Meine Schulreise durch Norddeutschland. Von ZEP. Benedicter, Oberlehrer und k. k. Be/irks-Sckulinspeclor. Separat-Abdruck aus der „Laibacher Schulzeitung“. Der Reinertrag der Schrift wird Schulzwecken zugewendet. Laibach 1883. Im Selbstverlage des Verfasaers. Buchdruckorei Klemmayr & Bamberg. Meine Schulreise durch Norddeutschland. Von DP_ IE3e:n.ed.Ictex, Oberlehrer und k. k. Bezirks-Schulinspector. Separat-Abdruek aus der „Laibaeher Schulzeitung". Laibach 1883. Im Selbstverlage des Verfaasers. Buchdruckerei Kleinmayr & Bamberg. I {fJ* zCf 35 ,,1’hatig zli sein, ist des Monschen erste Bestirn- mung, nnd alle Zwisehenzeiton, in denen er auszu- ruhen genothigt iet, solite er anwenden, eine deutliche Erkenntnis der ausserlichen Dinge zu erlangen, die ihm in der Polge abermals seine Thatigkeit erleichtern." Goethe. Schon seit mehreren Jahren pflege ich die Herbstferien zu „padagogischen Reisen“ zu beniitzen, und im verflossenen Herbste war in mir der Entsehluss zur Reife gedieben, die verschiedenen Schulanstalten und Erziebungsinstitute einiger Provinzen Norddeutsch- lands zu besuchen. Ich freute mich innig, dieses Reiseproject realisieren zu konnen, meinen Geist durch neue Anscbauungen zu erfrischen und zu bereichern, Stoff zu Vergleichungen zu sammeln und Einkehr zu balten in den Statten, wo beriihmte Padagogen ihres Amtes waiten. AH dieses hatte auf mich so machtig gewirkt, dass es mir nicht schwer ankam, mich von der hauslichen Scholle zu trennen, dass ich von Freude befliigelt meiner gewiss neidenswerten Bestimmung entgegeneilte. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, im Folgenden das Wesentlichste der von mir besuchten Schul- und Erziehungsanstalten der Lehrerschaft mitzutheilen und das norddeutsche Schulwesen nach seiner charakteristischen Seite zu schildern und so die Grundbedingungen eines Gesammtbildes zu liefern, das einen Einblick in die Organisa- tion der deutschen Volksschulbildung zu gevvahren geeignet ist. Wie die geehrten Leser finden werden, habe ich auch an einer Stelle nichtpada- gogischen Stoff — wie die Harzreise — mit einfliessen lassen, um mit Horaz das Niitz- liche mit dem Angenehmen zu verbinden. Die Lehrseminare zu Plauen, Bautzen, Eisleben und Halberstadt. Das konigl. Seminar zu Plauen. Die Stadt Plauen, vormals Hauptstadt des ehemaligen voigtlandischen Kreises, liegt an der weissen Elster und hat ungefahr 25 000 Einwohner, die sehr gewerbsfleissig sind. Nach den Mittheilungen des gegenwartigen Seminardirectors Herrn Rompler hat das dortige Lehrerseminar im Jahre 1868 eine neue Organisation erfahren; das Pro- seminar wurde mit dem Seminare verbunden, so dass nun letzteres aus sechs aufstei- genden Classen mit einjahrigem Cursus unter einheitlicher Leitung besteht. Die Anstalt zahlt ilber 150 Zoglinge. — Das Seminargebaude, zwar nicht mehr neu, bietet dennoch einen recht freundliehen Anblick; der Platz vor der Turnhalle ist mit 24 Linden be- pflanzt und wird, sobald diese mehr Schatten spenden werden, seinem Zwecke voll- kommen entsprechen. Zeit und Raum gestatten es nicht, eine ausfuhrliche Darstellung des Zweckes und Lehrplanes des Seminars zu geben; ich muss mich daher auf kurze Andeutungen be- schranken. — Das Lehrerseminar zu Plauen hat nicht nur allein den Zweck, einen Lehrer- stand zu bilden, der geeignet ist, die Aufgabe der allgemeinen Volksbildung zu erfiillen, sondern es werden dort die Seminaristen auch zu kirchlichen Diensten befahigt. Dazu gehort nun, dass der die Anstalt verlassende Seminarist die Unterrichtsstunden in der Volks- und Burgerschule in voller Vertiefung erfasst habe; dass er, den andern wichtigen 4 Bildungselementen seiner Zeit nicht fremd, zur Selbstandigkeit des Denkens gereift, vom Forschungs- und Wissenstrieb erfiillt sei; dass er fiir alles Hobe, Edle und Schone ergliihe und zn einem sittlichen Charakter herangebildet sei; dass er sowohl iiber Ziel und Weg der Erziekung und des Unterrichtes vollige Klarkeit besitze, als auch in Unterricht und Erziehung praktisch geiibt worden sei. Was den kircblichen Dienst anlangt, so ist eine derartige musikaliscbe Ausbildung ndthig, dass der Zogling zur Pflege und Leitung des religiosen Gesanges und zu einem erbauenden Orgelspiele vollstandig befahigt wird. Aus diesem Ziele lassen sich die einzelnen Unterrichtszweige und ibre Behandlung leicbt ableiten. Unterricht in der Padagogik ertheilt in sammtlichen Classen der Director. Ueber diesen Gegenstand spridit sich derselbe folgendermassen aus: „Wir schicken der Pada¬ gogik die Psychologie voraus, weil die Kenntnis der menschlichen Seele unbedingt nothig ist, um den Bau des Unterrichtes und der Erziehung verstehen und spater selbst unter- richten und erziehen zu konnen. Die Unterrichtslehre behandeln wir, so weit moglich, in der II. Classe, weil in der I. Classe (letzter Jahrgang) die praktische Anwendung zu folgen hat. Die Geschichte der Padagogik ist nicht bloss auf eine Geschichte der Volks- schule oder auf einige wenige Biographien zu beschranken, der Lehrer muss einen Ueber- blick liber das ganze Schul- und Erziehungswesen und seine Entwicklung erhalten. Da, wo man in der Geschichte der Padagogik der Gegenwart nahe tritt, hat man ihr nicht auszmveichen, sondern dem kiinftigen Lehrer immer an der Hand der Geschichte iiber die bewegenden Zeitfragen ein Urtheil zu verschaffen." — Den Seminaristen werden empfohlen: „Curtmann, Unterrichts- und Erziehungslehre“; „Kehr, Praxis der Volks- schule“; „Lindner, Lehrbuch der empirischen Psychologie“. Bei dem deutschen Sprachunterricht wird vorztiglich ins Auge gefasst, den Zogling des Seminars seiner Muttersprache in stilistischer, grammatikalischer und ortographischer Beziehung schriftlich wie miindlich machtig zu machen, mit der Formbildung bei ihm eine rege Gedankenbildung zu veranlassen, ihm sowohl eine Kenntnis des Baues unserer Sprache und ihrer Entfaltung, als auch der Entwicklung unserer Literatur zu verschaifen, vor allem aber durch die grossten Meister unserer Literatur einen allseits bildenden Einfluss auf ihn auszuiiben. — Vor einigen Jahren wurde in diesem Seminare auch das Mittelhochdeutsche und Gothische versuchsweise eingefiihrt. — Als Hauptaufgabe des Unterrichtes im Altdeutschen wird angesehen, so weit moglich zu zeigen, wie unsere Sprache war und \vie sich die neue Form aus der alten entvvickelt hat. Im Mittelhoch- deutschen wird das Grammatikalische an das Gelesene angeschlossen, die gothischen Formen werden vielfach schon mit herbeigezogen. Erwahnenswert ist, dass im Plauen’schen Seminare auch die lateinisehe Sprache eine Statte gefunden hat. Dariiber freut sich ganz besonders der dortige Diretor. „Man miisse sich," sagt derselbe, „gliicklich preisen, wenn man einen Lehrgegenstand hat, bei welchem sich das Denken sozusagen veranschaulichen lasst. Und das Latein sei ein solcher Gegenstand."- Die Zoglinge erhalten ferner auch Unterricht im Garten- und Obstbau. Die von denselben veredelten und gepflegten Obstbaume haben zwai zur Zeit noch keinen grossen Erfolg geliefert, aber doch bewiesen, dass auch im\oigtlande ganz vortreffliche hriichte gedeihen konnen. Das Giftpflanzenbeet dient dem Unterrichte in der Naturgeschichte und ist ein Beispiel von dem innigen Zusammenhange zsvischen Zucht und Unterricht! „Denn die Beschaftigung der Seminaristen im Garten," sagt der Director, „ist eine Massregel der Zucht. Wir, d. h. das Lehrercollegium, haben uns iiber bestimmte Normen und Veranstaltungen geeinigt, welche unseren Zoglingen zui' Erreichung ihres Zieles auch ausserhalb der Schulstunden verhelfen sollen." Die musikalischen Unterrichtszvveige werden in diesem Seminare recht gut gepflegt. Die Pflege der Solo-Chorale ist im Seminare eine Hauptaufgabe. Stark und Weinlig bilden bis zur ersten Classe binauf immer wiederkehrende Bildungsmittel. Ausser dem vierstimmigen Cboralbuche von Hiller und Markel werden beniitzt: Schulze, 90 Chorale; Heim, Volksgesange fiir gemischten und fiir Mannerchor. Fiir den Solo- gesang finden wir in Bacbs Matthaus-Passion, Pergoleses Stabat mater, Scbuberts, Mendels- sohns und anderer Liedern reichen Stoff. — Zur Unterstiitzung eines patriotischen Festes wurde ein Satz aus Doles Motette: „Eine feste Burg“, der erste Chor aus Brahms Requiem, Mendelssohns Bacchus-Chor u. a. geiibt, fiir ein grosseres Concert Wagners Matrosenchor aus dem „Fliegenden Hollander 11 und Scbuberts „Nacbthelle“. Zur Erzieluug nothiger Gewandtheit in der teehniscken Behandlung der Orgel \vird der Gang der Orgelschule von Sehtitze und Ritter beniitzt. Der Unterricht beginnt in Classe IV in zwei Abtheilungen, deren jede wochentlich zwei Stunden hat, wiihrend Classe lil bis I, auch in zwei Abtheilungen, nur je eine Stunde haben. Die eben im Spiele nicht beschaftigten Seminaristen einer Abtheilung werden angehalten, durch kleine musikalische Arbeiten sich fortzubilden, und so reichen denn Generalbass und Orgelunter- richt einander die Hand. Im Clavierunterrichte wird viel Zeit auf vorziigliche Tonstiicke verwendet. Das Pro- gramm fiir zweihandiges Spiel enthalt zuniichst circa 200 kurze Stiicke von massiger Schwierigkeit. Von Componisteu sind vorziiglich vertreten: Clementi, Haydn, Mozart, Franz Schubert, Mendelssohn, Schumann, Beethoven, Bach. Es folgen dann Henselt und Chopin. Nach einigen Concertetuden von Mayer und Henselt folgen endlich Sonaten von Haydn, Clementi, Mozart, Beethoven und Schubert. — Das Programm fiir vierhandiges Spiel umfasst die lieblichsten Sachen von Schubert, circa 30 Ouverturen von Kreutzer, Bellini, Rossini, Weber, Gluck etc., endlich auch einige Proben von Erzeugnissen der neuesten Richtung.