Tatiana shchyttsova MEMENTo NAsCi. Zur aktualität der Lehre von Diotima für die gegenwärtige Philosophie des miteinanderseins Die ersten, lateinischen Wörter des Titels haben eine evokative Implikation, die 63 darin besteht, dass an die Stelle des klassischen memento mori eine neue Losung - nämlich Denken an die Geburt - treten muss. Die Stelle, von der wir reden, ist keineswegs ausschlieeslich im Rahmen der christlichen Weltanschauung zu lokalisieren. Es geht vielmehr um das Prinzip, das den Herzschlag der klassischen metaphysischen Tradition im Ganzen bestimmt hat, wie es beispielweise von H. Arendt betont wurde. In der Tat, die abendländische Philosophie entfaltet sich im Schatten des Todes bereits zu Beginn mit der platonischen Bestimmung der Philosophie als einem „Sterben-lernen". In der christlichen Weltanschauung ebenso wie in der platonischen Metaphysik war der Zusammenhang von Menschen und Absolutem durch das Verhältnis zum eigenen Tod bestimmt. Ein richtiges Verhältnis setzt die Transzendierung über das Weltliche voraus. Dadurch wird die menschliche Teilhabe am ordo aeternitatis vergewissert. Die metaphysische Perspektive des endlichen menschlichen Daseins gründete also in der Erfahrung der radikalen Individuation, die ermöglichte, dass die Seele bei sich blieb, um die klare Beziehung zur ewigen Wahrheit zu erreichen. Mitdem platonischen Phaedon verstärkt sich das Verhältnis, das das Profil der abendländischen Philosophie bestimmt - das intime Verhältnis des Subjekts zum Tode, welches dem Subjekt das Prinzip seiner Autonomie gewährleistet. Es war im 20 Jahrhundert M. Heidegger, der den wesentlichen konzeptuellen Zusammnehang vom Subjekt und Tod noch einmal neu fixiert. Das Sein des heideggerschen Daseins, 64 ebenso wie der platonische Dialog der Seele mit sich selbst oder der Dialog mit Got in dem christlichen Gebet, hat die ontologische Priorität der Selbst-Isolierung (bzw. Vereinzelung, Unbezüglichkeit) vorausgesetzt, die mit der Eröffnung der Wahrheit des eigenen Da-seins verbunden war. Für die Metaphysik des Subjekts, die ihre geschichtliche Quellen in der Entdeckung der subjektiven Reflexion bei Sokrates hat, ist also die Unbezüglichkeit des Todes so wesentlich, dass die epochale Destruktion dieser Metaphysik die symbolische Verbindung des Begriffs des transzendentalen Subjekts mit dem Tode direkt oder indirekt betreffen müsste. Es besagt, dass die protokollarische Bezeugung über den Tod des Subjekts im gewissen Sinne einen immanenten Spruch bezüglich des Todes selbst enthalten sollte. Heideggers Analytik des Daseins als die letzte grösse Theorie der transzendentalen Subjektivität macht dabei sehr deutlich, dass ihr mono-logischer, bzw. solipsistischer Charakter in einem wesentlichen Zusammenhang mit dem Verhältnis des Subjekts zum eigenen Tode steht - so dass der transzendentale Mono-log des Subjekts im gewissen Sinne im Namen des Todes stattfindet. Daraus folgt, dass der Versuch, auf dien Todeszen-triesmus zu verzichten, ihn zu überwinden, einen Gedankengang bildet, für den die Dezentrierung des Subjekts wesentlich ist und als solcher nur im Rahmen der konkreten positiven Analytik des Miteinanderseins entfaltet werden kann. Die zentrale Thesis meines heutigen Vortrags besteht darin, dass der leitende Begriff der (nachklassischen) Philosophie des Miteinanderseins der der Geburt ist. Und wenn man demgemäss über die metaphysische Bedeutung der Geburt reden könnte, sollte mann hier nicht von der Metaphysik der Selbst-Isolierung, sondern von dem allgemeinen Kern der metaphysischen Problematik ausgehen, den die Frage nach der Erfahrung der Unendlichkeit bildet. Sofern der Vortrag einen programmatischen Charakter hat, bleibt er gewissermassen deklarativ. Es handelt sich um die Philosophie der Geburt im Sinne einer konkreten Metaphysik des Miteinanderseins, deren generelle Richtlinien ich entwerfen möchte. Es