcberei von Schönau, einem stadtähnlichen, über 4000 Einwohner zählenden Dorfe bei Zittau. Nährend die meisten Gewerbe der Lausitz für den All-tagsgcbrauch der armen und mittleren Klassen berechnet sind, tragen die Schönauer „gezogenen Waaren" einen vornehmen Charakter, sie sind nur den Reicheren zugänglich und werden selbst von den Begütertsten fast nur bei Familienfesten den Schreinen entnommen, die das Grüne Gewölbe der Haushaltung darstellen. Denn, welche Hausfrau, und wäre sie die Gemahlin eines Königs, suchte nicht die prächtigen atlasglänzenden Decken, auf denen Familienwappen und Copien berühmter Bilder in reichen Arabeskenrahmen fast mit der Vollkommenheit eineü Kupferstiches eingewebt sind, dem Alltagsgebrauche zu entzieh» und für die Bekleidung der Tafel an Festen aufzusparen? Sind 87 doch die Schönauer Damastdecken von solcher Vollkommenheit, daß man sie kaum noch zu den Erzeugnissen des Hand-wertes zählen darf; sie stellen vielmehr, wenn man die Gobelins mit gewebten Gemälden vergleichen muß, gewirkte Kupferstiche dar. Der Künstler, der beim Damastweben das Emporsteigen des Handwerkes zur Kunst vermittelt, ist der Musterzeichner, welcher die den Stickmustern ähnlichen Vorlagen für den Weber entwirft. Ein solcher Zeichner muß nicht blos als Maler verstehen, gute Bilder auszuwählen, dieselben richtig zu vergrößern oder zu verkleinern und mit gefälligen Zierrathen zu umranken; er muß vor allen Dingen die Weberei gründlich kennen, um zu ermitteln, wie die geschwungenen Umrisse der Figuren durch gerade Fäden so darzustellen sind, daß man aus gewisser Entfernung die kleinen trepven-förmigcn Absätze nicht gewahrt, welche beim Weben runder Linien immer entstehn. In dieser Kunst, den Mustern Schwung und Nundung zu verleihen, werden die Schönauer Zeichner kaum zu übertreffen sein. Der Anblick des Damastwebers erweckt im Beschauer fast noch mehr die Achtung vor der zähesten Ausdauer, als vor der Geschicklichteit der Arbeiter. Welche Gedulbprobe ist das Einlesen der Kette, die auf eine Elle Vreite 1000 bis 3000 Fäden zählt, nach Angabe des Musters! Der Damaststuhl, der sich vom gewöhnlichen Stuhle zunächst durch Breite, durch viele Tritte und Kämme, besonders aber durch einen zum Ziehen der Lätze bestimmten Apparat auszeichnet, nach welchem er der „Zugstuhl" genannt wird, kommt zwar an Verwickelthcit dem Iacquardstuhle nicht gleich, dessen Arbeit wie Taschenspielerei erscheint; indeß hat der Laie immerhin scharfe und anhaltende Beobachtung nöthig, um das Zusammenwirken der Theile dieses Mechanismus klar zu verstehen, und die Schönauer, die sonst jedem Fremden das Zusehen verwehrten, hätten ihr „con-stitutionelles Mißtrauen", welches durch die Innungsgesetze vorgeschrieben ist, den meisten Neugierigen gegenüber keineswegs nöthig. Der Meister bewegt die Tritte und das 88 Schiffchen, ein oder mehrere Gehilfen zichen die Kämme und Lätze — das erkennt man leicht; wie es aber dadurch möglich wird, die vorgeschriebenen Figuren des Musters zu erzeugen, fodaß dieselben auf der einen Seite des Gewebes matt auf glänzendem Grunde, auf der andern »'..'idenschim-mernd auf matten» Boden erscheinen — das vollständig zu begreifen, ist nicht Jedermanns Sache. Nur so viel wird Jedem klar, daß zu dieser Arbeit große Sorgfalt und eine Geduld nöthig ist, der es genügt, ihr Werk im Schneckengange vorrücken zu sehen, eine Geduld, wie man sie am Gobelinweber, am Diamantschleifer und am Kupferstecher bewundert. Man hat in Schönau Damastdecken von 7 Ellen Breite gewebt; dies sind aber kostbare, meist nur für Paläste bestimmte Seltenheiten; am häufigsten werden Tafcltücher von 1^2—4 Ellen Breite verfertigt. Das Gefuinnst zu den echten Leindamasten ist reines Flachsgarn, das, nament-lich wenn es zur Kette dienen soll, fehr gleichmäßig und zart sein und deshalb mit der Hand gesponnen sein muß. Dies feinste Garn foll meist aus Böhmen und aus der preußischen Lausitz bezogen werden. Es werden aber in Schönau neuerdings auch halbseidene und — nachdem man sich lange besträubt, der Baumwolle Einlaß zu gewähren —, auch halbbaumwollene Tischdecken gewebt. Der Preis der gezogenen Waare hängt von der Reinheit des Stoffes, von der Breite des Stückes und von der Beschaffenheit des Musters ab. Reiner Leindamast ist am theuersten und ein breites Muster natürlich kostspieliger als ein schmales. Wohlfeil kann ein Muster nur dann geliefert werden, wenn es vielseitig begehrt wird und viele Austagen erlebt. Die Herstellung einer nur einmal auszuführenden, bestellten Zeichnung, z. B. eines Familienwappens, erfordert monatelange Vorarbeiten und kommt deshalb verhältnißmäßig! theurer zu stehen, als ein Kupferstich avlmt 1» Ic!tt,l'6. Der Verdienst der Damastwebcr, der mit der Breite und Künstlichkeit des Musters steigt, ist keineswegs ein so 89 hoher, wie man nach dor Schönheit der Arbeiten vermuthen sollte. Der Wochenverdienst des Webers beim Wirken uon Decken Zu einer Elle Vreite wurde auf 1 Thlr., bei A bis 4 Ellen Vreite auf 1' 2 bis 2 Thlr. angegeben. Der jährliche Umsatz der Damastwaaren wird aus 250,000 bis ^00,000 Thlr. geschätzt. In der Geschichte der Damastwirkerei scheinen die folgenden, zumeist der Chronik von Echünau entlehnten, Thatsachen die wichtigsten zu sein. Der Damast, nach der Stadt Damaskus benannt, die sogleich an den Teppichweber Saulus erinnert, ist, wie der Cashemirshawl, eine Erfindung des Morgenlandes. In Europa wurde das schöne Gewebe zuerst von Italienern, dann von Holländern nachgeahmt. In Schönau, einem damals von Ackerbauern und Zwillichwebern bewohnten Dörfchen, führte im Jahr 1WN Friedrich ^ange die angeblich in der Gegend von Stolpen abgesehene Kunst ein, ^eindamast herzustellen. Bald lernten mehrere Weber des Ortes die Herstellung der „gezogenen Waare" und bildeten — im Gegensatz zu den überall unzünftigen Dorfwebern — eine Zunft, die sich aber von andern Innungen dadurch unterschied, daß sie, den Grundsatz der Arbeitstheilung durchführend, Musterzeichner, Stuhlbauer, Meister, Gesellen, Zieher und Burschen umfaßte, von denen jeder nur einen Theil der Arbeit lernte und betrieb. Die Damastweberzunft befolgte eine möglichst ausschließliche Gewerbspolitik. Sie ging den Nath von Zittau, den Erbherrn des Ortes, an, er möge ein Eoncessionsgeld uon ^0 Thalern fordern, „damit die Wissenschaft nicht propaliret werde"; die Behörde, die sonst eben der Gewerbfreiheit nicht hold war, trug doch Bedenken gegen eine so hohe Schranke und setzte die Abgabe auf 10 Thaler fest, wozu aber noch, wie vom gewöhnlichen Webstuhle, ein jährliches „Stuhlgeld" von einem Thaler kam. Dadurch wurden natürlich die Aermern verhindert, Meister zu werden. Die Innung wurde nicht müde, Verordnungen zu erlassen, welche das einträgliche Gewerbe auf Schönau beschränken und zugleich die Verringerung 90 des Verdienstes durch Ueberhäufung des Marktes verhindern sollten. Die wesentlichsten Bestimmungen der „Neuen Damastweber-Ordnung" von 1743, welche manche Gesetze der früheren einschließt, sind folgende: Neue Meister sollen höchstens drei Stuhle aufstellen dürfen; kein Fremder ist zum Damastweben zuzulassen; kein auswärtiges Kind soll am Wcbstuhle helfen; kein fremder Handwerksbursch darf sich in einer Webcrstube aufhalten; Niemand soll die Kunst ausplaudern; wer die Heimath verläßt, muß geloben, in der Fremde nie einen Zugstuhl aufzustellen; von Michaelis bis Martini soll Feicrzeit sein, um die Anhäufung von fertigen Waaren zu verhüten; kein Ziehcr oder Bursche darf unter zwei Jahren, kein Gesell unter einem Jahre dem Meister aus der Arbeit gehen; Bauernsöhnc dürfen nur mit Genehmigung des Etadtrathes Damastwirkcr werden; Hausiren mit Damast im Auslande und das Verborgen von Waaren an Umträger ist verboten. Mit der Geheimhaltung wurde es streng genommen. Als einmal der französische und spanische Gesandte von Dresden nach Cchünau kommen wollten, wurde beschlossen, das i>tÄgcricht solle in den Weberstuben zugegen sein, auf daß nichts verrathen werde. Wenn ein Fremder in die Stube trat, hörte man auf zu arbeiten. Noch im Jahr 1808 wurde einem Dresdner Kaufmann der fernere Aufenthalt in Schonau untersagt, weil man das Absehen fürchtete. Sonach war Schönau, wie Herooot von Acgyptcn sagt, „den Fremden bitter". Das Geheimhalten und Absperren gelang hier natürlich weniger, als bei der Porcellan-Manufnctur, welche selbst über feste Cchloßmauern fortflog. Da AuLwandcrungsge-suchc nicht gewährt wurden, machten sich im Jahre 1744 mehrere Schönauer heimlich davon und verpflanzten ihre Kunst nach Schlesien; viele wanderten im siebenjährigen Kriege nach Böhmen aus und noch mehr nach den Staaten Friedrichs des Zweiten, der solche erwünschte Einwanderer nöthigcnfalls durch militärisches Geleite schützte. 