* — Der Unterricht im Violinspiele wird bis zur II. Classe fortgesetzt. Zugrunde gelegt wird die n praktiscbe Violinschule“ von Rode, Kreutzer und Baillot. Es wird so viel als moglich das Einzelspiel begtinstigt. Von fortgeschritteneren Schiilern vverden z. B. die Mendelssohn’schen Lieder ohne Worte, Sonaten von Diabolli, Mozart etc. gespielt. Um die Quartettmusik zu pflegen, werden aus jeder Classe die besten Spieler herausgegriffen und fiir die wochentlich stattfindenden Uebungen des Quartetts bestimmt. Der Musildehrer des Seminars bemerkte iiber den Musikunterricht: „Eine weitere Beschrankung des musikalischen Unterrichtes erscheint als unthunličh. Denselben bloss facultativ zu gestalten, hat die Thatsache gegen sich, dass solche Unterrichtsgegenstande an einer Anstalt stets kranken. Die Bedeutung der Musik fiir Veredlung unseres Volks- lebens ist nicht zu unterschatzen, ganz abgesehen davon, dass wir die Versorgung des Kirchendienstes auf dem Lande bedenken miissen, und abgesehen von dem pecuniareu Vortheile, der mit der musikalischen Ausbildung fiir den Lehrer verbunden ist. Ausser- dem kann constatiert werden, dass die meisten Zoglinge der hiesigen Anstalt Musik mit Lust und Liebe betreiben." Der Lehrstoff der iibrigen Lehrgegenstande ist quantitativ fast derselbe, wie der in den osterr. Lehrer-Bildungsanstalten; auch die Behandlung der beziiglichen Disciplinen ist nicht wesent!ich anders, daher ich mich dariiber nicht weiter verbreiten will. Mit dem Seminare ist eine vierclassige Uebungsschule verbunden, in der die Seminaristen ikre praktische Vorbildung erhalten. Dieselbe zahlt ungefahr 100 Kinder, die den verschiedensten Standen angehoren; auch die Seminarlehrer selbst lassen ihre Kinder die Uebungsschule besuchen. — Es ist die Einrichtung getroffen, dass die * ZurUebung ara Clavier sind 7 Fliigol und 5 tafelformigc Ciaviere vorhanden. 6 Seminarlehrer ihre Facher im Seminare aucli in der Uebungsschule vertreten. Von der III. Classe an beginnen fiir die Seminaristen die praktischen Uebungen im Gesange und in den Realien; hauptsachlich aber werden diese natiirlich in der I. Classe (letzter Jahr- gang) gepflegt. Die Seminaristen werden so eingetheilt, dass jeder eine Zeitlang in den einzelnen Unterrichtszweigen der Volksscbule Unterricht ertheilen muss. Musterlectionen der betreffenden Seminarlehrer, denen die ganze Classe beivvohnt, wechseln mit den von den Seminaristen gehaltenen Stunden, in denen der Seminarlehrer, einzelne Semi¬ naristen, manchmal auck die ganze Classe kospitieren. Ftir jede Lection ist ein Entvvurf einzureichen; jeder gehaltenen Lection folgt von Seite der Seminaristen wie des betref¬ fenden Seminarlekrers die nothige Kritik. Am Anfang des Semesters besprechen die einzelnen Lehrer mit den Seminaristen, welche in ihren Fachern zu unterrichten haben, den Gang und die Methode, die befolgt werden soli; am Ende des Semesters halten sie mit ihnen abermals Conferenzen, deren Resultat ein Referat ist, das einer der Semi¬ naristen zu fertigen und an den Director einzuliefern hat. Im Michaelis-Examen haben Seminaristen das Examen in der Uebungsschule nach bestimmten Vorschriften abzu- halten. Monatlich haben zwei Schuler der I. und zwei der II. Classe die Inspection iiber die Uebungsschule nach einer bestimmten Instruction zu halten; ihre Aufgabe ist es auch, in den Pausen mit den Kindern Spiele und Turniibungen vorzunehmen. In der monat- lichen Conferenz haben sie die Classenbucher vorzulegen, uberhaupt iiber ihr Amt Rechen- schaft abzulegen. Die Seminaristen der vier oberen Classen des Seminars wohnen im Seminar, wah- rend die beiden unteren Classen ausserhalb desselben sich befinden. Jeder Seminarist zabit fiir den gesammten Unterhalt vierteljahrig 45 Mark; durch die Stipendien, welche das konigl. Ministerium des Cultus und offentlichen Unterrichtes ausgesetzt hat, 2400Mark, und dadurch, dass ein bestimmter Betrag fiir die Tische, welche Seminaristen in Fami- lien erhalten, abgezogen wird, stellt sich die Summe bei den meisten Zijglingen noch bedeutend geringer. Acht aus den Seminaristen der Oberclasse gewahlte Inspectoren fiibren in den Arbeitsstuben, Schlafsalen etc. die Aufsicht. Im Sommer miissen sammt- liche Zoglinge um halb 5 Uhr, im Winter um halb 6 Uhr morgens aufsteken; Yon 12 bis 2 und von 5 bis 7 Uhr ist ihnen freie Zeit gegeben, die ihnen nicht irgeudwie beein- trachtigt wird. Um 9 Uhr wird die Abendandacht von dem wiihrend der Zeit von 7 bis 9 Uhr inspicierenden Seminarlehrer gehalten. Sonntags haben die Zoglinge den Gottes- dienst zu besuchen; der Chor ist aus Seminaristen gebildet. Den iibrigen Theil des Sonntags bis 7 Uhr haben die Zoglinge frei. An dem Lehrerseminare sind gegemvartig 13 Lehrkrafte thatig, von denen fast sammtliche seminaristisch gebildet sind; der Director ist Theologe. Die Gehalte der Lehrer steigeu von 2000 bis 2400 Mark; der Director bezieht einen Gehalt von 4800 Mark und geniesst freie Wohnung. Das landstandische Lehrerseminar zu Bautzen. Bautzen oder Budissin ist die Hauptstadt des Kreisdirectionsbezirkes und der sachsi- schen Lausitz, wohlgebaut und gewerbfleissig, auf einer Ankohe an der Spree liegend. Das dortige Seminargebaude fiir evangel. Lehramtszoglinge ist nicht bloss Schul- gebaude, sondern, vvie in Plauen, auch fiir eine hohe Zahl Schuler zugleich Wohnkaus. Im Jahre 1868 wurde der ganze stattliche Bodenraum des Mittelgebaudes zu einem Schlafsaale umgestaltet, wie das mit dem Bodenraume des ostlichen FlUgelgebaudes schon im Jahre 1864 geschehen ist. Dieser neuhergestellte Saal muss wegen seiner Gerau- migkeit, seiner freundlichen Helle, seiner Ventilationsvorricktungen jederraann gefallen. In der Mitteletage sind die Wohnstuben fiir die Zoglinge eingerichtet, ausserdem ist 7 dort Raum ftir ein Conferenzzimmer, fiir ein Inspectionszimmer, fiir ein Orgelzimmer und fiir ein ziemlieh grosses Naturaliencabinet. In der zvveiten Etage befinden sich die Unterrichtslocale und im Parterre vier Lehrzimmer und die Wohnungsraume fiir die Seminarlehrer und das Dienstpersonale, der Wasch- und Speisesaal und endlich noch zwei Fliigel- und zwei Orgelzimmer. Was nun den in den verschiedenen Lehrgegenstanden zu verarbeitenden Lehrstoff betrifft, so sind fiir diese Anstalt im allgemeinen dieselben Bestimmungen wie an dem Lehrerseminare zu Plauen massgebend. Auch an dieser Anstalt wurde in letzter Zeit die lateinische Spraehe unter die Gegenstande des Seminarunterrichtes aufgenommen, deren Bildungsziel folgender ist: „Bei Beendigung des Seminarcurses miissen die Zoglinge aus dem Bereiche der lateinischen Schriftsteller, welche in den beiden Oberclassen gelesen werden, eine nicbt zu schwierige Stelle mit geringer Nachhilfe richtig ins Deutsche und ein leichtes Dictat ohne Grammatik, aber mit Hiife des deutsch-lateinischen Lexikons oder unter Angabe seltener Worter, ohne grobe Verstdsse gegen Formenlehre und Syntax ins Lateinische iibertragen kbnnen.“ Ferners sind fiir den diesein Seminare eigenthiimlichen Unterricht der wendischen Schiiler in ihrer Muttersprache vier ausserordentliche Stunden wochentlieh bestimmt. Der Unterricht in der wendischen Spraehe arbeitet dahin, dass die Zoglinge wendischer Nation bei ihrem Austritte aus dem Seminare alles das als bleibendes Besitzthum mit hinausnehmen, was die Schule und das Leben von eiuem vvendischen Lehrer in Bezug auf weudisclie Sprachbildung fordert. (Dem Vernehmen nach besuchen die wendischen Zoglinge jeden dritten Sonntag auch den wendischen Gottesdienst in der St. Michaelis- kirche zu Bautzen.) Ueber die Einrichtung der Seminariibungsschule erfahren wir Folgendes: Der Haupt- sache nach ist sie eine vierclassige Elementar-Volksschule, deren Kinder meist den untern Standen angehoren. Zwei altere Seminarlehrer sind Ordinarien dieser vier Classen und haben die Leitung des Unterrichtes und der Disciplin ausschliesslich in ihrer Hand, bestimmen insbesondere fiir jede Unterrichtsstunde die zu behandelnden Aufgaben, zeigen dem sich iibenden Seminaristen den Weg der Losung durch Vormachen mehr noch als durch miindliche Unter weisung, sind daher die meist e Zeit selbst unterrichtend thatig. Jeder derselben leitet aber Unterricht und Disciplin gleichzeitig in zwei Classen, der eine vormittags in der Classe 2 und 1, der andere nachmittags in der Classe 4 und 3; und nur in vvenigen Stunden hat jeder dieser beiden Lehrer der Schul- praxis, damit dieselben doch auch noch im Seminare selbst arbeiten konnen, einen Stellveitreter, dem in den von ihm vertretenen Lectionen hinsichtlich des Unterrichtes und der Disciplin naturlich die gleichen Rechte und Pflichten mit dem Classenordi- narius zustehen. — So viel nun auch diese in der Uebungsschule arbeitenden Seminar¬ lehrer selbst unterrichtend zu Werke gehen, so miissen, da ja jeder der Genannten immer zwei Classen und in denselben theilweise noch Abtheilungen zu versorgen hat, gleichvvohl die meisten der angesetzten Lectionen von Seminaristen gehalten werden. Zu dem Ende vvird das Schuljahr in elf Abschnitte getheilt, deren jeder vier Wochen umfasst. Die Lectionen der vier Schulclassen werden nun am Anfange des Schuljahres unter die Seminaristen, die zur Uebung geftihrt werden sollen, d. i. vorherrschend unter die Primaner, theilvveise (die leichteren) auch schon unter die Secundaner der Anstalt so vertheilt, dass jeder derselben im Laufe des Jahres, beziehungsweise des niichsten Jahres, auf moglichst vielen Gebieten und auch wieder auf den verschiedenen Stufen dieser Gebiete sich zu iibeu Gelegenheit hude. Fiir die in der Seminarschule arbeitenden Seminaristen gelten aber folgende Ver- haltungsregeln: „1.) Der Seminarist hat sich auf seine Leetion so vorzubereiten, dass er den zu behandelnden Stoff frei vorzutragen im Stande ist. 2.) Er verharrt beim Anfange der Leetion, bei welcbem auf die Minute zu sehen ist, hinsichtlieh des Be~ ginnes, ebenso des Sehultages als der einzelnen Tageslection, so lange schweigend, bis in der Classe, welche dieses Scbweigen versteht, beziehungsweise bald verstehen lernen wird, vollkommene Ruhe und Aufmerksamkeit bergestellt ist; greift auch zu diesem Mittel, wenn vvahrend der Leetion Unruhe entstebt. 