Màdàlina Diaconu DiE GRAMMATiK DER EUROPÄiSCHEN SEiNSGESCHiCHTE. Die Perspektive eines „Randbewohners" Zur Person und zum Werk 35 Constantin Noica (1909-1987) ist fur die rumänischen Intellektuellen eine emb-lematische Gestalt und war schon zu seinen Lebzeiten zu einer Kultfigur geworden. Bis auf ein paar italienische und spanische Übersetzungen ist er im Westen weniger bekannt, wo sein Name üblicherweise im Zusammenhang mit seiner langlebigen Freundschaft mit Mircea Eliade, Emil Cioran und Eugène Ionesco genannt wird. Nach philosophischen, mathematischen und klassisch-philologischen Studien an der Universität Bukarest, in Paris (1938) und in Berlin (wo er 1940/41 als Referent für Philosophie am Rumänischen Institut angestellt war), nach der Begegnung mit Spranger und Heidegger (1943), wurde Noica nach seiner Rückkehr nach Rumänien unter den neuen politischen Bedingungen zunächst zehn Jahre aufs Land verbannt und mit Berufs- und Publikationsverbot belegt. Als Sportlehrer in einem rumänischen Dorf entwarf er den ersten Teil seiner späteren Ontologie. Nach weiteren sechs Jahren Gefängnis, wo er u. a. aufgrund des Briefwechsels mit Emil Cioran inhaftiert wurde, war er ab 1964 Forscher am Institut für Logik der Rumänischen Akademie der Wissenschaften. Nach seiner Emeritierung im Jahre 1975 lebte er in Bukarest und in Pältini§, einem Kurort in der Nähe von Sibiu/Hermannstadt, der bald zu einem Wallfahrtsziel von zahlreichen Intellektuellen wurde, hauptsächlich von Geisteswissenschaftlern, aber auch von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren mit Interes- 36 se an Philosophie. Seine engsten Schüler sind seither als „die Schule von Pältini§" bekannt; zu ihr zählen Forscher, die nach 1989 auch in öffentlichen Funktionen, als Universitätsprofessoren, Minister, Verlagsdirektoren, Mitglieder von Gremien, Direktoren von Privatinstituten usw. wirkten. Das umfassende Werk Noicas besteht vor allem in einer Ontologie und Kulturphilosophie, die von Descartes, Kant, Hegel und Heidegger beeinflusst wurde, ohne dass sie dadurch an Originalität einbüßt; außerdem übersetzte er Platon, die griechischen Kommentatore zu Aristoteles und Augustinus, Descartes, Kant und Hegel1. Lebensweltlicher und theoretischer Ausgangspunkt De dignitate Europae ist im Grunde genommen eine Auseinandersetzung mit dem damaligen tatsächlichen oder nur vermuteten Skeptizismus mancher westlicher Stimmen, die das Ende Europas (d. h. der europäischen Kultur) ankündigten und beklagten. Und so beginnt auch das Buch: mit einem „Brief an einen westlichen Intellektuellen", in dem dessen angebliche Frage „Sind wir noch zu retten?" zu verstehen versucht wird. Das Bild des Westens aus der Perspektive -so Noica - eines „Randbewohners" liest sich zunächst nicht viel anders als die geläufigen Kulturkritiken der Moderne: Seit zwei Generationen wird Eure Jugend, aus der vielleicht einige Genies hätten hervorgehen können, auf die Straße getrieben und hysterisch gemacht. Ihr habt es nicht verstanden, die rühmliche Gegenseite unsrer Kultur ins rechte Licht zu rücken.2 Um seinen Angriff richtig zu verstehen, bedarf es der Anmerkung, dass Noica selbst davon träumte, wie er sagte, eine Mannschaft von jungen Leuten zu trainieren, die die intellektuelle Elite des Landes bilden hätte sollen - „Kulturtrai- 1 Sein Frühwerk enthält: Mathesis sau bucuriile simple, Fundatia pentru Literaturä si Artä „Regele Carol II", Bukarest 1934; Concepte deschise în istoria filosofiei la