geht also um die Erneuerung der bekannten Fragestellung von Hannah Arendt. Sie war die erste unter den sozialen Philosoph/in/en im 20-en Jahrhundert, die der Sterblichkeit die Natalität explizit gegenübergestellt hat, und zwar als „Kategorien-bildendes Faktum", das entscheidende Bedeutung für die Auffassung des sozial-politischen Lebens hat1. Aber diese neue konzeptuelle Positionierung der Geburt bei Arendt blieb nicht nur unentwickelt, sondern auch dem Rahmen der Philosophie des Subjekts verhaftet. Es gibt jedoch noch eine andere philosophie-geschichtliche Quelle, worin die proklamierte Philosophie der Geburt einige paradigmatischen Züge, bzw.Zugangswei- 1 Hannah Arendt, Vita activa. Oder vom tätigen Leben, Kohlhammer, Stuttgart 1960, S. I5f. sen finden kann. Die Quelle ist von besonderer Bedeutung auch deshalb, weil sie gleichursprunglich mit der positiven metaphysischen Bewertung des Todes im Rahmen des sokratisch-platonischen Paradigmas entstanden ist und eine extraordinäre Subordination zwischen Geburt und Tod benennt. Es handelt sich um die Lehre von Diotima, die im Rahmen des bekannten Symposiums Sokrates exponiert. Ich wende mich also zuerst an das entsprechende Fragment dieses Dialogs, um einen bedeutungsvollen Entwurf der Philosophie der Geburt zu explizieren, der von einer spannenden konzeptuellen Auseinandersetzung mit der platonischen hierarchischen Ontologie gekennzeichnet ist und die praradigma-tische Züge für die gegenwärtige Philosophie des Miteinanderseins enthält. Der zweite Teil des Vortrags ist der möglichen existenzial-phänomenologischen Entwicklung dieses ursprünglichen Projekts im aktuellen Kontext gewidmet. Die konzeptuelle Innovation Diotima tritt besonders deutlich hervor, wenn man ihre Lehre als die Erwiederung der in Phaedon präsentierten metaphysischen Beurteilung der Geburt und des Todes bestimmt. Die Beurteilung enfaltet sich sub specie aeternitatis und kann ganz kurz in den folgenden zwei Punkten formuliert werden: (1) Der Tod ist ein gewisser Agent der Ewigkeit diesseits der wahrhaften Welt der Ideen. Seine Leistung ist die endgültige Absonderung der unsterblichen Selle vom vergänglichen Leib. Darin besteht die einzigartig positive metaphysische Rolle des Todes. Soweit der Mensch während seines endlichen Lebens solche Absonderung, bzw. das Sterben praktiziert, beweisst er seine Teilhabe an der ewigen Wahrheit. Das Philosphieren erweisst sich somit als die wahrhafteste Seinsweise des Menschen. (2) In Rahmen des metaphysischen Dualismus ist die Geburt das Faktum, das nicht allein keine positive Bedeutung für die menschliche Möglichkeit, an dem ordo aeternitatis zu partizipieren, hat, sondern von Anfang an als entschiedener Gegner solcher Partizipation erscheint. Nach der anamnesis -Theorie ist das Philosophieren als die Neutralisierung der negativen Geburtsfolgen zu verstehen. Sub specie aeternitatis besteht die Geburtsleistung in dem totalen Verlust (Vergessen) des wahren Wissens. In diesem Sinne vollzieht sich anamnesis kontrafaktisch bezüglich der Geburt. Diotima ebenso wie Sokrates interessiert sich für die Erfahrung der Unendlichkeit, d.h. für einen Zugang des endlichen Menschwesen zur Ewigkeit. Während aber bei Sokrates die leitende metaphysische Bedeutung in diesem Sinne der Tod erlangt, entwickelt Diotima den Gedanke über die leitende metaphysische Bedeutung der Geburt. Diese Umwälzung wird möglich kraft einer denkwürdigen Änderung des urspunglichen Gesichtspunkts. Ohne die platonisch ontologische Ordnung als solche direkt zu verzweifeln, führt jedoch Diotima ihre Überlegungen gewissermassen sub specie temporis, und zwar in einem positiven Sinne. Es ist auf diese bemerkenswerte Denksituation einzugehen. Die Ewigkeit (die ewig sei- 65 66 ende Welt der Ideen) bleibt zwar die substantielle Voraussetzung für das neuen Denkprojekt von Diotima. Aber im Unterschied zu Sokrates, der die