3.) Er unterrichtet st eh en d, von einem Platze aus, und hat nicht bloss den gefragten Schiller, sondern gleichzeitig die Classe fortvvahrend im Auge. Auch in den Schreibe- und Zeichenstunden setzt er sich nicht zu einzelnen Knaben oder Madehen, lasst sich vielmehr, hierbei an Tafel um Tafel tretend, bald von dem, bald von jenem Kinde die schriftliche Arbeit reichen und bespricht vvakrgenommene Fehler, unter Aufrufung der ganzen Classe zur Achtsamkeit, von dem Lehrerplatze aus. 4.) Er sorgt, dass ihm die Kinder ebenso dem Namen als der Be- fahigung nach bekannt werden, und iibergekt weder die ihm vom Ordinarius als „schwach“ bezeichneten, noch venveilt er auch zu lange bei solehen. 5.) Er befleissigt sich einer anstandigen Ruhe, eines freundlichen Lehrtones, einer melodischen Sp račke und einer correcten und vernekmlichen Rede. 6.) Er hat, weil nicht offent- lich angestellter Lehrer, kein Recht, Kinder in irgend einer Weise zu strafen, sondern hat, falls Strafe in einer Zeit nothig wird, da der Ordinarius eben in der andern Classe verweilt, letzteren durch den Primus der Classe in Kenntnis zu setzen. 7.) Er bedenkt, dass die Kinder nicht *um seinetvvillen da sind, damit er sich tiben konne, sondern dass sie da sind, um von seiner Leetion einen Gewinn zu haben. Darum wartet er, wenn er beim Turnusvvechsel in neue Lekrgegenstande des Stundenplanes eintritt, in der dem Wechsel vorangehenden Woche die Leetion en seinesVorgangers ab. Darum kniipft er auch materiell seine eigenen Vortrage an einander, den Inhalt der vorigen Leetion erst wiederholend, fiigt Neues hinzu, fasst am Schlusse die Ergebnisse zusammen. Darum endlich befleissigt er sich formell einer guten Frage, auf welche eine Nachdenken anregende und inhaltsvolle Antwort mbglich ist, und halt auf sachlich und sprachlich richtige Antworten. 8.) Er unterstiitzt den Ordinarius im aligemeinen in Handhabung der Disciplin. Deshalb a) ist er, fallt seine Leetion an den Beginn der Schulstunden, eine Viertelstunde friiher im Zimmer seiner Schulclasse und sorgt dafiir, dass jedes ankommende Kind auf seinen Platz sich begebe und stili dort sich bescliaf- tige. b) Beim Ablauf seiner Leetion verlasst er nicht eher die Classe, als der Nachfolger angekommen. c) Liegt zwischen seiner und des Nachfolgers Leetion die P aus e, so iibervvacht er mit seinem Nachfolger gemeinsam die Kinder in der Pause: fiihrt sie mit jenem — bei gutem Wetter — auf dem Platze vor dem Hause, bei iibler Wit- terung im Corridore auf und ab, verhiitet alles Larmen und Spiingen und ha.lt darauf, dass die Aborte nach gemachtem Gebrauche allenthalben geschlossen weiden. d) Schliesst er mit seiner Leetion die Schulstunden des Tages iiberhaupt, so lasst er zunachst alle Gerathe in Ordnung stellen, die Tintenfasser schliessen, untei die Banke gefallene Papierstreifen aufheben und in den Abort entfernen; fiihrt danil die Kindei in Paaren bis zur Gartenpforte und entlasst sie; liiftet zuletzt noch in ublicker Weise das ver- lassene Lehrzimmer.“ Damit die Seminaristen derselben Classe einen Einblick in die Stoffolge und fort- schreitende Verarbeitung der Lehrstoffe aller vier Schulclassen erhalten, fiihrt jeder der¬ selben eine Zeitlang das Lectionsbuch einer Classe. — Zum Zvvecke heimatskundlicher und naturgeschichtlicher Orientierung der Kinder sowie zur piidagogischen Anleitung der Seminaristen nach dieser Seite hin werden von den Classenordinarien unter Beglei- 9 tung der Seminaristen der I. Classe jahrlich ein Unterrichtsgang ins Freie und ein Schul- fest etc. unternommen. Neben diesen von den Kindem mit Freuden begrussten Schul- ereignissen ist eine jahrlich wiederkehrende, mehr erbauliche Weihnachtsfeier, an vvelcher alle vier Schulclassen durch Gesang und Rede sich betheiligen, zu erwahnen, die, von Eltern und Zuhorern aus der Stadt zablreich besucht, ebenfalls als Festtag im Schulleben gilt. Es diirfte die geehrten Leser auch interessieren, in vvelcher Weise an dieser Anstalt die Candidatenpriifungen abgehalten vverden. — Die Zeit derselben sind die letzten Wochen vor Ostern, und den Abiturientenpriifungen gehen die Priifungen der die Wohl- fahigkeit (Lehrbefahigung) suchenden Schulamtscandidaten voraus. Je sechs Exami- nanden bilden eine Abtheilung. Wahrend die Arbeiten der Abiturienten, da sie noch Zbglinge der Anstalt sind, liber einen langeren Zeitraum vertheilt vverden konneu, sind dieselben fiir die Wo hlfahigkeitsaspirant en, vvelche vvahrend der Priifung ihrem Amte entzogen werden, auf einen moglicbst kurzen Zeitraum zusammenzudrangen; sie vverden auf drei Tage vertheilt: am ersten arbeiten die Examinanden einer Abtheilung ihre Katechesenentvviirfe und ihren Aufsatz; am zvveiten halten sie ihre Katechesen und ihre Probelectionen und legen ihre musikalischen Leistungen dar; in den vier Vormit- tagsstunden des dritten Tages bestehen sie ihre miindliche Priifung. Damit die Inspec- tion der Examinanden bei Anfertigung der Clausurarbeiten die Zeit der Anstaltslehrer moglichst vvenig in Anspruch nebme, ist die Einrichtung getroffen, dass die dem Semi- nare angehorenden Abiturienten ihre Clausurarbeiten gleichzeitig mit den Wohlfahig- keitscandidaten fertigen: ihre katechetischen Entvviirfe etvva gleichzeitig an dem Tage, an vvelchem die Wohlfahigkeitscandidaten der ersten Abtheilung ihren Clausurtag haben, ihre Aufsatze am Clausurtage der zvveiten, ihre mathematischen und musikalischen Ar¬ beiten am Clausurtage der dritten; Probeschriften und Zeichnungen vverden von den Abiturienten schon vor Beginn dieser Clausurarbeiten in Angriff genommen, gleichwie die Wohlfahigkeitseandidaten dieselben in ihrer Heimat vollendet haben. Vorsitzender der Priifungscommission ist jetzt der konigl. geheime Schulrath Dr. Bornemann. Er gibt die Texte zu den Katechesen: bald Spriiche, die in ihrer Gesammtheit meist in einem innern Zusammenhange stehen, bald Abscbnitte aus den Hauptstiicken des Katechismus. Vor ihm unterreden sich dann Examinanden mit kleinen Schiilerabtheilungen aus der I. Classe der Seminarschule iiber ihre Katechesenentvviirfe und vverden, nachdem die Kin¬ der entlassen sind, hinsichtlich ihrer Leistungen auf Correctes und Fehlerhaftes auf- merksam gemacht. Der genannte Schulrath priift endlich am Tage des miindlichen Exa- mens in Religion und gibt die Censuren in den von ihm vertretenen Fachern. — Die andern Priifungsgegenstande sind in den Handen derjenigen Anstaltslehrer, vvelche die beziiglichen Disciplinen des Seminars lehren. Dem entsprechend gibt der betreffende Seminarlehrer das Thema zum Aufsatze, meist dem Gebiete der Padagogik entnom- men, und fiir die Abiturienten, vvelche fiir die Fertigung desselben einen vollen Tag zur Verfiigung haben, auf eine umfangreichere Arbeit, als sie die auf 3 bis 4 Stunden beschrankten Wohlfahigkeitscandidaten fertigen konnen. Als Vertreter der Padagogik stellt der Seminarlehrer ferner die Aufgaben fiir die von den Examinanden abzuhalten- den Probelectionen, denen die Schiiler der zvveiten und dritten Classe beivvohnen. So hat z. B. von den Abiturienten aus jeder der drei Abtheilungen 1.) je einer einen Satz eines Lesestiickes grammatisch, 2.) je einer einen Satz logisch zu zergliedern und aus demselben einenBegriff zu entvvickeln, 3.) je einer einen geographischen Gegenstand zu besprechen, 4) je einer einen geschichtlichen Vortrag zu halten, 5.) je ein er den Kindern aus der Naturgeschichte einen Gegenstand zu beschreiben etc. — Endlich vvird iiber Padagogik examiniert, vvoran sich das Examen aus den ubrigen Fachern reiht. Der Lehrer der deutschen Sprache pflegt ein Lesestiick aus dem Handbuche der 10 deutsehen Nationalliteratur erst lesen zu lassen, von dem Verfasser desselben aus liber die Geschichte der deutsehen Literatur sich zu verbreiten und endlich einen Satz des gelesenen Abschnittes grammatisch zu erorteru. — Der Lehrer der Naturvvissenschaften und Mathematik grundet sein Urtheil liber die matkematischen Leistungen nicht bloss auf die Ergebnisse der miindlichen Priifung, sondern auch auf die Losung von schrift- lichen Aufgaben, die in Clausur erfolgt. Aufgaben der letztern Art werden unter den Abiturienten durch Losung vertheilt. Auf dem Gebiete der Arithmetik wird z. B. das Wesen und der Gebrauch der Logarithmen besprochen; auf dem der Geometrie die aus der Trigonometrie entnommenen Tangentialsatze, auf dem der Pkysik die Warme nach Wesen, Arten und Wirkungen auf Veranderung des Aggregatzustandes und des Volumens der Korper. Aehnlich wird in den iibrigen Fachern vorgegangen. — Die Seminariibungsschule zu Bautzen zahlt liber 100 Kinder und die Zahl der Semiuarzbglinge belauft sich aui circa 140, von denen die meisten Alumnen und nur eine kleine Zahl „Exteraner“ sind. Die Anstaltsordnung ist jener in Plauen ahnlich. Das Lehrercollegium besteht aus zwolf Mitgliedern, von denen die meisten semina- ristisch gebildet sind. Der Director der Austalt, Herr Leuner (Theologe), ertheilt den gesammten Unterricht in Religion, Padagogik und Katechetik und leitet die katechetischen Uebungen der I. Classe der Seminarschule — Die Besoldungsverhaltnisse der Lehrer sind dieselben wie am Plauen’schen Seminare. — Das katholische Lehrerseminar zu Bautzen hat, entsprecliend dem Bedlirfnisse an katholischen Lehrern fiir das Konigreich Sachsen, nur eine geringe Zahl Seminaristen (40). Das konigl. Seminar in Eisleben. Die Stadt Eisleben hat ungefahr 14 000 Einwohner und ist bekanntlich beriihmt als Martin Luthers Geburts- und Sterbeort. In Luthers Hause befinden sich verschiedene Sehens- vvlirdigkeiten und eine Armenschule nebst einem damit verbundenen Lehrerseminare. Dieses hat eine