91 In höchster Blüthe stand der Handel mit Damastwaaren im ersten Mcnschenalter des vorigen Jahrhunderts, wo die Kunst noch nicht „propalirct" worden war. Gegen Mitte desselben Jahrhunderts war er schon gesunken, obgleich die Gesetze verschärft und den Webern manche Vergünstigungen zu Theil geworden waren. Wurden doch im Jahre 1745 die Damastweber sogar vom Militärdienste freigesprochen! Es herrschte in den dürren Jahren große Unzufriedenheit im Orte. Man bat den Nath um Minderung des Concessionsgeldes, das schon auf 0 Thaler herabgesetzt war und forderte Erlaß der Rückstände an Abgaben. Eine Veschwerdeschrift vom Jahr 1745 sagt unter anderm: „Unter 1900 zur Damast-Manufaktur gehörigen Personen sind etwa 70 Meister, nämlich -40 Faktoren und 80 auf ihre Hand arbeitende Meister. Die Faktoren unterdrückten Alle, maßen sich in allem, den Ton anzugeben, an und machen die übrigen Meister zu Gesellen." Es kam zu ärgerlichen Streitigkeiten zwischen den Innungsgliedcrn und zwischen Zunft und dem Stadtrath von Zittau, welche eine landesherrliche Commission nur dadurch zu schlichten vermochte, daß sie im Jahr 1803 eine neue Ordnung mit Gewalt durchführte. Zu neuer Blüthe kam der Handel von 1801 bis 1805. drei Jahre später begann aber eine Nothzeit, die bis 1813 währte. Im Jahr 180!» standen 340, 1811 gar 620 Stühle müssig, sodaß nur 120 im Gange blieben. Viele Weber mußten durch Spinnen oder durch Arbeiten bei Ctraßcnbauten das Leben fristen. Nach 181'i hob sich das Geschäft wieder, ohne sich indeß auf längere Zeit des Gedeihens zu erfreuen. Als Ursache des Sinkens der Ausfuhr, welches mehr als die Hälfte der Damastwebcr zur Baumwollen-Weberei überzugehen zwang, giebt man an, daß fremde Staaten, besonders Nußland, hohe Einfuhrzölle zu erheben anfingen, daß auswärts große Mitwerbung entstand — jetzt wird diese Weberei in mehreren Gegenden Deutschlands, namentlich in Schlesien und in Bielefeld, geübt 92 — und daß oer Jacquardstuhl aufkam. Die herrliche Er-findung des großen Lyoner Webers, welche, wo es gilt, ein Muster vielfach zu wiederholen, unzweifelhafte Vortheile bietet, fand in Schönau nicht leicht Eingang; wer vertauscht auch gern ein erprobtes Werkzeug, durch welches Vater und Großvater Tüchtiges geleistet haben, mit einem neuen? Aber der Zwang, billige Waaren zu liefern, ließ den Jacquard doch endlich unentbehrlich erscheinen, lind es ist wol vorauszusetzen, daß diese Webmaschine den Zugstuhl bis auf die Fälle, wo ein Muster nur einmal oder in kleiner Anzahl gefertigt werden soll, immer mehr verdrängen wird. Dies wird wenigstens die gute Folge haben, daß dadurch auch weniger bemittelte Frauen in den Ttand kommen, ihren Tischen den Festschmuck einer Damastdecke zu verleihen. Eine wesentliche Ursache des verminderten Absatzes war wol auch das mehr ehrenhafte, als kluge Festhalten an der „soliden" reinen Leinenwaare, die durch das Waschen nicht an Schönheit einbüßt. Die große Masse ist nun einmal für die wohlfeilen gemischten Gewebe, und welches Gewerbe könnte sich einer Modelaime widersetzen, wenn dieselbe zumal die Wohlfeilheit für sich hat? Man kann es deshalb nur billigen, baß neuerdings auch hier Baumwollenlein gewebt wird. Im Jahr 1833 beschäftigten 37 Fabrikanten Groß-schönau's 505, im Jahr 1834 aber 43 Fabrikanten 562 Stühle in Schönau, Hainewalde, Olbersdorf, Waltersdorf, Iohnsdorf u. f. w. Im Jahr 1845, wo sich das Geschäft durch die Stiftung des Zollvereines gehoben hatte, giebt man an, dasi über 100t) Stühle gegen 2500 Arbeiter beschäftigten und daß die Damastweberei über 5000 Menschen nährte. Jetzt soll die Zahl der Damastwirker weit kleiner sein, weil viele Arbeiter Zur Hosenzeugweberei übergegangen sind; wie viel Zugstühle gegenwärtig in Betrieb find, war leider nicht sicher zu erkunden. Eine Uebersicht der seit Anbeginn dieser Weberei ausgeführten Muster müßte ein hübsches Bild der technischen 93 Fortschritte und des geänderten Geschmackes geben. Das große Oeschäft von Näntig soll eine Sammlung vieler seit 1770 ausgeführten Gewebe besitzen; da mir nicht vergönnt war, dieselben zu sehen, beschränke ich mich auf einige bezügliche Angaben der Chronik: Das erste in Schönau gewebte Muster war eine Rosette aus acht Blättern; um 1?s,() kam eine Serviette mit einem Bauerntanze so in die Mode, daß dies Muster für das gangbarste von allen gehalten wird; das „Schifflein Christi", das ein Schulmeister angegeben, fand in England, gewiß nicht mit Unrecht, nicht den erwarteten Beifall, weil es die Pietät verletze, Christi Bild auf einer Tischdecke zu führen, ^u den gerühmtesten Leistungen gehört eine Raphael'sche Madonna, Luthers Denkmal und eine Ansicht von Dresden. Die größten Arbeiten wurden für Höfe ausgeführt; im Jahre itt^ kam eine Tischdecke mit dem österreichischen Wappen, welche 7'/2 Elle breit und 40 Ellen lang war, in die Hofburg. Auch eine Art Illustration der Weltgeschichte hat diese Weberei geliefert; ein Muster stellt Washingtons Geburtsort, ein anderes Nelsons Sieg bei Abukir dar, ein drittes gar — gewiß für ein Tafeltuch eine schlecht geeignete Scene — Napoleons Tod. Beim Durchwandern der Industrieprovinz, deren einzelne Bezirke hier in leichten Zügen geschildert worden sind, drängt sich gewiß Jedem, der neben den Gewerben auch die Charaktere und Sitten der Menschen beachtet, die Bemerkung auf, daß die lausitzer Weber in ihrem Volks-thum einen deutlichen Gegensatz gegen die Bewohner der Ackerbaugegenden darstellen. Für einen Ethnographen, der Muße und Gelegenheit hat, beide Theile der Bevölkerung näher zu studiren, müßte die genauere Ermittelung und psychologische Begründung dieser Gegensätze einen sehr dankbaren Vorwurf bieten. Wir müssen uns auf wenige kurze Andeutungen beschränken. Die lausitzer Weberorte zeichnen sich alle durch ihre Größe aus. Nicht wenige zerfallen in ein Ober- und Unterdorf, deren jedes in andern Gegenden eine sehr an- 94 sehnliche Gemeinde darstellen würde. Manche stoßen unmittelbar an ein gleichgroßes Nachbardorf. Eine ganze Reihe dieser Weberorte hat 2—3000, Ebersbach, Seifhennersdorf, Eibau und Eunnersdorf sogar über 5(100 Einwohner; Oderwitz, welches über 6000 Seelen Zählt, gilt für das größte Dorf in Sachsen. Diese Gedrängtheit der Bevölkerung in bergigen Gegenden kann natürlich blos die Folge der Industrie sein. Fast alle Weberorte liegen langgestreckt in Thälern; ein rechtes Muster derselben erblickt der Vesucher des CZor-neboh in dem Dorfe Cunciralde, welches sich am Nordfuße des Verges in einem Längenthale lagert und über 4000 Einwohner umschließt. Die - meist in gutem baulichen Stande befindlichen Häuser stehn, wohl wegen der Feuer-gefährlichteit, nie Wand an Wand, und sind von Gras-platzen und Gärtchen umgeben. Viele Obstbnume durchwirken das Grau der Strohdächer mit freundlichem Grün. Selten erblickt man eine Scheune. Die vorragende Stellung, welche in den wendischen Dörfern dem Gutshofe zukommt, nehmen hier die ansehnlichen Häuser der Factoren und Händler ein. Das Wcberhaus, welches meist nur ein Erdgeschoß besitzt, besteht vorzugsweise aus Holz; die „Stuhlstube" die Zugleich Wohnzimmer, ist sehr häufig — ursprünglich wol immer ^- von Schrotwänden aus liegenden Aalten umschlossen. Ueber den zahlreichen kleinen Fenstern spannt sich gewöhnlich ein deeorativer Holzbogen, welcher die kleinen ^ichtöffnungen hübsch überbrückt. Außen an der Wand find häufig Rollvorhänge aus Stroh angebracht, welche Nachts aufgezogen werden. Das meist aus Stroh bestehende Dach ist längs der Giebelwände und Traufen oft mit Schindeln berändert und trägt auf der Esse ein „Hütle" d. i. eine auf vier Säulchen stehende kegelförmige Schin-delkappe von der Form eines Lichtlöschers. Dieser kleine Aufsatz, der an die Thürmchen von Einsiedeleien erinnert, giebt den Weberhütten ein so malerisches Aussehen, daß gewiß mancher Wanderer, der vom Oybinfelsen aus auf 95 solche Dächer niedergeblickt, bedauert hat, daß die Feuerpolizei den „Hüllen" den Krieg erklären muß In vielen dieser Dörfer, namentlich den im Gebirge gelegenen, könnte ein Maler, der ländliche Architektur zu behandeln liebt, manches hübsche Motiv finden. Als das ivohlhäbigste und freundlichste von allen erscheint Schönau, nicht blos durch die stadtähnlichen Gassen, in denen sich die Häuser