Descartes, Leibniz ¡i Kant, „Bucovina", Bukarest 1936; Viata ¡i filosofia lui René Descartes, Alcalay & Co., Bukarest 1937; De caelo. Încercare în jurul cunoajterii ¡i indi-vidului, Vremea, Bukarest 1937; Doua introduceri ¡i o trecere spre idealism, Fundatia Regalä pentru Literaturä çi Artä, Bukarest 1943; Jurnalfilosofic, Publicom, Bukarest 1944; Pagini despre sufletul românesc, „Luceafarul", Bukarest 1944. Die Hauptwerke wurden jedoch nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis geschrieben: Un eseu despre întelesulgrec al dragostei de oameni ¡i lucruri, Ed. pentru Literaturä Universalä, Bukarest 1969; 27 de trepte ale realului, Ed. §tiintificä, Bukarest 1969; Rostireafilosofica româneasca, Çtiintificâ, Bukarest: 1970; Creatie ¡i frumos în rostirea româneasca, Ed. Eminescu, Bukarest 1973; Eminescu sau gînduri despre omul dep-lin al culturii românefli, Ed. Eminescu, Bukarest 1975; Sentimentul românesc al fiintei, Ed. Eminescu, Bukarest 1978; §ase maladii ale spiritului contemporan, Ed. Univers, Bukarest 1978; Povestiri despre om dupa o carte a lui Hegel (Fenomenologia spiritului), Ed. Cartea Romäneascä, Bukarest 1980; Devenirea întru fiinta, Bd. 1: Încercare asupra filosofiei traditionale, Bd. 2: Tratat de ontologie, Ed. Çtiintificâ çi Enciclopedicä, Bukarest 1984; Trei introduceri la devenirea întru fiinta, Ed. Univers, Bukarest 1984; Scrisori despre logica lui Hermes, Ed. Cartea Romäneascä, Bukarest 1986; De dignitate Europœœ, Kriterion, Bukarest 1988. 2 Constantin Noica, De dignitate Europae, Kriterion, Bukarest 1998, S. 6. ner" zu sein, war sein Traum und diesen Beruf zu ermöglichen, die Aufgabe des Staates. In De dignitate Europae sieht er als Lösung, um der desorientierten Jugend Werte angedeihen zu lassen und sie aus der Lethargie zu reißen, das Lernen der Kulturgeschichte Europas: Die jungen Leute sollen erfahren, „daß vor etwa tausendfünfhundert Jahren eine Kultur entstand, die mit ihren Werten die übrige Menschheit erfaßte, sie ausbeutete, es ist wahr, sie aber auch erzog; daß also fast alles, was heute auf dem Erdball geschieht und morgen sogar im Kosmos geschehen wird, den Stempel Europas trägt".3 Die Europäer seien nicht nur Piraten, Konquistadoren und Korsaren gewesen, sondern auch „Korsaren des Geistes" - und dies sei ein Grund zum Stolz. Den Begriff des Kulturschaffenden leitet Noica im Weiteren von einer allgemeinen Auffassung des Verhältnisses zwischen der Regel und der Ausnahme ab. Es gibt nach ihm fünf Kategorien von Ausnahmen: Manche entkräften die Regel, andere bestätigen vielmehr das Gesetz, einige erweitern die Regel, wieder andere verkünden diese und schließlich gibt es Ausnahmen, die sich behaupten, indem sie selbst zur Regel werden. Den letzten Fall bilden die „Genies" - als Ausnahmen, welche die bestehenden Gesetze aufheben und an ihre Stelle treten. Die Weltkulturen kennen alle diese Formen des Verhältnisses zwischen der Regel und der Ausnahme, jedoch begünstigt jede von ihnen einen bestimmten Typ dieser fünf. Europa zeichnet sich durch den Vorrang der Genies als Kulturschaffende aus und verdrängt damit die Gesetze und ihre religiösen Vertreter - die Götter: Noica betont damit indirekt den Rationalismus als europäischen Grundwert. Die struktur der europäischen Kultur als synthetische Einheit und ihr Anfang Im Vergleich zu anderen Kulturen ist die europäische Kultur „vollgültig" aus einem anderen - wieder spekulativ argumentierten - Grund: Sie bietet das Beispiel einer synthetischen Einheit. Jede Konfiguration, jeder Kulturtyp verwirklicht ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Einen und dem Vielfachen, gemäß einer der folgenden fünf Arten: 1. Das Eine und seine Wiederholung, 2. das Eine und seine Abwandlung, 3. das Eine im Vielfachen, 4. das Eine und das Vielfache, 5. das Vielfach-Eine.4 37 3 Ebd. 4 Ebd., 35. 