menschliche, also diesseitige, Erfahrung der Unendlichkeit nur negative als das SterbenLernen durchgedacht hat, sucht Diotima eine positive endliche Erfahrung der Unendlichkeit aufzuweisen. Man könnte sagen: Diotima hat es nicht eilig ihr menschliches Leben zu beenden. Statt der Todes- bzw. Sterbenslobpreisung tritt sie im Interesse des endlichen Menschseins auf, indem sie eine konkrete metaphysische Teleologie für die Diesseitigkeit entwirft. Um diese neue positive Dimension der endlichen Unendlichkeit zu begründen, entwickelt Diotima, wie bekannt, die einzigartige Lehre über Eros. Seine Figur verkörpert bei Diotima die bezeichnete Dimension als solche und ist der dualistischen Logik des Platonismus nicht untergeordnet. Der Eros ist laut Diotima weder sterblich noch unsterblich. Er ist ein Genie in dem Sinne, dass er beide ontologische Dimensionen (das Sterbliche und das Unsterbliche) vermittelt und dadurch in Verbindung bringt. Das entscheidende Moment liegt darin, wie sich diese sonderbare erotische Leistung in der phänomenalen Welt ergiebt, wie sie erscheint. Ja, die Genialität des Eros schliesst auch das Vermögen ein, die genannte Verbindung aufzuzeigen. Nun, es ist nach Diotima der Akt des Gebärens und das Faktum der Geburt, worin sich diese ambivalente Verbindung manifestiert. Das Gebären, sagt Diotima, ist derjenige Anteil an der Unsterblichkeit und Ewigkeit, der dem sterblichen Wesen gegeben ist.2 Im metodischen Sinne besteht das innovative Wendemoment darin, dass Dioti-ma sich von dem transzendenten, jenseitigen, Telos (der reinen Ewigkeit) gleichsam abkehrt und sich auf die metaphysische Erfahrung konzentriert, die den strukturellen und phänomenalen Bedingungen der endlichen Welt gemäss, bzw. wellfreundlich ist. Damit findet eine „erotische Revolution" statt, die eine neue Unterordnung inmitten der endlichen Welt stiftet: die leitende metaphysische Bedeutung erlangt jetzt die Geburt, welche diesseits der Ewigkeit das höhste metaphysische Telos für das endliche Leben ausmacht. Das Sterben-lernen als das rein negativistische (bzw. weltfeindliche) Streben nach dem Tod wird dem neuen Telos, bzw. dem Streben nach dem Gebären untergeordnet. Die philosophische Seinsweise als die Vergewisserung der Ewigkeitsmässigkeit des Menschseins wird in der Diesseitigkeit vom Eros geleitet. Sein weltfreundliche Charakter macht Diotima deutlich, wenn sie betont, dass die Liebe kein Streben nach dem Schönen (bzw. der Weisheit), sondern das Streben nach dem Gebären im Schönen ist3. Die Geburt ist die endliche Gestaltung der Teilnahme am ewigen Sein. Der 2 Platon, Symposium, Sämtliche Werke IV, Insel Verlag, Frankfurt/M. und Leipzig 1991, 2o6e. 3 Ibid. Mensch als das metaphysische Wesen (bzw. Philosoph) hat zur Welt etwas am Schönen partizierende zu bringen. Die Philosophie erweisst sich also als die generative (gebärende) Tätigkeit par excellence, die in der quasi-transzendentalen Figur des Eros fundiert ist. Das oben bezeichnete Wendemoment in der Blickrichtung der griechischen Denkerin führt dabei zur wesentlichen Revision der metaphysischen Erniedrigung der horizontalen zwischenmenschlichen Beziehungen. Aus ihren Überlegungen folgt, dass die strukturelle Dimension der erotischen Tätigkeit intersubjektive (bzw. dialogische) ist. Die Mithaftigkeit (oder Bezüglichkeit), die für das endliche weltliche Menschsein kennzeichnend ist, bedingt die Fruchtbarkeit des Eros. Das Streben nach dem Gebären kann gültig und effectiv sein allein im Spielraum einer bestimmten dualen (dialogischen oder sexuellen) Auseinandersetzung. Eros wäre kein Genie, wenn die unausweichliche Pluralität/Mannigfaltigkeit von endlichen Seienden ein Hindernis für ihn wäre. Umgekehrt ist dieser differenzierte weltliche Bereich derjenige, wo sich Eros abspielen kann. Es ist sein Bereich, sein Spielraum im genuinen Sinne. Dementsprechend entwirft Diotima, parallel