ahnliche Organisation wie die vorher geschilderten; nur die Uebungs- schule ist etwas anders als jene zu Plauen und Bautzen eingerichtet. — Sie ist eine dreistufige (aber vierclassige) Schule; die Oberstufe ist nach den Geschlechtern in eine Knaben- und eine Madckenclasse getrennt. Ausserdem hat das Seminar eine einclassige Schule und zu besondern Uebungszwecken eine gesonderte Mittelclasse, die ihre Schiiler aus der dreiclassigen Volksschule empfangt und dortkin abgibt. Die Seminaristen der I. Classe sind Lehrseminaristen, nachdem sie in der II. Classe eine praktiseke Vorbereitung fiir die Schularbeit erhalten. Die Lehrseminaristen sind in vier Gruppen (1. Religion und Gesang, 2. Rechnen mit Raumlehre und Zeichnen, 3. Deutsck, 4. Realieu und Turnen) getheilt. Sie unterrichten in der Unterclasse, der Knabenclasse und in der ein- classigen Schule 6 bis 10 Stunden \vbckentlich und wechseln quartaliter, und zwar mit der Classe auch den Unterrichtsgegenstand, also nach folgendem Schema: 1 ] In gleicher Weise wird im 4. Quartale gewechselt. Da aber jede Gruppe nach den vier Classen wieder in vier Abtheilungen getheilt ist, die in den vier Classen unterrichten, so wechselt jede Abtheilung quartaliter die Classe und den Lehrgegenstand. Z. B. Gruppe I (Abtheilung I) im 1. Quartale Religion in der Unterclasse, im 2. Quartale Realien (Heimatskunde etc.) in der Mittelclasse, im 3. Quartale Deutsch in der Ober- classe, im 4. Quartale Rechnen in der einclassigen Schule. Dadurch wird erreicht, dass jeder Lehrseminarist in jeder Classe und in jedem Lehrgegenstande selbstandig unter- riehtet. In einer grosseren Anzahl dieser Stunden ist der Faehlehrer des Seminars zu- gegen, wenn der Lehrseminarist unterrichtet; die iibrigen Stunden inspiciert der Ordinarius der Uebungsschule. Ausserdem ertheilt in jeder Woche ein Seminarlehrer (abwechselnd der Reihe nach) eine Musterlection in der Uebungsschule, welcher die Lehrseminaristen beiwohnen. Daraus ersehen die geehrten Leser, dass diese Organisation den Schwerpunkt der I. Seminarclasse in die Uebungsschule verlegt, was mit vollem Rechte geschieht. Fiir den ersten Lese-Unterricht kommt in der einclassigen Schule die Normalworter- Methode, in der Unterclasse der dreiclassigen Schule die Schreiblesemetkode in An- wendung, um die Seminaristen mit beiden Methoden praktisch vertraut zu machen. Das Seminar Eisleben zahlt dermalen 30 etatsmassige Iuternats- und 60 etatsmassige Externatszoglinge. Das Lehrpersonale besteht aus sieben Mitgliedern; der Dierector und der erste Lehrer sind akademisch, die anderen seminaristisck gebildet. Die Besoldung der Lehr- krafte kommt jener in Plauen und Bautzen gleicli. Das konigl. Seminar in Halberstadt. An einem Vormittage kam ich in der ehemaligen Bischofstadt an. Sofort lenkte ich meine Schritte nach dem Seminare, an welchem Dr. Kehr als Director wirkt. Man kann sich denken, dass ich eine unwiderstehliche Sehnsucht hatte, diese Koryphae per- sonlich kennen zu lernen, den Mann, zu dem mich schon langst die innigsten und hochsten Gefiihle der Verehrung hingezogen hatten. In wenigen Minuten war ich am Ziele meiner Wiinsche. Ich sah und staunte. Das Seminar mit seinen hohen, hellen Lehrzimmern, seinen luftigen und geraumigen Wohn- und Schlafzimmern, seinen 265 Fenstern und 154 Thiiren ist wahrlich ein Prachtbau. Dazu die wunderschone Umgebung — mitten in einem Parke —, wahrlich eine der schonsten Zierden der Stadt. Kein Wunder, dass Kaiser Wilhelm, als er dort voriiberfuhr und ihm der imposante Bau auffiel, fragte: „Was ist das fiir ein Palast?“ — Das Seminar ist ein Ziegelrohbau, der ein Hauptgebiiude und zwei zvveistockige Seitenflugel umfasst. Das Parterre und das erste Stockwerk enthalt die Lehrzimmer, die Arbeitsraume der Seminaristen, die Bibliothek. In den beiden vordern Idiigeln befinden sich die Lehrerwohnungen sowie jene des Directors. In dem in der Mitte des Hauptbaues sich nach hinten ansetzenden FlUgel sind Kiichen- und Wirtschafts- raume etc. Durch einen Seminaristen liess ich mich bei Kehr melden. Mit der ihm eigenthiim- lichen Freundlichkeit, womit er jeden Fremden aufzunehmen pflegt, kam er mir entgegen, und es vereinte sich die Eiinnerung an unsere schon schriftlich eingeleitete Bekannt- schaft, weshalb der Willkomm, den ich fand, nur noch um so herzlicher war. Unsere Einbildungskraft ist bekanntlich nie thatiger, als wenn sie darauf ausgeht, sich das Bild eines ausserordentlichen Menscheu geistig und korperlich zu entwerfen. Geistig war mir Kehr aus seinen Werken langst bekannt; doeh meine Vorstellung, die ich mir von der korperlichen Erscheinung dieses Mannes machte, war eine ganz und gar falsche. Ich stellte mir Kehr als einen hochgewachsenen, schlanken Mann vor; allein 12 derselbe ist etwas unter Mittelgrosse mit kraftigem Korperbau. Seine Štirn ist breit und erhaben, seine Augen, die Tr£ger der Gedanken — sie strahlen Lickt und Warme. Kehr gehort in der Tkat unter die Glasse derjenigen Menschen, die man nicbt genug verehren kann. In allen Verkaltnissen, unter denen er lebt und wirkt, stellt er sich stets musterhaft, ja bewunderungswiirdig dar. Als Mensch, als Gatte und Vater, als Schulmann, als Biirger und Patriot: in allem verdient er gleich grosse Hocbachtung. Meine boben Envartungen, die icb von dem ersten Metbodiker Deutscblands hegte, wurden nieht nur erfiillt, sondern weit iibertroffen. Eine reiche Fiille von Erfahrungen, trefflichen Bemerkungen und ein gesunder und richtiger Blick ins Leben sprechen sich in jedem seiner Worte aus. Nachdem mich Kehr gefragt, vvofiir icb micb zunachst interessiere, ersuehte icb ihn, mich liber die Schulverhaltnisse der Provinz Sachsen sowie liber die Organisation des Seminars Halberstadt zu informieren, welchem Wunsche der Genannte in liebevoller Weise nachkam. Ich will es versuchen, das Bild, welches Kehr vom dortigen Schulwesen und vom Seminare entvvorfen, in der namlichen trauten Sprache, der er sich bei dieser Schilderung bediente, hier wiederzugeben: „Das gesammte Schulvvesen der preussischen Monarchie unterstekt dem Cultusministerium in Berlin. Von dort aus gehen die Befekle in die Provinzen. Jede Provinz hat ein Provinzial-Schulcollegium, dem alle hoheren Schulen unterstellt sind (Gymnasien, Realschulen, Scbullehrer-Seminare, staatliche Prapa- randenanstalten, hokere Biirgerschulen etc.) Jede Provinz ist — je nach der Grosse — in mehrere Regierungsbezirke eingetheilt. Jeder Regierungsbezirk hat seine besondere Regierung. (Die Provinz Sachsen hat drei solcbe: Magdeburg, Merseburg und Erfurt.) Das Volksschulvvesen ist Sache dieser Regierungen (also nicht des Provinzial-Schul- collegiums). Die Provinz Sachsen hat zehn Schullehrer-Seminare und eine Lehrer-Bil- dungsanstalt; ausserdem zvvolf Praparandenanstalten zur Vorbereitung fiir den Seminar- besuch. Das schonste und grosste ist unser Halberstadter Seminar. — Die Regierung theilt nun das Schuhvesen vvieder in eine Anzahl Inspectionsbezirke. Jeder Bezirk hat einen Kreisschulinspector. Unter diesem stehen die Localinspectoren. Localschulinspectbr ist iiberall der Pastor loči, der auch das jahrliche Schulexamen zu Ostern in Gegenvvart des Orts-, Kirchen- und Schulvorstandes vornimmt. — Der Regierungsbezirk Magdeburg allein hat circa 1600 Volkssehulen. Ueberhaupt ist Sachsen die Piovinz, in welcker das Volksschulwesen wohl am hochsten steht und arn meisten bliikt. Es liegt das an dem Reichthum dieses Landstriches, an der Intelligenz der Bevolkerung und an der Bean- lagung des Menschenschlages. — Die Besoldung der Lekrer ist sehr verschieden. Die meisten Stellen stammen aus dem 16. Jahrhundert. Da gaben die Gemeinden ihrem Lekrer ein Stiick Land, gross oder klein. Wo solche Landereien sind, da sind die Stellen gut; denn die Zuckerfabrikanten pachten dem Lehrer das Laud ab und zahlen pro Morgen oder Acker 15 bis 16 Thlr. So kommt es, dass wir Schullehrerstellen haben mit 1000, 900, 800 Thlr. etc. Unter 900 Mark und freier Amtswohnung darf in der Provinz Sachsen aber keine Lehrerstelle sein. Das ist Minimalgelialt. Die Anstellung des Lehrers erfolgt: durck den Patron. Derselbe kann sein: 1.) die Gemeinde, 2.) ein grosser Ritter- gutsbesitzer, 3.) die-Regierung — also immer derjenige, welcher die Besoldung gibt und die Schule baut. Mit manchen Stellen ist der Dienst eines Cantors oder Organisten verbunden (das sind die am bestbezahltesten!), mit andern nicht (das sind die geringer dotierten). Niederer Kirchendienst vvird seitens der Lehrer nur noch sehr selten ver- richtet. In vielen Gemeinden vvird kein Schulgeld bezahlt (vvenn die Gemeindecasse reich ist!), in andern dagegen miissen die Eltern das Schulgeld entrichten. Amtliche Conferenzen haben die Volksschullehrer jahrlich a) unter Vorsitz des Kreisschulinspectors, b) unter dem Vorsitze des Seminardirectors, und zvvar fiir alle Lehrer in den Kreisen, fiir vvelche das Seminar Lekrer ausbildet (kier fiir die Lehrer in den Kreisen Halberstadt, Aschersleben, Oschersleben und Neukaldensleben). Nach der Theil- nahme zu sebliessen, zeigen die Lekrer dafiir ein grosses Interesse, denn der Besucli ist immer ein sekr zaklreicker. Fortbildungsschulen finden sick in der Provinz Sacksen an vielen Orten, aber sie sind niekt obligatorisck. Meist ist man der Meinung, es sei besser, die Volkssckule auf einen kokern Stand zu bringen und das Geld zu einer Verbesserung der Volkssckullekrer-Besoldung zu verwenden, als seine Kraft und die Ausgaben zu zersplittern. — Die sittliche Haltung der Lehrer unserer Provinz ist vollig vorwurfsfrei. Das Halberstadter Seminar ist fiir 90 Zoglinge berechnet, iibersckreitet aber diese Zahl alljakrlich und bat jetzt deren 96. Ausserdem bestekt seit 1. November 1880 ein Nebenseminar mit 31 Seminaristen, das urspriinglick nur die damals zum Seminare sich drangenden jungen Leute, die das Hauptseminar niekt fassen konnte, bergen solite, um wieder einzugeken, vvenn die Flut sick verlaufen hatte. Das Nebenseminar wird aber wokl permanent bleiben, weil die Zakl der Praparanden hier und in noek zwei benack- barten solehen Anstalten eher zu- als abnimmt. Die kiesige Praparandenanstalt zabit 70 Zoglinge in zwei Classen. — Der Bildungsgang fiir die Schulamtszoglinge ist fol- gender: Die Zulassung zur Vorbildung fiir den Lekrerstand ist bedingt durck Ablegung einer Vorpriifung. Zugelassen werden Knaben, welche mindestens 14 Jakre alt sind, einer kraftigen Gesundkeit sich erfreuen und mit keinem korperlichen Gebrechen be- haftet sind, auck in Bezug auf sittlick-religioses VerhalteD gute Zeugnisse besitzen. Ver- langt werden bei der Vorpriifung die Kenntnisse eines tiichtigen Sckiilers einer guten Volkssckule. Zur Empfehlung gereicht ein Anfang im Clavierspielen. Die Zugelassenen treten in die Praparandenanstalt ein. Dem Unterrickte ist ein genau bestimmter Lehr- plan zugrunde gelegt. Derselbe enthalt folgende allgemeine Grundsatze: 1.) Aufgabe der Anstalt ist es, diejenige allgemeine Bildung zu gewakren, welche eine hokere Grund- lage fiir die Fachbildung des Volksschullehrers abgibt. Es ist eine moglichst gleickmassige Ausbildung der Krafte zu erstreben und gute Gesittung, vaterlandiscken Sinu und auf- ricktige, ckristliche Frommigkeit bei dem Zoglinge zu fordern. 