38 Die Terminologie erinnert deutlich an Platons Parmenides, auch wenn dieser genius loci des europäischen Denkens hier nicht erwähnt wird. Allerdings suggerieren die weiter vorgebrachten Beispiele eher ein religiöses Kriterium als ein onto-logisch-logisches Schema als Grundlage der obigen Klassifikation: Das Eine wird in den „primitiven" Kulturen des Totem-Typs bloß wiederholt; das Eine wird in den monotheistischen Kulturen abgewandelt; das Eine im Vielfachen kommt in den pantheistischen Kulturen vor, etwa in Indien, wo die Gottheiten keine deutlichen Konturen haben und wo auf die Abschaffung der Individuation als Abnormität abgezielt wird; das Eine und das Vielfache ist spezifisch für die polytheistischen Kulturen der griechischen Art; und schließlich begründet das Viel-fach-Eine die Struktur „unserer Kultur", d. h. der europäischen, die konventionell im Jahre 325 mit dem Konzil zu Nicäa begann. Die Griechen haben sich ständig nach der Einheit gesehnt; erst die „europäische Kultur" bewertet die Diversifizierung der Einheiten positiv bzw. erreicht sie eine sog. Verteilung ohne Zerteilung. Damit eng zusammen hängt der Wertbegriff; denn auch die Werte verteilen sich, ohne sich zu zerteilen. Der Wert ist kein Gut i. S. von Gütern, die wir konsumieren und die dadurch verschwinden. Dagegen sind es die Werte, die uns „insumieren"; als ideelle Wesen bleiben sie jedoch unversehrt. Die Kultur unterscheidet sich von der Natur dadurch, dass sie zum Wert erhöht, was im natürlichen Zustand nur ein Gut sein kann. Anders gesagt ist die Kultur gerade ein Wertsystem und im Besonderen ist die europäische Kultur ein System selbstständiger Werte, viel diverser als in der griechischen Welt. Über die Anfänge der europäischen Kultur wurde ausführlich und kontrovers geschrieben. Noica legt als ihren Beginn - wie gesagt - das Konzil zu Nicäa fest, als Moment eines Bruchs mit der Natur, mit der bisherigen Vernunft und mit der Antike selbst. Dabei ist die Rolle, die der christlichen Theologie zuerkannt wird, unverkennbar, und zwar betont Noica polemisch gegen die übliche westliche Kulturgeschichte (hier werden Burckhardt, Spengler und Nietzsche erwähnt), obschon in der Tradition der rumänischen Historiographie,5 die europäische Rolle von Byzanz. Keine Lücke trennt den Fall des Römischen Reichs von der Genese der mittelalterlichen europäischen Kultur und wir verdanken nicht nur den Arabern die Übertragung der Kulturwerte der Antike; als die ersten Klöster im Westen gegründet worden sind, konnte Europa schon auf eine jahrhundertelange zivilisatorische und ideengeschichtliche Entwicklung zurückblicken, die „am Rande eines Europa im größten Chaos und einer arabischen 5 So definierte Nicolae Iorga die Rolle der rumänischen Fürstentümer nach dem Fall von Byzanz als ein „Byzance après Byzance" i. S. der Bewahrung und Überlieferung einer gewissen kulturell-religiösen Identität in Osteuropa (Byzance après Byzance, 1934; http://www.unibuc.ro/CLASSICAJbyzance/index.htm, eingesehen am 29. Mai 2007). Welt von Nomaden"6 stattgefunden hatte. Die theologischen Auseinandersetzungen in Byzanz, die fast fünfhundert