mit der klassischen platonischen Auslegung der dialogischen Beziehungen zwischen dem Philosophen und einem schönen Jüngling, ihre eigene Interpretation, die im Rahmen des „offiziellen" ontologischen Paradigmas manschmal „ketzerisch" klingt. Ohne wiederum die metaphysische Priorität des vertikalen Aufstiegs von der sinnlichen Schönheit zu der idealen direkt zu verneinen, erörtert sie die positive metaphysische Bedeutung der horizontalen zwischenmenschlichen Beziehungen, welche die Unreduzierbarkeit dieser Beziehungen auf die mono-logisierende Hierarchie voraussetzt. Diotima lehrt nicht über den Weg zur mono-logischen Teilhabe an der ewigen Wahrheit. Auf dem Weg fungiert der junge Andere als das unausweichliche Mittel. Der Weg zielt auf die vollständige Welt-transzendie-rung und steht in diesem Sinne im Zeichen des Todes. Die Lehre von Diotima entfaltet sich dagegen von der Weltperspektive oder sub specie temporis. Wie gesagt, sie sucht die positive endliche Erfahrung der Unendlichkeit zu beschreiben. Es fordert von ihr, über das Unendliche in Termini der Endlichkeit zu sprechen. Die intellektuelle Gegebenheit der Idee ist nicht nur als die Geburt interpretiert, sondern im Aspekt des Werdens weiter betrachtet. Der Philosoph, sagt Diotima, zieht sein Kind auf.4 Es handelt sich also um die diesseitige Genesis der Idee. Und es ist der quasigeschichtliche Prozess des Ideen-Gebärens und Ideen-Aufziehens, der die positive endliche Erfahrung der Unendlichkeit bzw. die Leistung des Eros ausmacht. Der Prozess ist dabei als der intersubjektive par excellence charakte- 67 4 Platon, op. cit., 209c. 68 risiert. Diotima betont: gemeinsam mit dem Freund zieht der Philosoph sein „intellegibles" Kind auf.5 Sie erklärt die näheren Beziehungen zwischen beiden Menschen auf dem Boden der genannten quasigeschichtlichen Erfahrung. Ja, sie spricht über die beiden Menschen verbindenden Kindern.6 Die Unreduzierbarkeit der intersubjektiven Dimention gründet sich dabei in der paradigmatischen Bedeutung, die das generative (gebärende) Miteinandersein von Mann und Frau für die oben beschriebene metaphysische Erfahrung hat. Schwangerschaft, Maeutik, Gebären sind nach Diotima die Prozesse, die parallel sowohl auf der physischen als auch auf der geistigen Ebene stattfinden. Beide Ebenen sind wesentlich analog hinsichtlich der basalen intersubjektiven (dualen) Struktur, die die strukturelle Bedingung der Fruchtbarkeit bzw. der endlichen Erfahrung der Unendlichkeit ist. Die generelle Thesis Diotima besteht darin, dass die genuine metaphysische Erfahrung die Sache der Beziehung zum Anderen ist. Die Beziehung wird dabei weder negativistisch als die Sich-Befreiung von der Zerstreutheit im Miteinandersein, noch instrumentalistisch als die zeitweil-lige Ausnutzung des Anderen auf dem individuellen Weg zur ewigen Wahrheit verstanden. Demgegenüber deutet Diotima die Beziehung zum Anderen eben als die Mit-teilnahme an der Geburt des Neuen. Ich kann an dieser Stelle auf die inneren Widerspüche des skizierten generativen Projekts, die von dem konzeptuellen Rahmen der platonischen dualistischen Ontologie verursacht sind, nicht eingehen. Das wesentliche Hindernis für die aktuelle Entwicklung des Projekts bildet offensichtlich die substanzielle Differenzierung zwischen der physischen und der intellegiblen Geburt. Ausserdem müsste die aktuelle Erneuerung der Diotimschen Fragestellung mindestens eine Korrektur in dem Hauptsatz ihrer generativen Konzeption fordern. Das Gebären sollte nicht mehr als der Anteil an der Unsterblichkeit, sondern nur als die Weise, wie das sterbliche Wesen unsterblich sein kann, betrachtet werden. Die Forderung ist vom Verzicht auf die Hypostasierung einer jenseitigen substanziel-len Garantie der Ewigkeit verursacht. Doch besteht die Aktualität der Lehre von Diotima eben darin, dass sie die wesentlichen Hinweise auf die konstitutive Bedeutung