der reichen Factoren und Fabrikanten an ein^ ander drängen, sondern auch durch dao Aussehen der eigentlichen WeberlMtcn, welche hier fast alle durch wohl-gepflcgtc Blumenbeete geziert sind. Vlumenpflege ist über-Haupt eine Liebhaberei der Weber, deren Fenster fast nie ohne einige Zimmerpflanzen sind; viele Hütten auch anderer Orte haben vor den Fenstern ein wenn auch nur tischgroßes Ziergärtchen; am schmucksten gehalten scheinen aber doch die Hausgärtchen der Schönauer. Auch die Außenseite der Weberhäuser zeigt, baß ihre Insassen neben drin Wohnlichen mehr auf das Schöne bedacht sind, als die Ackerbauer. Hier und da steht man die Fensterbogen durch geschnitzte Säulchen gestützt, die Wände und Fensterrahmen sind oft mit grellen Farben angestrichen. Die Wachtel — dies scheint der Liebling der Weber, welche im Ganzen wenig Stubenvögel halten — wohnt in einem mit Echnitzwert und buntem Anstrich prangenden Häuschen am Fenster. Die niedrigen „Stuhlstuben," in denen gewöhnlich mehrere Familien zusammcnwohnen, sind von drei bis vier, Zuweilen von sieben Webstühlen besetzt, für deren Tritte oft die Diele durchbrochen und unterhöhlt ist. In solchen, überdieß von großen Oefen und Spulrädern verengten Zimmern haben die Kinder natürlich wenig Spielraum. Die Stuben solcher Weber, die auf dem Iacquard-oder Zugstuhl arbeiten, sowie überhaupt aller, die eine irgend lohnende Arbeit verrichten, sind weiß getüncht, sauber und freundlich; die Stuben mancher Drillweber in den höchst gelegenen Orten fand ich dagegen recht dürftig und unwohnlich, die Fensterchen beschädigt und trübe, du Holz- K6 wände und die Balkendecke tiefgebräunt, den Tisch von halbnackten Kindern umringt. Ein Wandbildchen und ein Blumentopf fehlen aber auch hier kaum jemals. Aus der unaufhörlichen Arbeit am Nebstuhle, die zu vorgebeugter Haltung zwingt, aus dem Aufenthalt in wenig gelüfteten, dicht bewohnten, dunstigen Stuben, sowie aus der wenig nahrhaften Kost erklärt es leicht, daß die Weber meist hagere Gestalten mit bleichen, scharfen Gesichtern sind. Unter den Kindern, welche früh beim Geschäft helfen müssen, trifft man weit mehr schmale, zarte Gesichter, als eigentliche, mit uollen, frifchrothen Wangen ausgestattete „Landpomeranzen." Turnplätze, welche in Weberdörfern nöthiger wären, als in manchen Städten, sind nur wenige vorhanden. Als bestes Gesundheitsmittel wäre Jünglingen und Männern solcher Orte das Ballspiel zu empfehlen, welches keine theuern Geräthschaften erfordert alle Muskeln kräftigt und besonders die Lunge entwickelt. Wer wird sich das Perdienst erwerben, das Schlagballspiel, das einst nicht blos in den Ballhäusern von dem Reichen, sondern in manchen Gegenden Deutschlands, z. V. in Thüringen, auf dem Gemeindcanger von Alt und Jung geübt wurde, zu der Geltung zu bringen, in welcher in England mit Recht das Cricket steht? Ein solches Spiel wäre den Webern jedenfalls nützlicher, als das Vogelschießen. Der Wettschuß scheint hier sehr beliebt zu sein, fast in jedem Dorf ist an einem oder mehreren Häusern eine Scheibe als Siegeszeichen angenagelt. Vielleicht ist die Häufigkeit des „Ritterstechens" (das Schießen nach einer Scheibe, die ein Ritterbild trägt) eine Erinnerung an die Faustrechtzeitcn, wo sich die sechs Städte mit den Raubrittern maßen. Doch hat das Wettschicßcn hier nicht den Ernst und die allgemeine Bedeutsamkeit, wie in der Schweiz; für die Mehrzahl der Gäste sind die andcrweiten Lustbarkeiten der Hauptreiz. Alte volksthümliche Trachten und Gebräuche haben sich hier so wenig erhalten können, wie in andern Industrie- 97 gcgenden. Das Volksthum der lausitzer Weber bietet so wenig Anklänge an das wendische, daß man zu dem Glauben kommt, es haben in diesen Gebirgsorten gar nie Slawen gewohnt. Vielleicht entdeckt ein gründlich eingehender Forscher wenigstens in den Orten, deren Namen aus dem Wendischen hcrzustammen scheinen, einzelne Neste des Slawismus. Die Mundart der lausitzcr Weber ist, je weiter ihre Wohnorte nach Süden liegen, desto härter und der deutschböhmischen ähnlicher. DaS u wird dunkel gesprochen, das o klingt wie u, i» wandelt sich oft in i, <-i und <^u zu oi un«, statt „nicht" hört man das süddeutsche nii. Als die sonderbarste Mundart gilt im Lande die von Cunewalde, und wirtlich muft hier ein Fremder, der manche rauhe Ge-birgsmundart gehört, gut Acht haben, um Alles zu ver-stehn. Co mittheilsam und rückhaltlos, wie die meisten Erz-gebirger, plaudern die lausitzer Weber selten mit dem Fremden; viele machen mehr den Eindruck kluger Handelsleute, als waldmäftig naiver Naturkinder. Die ältern tragen oft einen sorglichen Zug, dem man anmerkt, daß sie die Noth der schweren Zeit erlebt haben. Die Kost der Weber kann kurzweg als die crzgcbirgi-sche bezeichnet werden, ihre Hauptbestandtheile sind drei Mahlzeiten aus Kaffee und Kartoffeln; als Zwischenkost kommt — weit öfter als im Erzgebirge — ein Butterbrot vor. Selbst die Wenden, die sich doch durch ländlich einfache Kost auszeichnen, spotten über die Armethei der Weberkost. Von den Bewohnern dieser Gebirgsorte hört man indeß, so wenig wie auf dem Erzgebirge, Zweifel über die Zuträglichkeit oder Klagen über die Einförmigkeit ihrer Gerichte. Auch vernimmt man nichts von Auswanderun-gen oder auch nur von Sehnsucht in die Ferne. Das Einkommen der meisten Weber ist so gering, daß man die Nothwendigkeit der äußersten Einschränkung einsieht. Der Wochenuerdicnst Vieler beträgt nicht mehr als 1—i'/z Thaler; deshalb muß auch die Familie wacker bei !l!and und ^!culc tcr sächsische» Vausch, 7 98 dem Handwerke helfen und viele Hausväter halten „Wirkmägde" als Gehilfinnen beim Weben. Die fleißigsten Wirkmägde (fremde Mädchen, welche im Haufe wohnen, die Kost — außer dem Butterbrote — haben und in der Woche neben der Arbeit an, Webstuhle nur kleine wirthschaftlichen Geschäfte besorgen, an: Sonntag aber ganz frei sind) erhalten 25, Groschen Wochenlohn. Die Sparsamkeit der Hausväter wird gerühmt. Viele tragen ihren Traurock bis in den Sarg, die meisten betreten das Wirthshaus nur selten, Trinker kommen wenig vor. Dagegen soll die Jugend nicht eben sparlustig sein; die Wirkmägde gelten für putzsüchtig und die Burschen sollen oft an einem Tanzabend ein Wochenlohn verjubeln. Als musterhaftes Gegenstück wurden in Bautzen die Wenden nicht nur als Dienstboten, sondern auch als Fabrikarbeiter genannt. In der Neigung Zu Laufereien bei Gelagen sollen die Deutschen den Wenden nichts hinausgeben; an einzclnen Orten haben, dem Gerüchte nach, Prügelkassen bestanden aus denen die Gerichtskosten für derartige Lustbarkeiten bestritten wurden. Die Stimmung der Hausindustriellen gegen die Fac-toren scheint nicht überall eine so „patriarchalische" Zu sein, wie „um sie den wendischen Hofarbcitern ihren Gutsherrn gegenüber zuschreibt. Auch ist das Gemeindeleben in den Weberorten nicht immer so glatt und Mfnedlich verlaufen, wie in den wendischen Bauerndörfern. Die Chronik von Schönau ist reich an Mittheilungen über Streitigkeiten gegen den Stadtrath von Zittau als Erbherrn und Kirchcnvatron und gegen die ihm eingesetzten Pfarrherren. Ein geistreicher Geolog, der erzählt, „daß die Bevölkerung der nördlichen Lausitz sich bei den politischen Bewegungen weit mehr der radicalen Richtung zugeneigt, als die des südlichen, vorherrschend auf Landwirthschaft angewiesenen Theiles", hat auf die Kohlenlager hingedeutet, welche „durch Anhäufung starker, dem Wechsel des Lebens preisgegebener Bevölkerung, sowie zu lebhaftem focialen Verkehr beitragen 99 und vielfach die Centralpunkte politischer Erregung geworden sind." In Vezug auf manche andere Landschaft, besonders auf die Striles-Vezirke von England, mag diese geologische Herleitung vollkommen begründet sein; in Bezug auf die Lausitz dagegen erscheint sie als ein Vorgriff, da die hiesigen gesellschaftlichen Zustände lange vor Entdeckung und Ausnutzung der Kohlenlager angelegt und ausgebildet worden sind. Sie sind die Folge der startentwickelten Hausindustrie. Von würdigen Männern, welche durch ihr Amt in täglichen Verkehr mit den: Volke treten und in sittlichen Fra^ gen eher ein strenges als mildes Urtheil fällen, hörte ich den religiösen Sinn der Weber anerkennen. Die Kirche wird fleißig besucht; viele Männer lesen zu Hause alte Erbauungsschriften, die sich von den Großeltern auf die Enkel vererbt haben. Ebenso wird die Verträglichkeit der in einer Stube zusammen vorhandenen Familien gerühmt; selten hört man von Zwist, ja die hausnachbarliche Freundlichkeit steigert sich oft zu aufopfernder Freundschaft in Noth und Krankheit. Es wurden rührende Fälle erzählt, wo ein HauIgenoß mit wahrem Edelmuthe verpflegt wurde. Kaum wird auch in der Lausitz die Erscheinung, welche sich in andern Industriegegendcn geltend »nacht, ausbleiben, das; die Hausindustrie mehr und mehr der eigentlichen Fabrikarbeit Platz macht. Das Handspinnen in den Wohnungen ist schon fast verschollen, einzelne Fabrikwebereien sind eröffnet, die Fertigung mancher Stoffe wird der Handstuhl dem Kraftstuhl überlassen müssen. Möge die Erfahrung lehren, daß diese wichtige Aenderung der socialen Verhältnisse eine ebenso gute Einwirkung auf die Sittlichkeit bewährt, als sie Verbesserung der materiellen Lage in Aussicht stellt l ?» 