Jahre andauerten, sieht Noica als Kämpfe von „ganze[n] Massen anonymer Menschen [...] ihrer Ideen wegen ';7 sie sollen die späteren Disputationes an der Sorbonne durch ihre Leidenschaft und ihren Massencharakter bei weitem übertroffen haben. Am Ende dieses Prozesses setzte sich der Gedanke der synthetischen Einheit durch: Das Paradox der Doppelnatur Christi übersetzt Noica ontologisch als die Verkörperung des Gesetzes im jeweiligen Fall, und die Dreifaltigkeit - im Übrigen an seine eigene Ontologie angepasst - als eine Synthese zwischen dem Gesetz (dem Allgemeinen), der individuellen Wirklichkeit und den Bestimmungen. Zwar musste zu jener Zeit, als das Buch geschrieben und veröffentlicht wurde, als Subjekt dieses Satzes das unschuldige „Lebewesen" fungieren. Und auch die christliche Theologie wurde zur „europäische[n] Mythologie" umformuliert. Sie lässt alles aus einer einzigen „Legende", „aus der Legende von einem in der Krippe geborenen Kind",8 entstehen. Aus ihr haben sich dann die selbstständigen Wertsysteme entwickelt, zunächst unter dem Primat der Religion (Mittelalter), dann der Künste und der Wissenschaften (Renaissance), der Philo s ophie, der Geschichte und Politik, bis zum gegenwärtigen Vorrang der technischen Werte. Kulturphilosophie als Sprachmorphologie Dieser historische Prozess wird systematisch durch eine neue Morphologie der Kulturen begründet. Die klassische Kulturmorphologie und ihre Nachfolger (Leo Frobenius in Paideuma, Spenglers Der Untergang des Abendlandes, Toynbees A Study of History und in Rumänien Lucian Blaga mit seiner Kulturtrilogie9) legten den Kulturen je eine spezifische Raumform zugrunde. Noica bringt dagegen zwei Einwände ein: 1. Die räumlich fundierte Kulturmorphologie verfestigt eine Kultur zu einer starren Gestalt oder zu einem Raumsymbol (etwa die Grotte oder die gewellte Linie), das dann normgebend und daher reduktionistisch wirkt. 2. Sie stellen sich die Kulturen als geschlossene Konfigurationen vor und können folglich nicht vom gesamten Europa Rechenschaft geben: 39 6 Ebd., 53. 7 Ebd. 8 Ebd., 56. 9 Trilogia culturii von Lucian Blaga (erstmals 1943 erschienen; in: Opere Bd. 9, Minerva, Bukarest 1985) ist die bis heute noch bedeutendste kulturphilosophische Interpretation in Rumänien. Blaga folgte einerseits teilweise Frobenius und Spengler und andererseits Jung, um ein geordnetes System inhaltlich und stilistisch kulturbildender Kategorien zu entwerfen, die unbewusst und kollektiv sind. 40 Die Utopien stellten sich eine ideale Geschichte auf Inseln vor; die Kulturphilosophie sieht die nunmehr real gegebene Geschichte als Archipel. Dabei läßt sie für keinen Kontinent Raum.10 Nach Noica bedarf es einer neuen Morphologie, um eine Philosophie der Kultur in der Einzahl und nicht bloß irreduzibler Kulturen zu begründen. Die neue Kulturphilosophie erinnert an die ursprüngliche, grammatikalische Bedeutung der Morphologie, die die „Wortarten" zum Gegenstand nimmt, und wird daher als eine Sprachmorphologie oder als eine „Grammatik der Kultur"11 bezeichnet. Sie besagt konkret, dass jede europäische Kulturepoche im Zeichen der Dominanz einer gewissen Wortart steht: Im Mittelalter überwog das Substantiv, in der Renaissance das Adjektiv, in der Zeit der Reformation, Gegenreformation und der französischen Klassik das Adverb, dann das Pronomen und schließlich in der Gegenwart das Numerale und die Konjunktion. In jedem von diesen Zeitaltern drückt sich - ein Gedanke mit unverkennbar hegelschen Resonanzen - der Logos oder der kulturschaffende Geist im Ganzen aus, jedoch auf je eine bestimmte Art und Weise, die alle jeweiligen Kulturformen prägt. Diese Diversität unterscheidet Europa von anderen Kulturen, etwa von der altägyptischen oder der chinesischen, die im Laufe der Geschichte nur eine einzige Wortart zu verwirklichen vermochten (das hieratische Substantiv bzw. das ethische Adverb). 