der Frage nach der Unendlichkeit für das Miteinandersein enthält. Ich meine die Hinweise, die relevant für unsere entmyphologisierte Zeit sind. Es ist die generative Teleologie des Miteinanderseins, die eine kritische Überprüfung verdient. Sie besagt, dass die Frage nach der Erfahrung der Unendlichkeit auf dem Boden des endlichen Existierens revidiert werden muss, das keine 5 Platon, op. cit. 209c. 6 Ibid. substanzielle Stütze in einer jenseitigen Welt hat. Die Entwicklung des seku-lären geschichtlichen Bewusstseins und die Uberwindung des monologischen Bewusstseins der neuzeitlichen Philosophie, die vor dem Hintergrund des langen Prozesses der Entgöterrung und Entmyphologiesierung stattgefunden haben, gelten dabei als die konzeptuelle Voraussetzungen für eine solche Revision. Sofern sie auf die Erneuerung der Philosophie der Geburt als der konkreten Metaphysik des Miteinanderseins zielt, geht es um die Möglichkeit, einige ethische und methodologische Sackgassen des Denkens im Modus „post" bzw. ihre nihilistische und antihumanistische Implikationen zu überwinden. Die Erneuerung und Begründung des generativen Projekts ist zuerst auf der Grundlage des existenzial-phänomenologischen Begriffs der Faktizität denkbar, der im Geburtsfaktum gründet und das Menschsein (das Selbst) im konkret sozial-geschichtlichen Kontext der Umwelt verwurzelt. Die Fundamentalonto-logie Heideggers hat in diesem Zusammenhang einen bemerkenswert ambivalenten Charakter, weil sie einerseits auf der konzeptuellen Ebene diesen neuen metaphysischen Ansatz ausschliesst, und anderseits die philosophische Reabi-litierung des Geburtsbegriffs gewissermassen vorbereitet und motiviert. Einerseits, lässt sich die zu erneuende Konzeption der Generativität als eine Erwiederung und Überwindung des Todeszentrismus der heideggerschen Daseinsanalytik verstehen. Anderseits, ist die genannte Konzeption durch die Radikalisierung der Heideggerschen These über den wesentlichen Zusammenhang zwischen der Faktizität und Existenzialität zu entwickeln. Lassen Sie mich beide Linien kurz verfolgen. Ich beginne mit dem negativen Aspekt, damit die gesuchte konzeptu-elle Alternative einen deutlichen Umriss bekommt. 69 Ohne dem platonischen Paradigma untergeordnet zu sein, wiederholt Heidegger, ganz formal gesehen, denselben sokratisch-platonischen Gedankengang, der die Souveränität des Subjekts, seinen metaphysischen Status, auf der Souveränität des Todes gründet. Der Begriff „das Sein zum Tode" bildet den Kern der Daseinsanalytik, die als die Metaphysik der Endlichkeit von Heidegger positioniert wurde. In diesem Zusammnehang will ich sie auf eine Stelle im Sein und Zeit aufmerksam machen, die eine bemerkenswerte Antinomie des Heideggerschen metaphysischen Projekts enthüllt. Es betrifft die Grundbefindlichkeit, welche die Vereinzelung, die das Dasein im Vorlaufen zum Tode erreicht, kennzeichnet. Die Grundbefindlichkeit setzt eine merkwürdige Zweistimmigkeit voraus. Wo Heidegger diese Seite der vorlaufenden Entschlossenheit beschreibt, sagt er eben: „Mit der nüchternen Angst, die vor das vereinzelte Seinkönnen bringt, geht die gerüstete Freude an dieser Möglichkeit zusammen."7 Was uns interessiert, ist der 7 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1979, S. 310. 70 metaphysische Referent dieser Freude bei Heidegger. Im Unterschied zu Sokra-tes, der als den Grund für die freudige Übung im Sterben und die Begrüsung des Todes die Unsterblichkeit der Seele (ihre Zugehörigkeit zu einer höheren Seinsregion) setzte, muss Heidegger den Grund für das freudige Sein-zum-Tode in der ontologischen Seinsverfassung des Daseins als In-der-Welt-Sein finden. Der Grund der Freude ist die existenziale Nichtigkeit des Daseins, bzw. das in der Angst erschlossene Seinkönnen als solches. Damit die implizite Antinomie der freudigen Auslegung der vorlaufenden Entschlossenheit klar wird, muss