100 VI. Die Vierstädtc. Für Touristen, welche modischen Vergnügungen und hohen Kunstgenüssen nachgehen oder Industrie und Handel in höchster Entwickelung betrachten wollen, gehören selbst die größten Städte der sächsischen Lausitz zu den kleinen Orten, die man höchstens beim Zehnminutenhalt vom Bahnhof aus flüchtig ansieht. Mittelstädte uon 10,000 Einwohnern, die weder in weltberühmter landschaftlicher Schönheit prangen, noch von Fürstenhöfen mit dem Glänze der Kunst und des edlen Luxus bestrahlt sind, noch durch alterthümliche Bauart ein versteinertes Stück Mittelaltcr darstellen — solche Städte zählen ja bei der Mehrheit zum großen Troft der Orte, an denen man so rasch als möglich vorübereilt. Dresden und Prag, oder Dresden und Breslau sind darum die Haltepunkte der meisten fremden Lustreisenden, welche die Eisenbahnen der Lausitz benutzen. Ganz anders reisten unsre Vorfahren. Wie sorgfältig und liebevoll beobachtete Goethe auf seinen Ausflügen auch die kleinsten Zwischenstationen! Mit anmuthiger Kleinmalerei schildert er das Landstädtchen, in dessen von Fliegen durch-summtem Gasthof er Mittagsrast hielt und sich vom ehrsamen Fleischermeister über die Nahrung des Ortes, über Feld- und Weinbau erzählen ließ; mit genügsamer Natur-freudc beschaut er die einfachsten Landschaften und sucht sich ein bleibendes Bild derselben zu erwerben; überall sammelt er die Ortszeitungen, um das Leben und Treiben der Bevölkerung kennen zu lernen; mit wahrer Pietät beachtet er jedes Werk des Kunstfleißes, und wär's auch nur ein alter Thorthurm oder ein hübfchcr Litzcnbesatz an Stuhlbeschlägen. Für einen solchen Meister im Beobachten und Darstel- 101 len würden wol nwnche ganz kleine Städtchen der Lausitz nicht undankbare Vorwürfe abgeben. In zweien derselben (in Pulsnitz und Königswartha) erhebt sich ein von schönen Parkanlagen umgebenes Schloß; die meisten — namentlich Bernstadt und Oftritz — liegen in so hübscher Landschaft, daß diese selbst für eine Art Park gelten könnte' alle sind saubere, gut gehaltene, gewerbfleißige Orte. Geschichtlich interessant ist das im Jahre 1073 von vertriebenen böhmischen Protestanten angelegte Neusalza und das katholische Schirgiswalde, das erst im Jahre 1845 förmlich an Sachsen gekommen ist; es war bei der Grenzregelung vergessen worden und lag nun halb herrenlos auf seiner aussichtreichen Höhe. Ist nicht ein solches zwischen zwei Stühlen niedergesetztes Städtchen ein seltner, zu einer humoristischen Novelle geeigneter Fall? Am meisten emporstrebend und durch seine Lage begünstigt erscheint die Tuchmacherstadt Vischofswerda, deren Fabrikschlüte man von der Eisenbahn aus rauchen sieht; die übrigen „Landstädte" der Lausitz liegen von der Eisenstraße, welche in der Regel größeren Orten ebensoviel Zuwachs zuführt, als sie von kleinen ablenkt, ziemlich fern; nur Herrnhut hat das Glück, von dieser Schlagader des Verkehrs berührt zu sein. Ein höheres Interesse als diese Landstädte haben die Vierstädte der Lausitz, nicht sowol wegen ihrer Größe — denn alle sind nur mittlere Prooinzialstädte — als wegen der Bedeutung, die sie für die politische und Culturgeschichte der Provinz gehabt haben. Die landschaftliche Umgebung der Vierstädte entbehrt zwar der bewältigenden Größe und üppigen Schönheit, aber nicht der Anmuth und Mannigfaltigkeit. Am wenigsten malerisch ist wol die .Umgebung von Kamenz: doch verleihen ihm tiefe, um den Felsenhügel der Stadt gewundene Wiesengründchen und der Fernblick auf die dunkeln Waldsäume der Haide Annehmlichkeiten, welche den Neid mancher Stadt des Tieflandes erregen könnten. Die Stadt Bautzen, welche auf einem nach der Spree schroff abstürzenden Granitfelsen fußt, Zeigt schon durch ihre Lage, 102 daß sie als fester Ort Schirm gewähren sollte und trägt in ihren Mauern noch immer Beweise tüchtiger Wehrkraft; sie macht den Eindruck des stolzen, reichen Städtethums der Vorzeit. Löbau hat sich am Fuße seines schönen Verges auf dem ziemlich steilen Rande des Fluftthales eine hübsche Lage erwählt; der weiten und freundlichen Aue von Zittau geben bedeutende Verge einen wirksamen Hintergrund. Dem Freunde des Alterthums bieten diese Städte nicht eben reiche Ausbeute, da sie, durch Verwüstungen des Krieges und durch Vrände fast vollständig zerstört, in ihrer jetzigen Gestalt der neueren Zeit angehören. Aautzen und Zittau haben schwere Belagerungen erfahren, Löbau und Kamenz sind im letzten und im laufenden Jahrhundert beinahe gänzlich abgebrannt. Unter den Kirchen der sächsischen Lausitz genießt blos die Nuine des Oybin die Ehre, in tunstgeschichtlichen Handbüchern angeführt zu werden. Nächst dieser svätgothischcn Kirche dürften einzelne Theile der Stadttirche von Ka-mcnz, namentlich der Chor, die ältefktn Neste kirchlicher Bauart darstellen. Die Simultankirche zu Vautzen bietet besonders an ihrer Langseite, deren Fenster mit reichem Fischblasen-Maßwerk geziert sind, einen stattlichen Anblick. Malerisch wirksam sind die beiden, von der Stadt umschlossenen. Kirchenruincn Vautzcns, die Franziskaner- und Ni-kolaitirche; besonders der Fricohof der ersteren, dicht am schroffen AbHange des engen Sureethales gelegen, bildet bei Mondschein ein höchst anziehendes Architekturbild. Unter den kirchlichen Neubauten verdient durch schlichte Würde Anerkennung die dem wendischen Gottesdienste geweihte Klosterkirche zu Kamenz und durch die Eigenthümlichkeit ihrer Bauart die Hauvttirche von Zittau, ein Werk Schintels, Die Decke ihres mächtigen Schisfes ist platt geschlossen, der Altar steht in einer flachen, fensterlosen Nische. Der Plan ist edelschön, die Ausschmückung zierlich und reich, das Ganze wie jeder Theil zeugt von einem würdigen Sinn für klare, maßvolle Formen. Und doch 103 wird auch ein Beschauer, der manche weltliche Bauten des Meisters als unübertreffliche Schöpfungen bewundert und sein großes Verdienst um die Belebung der classischen Formen hochschätzt, in diesem kirchlichen Baustyl eher einen bedeutsamen Versuch, als eine glücklich festgestellte Norm finden. Einzelne Werke alter Bildncrkunst finden sich hier und da. In Kamenz werden in beiden Kirchen und auf dem Rathhause große Altarschnitzwerke aufbewahrt. In Zittau besteht neben der reichen Stadtbibliothek eine Sammlung von Kunstwerken mannigfaltiger Art (germanische oder slawische Graburnen, alte Waffen und Rüstungen, Kupferstiche und Bilder und vielerlei Curiositäten), welche manches Sehenswerthe enthält. Unter den öffentlichen Bauwerken, welche dem Alterthum entstammen, zeichnen sich aus: der Äathhausthurm von Löbau, von dessen Zinnen zufolge einer alten Stiftung täglich heitere Klänge erschallen, und die Stadtmauer von Bautzen, welche sich kühn um den Granitabhang des Stadtfclsens schlingt und mit trotzigen Warten und Basteien reich besetzt ist. Einige alte und etliche aus der Noccocozeit herrührende Thorthürme erhöhen noch die Reize des stattlichen Gesammtbildes von Budissm. Die übrigen Vicrstädte haben sich ihrer Befestigungen bis auf wenige Neste entledigt; in Zittau ist erst vor kurzem ein großer Theil der Mauern, die so manchen Sturm erlebt, abgetragen worden, so daß fast nur einige barocke Thorthürme übrig blieben. Anmuthige Spaziergänge mit Gebüschen und Blumenbeeten bilden jetzt den Umring der einst mit festen Mauern umgürteten Stadt. Von den Nathhäusern, in und vor denen so manche bedeutsame Auftritte vorgingen, ist leider keins erhalten. Die Nathhäuser von Bautzen und Löbau, kaum über hundert Jahr alt, sind nüchterne, von benachbarten Privat-häuscrn überragte Gebäude. In Kamenz und Zittau hat man versucht, Neubauten zu errichten, welche sich durch Größe und höheren Styl als die Brennpunkte des städtischen Lebens auszeichnen. Das neue Nathhaus von Kamenz, 104 das sich durch einen schlanken