1. Das Mittelalter und das Substantiv. Noica lässt die aufgeworfene Frage, ob jede Kultur mit dem Substantiv beginnt, offen und beschränkt sich auf die Darstellung des europäischen Mittelalters, in dem unterschiedliche Phänomene eine Vorherrschaft der Namen bzw. der Quidditäten und ideellen Wesen zeigen: der Streit über die Universalien; die durchgehende Substantivierung (d. i. Personifizierung) von ethischen Qualitäten und seelischen Akten in Le Roman de la Rose (von Courtoisie, Envie, Contrainte, Peur, bis zu Bel Accueil, Male Bouche, Dous Regars, Biau Semblant usw.); Dantes Allegorien; die Alchimie mit ihrer edlen Welt von Substanzen und Wirklichkeiten (vom Schwefel und Quarksilber bis zu den substantivierten Nigredo, Albedo, Rubedo) usw. 2. Die Renaissance - das Adjektiv. Verglichen mit den mittelalterlichen Rittern erscheinen die italienischen Städte in der Zeit der Renaissance wie eine bunte Menschenansammlung. Heterogenität wird zu ihrem Kennwort und daher kann sich das neue Bewusstsein am besten durch die Malerei, als typische Kunst des 10 Noica, 1988, 67. 11 Ebd., 69. Adjektivs, äußern. So wird das Menschenwesen mit „Epitheta" geschmückt wie: uomo magnifico, piacévole, unico, singolare, universale usw. Vor allem die Bedeutungsverlagerung des letzten Wortes weist auf das Eintreten in ein neues Zeitalter hin: Das Universale gehört nicht mehr zu den Substantiven, sondern wird - wie im erwähnten Ausdruck - zum Adjektiv. Noica folgt dabei der klassischen Renaissance-Interpretation Burckhardts - daher auch die Betonung des Karnevals und der Triumphzüge als spezifisches Renaissance-Phänomen. Die Auslegung dieser Epoche anhand des Adjektivs geht so weit, dass sogar einzelne Gestalten als Verkörperung der Steigerungsstufen des Adjektivs dargestellt werden, mit mehr oder weniger überzeugenden Argumenten und eindeutig vereinfachend: Leon Battista Alberti steht für den Komparativ, Pico della Mirandola mit seinen hervorragenden Begabungen und, auf einer anderen Ebene, der fanatische Savonarola für den Superlativ, während Leonardo da Vinci durch seine Bescheidenheit trotz der Universalität sowie auch durch das Interesse an der Natürlichkeit „ruhig zur Grundstufe des Adjektivs zurückfand]".12 Sein Werk konnte nur fragmentarisch bleiben, weil auch die unzähligen Adjektive kein abgeschlossenes System bilden. 3. Das Adverb — Reformation, Barock, Klassizismus. In dieser Epoche herrschten la manière, die Art der Auslegung bekannter Werte (etwa des Altertums) und das Verhalten. Das Adverb bestimmt und präzisiert, regelt und kodifiziert die Wir-kungs- und Handlungsart des Menschen: Diese kann exzessiv (Barock), streng (Gegenreformation), hart (Kalvinismus), mit würdevollem Maß, später frei, subtil und anmutig etc. sein. - Alle gestalten eine Zeit, in der das Ethische herrscht. Und wenn Eugenio d'Ors das Barock als eine Konstante des menschlichen Geistes betrachtete, so hatte er insofern Recht, als das Barock die adverbiale Konstante der Handlung und des Verhaltens betrifft. Zugleich aber, weil das Adverb nur begleitet, kann diese Epoche nicht (und wollte es ursprünglich auch nicht) etwas Neues hervorbringen, weder die Reform, noch die Gegenreformation und vielleicht sogar am wenigsten der Klassizismus: Dasselbe wird nur anders gemacht bzw. interpretiert. In den Vordergrund tritt die Methode, das Wie der Handlung oder des Erkennens (Descartes, Kant). 