man sich der konkreten Todessituation zu wenden. In dieser Grenzsituation verliert die existenziale Auslegung des Seins zum Tode ihre Gültigkeit, weil der Mensch einfach zur Absurdität verdammt wäre, wenn vorausgesetzt würde, dass er in der Todessituation über das bevorstehende vereinzelte Seinkönnen sich freuen und die Gewissheit hinsichtlich der weiteren Erneuerung seines vereinzelten Seinkönnens zeigen muss.8 Wenn jemand sagt: dieses Argument gilt nicht, weil es ontisch ist, stimme ich zu. Aber es besagt, dass das Dasein sich nur freuen kann, wenn es den Tode, das Todesfaktum, nicht gibt. So optimistimisch konnte nur Sokrates sein, weil für die unsterbliche Seele in der Tat kein Ende gibt. Man kann eine bestimmte Art der Un-endlichkeit anerkennen, die dem Dasein in seiner Zentripetalbewegung zugänglich ist. Als eine seinsverständige 'Zentrifuge' ist das Dasein immanenterweise ewig angelegt, da es sich immer wieder zu erneuern hat, bzw. eine endliche Möglichkeit zugunsten einer anderen immer wieder zu verneinen hat. Aber die Freude im Existieren als ein emotionales Korrelat dieser Unendlichkeit wäre wiederum möglich nur unter der Bedingung der Ausklammerung des Todesfaktums (sei es aus den methodischen Gründen oder aus der existentiellen Selbsttäuschung). Wenn man die Freude als ein verbotenes Motiv, das von einer ungewissen Metaphysik der Unendlichkeit heimlich eingebracht wurde, auffasst, kommt man direkt zu der von Diotima inspirierten Frage nach der Weise, wie das endliche Wesen die freudige Erfahrung der Unendlichkeit im faktischen Miteinandersein haben kann. Ich wende mich jetzt der zweiten Linie in unserer Auseinandersetzung mit Heidegger zu, die im Interesse der philosophischen Reabilitierung des Geburtsbegriffs durchgeführt wird. Die Art und Weise, wie Heidegger die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Existentialität und Faktizität erörtert, ist mit dem methodischen Vorrang des Todes in der Daseinanalytik wesentlich verbunden. Geburt bekommt zwar die existenziale Interpretation, welche die klassische dualistische Differenzierung zwischen der physischen und der geistigen Geburt überwindet. Aber der konkrete phänomenale Gehalt dessen, was Heidegger unter der Gebürtigkeit versteht, ist ausschliesslich 8 Ibid., S. 307. negativistisch. Gebürtig existieren, wenn es über die eigentliche Seinsweise geht, bedeutet die vom Geburtsfaktum bedingte eigene Faktizität im neuen Selbstentwurf selbst-ständig zu wiederholen. Diese Wiederholung als das Grundphänomen der eigentlichen Geschichtlichkeit wird von Heidegger als die Erwiderung dem Da-gewesenen gegenüber erläutert, die „zugleich als augenblickliche der Widerruf dessen [ist], was im Heute sich als Vergangenheit auswirkt."9 Der Zusammenhang zwischen der Existentialität und Faktizität lässt sich also als Kon-trafaktizität bestimmen. Darin kann man ein fernes Echo von dem bezüglich des Geburtsfaktums kontrafaktischen Charakters der anamnesis vernehmen. Es ist zu betonen, dass im Unterschied von Diotima, für die eine positive metaphysische Betrachtung der eigenen Geburt aus den konzeptuellen Gründen unmöglich war, die gegenwärtige Reaktualisierung ihrer Lehre das prinzipielle Einbeziehen der „je meinigen" Geburt in die konkrete Metaphysik des Mitein-anderseins voraussetzt. Die existenziale Auslegung der Geburt bei Heidegger ist zweifelloss ein wesentlicher Schritt in dieser Hinsicht, der aber von seinem transzendental-egologischen Ansatz begrenzt, bzw. der ontologischen Differenz untergeordnet ist. Wie wir gesehen haben, ist das negative Profil der Geburtigkeit bei Heidegger eben durch das versagende Verhältnis zum Anderen bestimmt, das im Vorlaufen zum Tode fundiert ist. Wenn man in dieser Hinsicht den eigentlichen Selbst-entwurf die zweite Geburt nennen möchte, wäre es sehr unvorsichtig, weil es zu einer bemerkenswerten Aporie führen müsste. Sofern jede