Thurm, durch zierliche Spitzpfeiler an den Ecken des bunten Dachs und durch die Nundbogenfenster und Altane seiner Facade hervorhebt, ist der Stolz der Stadt, welcher einen solchen Bau nicht viele gleich große Orte nachthun werden. Noch größer und durch ernste Würde ausdrucksvoller ist das Rathshaus von Zittau, an dem man vielleicht blos aussetzen tann, daß der alte Thurm, der sich in den, Neubau nicht symmetrisch einfügen ließ, stehen geblieben ist. Die Bildsäulen der Gerechtigkeit und Weisheit am Portale, eine Treppe, die manchem Schlosse nicht übel anstehn würde und ein prächtiger Festsaal zeugen von dem Reichthum und Kunstsinn der Gemeinde, wie denn überhaupt Zittau stattlicher und vornehmer erscheint, als manche weit größere Ttadt. Imposant wirkt das Schloß von Bautzen, die Ortenburg, durch seine ^age und Massigkeit. Treppenartige Giebel, deren Absätze durch Eircumflexschnörlel verbunden sind^ geben den hochaufstrebenden, von wenigen schlichten Fenstern durchbrochenen Wänden einen kühnen Schwung. Pas Thor, an dem ein Steinbild des Königs Matthias angebracht ist, trägt die IahrZahl 1580. Ein Saal des Schlosses soll interessante Fresken enthalten. Ein ehrenvolles Zeugniß für die Bierstädte stellen ihre Schulgebäude aus, fast lauter Neubauten, welche zu den stattlichsten Häusern der Orte gehören und deren sich keine Großstadt zu schämen brauchte. Unter den Privathäusern haben einige hübsche Renais-fance-Vauten in Bautzen und Zittau das meiste Anziehende. Die sauberen Straßen der Vierstädte sind meist mit Häuserreihen besetzt, wie man sie in allen jungen Mittelstädten findet. In den von der Eisenbahn berührten Städten macht sich der Einfluß der Bahnhöfe auf die Architektur sichtlich geltend. Wenn auch hier nicht, wie an andern Orten Sachsens, neue Straßen ober gar Stadtviertel wie Spargel aus der Erde wachsen, so entsteht doch überall eine Bahnhofstraße mit ansehnlichen Bauten, deren Styl man den Eisenbahnstyl nennen könnte. 105 In ihrer Stellung zum Weltverkehr sind die drei östlichen der Vierstädte im Vortheil vor Kamenz, welches von der Eisenbahn abliegt. Indeß beweist dieser rührige Ort, daß er sich weder durch diese Ungunst der Lage, noch durch Unglücksfälle niederbeugen läßt. Die günstigste Stellung hat das am Knotenpunkte der schlesischen und böhmischen Vahn gelegene Löbau, dessen Kormnärtte dadurch bedeutend geworden sind; diese Stadt soll unter ihren Schwestern am bedeutendsten wachsen. Etwas geringer ist der Zuwachs von Zittau, was die Folge der Mitwerbung der böhmischen Elbbahn sein mag, durch welche die lausitzer böhmische Vahn beeinträchtigt wird. Am wenigsten Zunahme zeigt die alte Hauptstadt Vautzen, deren Einwohnerzahl sogar längere Zeit still stehen soll. Die Folgezeit wird lehren, ob diese Städte verstehen, sich bei ^der Ge-werbefreiheit so gut zu stehen, wie Görlitz, das seine Mitgenossen am Sechsstädtebunde bedeutend überholt hat, Ein besonderes Interesse hat unter den Vierstüdten die kleinste als Geburtsort des größten Laufitzers. Doch wird wol zur Heimat keines unserer Dichterfürsten weniger gewallfahrtet, als zu Lessings Vaterstadt. Die Ursache dürfte nicht blos in der Abgelegcnheit des Ortes, der zumal arm an Reliquien ist, auch nicht allein in dem Umstände zu suchen sein, daß Lessings Verdienste nur den Höhergebildeten, und unter diesen weniger den enthusiastischen Frauen und Jünglingen, als den ernsten Männern bewußt sind; der Hauptgrund liegt wol in Messings Charakter, seinem männlich-selbstwüchsigen Wesen, das sich nach ureigenem Vildungstriebe gestaltete, ohne sich viel von äußeren Eindrücken beeinflussen zu lassen. In Lessings Schriften kommen nicht viele Stellen vor, die ihn als Sachsen, und sehr wenige, die ihn als Lausitzer kennzeichnen. Einer Hindeutung auf seine Heimat erinnern wir uns nur aus einer Stelle eines Erstlingslustsvielcs, wo er der wendischen Sprache scherzhaft erwähnt. Lessing würde seine Vaterstadt, wo er in reiferen Jahren nie einen längcrn Aufenthalt nahm, kaum wieder kennen. 106 Sein Aelternhaus ist von der Erde verschwunden, das alte Kamenz ist ganz umgewandelt, aus der Vorzeit sind nur zwei Kirchen und ein Thorthurm übrig geblieben. Und doch fände er als Wiederkömmling wol einige liebe Erinnerungen. Wahrscheinlich würde er die im Chor der Kirche aufgestellten Schnitzbildcr und die in den Schränken der Sakristei verwahrten Meßbücher und Pergamenturkunden, die der wißbegierige Knabe jedenfalls oft sinnig betrachtet hat, mit Theilnahme beschauen; gewiß würde sein Auge mit Rührung auf den Grabsteinen verweilen, welche jetzt in der Vorhalle der Kirche aufgestellt sind. Da steht der Grabstein seines Großvaters, des Herrn Theophilus Messing, geb. 1641 zu Schkeuditz, der Bürgermeister von Kamenz war; daneben der seines Vaters mit der Inschrift: „Hier ruhen die Gebeine N. I. G. Lessing's, ka8t. prim, zu Kamcnz, geb. 1693, Sohn Theophili L., ging aufs Gymnasium nach Görlitz, 1712 auf die Universität nach Wittenberg, ward in seiner Vaterstadt 1717 zum Prediger, 1729 zum Archidiakonus und 1732 zum I'u,«tor z)liwkrinn berufen, feierte bei vollkommenen Leibes- und Geisteskräften 1766 sein Amtsjubiläum, starb nach seinem Wunsche, ohne bettlägerig zu sein, sanft und selig im 77. Jahre seines Alters, den 22. August 1770." — Auf dem Grabmal seiner Mutter, einer Pastorstochter, steht unter Anderm: „Sie genoß 45 Jahre das Glück einer vergnügten Ehe, lebte im Wittwenstand 7 Jahr und starb sanft und selig im 74. Jahr ihres Alters 1777." Die Stätte, wo Lefsings Acltcrnhaus stand, liegt dicht an der Kirche auf dem Gipfel des Hügels, an dem die Stadt emporsteigt. Eine Granitplatte bezeichnet die Stelle, welche durch ein Standbild geziert werden soll. Wer beträte dieselbe, ohne zu ernstem Sinnen angeregt zu werden? Nar sie doch der Schauplatz, wo einer der größten Deutschen aufkeimte und seine Eigenart gegen den Willen liebender Aeltern durchkämpfen mußte, welche den talentreichen Sohn in dieselbe ftillehrbare Laufbahn einzuführen strebten, in der seine Vorfahren gewandelt 107 waren. Hier spielte der Knabe, wenn er sich nicht mit feinen Lieblingen, den Büchern, beschäftigte) von hier wanderte er hügelab in die Stadtschule, ivo er gewiß manche Probe frühreifen Geistes ablegte; hier trat der Leipziger Student, von der kalten Winterreise erschöpft, an jener Weihnacht ein, als er sich bei dem erzürnten Vater über feine geniale Art, Bildung zu suchen und schöpferisch zu wirken, verantworten mußte! Wer die Zwiegespräche wüßte, die der strenge Oberpfarrer mit seinem Sohn in jener Zeit von Weihnacht bis Ostern führte, wo der genesende Jüngling im älterlichen Hause blieb; wer sich in die Kämpfe versetzen könnte, die in der Seele des jungen Dichters damals wogten, als es sich um den Verlust des Aeltcrnsegens oder um Aufgeben des Triebes handelte, den der Genius ihm eingepflanzt hatte! Ob wol der würdige Pastor, der das Erscheinen mehrerer Meisterwerke seines Sohnes erlebte, wenn er die Emilia Galotti, die Minna von Barnhelm oder den Laokoon las, anerkennen lernte, daß sein Gotthold doch Recht gehabt, das unsichere und vor der Welt wenig ehrende Loos des Komödienschreibers und amtlosen Literaten zu wählen? In der Kindheit Lcssings verseht lebhaft eine Reliquie, welche in dem nach dem Dichter benannten Stift *) aufbewahrt wird. Es ist ein altes Oelbild, das den etwa sechsjährigen Gotthold nebst einem jüngeren Bruder in ganzer Figur darstellt. Der letztere, in Schwarz gekleidet, führt ein Lamm; der ältere sitzt in scharlachrother Galatracht neben einem Haufen Quartanten, von denen er einen Band geöffnet hat. „Mit Büchern will ich genialt sein oder ich lasse mich gar nicht abmalen", hatte der kleine Gelehrte ausgerufen. Er blickt mit klugen, hellen Blicken vor sich *) Das ^ejsiugsstift ist eine durch die Bemühung eines verstorbenen Äamcnzcr Arztes, Dr, Vönijch, im Jahre 1524 aus milden Beiträgen begründete und durch Liebesgaben, sowie durch ständische Zuschüsse untcrhallcm Heilanstalt, welche am südlichen Fuße des Kirchcnlmgels am Ufer eine« Teiches in freundlicher Umgebung liegt. Die Einrichtungen <ür Kiantenpflegc sind vortrefflich. 