2.) Die Zoglinge erhalten Unterricht in Religion, Deutsch, Mathematik, Geschickte, Geographie, Naturkunde, Schreiben, Zeichnen, Turnen, Singen, Theorie der Musik, Violin-, Clavier- und Orgelspiel sowie im Franzosischen. 3.) Das Unterrichtsverfakren ist elementar entwickelnd. Wo es der Natur des Unterrichtsgegenstandes entspricht, wird von der Anschauung oder dem Beispiel ausgegangen und der Schiiler angehalten, aus den besprochenen Beispielen das allgemeine Gesetz selbst herzuleiten, sowie entwickelte Gedanken zusammenfassend zu wiederkolen. Auf Selbstthatigkeit im Beobachten und Denken, auf zusammenhangendes, correetes, wohlarticuliertes und fliessendes Sprechen wird grosser Wert gelegt. 4.) Die Privatlectiire der Zoglinge wird so geleitet und beaufsichtigt, dass der Unterricht durck dieselbe erganzt wird; auck werden die Zoglinge zur Aniegung von niitzlichen Samm- lungen angeleitet. Auf den zweijahrigen Praparandencurs folgt der dreijahrige Seminarcurs. Der Lekr- plan fiir das Lekrerseminar ist eine den localen Verhaltnissen entspreckende Specia- lisierung der in den „Allgemeinen Bestimmungen vom 15. Oktober 1872“ fiir die Sckul- lehrerseminare und Praparandenanstalten der preussischen Monarchie aufgestellten Lehr- ordnungen und Unterrichtsgrundsatze. Die didaktiseken Principien, auf denen der Lehr- plan beruht, sind die folgenden: 1.) Aller Unterricht ist ansckaulick, entvvickelnd und in einer die Selbstthatigkeit der Zoglinge anregenden Weise zu ertheilen. Die Lehrform ist vorwiegend die inductiv-conversatoriscke. 2.) Was den Zoglingen zum Verstiindnisse gebrackt worden ist, muss ihnen auf dem Wege der Uebung zum unverlierbaren Eigen- 14 thum gemacht werden. Dieselben werden daher besonders recht consequent in der freien, zusammenhangenden Darstellung der besprochenen Lehrstoffe geiibt. Das Dictieren ist ebenso ausgeschlossen wie das Nachschreiben wahrend des Vortrages des Lehrers. 3.) Der Form nach — in Bezug auf Klarheit der Disposition, pragnante Eragestel- lung etc. — muss der Unterricht ein Muster desjenigen sein, den die Zoglinge einst als Volksschullehrer zu ertheilen haben. Das Seminar darf nie vergessen, dass sein Haupt- zweck darin besteht, die Zoglinge zu Volksschullehrern heranzubilden. Lehrfacher sind: I. Padagogik; a) Geschiehte der Padagogik, b) allgemeine Erzie- hungs- und Unterricbtslehre, c) Schulpraxis. II. Religion; a) biblische Geschiehte, b) das Kirchenlied, e) Katechismus. III. Deutsch; a) Grammatik, b) Aufsatz und Uebung im freien Vortrage, e) Literatur. IV. Geschiehte. V. Rechnen und Arithmetik. VI. Geometrie. VII. Naturwissenschaften; a) Naturgeschichte, b) Physik und Chemie. VIII. Geographie. IX. Zeichnen. X. Schreiben. XI. Turnen. XII. Musik; a) Clavierspiel, b) Orgelspiel, e) Harmonielehre, d) Violinspiel, e) Gesang. XIII. Franzdsische Sprache. XIV. Unterricht und Betrieb der Obstbaumzucht und des Gartenbaues. XV. Schvviminen. Mit dem Lehrerseminare steht eine fiiufclassige Biirger- und eine einclassige Volks- schule (beide als Uebungsschulen) in Verbindung. Jene soli das Muster fiir mehrgliedrige Schulen, diese das Vorbild fiir einfache Dorfschulen sein. Der Unterricht an diesen Schulen wird (wie in den iibrigen Seminarien Sacbsens) von den Seminaristen der II. und I. Classe — entweder in Gegenvvart eines Seminarlehrers oder eines hospitierenden Semi¬ naristen — in einem bestimmten Turnus ertheilt. Die Seminaristen haben sich auf die Lection schriftlich vorzubereiten und ihre Leistungen werden von einem Seininarlehrer in einem wochentlichen Zusammentritt mit denselben einer eingehenden Kritik unter- worfen. Es ist dies die fiir die praktische Berufsbildung der Seminaristen fruchtbarste Institution der neueren Zeit. Im Soinmersemester vverden die Lehrseminaristen vorzugs- vveise in der vierstufigen, resp. fiinfelassigen Seminarschule, im Wintersemester dagegen mehr in der einclassigen beschaftiget. Damit die Seminaristen fiir den zu ertheilenden Unterricht die nothigen Ansehauungen bekommen und damit die Einheit im Unterrichts- betriebe der Seminarschule gewahrt bleibt, halt der Director wochentlich eine Muster- lection mit Kindern der Seminarschule. Die Seminaristen haben diesen Lehrstunden nicht nur beizuwohnen, sondern auch am Schlusse derselben (nach Entlassung der Kinder) Fragen zu stellen, das eingeschlagene Verfahren und etwaige andere Wege zu be- griinden etc. Beim Eintritte der Lehrseminaristen in die betreffenden Classen erhalten sie die Aufgabe, einen Schiiler oder eine Schiilerin ihrer Schulclasse auf das genaueste zu charakterisieren und die betreffende Charakteristik am Ende des Turnus in einer besonderen Conferenz zur Besprechung zu bringen. Es ist dies eine Uebung auf dem Gebiete der praktischen Psychologie, welche fiir das spatere Berufsleben der jungen Lehrer von nicht zu unterschatzender Bedeutung ist.* Den Seminaristen des letzten Jahrganges wird auch die Gelegenheit geboten, durch Hospitieren in der Provinzial-Taubstummen- lehranstalt das Wesen und den Betrieb des Taubstummen-Unterrichtes auf dem Wege der Anschauung kennen zu lernen.* In den letzten Tagen meiner Anwesenheit in Halberstadt fand auch das sogenannte Micbaelis-Examen statt, zu tvelchem mich Kehr einlud, und welcher Einladung ich natiirlich gerne Folge leistete. Ich wohnte dem Examen aus der Religion, aus Deutsch, aus den * Dem Vernehmen nach werden die Zoglinge der er. Lehrerbildungsanstalt zu Bielitz in Schlesien ebenfalls angewiesen, auf Grund ihrer Beobachtungen Charakteristikon oder Kinderbilder zu entwerfen, welche sie dann in den sogenannten Individuenconferenzen zur Verlesung bringen miissen; iiberhaupt werden die Zoglinge der genannten Anstalt auf ganz iihnliche Weise wie dio Seminaristen in Halberstadt ftir den praktischen Schuldienst erzogen. 15 Naturvvissenschaften und der Musik bei, und machte dabei folgende Wabrnehmungen: Aus der Religion wurde liber das Kirchenlied geprlift. Ein paar Kirchenlieder wurden im allgemeinen wie die poetischen Lesestiicke behandelt und ihr poetiscber und religioser Gehalt dem Gemiithe nahegelegt. Vorerst wurde der Grundgedanke entwickelt und die biblisclie Grundlage und die Gliederung des Liedes festgestellt, sodann das Einzelne in steter Beziehung zu der hi. Sckrift und zu der ckristl. Heilslehre erlautert. Ein Haupt- gevvicht vvird auf gutes Recitieren gelegt. Auch ward die Lebensgeschicbte der Dichter und die Veranlassung zur Dichtung des Liedes beriicksicbtigt. Endlich mussten die Zoglinge die Lieder nach ihrem religiosen Inbaite, nach ihrer Stellung in der christl. Heilslehre und nach ihrer Bedeutung im christl. Kirchenjahr gruppieren. Bei der Priifung aus dem Deutschen vvurde vvahrgenommen, dass auf fliessendes und correctes Sprechen ein grosses Gewicht gelegt wird, vvas dadurch erzielt vvird, dass, wie in allen Lehrgegenstanden, so besonders im Deutschen die Zoglinge zu guten, zusammen- hangenden Darstellungen veranlasst werden. Aus den mir zur Einsicht gegebenen schriftlichen Arbeiten der Zoglinge war Correct- heit in der Form, Klarheit im Ausdrucke, Uebersichtlichkeit in der Anordnung des Stoffes zu erseben. Den Stoff zu Aufsatzeu bilden die Musterstiicke des Lesebuches sovvie Be- schreibungen und Scbilderungen von Gegenstanden und Vorgangen aus dem Anschauungs- kreise der Zoglinge, Erzablungen zur Begriindung allgemeiner Wahrheiten, Biographien Charakteristikeu hervorragender Personen, Geschaftsaufsatze, besonders Eingaben an Behorden. Vor allem werden die Seminaristen mit dem Wesen und der Form der Abhandlung bekannt gemacht und in der Anfertigung von Aufsatzen dieser Gattungen und im Disponieren geiibt. Auch Uebungen im freien Vortrage werden fest im Auge bebalten, mit welchen jene im Recensieren Haud in Hand gehen. (Diese Uebungen im freien Vortrage sind nicht nur den Zoglingen lieb, sondern sind auch von sichtbarem Nutzen fiir die Fertigkeit im miindlichen Ausdruck begleitet, auch geben diese Vortrage Gelegenheit zur Controle der Privatlectiire.) Ueber Literatur wurde in folgender Weise geprlift: Der Lehrer Hess vom betreffenden Stiicke vorerst das Verstandnis ermitteln, die Gliederung auffinden, den Grundgedanken entwickeln, woran sich das abschuittweise Lesen reihte, wobei besonders auf gute Aus- sprache und sinngemasse Betonung gehalten vvurde. Bei der Besprechung der Form der Lesestiicke vvurde das Nothigste aus der Metrik und Poetik geprlift, besonders