4. Das Pronomen. Der gesamte Zeitraum zwischen Montaigne und „uns", d. h. der Gegenwart, steht für Noica unter dem Zeichen des Pronomens. Zwar deckt er sich teilweise mit der adverbialen Kulturepoche und bleibt auch in seinem Ende ziemlich vage und unbestimmt, doch seine Merkmale sind deshalb nicht weniger klar und deutlich. So entdeckte Montaigne die Neuheit des Ich, des individuellen Selbst; seine Essais bilden nicht nur den Ursprung des Romans als ei- 41 12 Ebd., 84. ner spezifisch modernen literarischen Gattung, sondern rechtfertigen auch das Porträt in der Malerei und später die Fotografie. Zunächst hält mit der Post-Renaissance der Autor Einzug in die europäische Kultur; niemand würde an den „Manien und Idiosynkrasien eines einfachen >Ich<" Interesse finden - so Noica, der auch sonst für jede Ablehnung des „bloß Biographischen" im Denken und in der Kunst bekannt war -, wenn diese nicht die Würde des Individuums in nuce enthielten.13 Bereits die Renaissance spaltete die Einheit des Wesens in eine Pluralität von Verkörperungen auf. Dieser Prozess wird jetzt fortgesetzt: Der Autor ist nicht allein, er schreibt - wie Montaigne - für seinen „Bruder", den Leser, der dasselbe Recht hat, sein Leben öffentlich mitzuteilen und somit Autor zu werden. Kein individuelles Ich darf von der Repräsentativität ausgeschlossen werden. 42 In den orientalischen Kulturen geht das Ich in der anonymen Masse auf; in Griechenland fängt es sich zwar zu behaupten an, doch entartet es in der Zügellosig-keit eines Alkibiades, des alles verspottenden Aristophanes oder der Sophisten. Die Demokratie wurde erst in der europäischen Moderne möglich als Zeitalter des Pronomens, und zwar indem hier das „Ich" zu einem „Wir" wird. Die Einschätzung des Denkers dieses Phänomens schwankt zwischen der Kritik an der „Belanglosigkeit" individueller Geschichten und der Zustimmung zur Erhebung der Individualität zur Persönlichkeit, die in Goethe gipfelt und dann im Weiteren anarchisch abgebaut wird. Erscheinungen dieser Kulturepoche sind sowohl das in der individuellen Vernunft gründende ethische Gesetz Kants als auch das krankhafte Ich Nietzsches. Der Hegelianismus bringt jedenfalls zum Ausdruck, dass sich die gesunde Vernunft des individuellen Ich zum objektiven Geist (d. i. zu Gemeinschaften) organisiert. Das individuelle Ich wird zum Träger eines Wir. Zwar verfehlte die kurz danach gegründete Soziologie - so Noica - den tieferen, d. i. für den Denker immer den philosophischen Sinn des historischen Prozesses. Die Statistik der Soziologie macht deutlich, dass das Wir gezählte Individuen summierte, wie auch später in der modernen Mathematik die Mengenlehre aus der Totalisierung der Punkte entstand. 