108 hin und man glaubt in dem Gesichtchen des kleinen Altklug die Grundzüge des schönen, geistvollen Kopfes zu erkennen, der uns aus den Bildnissen des Mannes vorschwebt. Das nicht ohne Verdienst gemalte Bild soll — was Wun-der nimmt — noch nicht durch Kupferstich oder Steindruck vervielfältigt sein. Wenn irgendwo, ist es wol an den Geburtsstätten großer Männer verstattet, stillen Träumereien nachzuhängen über die Frage, welchen Einfluß die ersten Iugendeindrücke auf den Genius ausgeübt haben mögen. Das Erscheinen von geistigen Heroen ist und bleibt freilich trotz aller biographischen, bis ins kleinliche gehenden Forschungen ein unbegreifliches Wunder: aber Anregungen und Fingerzeige erhält doch auch der genialste Geist durch die Natur und die Menschen seiner Heimat. In Bezug auf Lessing steht wol fest, daß der sittlichstrenge oder gar herbe, gründlich gebildete und eifrig fortstudirende Vater vom bedeutendsten Einfluß auf den Knaben und Jüngling gewesen ist; sollte aber das Leben seiner Heimat ganz wirkungslos geblieben sein? Könnte nicht der Aufenthalt in einer Stadt, wo deutsch und wendisch gepredigt wird, den Knaben früh zur Auffassung nationeller Sonderheiten angeregt haben, in welcher später der Dramaturg sich hervorthat? Sollte die Anschauung vom Klosterlcben, die der Knabe im nahen Marienstern gewinnen mußte und das Hörensagen von Herrnhut nicht dunkle Ahnungen von dem Gedanken erweckt haben, der in der Erzählung von den Ringen seine Blüthe fand? Vielleicht wär' es für einen Lausitzer Literaturfreund keine undankbare Aufgabe, die Einflüsse aufzuspüren, welche auf Lessing, den von provinziellen Eigenheiten freiesten deutschen Dichter, in seiner Heimath eingewirkt haben. VII. H c r r n h u t. Schaulustig recken sich die Köpfe aller fremden Reisenden aus dem Dampfwagen, sobald sich derselbe dem Hal- 109 tepunkte nähert, dessen Name Allen vertraut ist. Gehört doch das kleinste und jüngste Städtchen der Oberlausitz zu den weitestbetannten Orten nicht nur von Sachsen oder Deutschland, sondern von der ganzen Erde. An den eisigen Küsten Grönlands und im gluthigen Kafferlande, in den schwülen Niederungen Surinams und auf den luftigen Höhen Tibets, wo die Eingcbornen noch kein Sterbenswörtchen von der leipziger Messe und den Dresdener Kunstschätzen gehört haben, lernen Halb- und Ganzwilde den Namen dieses Städtleins voll Verehrung stammeln, sprechen ihn Hunderte von Sendboten des Evangeliums mit Heimmeh aus. Wie viele unter fremden Himmelsstrichen ergraute Missionäre mögen sehnsuchtsvoll an die traute Gegend des Hutberges deuten, wo ihre Kinder erzogen werden, wo sie selbst dereinst ausruhen dürfen und nach ihrem „Heimgang" auf dem Friedhofe schlafen werden! Es ist eine kleine Weltstadt dies Herrnhut, der Stammort einer Gemeinde, die in kaum fünf Menschenaltern so emporgewachsen ist, daß sie Ausläufer in in alle Erdtheile treiben konnte. Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts bedeckten moorige Wiesen und gestrüppartiger Niederwald den um den Hutberg liegenden Theil des Gutes Verthelodorf, welches der Frau von Gersdorf gehörte. Im Jahre 1722 fällte Christian David den ersten Vaum mit dem Ausrufe: „Hier hat der Vogel sein Haus funden und die Schwalbe ihr Nest, nehmlich Deine Altäre, Herr Zebaoth!" Die mährischen Arüber, welche sich hier, wo sie Duldung hoffen durften, Blockhütten erbauten, erregten bei den Lausitzcrn welche die nahe Landstraße begingen, halb Mitleid, halb Spott; was wollten Handwerker auf der rauhen, undankbaren Flur beginnen, der es sogar an Trinkwafser fehlte? Wirklich würden die armen Ansiedler trotz ihrer Genügsamkeit wahrscheinlich verkommen sein, wenn ihnen nicht der Enkel der Gutohcrrin, der bald das Gut käuflich übernahm, der junge Graf Zinzendorf, Unterstützung gewährt 110 hätte. Der Erlös der beiden Messerschmiede, welche sich zuerst angebaut hatten, betrug im ersten Halbjahre nur zwei Groschen. Aber uon allen Colonien tragen diejenigen die sicherste Bürgschaft des Gedeihens in sich, welche von Männern begründet werden, die um der Religion willen die Heimat verlassen. Verdanken doch auch die Vereinigten Staaten ihre Grundlage zumeist Puritanern, Quäkern und deutschen Mennomtcn. Ein Jahr später zählte die Gemeinde 26, fünf Jahre danach 300 Glieder, von denen die Hälfte aus Mähren zugewandert war; im Jahre 1750 lebten hier 1600, zehn Jahre später gar 2000 Einwohner. Sie nährten sich schlicht und recht durch Niollespimien und allerlei Gewerbe, bald wußten sie durch Rührigkeit und Rechtlichkeit einen bedeutenden Leinwandhandel zu begründen. Der Nahrungsstand der betriebsamen und haushältigen „Hennhuter", wie sie vom Volke genannt wurden, ist bei allem Wechsel der Zeiten ein so gesicherter und gedeihlicher gewesen, daß man unter ihnen, wie unter den Quäkern, cin wirtlich armes Genieindemitglied nicht findet, und daß der Landesregierung kaum durch irgend einen Theil der Bevölkerung weniger die leidige Sorge um den Pauperismus erweckt wird. Und dabei sorgten nicht etwa die Einzelnen blos für sich. Die Gemcindcangelegenhcitcn fanden hier, wie in allen Brüdergemeinden eine musterhafte Pflege. Für Herstellung von Straßen und Brunnen und Spaziergängen, für Gesundheits- und Sicherheitspolizei und besonders für Hebung des Schulunterrichts geschah in Herrnhut so viel, daß kaum große, reiche Städte im Verhältniß so viel geleistet haben. Bestehen doch für diese Gemeinde von etwa tausend Seelen sieben Klassen der öffentlichen Schule. Nas aber in weit höherem Maße Bewunderung erregt, das ist die Thätigkeit der hier gestifteten Genossenschaft auf dem Felde der religiösen Wirksamkeit. Die Brüder-umtat, welche sich im Jahre 1727 zu Herrnhut als Erneuerung der mährischen Brüder bildete, hat nunmehr Ill Tochtergemeinden im Norden und Süden Deutschlands (in der sächsischen Lausitz eine, im Jahre 175<; angelegte zu Kleinwelta bci Bautzen), in Dänemark und Schweden, in den Niederlanden, in Großbritannien (hier allein 14 größere Gemeinden), vier in Südrußland und eine große Anzahl in Nordamerika herangezogen; seit 1732, wo die ersten Missionare ausgesandt wurden, sind in Grönland, Labrador und Nordamerika, in Westindien und Guyana, in Südafrika und seit kurzem auch in Australien und Asien Missionsanstalten gegründet worden. Im Jahre 185,8 waren alif 72 Atissionoplätzen 3U4 Arbeiter beschäftigt und die Missionare, auf welche 86,881 Thaler verwandt wurden, zählten 74,18? Gemeindeglieder'^. Jetzt gehören gegen eine halbe Million Christen zur Brüdergemeinde. Fürwahr, das sind Beweise eines gesegneten Eifers, gegen welche die Almosenvertheillmg der reichen Klöster und die Wirkungskreise vieler geistlichen und weltlichen Genossenschaften weit zurückstehen. Unterstützt wurde das materielle Gedeihen Herrnhuts durch manche äußere Verhältnisse, welche diesen Ort mehr als andere Orte der Provinz begünstigt haben. Vom Staat erfuhr die junge Gemeinde wol anfangs einige der Maßregeln, denen junge Cectcn selten entgehen; aber sie waren vorübergehend und dienten nur, den Gemeingeist anzuregen. Die Kriege, welche vielen andern Orten das schwerste Unheil brachten, berührten den kleinen Ort, der fremden Heerführern interessant war und deshalb oft wirksame Schutzbriefe erhielt, nur mit leichter Hand,, Herrnhut erlitt weder Brand noch Plünderung, noch Seuchen. Die Lage des Ortes war für den Handel durchaus nicht so ungünstig gewählt, wie es anfangs erschien; als bessere Landstraßen angelegt und Eisenbahnen gebaut wurden, *) Schmarda, der für die Schwächen dcr Missionsanstalteli ein scharfe« Auge hat, erklärt, daß die Herrnhutcr in Missionssachen das einzige, wenn auch nicht in allen Einzelheiten nachahmmigs-werthe Muster dildm (Reise um die Erde, 2. Band, 1M1). 