mussten die Zoglinge iiber das Wesen der lyrischen, epischen und dramatischen Poesie und deren verschiedene Formen Aufschluss geben, ebenso liber das Leben der Dichter. — Nach den gemachten Wahrnehmungen erhalten die Zoglinge auch eine Uebersicht liber die Jugend- und Volksliteratur. Beim Examen aus der N aturgeschichte wurden die vvichtigsten Gattungen der Samen- und Sporenpflanzen betrachtet und verglichen; daran reihte sich die Charakteri- sierung der vvichtigsten natiirlichen Familien, ferner wurde iiber Bau und Leben der Pflanzen und endlich iiber die geognostischen Verhaltnisse des Harzgebirges gepriift. Aus der Pliysik vvurde iiber die Erscheinungen des Lichtes (Verbreitung, Brechung des Lichtes, optische Instrumente, farbiges Licht etc.) geprlift. Ueber die gemachten Wahrnehmungen miissen sich die Examinanden stets im Zusammenhange aussprechen. Die Priifung aus der Musik erstreckte sich auf das Violin- und Orgelspiel und auf den Gesang. Beim Violinspiele vvird den gemachten Wahrnehmungen gemass auf die schulmassige Haltung der Geige, die correcte Fiibrung des Bogens, der Hand, des Armes und der gesammten Haltung des Korpers ein besonderer Wert gelegt. Die zur Aufilihrung gekommenen Piecen (Melodien) vvurden richtig, entsprechend und inhalts- gemass vorgetragen. Im Orgelspiele besitzen die Zoglinge bereits eine hinreickende 16 Fertigkeit, c^enn sie waren imstande, die betreffenden Chorale nebst zugehorigem Vorspiel sowie den ftir das Examen eingeubten Orgelsatz sicher und fehlerfrei vorzutragen, dann die Chorale zu transponieren etc. Der Figuralgesang wird sorgfaltigst geiibt. Besondere Aufmerksamkeit wird auf Intonation, Tonbildung, Rhythmus, Accentuation, Aussprache und Vortrag vervvendet. Die Seminaristen erhalten aueh Anleitung zur Ertheilung des Gesangsunterrichtes in der Volks- schule, verbunden mit praktischen Uebungen. Mit der Absingung des Chores: „Des Sckafers Sonntagslied“ endigte das Michaelis- Examen und ankniipfend an den Text dieses Liedes bielt sodann Director Dr. Kebr eine kernige, vom Herzen kommende und auch vvieder zu Herzen gehende Ansprache an die Seminaristen und Anstaltslehrer. — Nicht unerwahnt darf bleiben, dass das in Rede stehende Examen — um der Wahrheit Ehre zu geben, glanzend ausfiel.* Dass an dieser Anstalt so gute Unterrichts- und Erziekungsresultate erzielt vverden, darf uns nicht wundern. Dies liegt vor allem in der musterhaften Hausordnung des Seminars, in den gedie- genen Kenntnissen und Geschicklichkeiten des Directors und der Lehrer, ganz besonders aber in dem Geiste, in welchem Vorsteher und Lehrer dort zusammen- wirken, und in der Empfanglichkeit, welche die Zoglinge ihnen entgegen- b ring e n. — Mochte doch die Lehrer-Bildungsanstalt ein Organismus sein! Ich mochte diese vergleichen mit dem menschlichen Organismus. Der kraftigste und schonste Leib und die reichsten und vielseitigsten Gaben des Geistes vermogen den Menschen doch nicht zu dem zu machen, was er sein soli. Trotz des gesunden Blutumlaufes und trotz der richtigen Functionen des Geistes kann ein Mensch mit Recht todt in unsern Augen sein. Auch die Pfianzschule kiinftiger Lehrer ist todt, wenn bloss das Getriebe ihres Raderwerkes, die Errungenschaft an Kenntnissen und Fertigkeiten und die nothwendige aussere Ordnung Mass und Ziel ihres Wirkens bilden sollten. Man fordere in den Lehrer-Bildungsanstalten griindliches Lehren und emsiges Lernen. Aus dem gediegenen Vollbesitz seiner Kenntnisse heraus muss heute der Volksscbullehrer wirken, nicht von der Hand in den Mund, wie ein Tagelohner, darf er geistig leben. Man fordere daher sorgfaltige und geschickte Einiibung der Lehramtscandidaten in ikren praktischen Beruf, denn mit den blossen Kenntnissen stehtman dem Kinde hilflos gegeniiber. Beziiglich der Seminar-Lehrerbildung entwickelt Kehr folgende Ansichten: „Je liinger ich im Seminardienste thatig bin, desto mehr werde ich in der Ueberzeugung bestarkt, dass uns ein Seminar fiir Seminarlehrer fehlt. Wie jetzt die Sachen liegen, bekommen wir die Seminarlehrer aus allen moglichen Arten von Schulen. Und falls auch der in den Seminardienst eintretende Lehrer sein Mittelschulexamen bestanden hatte, so folgt aus dem Befunde dieses Examens noch durchaus nicht, dass sich der betreifende Mann auch zum Seminarlehrer eignet; denn die Priifung kann nur den Grad des "VVissens ermitteln, nicht aber das praktische Geschick, nicht die hervor- ragende Befahigung fiir den Seminarlehrerberuf. Mir wiirde es darum auch viel wich- tiger ersckeinen, vvenn man ein Normalseminar griindete, diese Anstalt mit den besteu Lehrmitteln ausriistete, an derselben die tiichtigsten und erfahrensten Seminarlehrer anstellte und an jeden in den Seminardienst eintretenden Lehrer die Anforderung stellte, in diesem Normalseminare nicht allein eine Zeitlang zu hospitieren, sondern auch unter Anleitung der betreffenden Seminarlehrer in seinen Lehrfachern Privatlectionen zu halten. Heute findet vielleicht mein Vorschlag noch nicht iiberall Anklang und Zustimmung, * Dem Vernehmen nach bestelien die Abiturientenpriifungen regelraassig sammtliche Abitnrienten, und zwar meist mit recht guten Nummern. 17 aber ich vverde mieh dadurch nicht in der Ueberzeugung irremachen lassen, dass einst eine Zeit komrnen wird, in der man es unbegreiflich findeu vvird, dass man so lange okne eine Bildungsanstalt fiir Seminarlehrer bat durehkommen konnen. In Summa: Wenn man von den Volksschullehrern fordert, dass sie praktische Lehrer sein sollen, so muss diese Forderung vor allem von den Seminarlehrern, den Lehrern der Lehrer, erfiillt werden.“ Das Halberstadter Seminar ist ein Internat, in \velcliem die Zoglinge unentgelt- lichen Unterricht, Wohnung nnd Heizung geniessen, die Kost aber bezahlen mtissen (42 Mark per Quartal). Ein Theil der Seminaristen erhalt Staatsstipendien. Die Tages- ordnung der Seminaristen ist sekr zweckmassig geregelt; zwischen die Stunden, \velche dem Unterrichte, der Uebung im Clavier-, Orgel- und Violinspiele, dem Besuche der Seminar-Uebungselassen und der Vorbereitung auf die Lectionen gewidmet werdeu, fallen grossere und kleinere Pausen, die zu Turniibungen (beliebig), zu kleinen Spaziergangen und sonstigen freien Besehaftigungen beniitzt werden konnen. Einige Stunden in der Woche (im Sommer) sind zur Gartenarbeit bestimmt; botanische Ausfliige und „Fuss- wanderungen“ in die Umgegend bringen angenehme Abweebslung. Einige Schulmanner sind der Ansieht, dass das Familienleben als solches dennoch mehr Freiheit biete und der individuellen Entfaltung der Krafte mehr Vorschub leiste als ein Anstaltsleben; sie meinen, dass jedes Internat den Willen des jungen Menschen gefangen nehme und als ein mehr oder minder harter Druck wirke. — Ich meine aber, dass gerade in diesem Drucke eine nicht zu unterschatzende padagogische Wirkung liege, die freilich als solche erst spater empfunden werden kann. Die Gefahren des Inter- nats konnen nun aber auch bei richtiger Handhabung, wenn auch nicht ganz beseitigt, so doch gemildert \verden. Bei dem Bedenken, dass das Tliun und Treiben im Seminar ein rein gesetzmassiges werde, muss man zugleich erwagen, dass das aussere Gesetz zum innern Gesetz, zum eigenen Willen gestaltet vverden kann. Vor allem ist es \vichtig, in den Zoglingen selbst einen sittlichen Kern zu bilden, in welchem der Geist der Pflichterfullung wohnt. Es ist ganz richtig: der Mangel des Familieneinflusses lasst sich nicht vollkommen ersetzen; man muss aber dahin trachten, dass die Zoglinge bei ge- bildeten Familien Eingang erhalten, die feinere Haltung und Bewegung wird sich dann ebenfalls ergeben. Was den Mangel der letzteren betrifft, so braucht man iibrigens die Ursache nicht immer im Internat zu suchen ; sie kann in friiheren Bildungsverhaltnissen, in dem Stande liegen, aus dem der Zogling erwachsen ist. Wenigstens hat auch man- cher Gelehrte, der nicht von friihester Zeit an mit den Umgangsformen vertraut geworden ist, auch wenn er in keinem Internat gewesen, darunter zu leiden, und mancher Lehrer vviederum streift die Unbeholfenheit bald ab, wenn er in den Zug des Lebens selbst eintritt. Man hat das Internat auch als eine Pflanzstatte von Heuchelei, Kriecherei etc. bezeichnet, durch welche Behauptung von vorneherein iiber die Lehrer des Seminars, vor allem iiber den Director der Štab gebrochen wird. Denn: gestaltet sich das Internat zu einer solchen Pflanzstatte, so konnen die betreffenden Lehrer keine rechten Erzieher sein; sie sind entweder ohne den Scharfblick, der jene Maske, deren sich die Zoglinge bedienen, durchdringt, oder sie sind selbst unsittliche Charaktere, die an Kriecherei und Heuchelei Gefallen finden’ Wenn freilich in den Seminaristen solche Schmarotzer- und Pharisaerpflanzen gezogen wtirden, dann waren die Anstalten wert, dass sie zugrunde giengen. Ueber die Internate spricht sich Kehr folgendermassen aus: „Friiher kannten wir die Internate nur aus gefarbten Zeitungsberichten, heute kennen wir sie aus eigener Anschauung. Und was das Auge sieht, das glaubt das Herz. Man sehe sich die Ein- richtungen der heutigen Internate doch nur einmal selbst an und falle dann ein auf eigene Anschauung begriindetes Urtheil! Ich bin felsenfest uberzeugt, dass die Geguer 18 dieser Einrichtung, wenn sie diese Internate einmal s e Ib st gesehen hatten, auch der Wahrheit die Ehre geben und ihre Vorurtheile schwinden lassen vviirden. Pestalozzi, Basedow etc. haben Internate gehabt; Palmerston, Lessing etc. sind in Internaten erzogen worden. Warum will man es heute als ein Zeichen der Reaction ansehen, gute Inter¬ nate fiir Seminaristen zu schaffen, d. h. gut eingerichtete und gut g el ei te te Inter¬ nate*, wie sie ein Dinter batte und ein Diesterweg wolite?