Geburt immer faktisch ist, sollte diese zweite Geburt das faktische Selbst-gebären bedeuten, eben im Lichte der These: „Existieren ist immer faktisches. Existenzialität ist wesenhaft durch Faktizität bestimmt."10 Als die zweite Geburt wäre der entschlossene Selbst-Entwurf kontrafaktisch bezüglich der ersten Geburt (so, als ob das Dasein einen Geburtskomplex hätte) und auto-poetisch unter dem Gesichtspunkt der Faktizität. Doch kann die Metapher der zweiten Geburt nicht nur rechtfertigt, sondern im gewissen Sinne sozusagen demetaphorisiert werden. Dafür muss zuerst der Zusammenhang zwischen der Existentialität und Faktizität vom Standpunkt der Frage nach den konstitutiven Bedingungen des eigentlichen Miteinanderseins (und nicht etwa des je meinigen Daseins) analysiert werden. Es geht darum, die Fakta Geburt und Tod, Anfang und Ende im Rahmen der existenzialen Analyse des Miteinanderseins in Betracht zu nehmen. Wenn es eine Möglichkeit der nicht myphologisierten Metaphysik der Unendlichkeit gibt, ist sie die Möglichkeit eines konkreten Miteinanderseins, der interpersonelen Gemeinschaft in 71 9 Heidegger, op. cit., S. 386. 10 Ibid., S. 192. 72 actu, bzw. deren geschichtlichen Verwirklichung. Mit dem bezeichneten Wechsel des Standpunkts, der die ontiko-ontologische Diffferenz ungültig macht, eröffnet sich die Möglichkeit, eine Dialektik der Endlichkeit und Un-endlichkeit (mit dem Bindestrich geschrieben) aufzuweisen, die durch eine konkrete Transzendie-rung des unbezüglichen Todes charakterisiert ist. Man kann einen Hinweiss auf diese Möglichkeit in der Frage finden, die M. Theunissen in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Heidegger stellt, nämlich: wie kann man die Vereinzelung und die eigentliche Vergemeinschaftung konkret zusammen denken?11 Es geht darum, dass wenn man das Vorlaufen zum Tode als konstitutives Prinzip des eigentlichen Miteinanderseins betrachten will, kann das Vorlaufen nur als ein negatives Prinzip fungieren. Es setzt eine Distanz zwischen mir und dem Anderen. Es ist, im buchstäblichen Sinne, das Auseinander-setzen im Miteinander-sein. Damit aber das Auseinander-setzen, diese Leistung des Seins-zum-Tode, nicht zum Auseinanderfallen wird muss das „Mit" im Mit-sein eine positive faktische Begründung bekommen, welche ihrerseits die Todesvereinzelung als das blosse Auseinander zu dem immanenten, immer wieder überschrittenen Prinzip des Miteinander machen muss. Es besagt, dass entgegen dem Vorlaufen ein anderes faktisches Prinzip der Singularisierung auftreten muss. Der russische Denker M. Bachtin war einer der ersten, der das Prinzip als die verantwortliche Antwort begreift. Das Menschsein hat zu antworten — mit dieser Bachtinschen Formel ist die Faktizität des existierenden Selbst wesentlich auf die geschichtliche Verwirklichung des jeweiligen Miteinanderseins angewiesen. Wenn nun Landgrebe als das Verdienst Heideggers „die Begründung der Faktizität der Geschichte auf die Faktizität des jeweils vereinzelten Selbst"12 ansieht, dann kann man das Verdienst Bachtins darin sehen, dass er die Faktizität der Geschichte auf die Faktizität der Antwort gegründet hat. Die Antwort dem Anderen gegenuber zeigt sich dann als die Ab-sage des Todes bzw. der Endlichkeit, Verschlossenheit und Isolierung. Eine konkrete, faktisch fundierte Bedeutung der Un-endlichkeit klärt sich dann, wenn wir das Vorlaufen zum Tode und die verantwortliche Antwort als zwei Prinzipien der Singularisierung in einen dialektischen Zusammenhang bringen. Sofern die Antwort die positive faktische Kon-stituirung des Selbst im Rahmen der konkreten Mithaftigkeit durchführt, tritt sie als die Erniedrigung des unbezüglichenTodes auf. Wir sind somit zum entscheidenden Punkt gelangt, wo die leitende Bedeutung des Geburtsbegriffs für die Philosophie des Miteinanderseins begründet werden 11 Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Walter de Gruyter, Berlin— New York 1977, S. 178. 