112 fand Herrnhut die größten Erleichterungen des Verkehrs. Aber trotz aller dieser Vergünstigungen muß man die Erfolge der Gemeinde — wenn man nicht alles Gedeihen unmittelbar von der Fürsorge des Heilands ableiten will, wie die Herrnhuter selbst pflegen — großtenthcils von der tüchtigen und zweckmäßigen Art ableiten, in der die Einzelnen ihre Haushalte, die Gemeinde ihre communalen und die Unität ihre genossenschaftlichen Angelegenheiten besorgt hat. Man sollte meinen, es müsse jeden Lustreisenden locken, vom Leben und Treiben einer so eigenthümlichen und trieb-träftigen Genossenschaft nähere Kunde zu erwerben; aber nur wenig Fremde nehmen sich die Zeit, um eigene Anschauungen von Herrnhut zu gewinnen. Welch oberflächliche und irrthümliche Ansichten geben sich in den Unterhaltungen kund, die sich im Eisenbahnwagen angesichts von Herrnhut entspinnen! Da hört man häufig berichten: die Ehen werden stets durch das Loos geschlossen: jeder junge Mann, den das Loos trifft, muß sich zu den Kaffern und Eskimos verbannen lassen u. s. w., und gar Mancher, der Hcrrnhut besucht hat, weiß von nichts zu berichten, als von der Farbe der Haubenbänder, an der sich Mädchen, Frauen und Wittwen erkennen lassen, von den Handlungen, wo man nicht „handeln" (d. i, markten) dürfe, von den beliebten Waaren der Herrnhuter Bäcker oder den kostbaren Missionscigarrcn. Thatsachen zu berichten, über welche das Conversations-Lexiton Aufschluß giebt, wäre rein unnütz; hoffentlich erscheint es einem Leser, der den Hauvtort der Brüdergemeinde nicht besucht hat, nicht ebenso zwecklos, wenn hier einige Anschauungen, wie sie ein Unbefangener bei kurzen: Aufenthalte gewinnt, mitgetheilt werden. Einem, der irgend eine deutsche Brüdergemeinde be-fucht hat, Herrnhut zu beschreiben, ist fast unnöthig. Alle Orte, wo eine größere Anzahl Brüder wohnen, haben ein städtisches Aussehen, weil die Herrnhutcr fast immer, auch wenn sie unter Bauern leben, städtische Gewerbe treiben. N3 Dies scheint ein wesentlicher, obgleich oft übersehener Cha-ratterzug. Die sociale Verfassung dieser Genossenschaften eignet sich besser für Industrielle; für reine Ackerbauer in Deutschland wäre ein Chorhaus mit commumstischen Satzungen wahrscheinlich eine Unmöglichteil. Treffliche Straßen, mit gut gehaltenen Baumreihen besetzt, führen in die mauer- und thorlofe Stadt. Längs ihrer geradlinigen saubern Gassen reihen sich in traulicher Gedrängtheit die Häuser, deren Bauform und Haltung man geradezu als Herrnhuterstyl bezeichnen könnte. Alle Privathäuser sind einstöckig, klein, ohne alle Ansprüche auf Eigenart und Schönheit, darum ohne die bizarren Formen und schreienden Farben, in welche „kunstsinnige" Kleinstädter häufig verfallen, aber auch einförmig und nüchtern. Alle geben eine an die holländische erinnernde Sauberkeit kund, das ganze Haus erscheint blink und blank, frisch gefirnißt und gescheuert. Blumen werden in den halb verhüllten Fenstern und in Zierlichen Hausgärtchen eifrigst gepflegt. Alle Gebäude, auch die Handlungen und Fabriken machen den Eindruck stiller, ehrbarer Landschulen oder Pfarrerwohnungen. Denselben Stempel der Sauberkeit und Ehrbarkeit, aber auch der Nüchternheit tragen die öffentliche!, Gebäude, nicht blos die Chorhauser mit ihren fensterreichen Mansarden, sondern auch die Vetsäle. Man will die Stätte der Gottesverehrung nicht durch einen kühnen Thurm, durch eine schwungvoll gewölbte Decke, durch den Schmuck der bildenden Künste auszeichnen. Der Betsaal ist ein mäßig hohes, helles, weiftes Zimmer, dessen Ausstattung nicht blos höchst schlicht, sondern sogar in mancher Hinsicht unschön genannt werden darf. Findet man die äußere und innere Beschaffenheit der Baulichkeiten Herrnhuts sehr ähnlich, wie in andern Brü-derorten, so meint man bei der Einkehr im „Gemeinlogis" irgend e- r Herrnhuter-Ansiedlung sogar, man werde überall von demselben Bruder empfangen, und fühlt sich fast verfucht, den Wirth, der mit rücksichtsvoller Freund-Land und Leute der sächsischen Lausitz. » 114 lichkeit grüßt llnd mit eigener Nuhe und Präcisiou Ve-scheid giebt, zu fragen: „ware», Sic nicht früher in Ebersdorf oder Niesky?" In diesen Gasthäusern herrscht übrigens eine solche Sauberkeit und schlichte Ehrbarkeit, daß der Gast auf den Gedanten lommt: wenn diese Ge meinden für alle öffentlichen Posten so tüchtige Veute auszusuchen wissen, wie für ihre Gemeinlogis, so beweist dies ein großes Geschick zur Selbstregierung. Die Begrübnißplätze der Brüdergemeinden sind durch ihre Wohlgehaltenheit, Prnnklosi^leit und dnrch ihr freundliches Aussehen sprichwörtlich. Diese Eigenschaften fehlen auch dem Hennhutcr Gottesacker nicht, der von einer gnt-gepflegten lebendigeil Hecke umschlossen ist. Abe> anch hier empfängt »nan ungleich den Eindruck vorschristmaßiger Ein-förinigkeit. Ein Grab ist wie das andere, jede viereckige Steinplatte liegt flach auf der Erde, ohue das; fich ein Hügel über dein Grabe wölbt, und ohne das; Blnmen^ vflanznngen nnd frische ^iebe^eichen an den herrlichen Verlehr erinnern, in dem treue Seelen mit ihren enl schlafenen freunden stehen. Wie oiel auc.druck^iwller ist doch ein altvaterischer ätirchhos mit feinen Rnsenhügeln und mannigfaltigen Grabsteinen, wenn auch manchem seiner Denkmäler mehr abschrecken als gefallen sollte! Ein erhöhtes Interesse hat der Herrnhuter ^riedhof durch seine Grabschriften. Menschen auö allen Theilen der Erde ruhen an dieser Stätte beisammen, hier ein Siebenbürge oder ein Elsafscr, dort ein Norweger; mancher Arnder, der als Greis von seinen, Dienst unter den Heiden „ausgeruht" hat, liegt hier begraben. Außerdem ist dieser Platz eine wahre Geschichtshalle für den Ort und die Unität, In der Mitte ruht ein Kind „als Erstling allhier begraben l73U"; nah am Thore liegt „Ehristian David, desHerrn Knecht, der den ersten Vamn Zum Anbau von Herrnhut fällte"; in der Mitte durch hervorragende Grabsteine ausgezeichnet, sind die Gräber Zinzendorfs, „des unvergeßlichen Mannes, der 1760 einging in seines Herrn Freude" und seiner vornehmen Verwandten und Freunde. 115 Eine zweite geschichtliche Stätte besitzt Herrnhut, aber nicht — wie der weitverbreitete Klaube lautet — in seinein Schoße, sondern in dem nahen, amnuthig gelegenen Berthelsdorf, wohin ein schattiger ^indengang führt. Jene Stätte ist das Sitzungszimmer der Unitäts^Aeltesten-Con-ferenz, der obersten ausübenden Behörde in der geistlichen Republik der Brüderkirche. Die zwölf Aeltesten wohnen zumeist in diesen: Dorfe, dessen Rittergut sammt Zinzen-dorfs Schlosse in den Besitz der Unität gekommen ist. Das schlichte Zimmer, in den; ein uc»n zwölf Stühlen umringter Tisch und einige Actenschränkc die ganze Ausrüstung aus-inachen, hat ein doppeltes Interesse. Zunächst durch die Bildnisse, welche dasselbe zieren. Das eine stellt den hochverdienten Ainos Comenius dar, der großen Welt bekannter als Pädagog und Verfasser des Orlii» pictu», denn als Bischof der Mährischen Brüder; ein zweites den ehrwürdigen Aposteltopf d'es Bischof Horn; ein drittes einen ittgendliclM, blühenden Hofherrn des 1«. Jahrhunderts in scharlachrothem Galatleide. Man darf wohl getrost irgend einen Phusiognomen vor dies tüchtige Bild Kupetztys führen, er wird nicht errathen, daß es den Stifter einer Religionsseete, einen bis zur Schwärmerei religiös empfindenden Mann, den Grafen Zinzendorf, darstelle. Noch mehr als das Beschämn dieser Bildnisse beschäftigt den Besucher dieses Zimmers die Erwägung, daß in demselben Beschlüsse gefaßt werden, welche in räumlicher Hinsicht weiter reichen, als die Beschlüsse irgend eines deutschen Ständesaal^s oder Cnbinettes, und daß die hier Rathschlagenden trefflich verstehen, viele weitzerstreute Mitglieder zu regieren, ohne daß jemals Klage über zu große Lockerheit oder Straffheit der Zügel entsteht. Jene Schränke bergen die Acten und Briefwechsel in Netreff aller über die fünf Erdtheile zerstreuten Brüdergemeinden, sie enthalten namentlich Berichte über die zahlreichen Erziehungsanstalten der Unität von den schlichten Schulen an, in denen Eskimos das ABC lernen und das Einmaleins durchaus nicht begreifen, bis zu den Gym- 116 nasien und theologischen Seminarien, welche in Schlesien und Nordamerika bestehen, und den zahlreichen Privat-schulen, in welchen Brüder und Schwestern die Kinder von Gemeindcgliedern und viele fremde Kostgänger erziehen. Die Aeltesten Conferenz U. A C. gliedert sich in vier Abtheilungen, deren jede einein besondern Geschäfwtn'ise vorsteht, aber bei wichtigen Fragen das Gutachten aller Mitglieder einholt. Die Aeltesten, meist zugleich Bischöfe, werden durch die in der Regel alle zwölf Jahr abgehaltenen Synoden der Unität erwählt, zu welchen sämmtliche Gemeinden der drei Provinzen (Europa, Afrika und Amerika) bevollmächtigte Mitglieder senden. An der letzten, im Jahre 1857 gehaltenen Synode nahmen 0l stimm^ fähige Männer theil. Dieser Synode ist die Conferenz für ihre Verwaltung verantwortlich. Die Negierungsgrundsätze dieses Senates ähneln im Wesentlichen denen jedes guten Bundesstaates; man ge-, währt den Provinzen in ihren besonderen Anliegen Selbst-ftändigteit und ordnet nnr die allgemeinen Angelegenheiten des großen Ganzen. Ein genauer Einblick in das Schalten und Walten dieser Aeltesten würde wol manche goldene Klugheitslehre, jedenfalls aber manche interessante psychologische Thatsache ergeben. Besonders merkwürdig erscheint der Gebrauch des Looses. Auffallenderweise wird nehmlich von diesem Regierungm'athe — wie ich aus glaubwürdigstem Munde vernahm — ein Glaube, der sonst bei der Wahl der Gattinnen maßgebend war, aber es nicht mehr ist, noch