“ Bekanntlich sprach sich letzterer im Reichstage iiber diese Frage folgendermassen aus: ,,Die Ultras der rechten Seite verlangen das Internat, die der linken das Externat; ich meinerseits stimme unter guten padagogischen Verhaltnissen fiir jenes, unter schlecbten fiir dieses.“ Am Hauptseminare zu Halberstadt wirken ausser dem Director Dr. Kebr ein Ober- lebrer, vier ordentlicbe Seminarlehrer und ein Hilfslehrer. Das Nebenseminar steht eben- falls unter Kebr, und es ivirken darin ausser einigen Lebrern des Hauptseminars nocb zwei andere Seminarlebrer. Die Gehaltsverhaltnisse der Lehrpersonen sind folgende: Der Director bat neben freier Wobnung 4800 Mark; die iibrigen Lehrer bezieben 1060 bis 3660 Mark. Jene Lehrer, die nicht im Seminare wohnen, erhalten einen Wohnungs- zuscbuss von 360 Mark. — Der Director sowie die meisten Seminarlebrer sind seminaristisch gebildet; sie sind aus der Volksscbule bervorgegangen und haben von der Pike auf gedient, also sicb selbst emporgearbeitet — self made men. Zu solchen Mannern hat der Volksschullekrer ganz besonderes Vertrauen und Zuneigung. Es ist dies ja naturlich; er siebt in solchen Mannern, was er batte w er d en kdnnen oder — vielleicht nocb w er de n kan n. Er freut sich, dass mindestens Einzelne von seinen Standes- und Berufs- genossen weiter gekommen sind. Schliesslicb kann ich nicht umbin, zu erwahnen, dass alljahrlich am Halberstadter Seminar Hospitanten aus aller Herren Lander zu treffen sind. Alle haben durcb eine zvveckmassig erlangte Bildung den Namen Kebr in gauz Europa beriibmt gemacht. Die zweiclassige Volksschule zu VVehrstadt. Ueber Anregung Kehrs besuchte ich die nachst Halberstadt gelegene zweiclassige Volksschule zu “VVehrstadt. Diese Scbule war leider wegen der soeben eingetretenen Michaelisferien geschlossen, daber ich den internen Zustand dieser Anstalt nicht aus eigener Anschauung kennen lernen komite. Vom dortigen Oberlebrer erfuhr ich uber die ausseren Verhaltnisse dieser Volksschule Folgendes: „Vor mehreren Jahren habe ich, \vie schon mein Vater vor mir, hier Halbtagsschule gehabt, indem ich im Winter vormittags die erste Classe, nacbmittags die zweite Classe unterrichtete; im Sommer hatte jede Classe morgens zwei Stunden Unterricht. Nachdem ich so viele Jahre lang 166 bis 170 Kinder ali ein unterrichtete, wurde endlich vor drei Jahren hier ein zvveiter Lehrer angestellt, der die zweite Classe mit 26 Stunden pro Woche verwaltet und den Turnunterricbt — der bei uns, gleich dem Unterricht in weiblichen Handarbeiten fiir Madchen, auch in den Landscbulen obligatoriscb ist — ertheilt. Er beziebt einen Minimal- gehalt von 900 Mark, wobei ihm Wohnung und ein kleiner Garten mit 75 Mark billig angerecbnet ist. Die Gemeinde hat ihm (dem zvveiten Lehrer), weil er tuchtig und fieissig ist, schon nach einem Jahre 150 Mark Zulage gewahrt. Wir beide haben je 85 Schiller, die alle die Scbule regelmassig besuchen und nur in einzelnen dringenden Fallen Urlaub bekommen. Unentschuldigtes Ausbleiben wird unnachsichtlich mit 1 Mark Strafe belegt. — Mein Gehalt belauft sich, da ich eine bessere Stelle inne habe, auf 2400 Mark * Ein Lehrer aus Norddeutschland hat darum folgenden Keim geschmiedet: „Das Internat," so sagt Herr Kehr, „Wenn’s gut ist, so empfiehlt sicids selir." 19 Von jedem Kinde bekomme ich pro anno 10 Mark Schulgeld, daneben habe ich 15 Morgen Schulacker, einen Garten von P/s Morgen, Nutzung des Kirchhofes, Quartalgeld von jeder Familie und Accidentien. Die iibrigen ersten Landstellen in unserer Gegend sind ahnlich dotiert. Das von den Kindern zu zahlende Schulgeld ist nur Mer im Orte ausnahmsweise sehr hoch; in den Nachbargemeinden zabit man nur pro anno 1 Mark Schulgeld. Unser Local-Schulinspector ist der Pastor loči, der nachste hbhere Vorgesetzte der Kreis-Schul- inspector, der Superintendent der Diocese, der auch der Vorgesetzte der Geistlichen ist.“ Die holiere Tochterschule in Q,uedlinburg. Auf meiner Reise nach dem Harze gelangte ich auch nacli Quedlinburg, einer alterthtimlichen Stadt an der Bode, im 10. und 11. Jahrhundert Residenz der deutschen Kaiser. Die Stadt liegt inmitten der schonsten Blumenfelder. Der Samenbau und Samen- handel Quedlinburgs wird fiir den grossten der Erde gehalten. In dieser Stadt ist u. a. auch der Finkenherd zu sehen, wo Heinrich I., der Begriinder der Stadt, die Kdnigs- krone erhalten haben soli. Quedlinburg ist auch der Geburtsort Klopstocks und Ritters. Ich beabsichtigte die dortige hohere Tochterschule zu besuchen, ivelche aber leider — ebenfalls der Michaelisferien wegen — geschlossen war. Ueber die Organisation dieser Anstalt machte mir der Herr Rector folgende Mittheilungen: „Unsere Tochterschule, die circa 160 Schiilerinnen pro anno zahlt, hat sieben aufsteigende Classen und ein Lehrer- collegium von zehn Personen (der Rector, ein „wissenschaftlicher“ Oberlehrer, zwei Elementarlehrer, drei „wissenschaftliche“ Lehrerinnen, eine Industrie- und Zeichenlehrerin, eine Turnlehrerin und ein Gesangslehrer). Die Vertheilung der Elementarfacher ist die gevvohnliche. „Franzosisch“ beginnt in der vierten Classe (viertes Schuljahr) mit wochent- lich fiinf Stunden, „Englisch“ in der zweiten Classe mit wochentlich drei Stunden. Die Schiilerinnen pflegen die Confirmation erst im 15. Lebensjahre nachzusuchen und ver- bleiben theilweise auch nach derselben noch in der Schule. Das Schulgeld steigt von 36 bis 66 Mark jahrlich; daneben pro Winter und Kopf zwei Mark „Holzgeld“. Schul- geldfreiheit besteht principiell nicht, wird aber auf Antrag und durch Beschluss der Schul- depfltation unter Umstanden gervahrt. Bei mehreren Geschwistern tritt Ermassigung ein. Der Turnunterricht — wie jeder andere — ist obligatorisch. “ Die Route durch den Harz. Der Harz ist der besuchteste, bevolkertste und interessanteste Hohenzug Nord- deutschlands. Er bil det ein freistehendes Massengebirge, das besonders siidwarts halb- kreisformig heraustritt und fast 42 Geviertmeilen umschliesst. — Das Bodethal zwi- schen Tkale und Treseburg bietet einen majestatischen Anblick; die hochromantischen, wilden Felsenscenerien finden in unseren Hochgebirgen Ihresgleichen. So bildet mit Recht das Bodethal mit der Rosstrappe und dem Hexentanzplatz den beliebtesten und besuchte- sten Punkt, den Glanzpunkt des ganzen Gebirges. — Auf der sogenannten Rosstrappe zeigt man den Abdruck eines grossen Pferdehufes, eine gauz natiirliche Vertiefung in Granit, wie solche ofter vorkommen. Der Sage nach soli dieser Huf von dem Rosse einer verfolgten Jungfrau herrtihren, welches beim furchtbaren Sprunge von dem gegeniiber- liegenden Hexentanzplatze her dieses Zeichen zuruckliess. Die Rosstrappe ist der ausserste Vorsprung eines schmalen, senkrecht liber 150 aus dem Bodethale empor- steigenden Gebirgskegels. Der Punkt ist neben dem Tanzplatze wohl der schonste und zugleich wildeste des Harzes; er gewahrt eine Reihe grossartiger und diisterer Aus- sichten nach dem Felskessel mit der schaumenden Bode und in die Ebene nach Quedlin- burg. — Die hochste Erhebung des Harzes ist der Brocken, der schon seit dem 16. Jahr¬ hundert haufig besucht wird. Auch Dichter eilen zu ihm, zu seiner Hohe und seinen 20 Schauern, und verherrlichen die grossartigen Eindriicke und Gedanken, die dort ihren Geist entziicken und iiberwaltigen. Wir treffen in dem sehr interessanten Brockenalbum manchen Dichternamen von gutem Klange: Klopstock, Burger, Gleim, Voss, Heine etc. Sie alle iiberragt — wie der Brocken die iibrigen Berge des Harzes — Einer! Es ist unser Dickterheros Gothe! Gothe hat den Brocken dreimal besucht.* Die dritte und letzte Harzreise unternahm er im September 1784. Am 4. September 1787 wurde in das Fremdenbuch geschrieben: Goethe: Quis coelum posset nisi coeli mutiere posse, Et reperire Deum, nisi qui par s ipse Deorum est? Von dem 1855 neu erbauten Brockenthurme hat man eine grossartige Aussicht. Man iibersiekt einen Umkreis von 240 ™ Durchmesser und uberschaut einen Flachen- raum von etwa 45 600 89 Stadte, mehrere hundert Dorfer, viele Burgen, Schlosser u. s. w. Es zeigen sich z. B. Gottingen, Hannover, Hildesheim, Wolfenbiittel, Braunschweig, Magdeburg, Brandenburg, Leipzig etc. Zu den Eigenthiimlichkeiten des Brockens gehoren einige in Deutschland nur selten vorkommende Pflanzen. Diese liefern den sogenannten Brockenstrauss, der jedem Reisen- den heiin Abschiede gegeben wird; z. B. Pulsatilla alpina, Geum montanum, Hiracium alpinum, welche Pflanzen bekanntlich in unseren Alpen auch vorkommen. Bei Riibeland liegt die beriihmte Baumannshohle, in der recht interessante Sta- laktiten und Stalagmiten zu sehen sind, welch erstere meist die Form von Saulen, Eis- zapfen, Hahnen haben, tvahrend letztere konische Kegel bilden. Durch die Lange von Jahrtausenden sind oft Stalaktiten und Stalagmiten zusammengewacbsen, so dass sie seltsame Grotten und Wolbungen bilden. Von den einzelnen Naturspielen bebe ich hervor: die klingende Saule, den Altar, das steinerne Meer, das Schloss, das Taufbecken, die Nonne und den Monch. Von Clausthal aus gelangt man nach St. Andreasberg. Dieser Ort ist eine der sieben Bergstadte des Oberharzes. Die 848 tiefe Grube Samson ist nicht allein die tiefste des Harzes, sondern nirgends auf der Erde wird tieferer Bergbau betrieben. — Einen eigenthumlichen Erwerbszweig bildet dort die Singvdgelzucht, besonders der Canai;ien- vogel, welcher ein gewisser Herr Maschke einen ungeahnten Aufschwung gab. Die Fraucke’sclien Stiftungen in Halle a. S. In dieser beriihmten Universitatsstadt interessierte mich vor allem das riihmlichst bekannte Francke’sche Waisenhaus, welches aus mehreren wichtigen Erziehungs- und Unterrichtsanstalten besteht, so dass jede fflr sich eine besondere Aufmerksamkeit verdient. Das Ganze wie das Einzelne ist fiir seine Bestimmung musterhaft und erweckt die warmsten Gefiihle fiir den grossen Mann, durch welchen diese Schopfung hervorgieng. Und dieser grosse Mann war August Hermann Francke, der ewig denkwurdige Reformator im Erziehungswesen. — Vom Klausthore ostlich liegen die Franckeschen Stiftungen. Da sehen wir ein grosses Gebaude mit hohen Stufen stehen, das die Inschrift fiihrt: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auf- fahren mit Fliigeln wie Adler. “ In diesem Gebaude sind oben Lehrzimmer, unten aber ist eine Buchdruckerei und eine Buchhandlung. Durch das Eingangsgebaude kommt man in einen sehr langen Hof — in eine Strasse, an deren beiden Seiten in einer Lange von fast mehr als 200 vier- bis sechsstockige Hauser stehen. In diesen Hausern sind die Waisenkinder, Schiller fiir Volks- und Mittelschulen etc., eine Apotheke, dahinter grosse Giirten und Wirtschaftsgebiiude. Am Ende steht der Front gegeniiber das schone, * Wer deiikt da nicht umvillktirlick an seine Ode, in der er seine wundersame Fakrt unter der Ueber- schrift „Harzreise im Winter“ besingt. 