12 Ludvig Landgrebe, Faktizität undIndividuation. Studien zu den Grundlagen der Phänomenologie, Meiner Verlag, Hamburg 1982, S. 116. kann, weil die Antwort als das konstitutive Prinzip der interpersonellen Gemeinschaft einerseits den wiederlegenden Charakter bezüglich des Todes und anderseits den bejahenden Charakter bezüglich der Geburt hat. Die angeführte Formel - Das Menschsein hat zu antworten - impliziert, dass die Geburt eine geschichtlich beteutsame Inkarnation ist, die im geschichtlichen Leben sowohl ihren Anfang als auch ihren Fortgang nimmt. Gebürtig existieren bedeutet demgemäss als ein antwortendes Wesen zu existieren. Geburt hat eine Antwortsform par excellence. Die Erscheinung des Neugeborenen hat in diesem Sinne eine paradigmatische Bedeutung. So sagt man in meinem Land über die schwangere Frau, dass sie in Erwartung ist. Ja, Die Antwort ist die genuine Seinsweise jeder Geburt als des Eintretens des Neuen in der Geschichte. Für die existenziale Analytik des Mitei-nanderseins gibt es keine erste und zweite Geburt, sondern nur die Aufgabe der geschichtlichen Inkarnation als solche, die von der Persönlichkeit fordert, dass sie das Memento nasci jedes mal als das Zu-antworten-haben interpretiert. Ich erwähnte den Namen Bachtins insbesondere darum, dass er im Rahmen seiner Philosophie des Miteinanderseins den Begriff eingefürht hat, der als eine entyphologisierende Umdeutung, ja, als ein Nachfolger des Eros verstanden werden kann. Es ist der Begriff des Ereignisses, das unter dem Gesichtspunkt der klassisch transzendentalen Philosophie einen ebensolchen problematischen Status, wie das Eros vom Standpunkt der platonischen hierarchischen Ontologie hat. Ereignis ist zwar ein ontologischer bzw. metaphysischer Begriff. Aber es kann keineswegs in Termini der ontiko-ontologischen Differenz interpretiert werden. Ereignis bedeutet die geschichtliche Verwirklichung der interpersonellen Gemeinschaft und ist als solches etwas singuläres, einzigartiges, welches sich geschichtlich „zwischen mir und den anderen", „durch mich und den anderen" vollzieht und in verschiedenen kulturellen Formen ausdrükt. Ereignis ist somit die kreative Erneuerung des faktischen Miteinanderseins, die sowohl das einzelne ko-existierende Selbst als auch die verschiedenen materiellen Schichten des geschichtlichen Lebens betrifft und das Miteinandersein im Lichte der generativen Teleologie verstehen lässt, die ausserhalb jeder universell intentionalen Te-leologie liegt. An dieser Stelle können wir beide thematische Geburtslinien - die eine, die das Gebären des Kindes (sei es im natürlichen oder im symbolischen Sinne) betrifft, und die andere, die die je meinige Geburt betrifft - in einen ereignissmässigen Zusammenhang bringen. Es ist die verantwortliche Antwort dem Anderen gegenüber, die beide verknüpft. Verantwortung ist dabei als ein faktisches Apriori zu verstehen, das für die zeitgemässe Erneuerung der Diotim-schen Fragestellung nach der endlichen Erfahrung der Unendlichkeit eine prinzipielle Bedeutung hat. Wenn die Teilnahme am Ereignis solche Erfahrung impliziert, schliesst jedoch das Ereignis im Unterschied von Eros aus, dass ein Mass der Unendlichkeit als solches eine jenseitige Herkunft hat. Die Dimension der 73 Unendlichkeit kann nur als die der Un-endlichkeit im jeweiligen Miteinander-sein aktualisiert werden und zwar so, dass sich das Verhältnis zur Un-endlichkeit durch die Geburt und Generativität definiert. Diese durchgehende Erneuerung und Bereicherung des Miteinanderseins vollzieht sich als die durchgehende Erniedrigung des Todes, die ihrerseits in der Verantwortung bezüglich des Anderen fundiert ist. Es ist also die Erniedriegung des Todes, die ein unermessliches Mass der Verantwortung ausmacht und keine andere Vergewisserung finden kann als die Geburt des Neuen im Miteinandersein. 74