festgehalten, der Glaube nehmlich, daß der Wille des Heilands in dem Orakel, welches man gewöhnlich ein Spiel des Zufalls nennt, sich reiner äußere, als in den Gedanken der uon Vorurtheilen und ^eideuschaften nie freien Menschenfeele. So ist noch kürzlich die schwierige Frage, ob in Tibet ein Missionsplatz anzulegen sei, durch das Loos endgiltig entschieden worden. Das Befremdende dieser an das griechische und römische Alterthum erinnernde 117 Maßregel mindert sich etwas, wenn man erfährt, daß nach einem verneinenden Auffalle des Loosed später eine none Anfrage geschehen darf. Enthält schon day Walten des Senates der Unität manches dcm Laien Schwerverständliche, so birgt vollends das Gemeindeleben der Brüder so viel Eigenartiges, daß nur ein vollkommen Eingeweihter hoffen darf, es zu begreifen. Demotratische, socialistische nnd hierarchische Elemente wirken in eigenthümlicher Mischung in diesen Gemeinden Mammen, die sich quietistisch vom grösiern Leben des Staates, dein sic angehören, zurückziehen nnd nach dem Vorbilde der urchristlichen Gemeinden brüderliche Genossenschaften darzustellen streben. Ein Gemeinderath besorgt die weltlichen Angelegenheiten, die Gemeindedirection überwacht unter Mitwirkung von Helfern, Aufsehern und Vorstehern die Sitten, stellt also ein Eensoreneolleg dar. Aber die Art, wie man diese strenge „innere Mission" erfolgreich und doch erträglich ausübt (die Ehorpfleger erforschen beim „Sprechen", welches eine Art Ohrenbeichte zu sein scheint, die innersten Falten der Herzen), wie man der Jugend, welcher durch vollständige Isolirung der Geschlechter und durch das Fernhalten der weltlichen .^unst manche unschuldige Freude versagt bleibt, das eintönige Arbeityleben zu würzen weift; ferner die Grundsätze, nach denen man dem Arbeiter im Chorhause gestattet, aus der communistischen Wertstätte auszutreten, um seine eigne Wirthschaft zu begründen — Alles das und vieles Andere bleibt dein Laien unergründlich. Nur so viel wird ihm tlar, daß ein reger Gemeinsinn, eine wahre Begeisterung für die besondere Lebensform in der Brüder-Gemeinde herrschen muß, und das; diese gesellschaftlichen Einrichtungen fich nur für Menschen eignen, welche nicht blos durch weltliches Interesse, sondern durch ein religiöses Band verknüpft sind. Daß das Leben in einer Herrnhuter^ Gemeinde nicht jedem, auch noch so ernsten und warmreligiösen Gemüthe zusagt, beweist die Aussage Schleiermacher's. „Hier wurde" 118 ^— schreibt er — „der Grund zu einer Herrschaft der Phantasie in Sachen der Religion gelegt, die mich bei etwas weniger Kaltblütigkeit ivahrscheinlich zu einem Schwärmer gemacht haben würde. Ich hatte schon mancherlei reli giöse .Uämpfe bestanden. Jetzt ging ein nener Xampf an, der durch die Art, wie die ^ehre vom natürlichen verderben und von übernatürlichen Gnadenwirkungen in der Brüdergemeinde behandelt, und fast in jedem Vortrag verwebt wurde, fast so lange gedauert hat, als ich ein Mitglied derselben gewesen bin. Ich tam bald dahin, das; mir jede gute Handlung verdächtig und ein bloßes Werk der Umstände erschien. . . . Vergeblich rang ich nach den übernatürlichen (befühlen, von deren Hiothwrudigtcit mich jeder Blick auf mich selbst nut Hinsicht aus die ^ehre auf die künftigen Vergeltungszustände überzeugte, von deren Wirklichkeit außer mir mich jeder Vortrag und jeder Gesang, ja jeder Anblick der bei einer solchen Stimmung so ein-nehmenden Menschen überredete und die nur vor nur zu fliehen schienen. Denn wenn ich auch einen Schatten er-, hascht zu haben glaubte, so zeigte es sich doch bald als ein Wert, als eine unfruchtbare Anstrengung meiner Phantasie. Wir jagten vergeblich nach den überirdischen Gefühlen und dem, was in jener Gesellschaft der Umgang mit Jesu hieß." Darf man nach dem Gottesdienst der Herrnhutcr einen Schluß auf das innere ^eben der (5'inzelnen wagen, so scheint es nicht, als ob der zu Schleiermachers Zeit herrschende Geist, der leicht zu Selbstquälerei, zu dumpfer Verzagtheit oder ekstatischer Schwärmerei führt, die Gemüther so beherrschte, daß jene Gefahren nothwendig eintreten müssen. Die bieder des jetzt gebräuchlichen Gesangbuches, in dem nach den Worten der Vorrede „ein und das andere unbequeme und den, Mißverstand unterworfene Wort verändert ist", enthalten immer noch einige der süßlichtändelnden oder unschönen Wendungen, die sonst daran gerügt wurden. Der sanfte und reine kirchliche Gesang der Brüdergemeinden ist mit Recht als mustergiltig bekannt. Ihre Liturgie hatte manche Züge, die ergreifend an das 119 ideale Leben der urchristlichen Gemeinden erinnern und ist frei von den Härten und Ueberschwänglichkeiten, die nns in den Betsälen der Quäler und Methodisten befremden. Sonntage finden sich nicht wenige Einwohner benachbarter Orte, die nicht zur Brüdergemeinde gehören, in Herrnhut ein, um dem Gottesdienste beizuwohnen. Läßt man sich angelegen fein, die Ansichten solcher Kirchgäste und anderer Bewohner der Umgegend über da« Leben der Brüder zu erfahren, so hört man nur eine Stimme über die Rcchtschaffenheit, den sittlichen Ernst, den Fleiß und die Haushältigkeit der Gemeindeglieder, über die vortreffliche Art, in der die öffentlichen Angelegenheiten geführt werden. „Es wäre prächtig", äußerte ein verständiger alter Weber, „wenn in unserm Gemeindeleben Alles so gut besorgt würde, wenn so viel Geineinsinn und Eintracht herrschte, wenn auch unsere Jugend von tollen Freuden und Verschwendungen abgehalten würde. Aber, das glaube ich, nach Herrnhut passen nicht alle Menschen und meinen Sie, daß es gut wäre, wenn alle Menschen Herrn-huter würden? — Als ich ihn nach dein Grunde fragte, antwortete er: „Ja, fehen Sie, in der Bibel steht.- Der Herr machet fröhlich Alles, wa<-' da webet. Eoll man der jungen Nelt anch ein Tänzchen in Ehren verwehren? Das Leben am Webstuhl ist doch auch gar zu einerlei, wenn nicht einmal eine Lustbarkeit erlaubt ist". Und nun äußerte sich der ehrliche Grautopf über die Freuden seiner Jugend, die er nicht zu bereuen habe. so hübsch, daß ich an Burns' schönes Lied: Wlult «i^niiieu ti»n lit« 0' man, m^'t, wm-n nnt lor t!l« In,«8o« 0! erinnert wurde und daß ihm wol felbst ein abgesagter Feind aller Weltfreuden nicht hätte zürnen t'önnm. Vielleicht macht sich in neuerer Zeit ein ähnliches Gefühl in den Herzen mancher Brüder der amerikanischen Provinz geltend. Eine würdige Frau, deren Schriftstellername Talvj lautet, erzählt: „Die Herrnhuter in Amerika (in Bethlehem und Nazareth) unterscheiden sich jeht (IWO) wesentlich nicht von anderen deutschen Niederlassungen Penn- 120 syluaniens. Alles Herrnhutische ist verwischt, in der Mädchenschule zu Bethlehem wird tanzen gelehrt". Sollte es in der That dem Scelenheile schaden, wenn ein Mädchen neben den Nofabändern seines Häubchens zu^ iveilen einen Rosenkranz trägt und auf grünem Rasen zu den Klängen eines Neigens eine ehrsame Menuett tanzt? Erlauben sich die Männer die Cigarre, welche doch auch ein unnöthiger Schmuck des Lebens ist und ohne Zweifel schaden kann; warum nicht der Jugend eine unschuldige Lustbarkeit gönnen? Ob die deutschen Brüder jene Neuerung der Amerikaner billigen oder für bedenklich erachten, wissen wir nicht', aber das läßt sich aus den Aeußerungen ihrer Nachbarn in der Lausitz mit (Gewißheit schließen, daß die Herrnhuter, wenn sie den harmlosen Schmuck des Lebeno zuließen und dabei in derselben Rechtlichkeit, Betriebsamkeit und sittlichen Strenge fortlebten, wie bisher, von ihren Landaleuten nicht weniger geachtet, ja noch höherer (ihre würdig gefunden werden und vielleicht als wirksameres Vorbild dienen würden. Puritanische Strenge liegt nun einmal dem Charakter der Lausitzer — seien sie nun deutscher oder wendischer Abkunft — so fern, daß gewiß die wenigsten der im reiferen Älter zu den Brüdern Uebergetretenen aus der Lausitz stammen und daß schon alw diesem Grunde die Brüdergemeinden wahrscheinlich immer nur kleine zerstreute Inseln darstellen werden, in denen bei aller rührigen Geschäftigkeit friedliche Stille und ernster religiöser Sinn waltet. Ob die Herrnhuter nicht dereinst aus ihrem politischen Quietismus heraustreten, wie die Quäler es gethan, ob sie nicht auch Friedcnsmänner, ähnlich Cobden und Bright, in die deutschen Kannnern einführen werden, wird die Zu? kunft lehren. Die Befähigung zu solcher Wirksamkeit wird" ihnen gewiß Niemand absprechen, der gesehen hat. wie tüch. tig die Brüdergemeinden die schwere Kunst der Selbstverwaltung verstehen! Dnlcl von Bär und Hermann in Veipzlg.