5. Das Numerale und die Konjunktion. Somit beginnt ein neues Zeitalter, in dem wir heute leben. Es ist die Zeit der Konjunktionen, d. h. der Beziehungen, allerdings der äußerlichen Verbindungen wie „und", „oder", „wenn" etc. Sie bedeuten keine Solidarität, sondern sind bloß „Konnektive" wie in der Logik. Daher 13 Ebd., 105. Dabei wird unter „Individuum" im Weiteren nur der Mann verstanden; nur ihm komme als Wesen die — wieder hegelianisch lautende — „Objektivierung des Geistes" zu, während der Geist der Frau eben ihr Körper sei (ebd., 106). bilden diese „koordinierten" Einzelnen eine anonyme Menge, nicht viel anders als ein Fischschwarm: [...] daß sie sich also du sagen, ohne sich zu kennen, Blue Jeans tragen und es bis zum Nudismus treiben, weil sie keine Identität haben, daß sie zu Hippies werden, weil sie keine Behausung haben, daß sie eher durch musikalische Ansprechbarkeit als durch die des Wortes kommunizieren und sich schließlich in eine Sekte aufnehmen lassen, weil sie doch einer Gemeinschaft bedürfen [...]14 Der über 75jährige Denker geht nicht gerade schonend mit der jüngeren Generation um; er sieht in solchen Phänomenen vielfache „Nihilismen". Eine ebenso scharfe Kritik ruft auch die Herrschaft der Zahlen hervor, die jeder geistige Bedeutung (wie sie sie etwa in der pythagoräischen Mystik hatten) beraubt allein technischen Zwecken zur Verfügung gestellt werden. Die Zahl macht alles Gezähltes gleich und in dieser Hinsicht spielt die moderne Mathematik, bei allen ihren Verdiensten, auch eine verheerende Rolle, indem sie Formen und Wirklichkeiten gleichermaßen homogenisiert und unwirklich macht. Mit der Zahl und den koordinierenden Konjunktionen wird der Formalismus als Grundzug der gegenwärtigen Kultur eingeführt. unterwegs zu einem Zeitalter der Präposition und das unsterbliche Europa 43 Diesem kritischen Bild der Gegenwart setzt Noica die kulturschaffende Kreativität entgegen: Alle Ich können addiert und ihr Werden statistisch kontrolliert werden, nur die sog. „fruchtbaren Ich" nicht: Ein Professor der Mathematik wird mit einem Professor der Mathematik zusammengezählt, ein Riemann und ein Poincaré aber nicht.15 Noicas Kulturkritik darf jedoch nicht mit den apokalyptischen Tönen eines Spengler oder der Kulturrelativisten verwechselt werden. Die Grundnote bleibt optimistisch, die Kritik soll gerade einen Neubeginn ermöglichen. Gegen den damaligen Ausruf seines Freundes Eugène Ionesco „Le roi se meurt!" schlägt Noica die Frage nach dem „Eintritt ins Leben" vor16 und träumt vom günstigen Moment (Kairos) der Verwirklichung einer neuen kulturellen Genese. Zwar deutet er immer wieder an, dass die nächste Kulturepoche diesmal vielleicht im Zeichen der Präposition stehen wird; der Gedanke kann aber wohl nicht davon losgelöst 14 Ebd., 71. 15 Ebd., 120. 16 Ebd., 138. gesehen werden, dass im Zentrum der Ontologie Noicas, die in der Nachfolge Heideggers das Ausdruckspotential der Sprache betont, selbst eine Präposition steht - intru -, die praktisch kein genaues Äquivalent in den anderen romanischen Sprachen hat. Abgesehen aber von der konkreten Bestimmung der Zukunft besteht das Grundanliegen Noicas darin, das Modell Europas zu behaupten. Alle anderen uns bekannten Kulturen sind nur Teilkulturen gewesen - so Noica -, sowohl räumlich als auch in ihrer Gestalt. Erst die europäische Kultur vermochte sich über den ganzen Erdball auszubreiten, und zwar aufgrund ihrer strukturellen Vollständigkeit. Der Eurozentrismus ist daher nach Noica berechtigt: Wenn die europäische Kultur unterginge, dürfte etwas von ihr immer noch überleben: Das Modell, das sie der historischen Welt geboten hat. Es würde wiedererstehen als das Selbstbewußtsein jeder anderen vollgültigen Kultur - falls es noch eine gäbe. [...] Es dürfte also kein „Europozentrismus" sein, wenn wir erklären, daß das europäische Modell als einziges auch für andere Kulturen Gültigkeit haben könnte. Von Europozentrismus wurde nur zu jener Zeit gesprochen, als Europa die Werte anderer Kulturen und Zivilisationen ignorierte, selbst wenn es auf historischer Ebene mit ihnen Kontakt aufgenommen hatte. Aber im zwanzigsten Jahrhundert hat der Aus-44 druck seinen abwertenden Sinn verloren [!], seit die europäische Kultur nicht allein assimilierte, was in anderen Kulturen Geltung besaß (in erster Linie die Erfahrung in Kunst und Sprache, manchmal auch im Denken), sondern ihrerseits die eigenen moralischen, ideologischen, ökonomischen und zivilisatorischen Werte bei ihnen verbreitete und auf natürliche Weise [!] den ganzen Erdball europäisierte.17 Nachwort: die antwort der Jugend Angesichts des relativ eingeschränkten Bekanntheitsgrades von Noica außerhalb Rumäniens und der Tatsache, dass Modelul cultural european bisher noch nicht in Fremdsprachen übersetzt wurde, auch wenn das Buch - wie bereits erwähnt -in Rumänien zuerst in einer deutschen Übersetzung erschienen ist, wollten die vorliegenden Ausführungen nicht mehr als eine Darstellung des Denkens Noicas sein und beabsichtigten keine Stellungnahme. Am Ende lässt sich dennoch die Frage nicht vermeiden, ob Noicas Auffassung der europäischen Identität im neuen Kontext eines politisch wachsenden Europas tatsächlich eine Anregung sein kann. 17 Ebd., 22 f. Noicas europäisches Kulturmodell verführt gewiss als ein gedanken- und geistreiches Spiel mit der europäischen Kulturgeschichte, doch seine Stringenz überzeugt weniger. Im Anspruch, umfassende Kulturphänomene in ein System zu fassen, liegen zugleich die Stärke und die Schwäche seines Denkens: Einerseits liefert sein Buch ein Gesamtbild der europäischen Kultur, was seinen deklarierten erzieherisch-erbaulichen Absichten (die Jugend von ihrer Entmutigung zu heilen) entspricht. Andererseits entsteht nichtsdestoweniger der Eindruck einer starken Vereinfachung der europäischen Diversität und der subjektiven Auswahl seiner Beispiele. Auch die Inspirationsquellen seiner neuen Kulturmorphologie sind eigentlich jene, die auch Lucian Blaga in den 1930er Jahren für seine Kulturphilosophie zum Ausgangspunkt nahm; sie haben längst ihre Aktualität verloren. Wesentlich beim Philosophieren ist jedoch für Noica (wie im Übrigen auch für Blaga) die Kreativität; und in dieser Hinsicht hat er seine eigene hinreichend bewiesen. Außerdem lassen sich im besprochenen Buch Noicas auch Leitmotive finden, die von der „Schule von Pältini§" nach der Wende 1989 fortgesetzt wurden, wie etwa die Kritik der Moderne und die Kritik des Kulturrelativismus, der nun im Zusammenhang mit der Postmoderne betrachtet wird. Die Rolle der Orthodoxie beim Aufbau Europas - ein Aspekt, der immerhin vom Rationalisten Noica gemäßigt ausgewertet wurde - wurde von philosophischen und künstlerischen Kreisen im gegenwärtigen Rumänien stärker betont. Nicht zuletzt wurde Noica in den letzten Jahren von ausländischen Exegeten für seine vermeintlich widersprüchliche politische Haltung, genauer für die Zerrissenheit zwischen Nationalismus und Eurozentrismus kritisiert,18 was andererseits rumänische Noica-Spezi-alisten zurückgewiesen haben. Die Diskussion zum politischen Hintergrund des Denkens Noicas lief allerdings bis vor kurzem ausschließlich in Rumänien selbst; das ist mitunter einer der Beweise dafür, dass sein Denken immer noch die philosophische Szene in Rumänien maßgeblich prägt. 45 18 Alexandra Laignel-Lavastine, Filozofie si nationalism.. ParadoxulNoica, Humanitas, Bukarest, 1998.