21 imposante Gebaude, in dem der Director wohnt, und davor das in Bronceguss ausgefiihrte Denkmal Francke’s, dessen feierliche Enthiillung am 5. November 1829 stattfand, an dem Tage, an welchem vor 134 Jakren die ersten Waisen aufgenommen wurden. Francke ist mit dem Priesterrocke bekleidet, legt eine Iland auf das Haupt eines Waisenknaben, der betend neben ihm steht, und zeigt mit der andern Hand gen Himmel. Die Vorder- seite des Marmorsockels tragt die Inschrift: August Hermann Francke Er vertraute Gott. Auf der Riiekseite befindet sich die Widmung: Dem Grunder dieser Anstalten die dankbare Nacbwelt. MDCCCXXIX. Francke war 1692 Professor der griechischen und orientalischen Sprachen an der Universitat zu Halle und nebenbei Prediger an der Kircke in der Vorstadt Glaucka bei Halle. Er war einer der edelsten und besten Menscken. Allgemeine Mensckenliebe und eine Freundlichkeit, die das Herz ftir ikn einnakm, zeickneten seinen Charakter aus. Die Armen pflegte Francke selbst zu unterrickten, behielt sie bei sick und gab ihnen Brot und sammelte fiir sie bei begiiterten Mensckenfreunden Almosen. Als sick einst in der Biichse, die er zu diesem Zwecke in der Woknstube aufstellte, sieben Gulden befanden, rief er mit grosser Freudigkeit: „Das ist ein ekrlickes Capital, davon muss man etwas Recktes stiften; ick will eine Armensckule damit anfangen.“ Wer erinnert sich kier nicht an Pestalozzis Worte: „Ick will Sckulmeister wer- den!“ — wer nicht an die Bettelkinder, die Pestalozzi um sich ker versammelte. So gleichen sich in jedem Zeitalter grosse Menschenseelen, so sprechen sie sick auf eine und dieselbe Weise aus in ihren Gesinnungen, in ikren Worten und in ihren Tkaten.— 1695 begann das Francke’sche Institut seine Wirksamkeit und wurde der Grund aller Anstalten, die man unter dem Namen des Waisenhauses in Halle begriisst. In unglaublick kurzer Zeit erweiterte sick die Armensckule zu einer Verpflegungs- anstalt von 200 Waisen, zu einer Knaben- und Madchen-Biirgerschule, indem die Zahl der Schiller oft auf 2000 gestiegen ist, — zu einer Erziekungsanstalt fiir Kinder adelichen und burgerlichen Standes, einer lateinischen gelehrten Sckule, in der oft an 500 Zoglinge zugleich studierten, einem Waisenhause, einem Lekrerseminare, einem C ollegium Orien- tale — vieler anderer Einricktungen nicht zu gedenken, die sammtlich zu wohlthatigen Zwecken getroffen wurden und wakres Menschenvvokl zu fordern bestimmt waren. — Gegen- wartig wird die Anstalt von circa 3100 Zoglingen besucht, die sich auf das Padagogium, die lateinische Hauptsckule, die Realsckule, die hohere Tockterschule und die Biirger- schule vertkeilen. Die Unterrichtsmethode in den Elementarclassen ist in sammtlichen Fachern eine ausgezeicknete. Ist schon der durckaus ricktige, lebendige und ansprechende Unterricht an sich geeignet, die Aufmerksamkeit und Lernlust der Kinder zu beleben, so wird er es noch mehr dadurch, dass die Lehrer alles so fasslick und sicher entwickeln und nichts, auck nicht das anscheinend Unbedeutende, libersehen und den Unterrichtszweck nie aus den Augen verlieren. Die Schiller legen ganz besonders in den spracklichen Disciplinen uberrasckende Kenntnisse an den Tag. In ikren Antworten ist nichts Mechanisches oder bloss Eingelerntes wahrzunekmen. 22 Die„Francke’schen Schulen hatten mich so beschaftigt, dass ich keine Zeit mehr fand, auch noch den anderen Schulanstalten Halles meine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Indes 'hatte ich, einer glaubwiirdigen Mittheilung zufolge, keiner erheblichen padagogi- schen Ausbeute entgegensehen diirfen. Das Schulwesea der Stadt Leipzig. Ich beginne vorerst mit den aussern Verhaltnissen der Volks- und Biirgerschulen. — Leipzig hat gegenwartig 9 Biirger- und 7 Bezirksschulen und ausserdem die sogenannte Rathsfreisckule, in tveleher die Kinder (circa 800) unentgeltlichen Unterricht geniessen. Unter Bezirksschulen versteht man solche Volkssckulen, in welche bestimmte Stadtbezirke eingeschult sind und vvelche Schulen von den armeren Kindern besucht werden. Jede Burgerschule hat acht einjahrige Curse oder Classen, die Bezirksschulen dagegen haben nur sieben Classen; dafiir hat die oberste oder erste Classe*, weil die Schulpflichtigkeit hier wie dort acht Jahre dauert, einen zweijahrigen Cursus. Die meisten Burger- und Bezirksschulen haben liber 1000, die I. Burger- und die VI. Bezirksschule sogar liber 2000 Schiiler. Der Lehrplan ist ftir alle Schulen im vvesentlichen gleich, docli haben natiirlich die Bezirksschulen, in denen der Wechsel der Kinder ein sehr grosser ist, grossere Schwierigkeit, das Lehrziel ebenso intensiv zu erreichen, als die Biirgerschulen. Die I. Burgerschule hat in den oberen Classen noch Franzosisch in ihrem Lehrplane, was in den Bezirks- und andern Biirgerschulen wegfallt. — Das Schulgeld betragt in den Bezirksschulen jahrlich 4 Mark 80 Pf., in den Biirgerschulen 18 Mark und in der I. Biirger- schule 36 Mark fiir jeden Schiller. Ueber die Beseitigung des Schulgeldes sind friiher mehrfach Verhandlungen seitens der stadt. Behorden gefuhrt tvorden, aber ohne Resultat. — Die Lernmittel fiir die Kinder werden in den Biirgerschulen von den Eltern beschafft; in den Bezirksschulen werden sie notorisch Armen auch von der Schule selbst geliefert — namlich auf Kosten der Commune. Ueber die Besoldungsverhaltnisse der Lehrer erfahre ich Folgendes: Die Lehrer avancieren nicht nach „bestimmten Schulensondern sammtliche Volks- (Biirger-) Schullehrer Leipzigs bilden ein Ganzes und sind in Gehalts- classen eingetheilt, in denen sie in der Hegel nach dem Dienstalter aufriicken. Ausnahmen werden nur bei notorisch pflichtvergessenen Lehrpersonen gemacht. Nach dem diesjahrigen Haushaltplane der Stadt Leipzig wirken an sammtlichen Volks- und Biirgerschulen 19 Directoren mit je 4650 Mark Gehalt, 47 Lehrer „ „ 3000 „ „ 51 JJ n n 2700 „ „ 51 „ „ „ 2400 „ „ 51 „ » n 2100 „ „ 51 n »n 1800 „ „ 55 „ n „ 1650 „ „ 104 prov. Lehrer „ „ 1500 „ „ ausserdem eine grosse Anzahl Lehrer und Lehrerinnen fiir Zeichnen, Turnen und Hand- arbeiten. Die Directoren haben, wenn die Schiilerzahl unter 1000 betragt, 10 bis 12 Stunden, und wenn sie liber 1000 betragt, 6 bis 8 Stunden Unterricht \vbchentlich; jzu ertheilen, sie befassen sich daher vonviegend mit der technischen und administrativen Leitung der Schulen. Der grdsste Theil der Lehrer und auch die Mehrzahl der Directoren sind semi- naristisch gebildet. * In Norddentsehland iverden die Classen von oben nach unten gozahlt, so dass bei einer achtclas- sigen Schule die achte die unterste Classe ist. 23 Dev Gesammtaufwand fiir das stadtische Volksschulwesen betrug im abgelaufenen Jahre 1 382 602 Mark, der Zuschuss aus der Stadtcasse 1 122 681 Mark. — Die VIL Biirger- schule wurde 1878/80 erbaut und zu Ostern 1880 eingeweiht; der Bau derselben kostete ohne Areal und Mobiliar circa 360 000 Mark. Fiir Anschaffung von Lehrmitteln standen dem Director circa 5200 Mark zur Verfiigung. So viel iiber die ausseren Verhaltnisse der Volks- und Biirgerscbulen Leipzigs. Fassen \vir nunmehr den Unterricbt derselben ins Auge. — Die Unterriehtsgegenstande der Volks- und Biirgerschulen Leipzigs sind fast dieselben, wie in den entsprechenden Anstal- ten Oesterreichs. Es ist aber anzunehmen, dass bei achtjahriger Schulpflicht, reichlichen und guten Lehrmitteln, vorziiglichen Lehrkraften etc. das gewohnliche Lehrziel iiberschritten werde, was aucb thatsachlich der Fali ist. Auf Grund meiner Wahrnebmungen kann ich constatieren, dass die Leipziger Volks- und Biirgerschulen sehr hohen Anforderungen entsprechen. Der Lehrplan fiir die zwei ersten Schuljahre, d. i. fiir die Classe 8 u. 7, kennt keinen besonderen Religionsunterrielit. In jeder der beiden Classen werden etwa 6 bis 8 Abschnittchen aus den leichtesten bibl. Geschichten im Anschluss an den Anschauungs- unterricht mit den Kindern besprochen, z. B. Abraham und Lot — Josef — Moses’ Geburt — Geburt Christi. In der I. Biirgerschule hospitierte ich fast in sammtliehen Classen. Meine in Bezug auf Unterrichtsertheilung gemachten Wahrnehmungen sind nun folgende: In der 8. Classe wird die analytisch-synthetische Schreiblesemethode (Normalworter- methode) in Anwendung gebraeht. Diese Methode hat ihren Ursprung in Leipzig und \vurde zuerst durch Biirgerschuldirector Dr. Vogel verbreitet, weshalb sie auch VogeFsche Methode heisst. Das Charakteristische der Methode Vogels besteht in den „Normalwbrtern“. Urspriinglich sollten sich die Kinder das ganze geschriebene, resp. gedruckte Wortbild merken; das Lesen war wesentlicb. ein Wortlesen. Nachfolgende Bearbeiter — wie Klauwell etc. — haben diese Weise verandert und grosseres Gewicht auf die einzeln en Laute und Buchstaben gelegt. Die Worter werden allerdings auch im ganzen auf- gefasst, aber besonders in ihre Laute aufgelost und die gewonnenen einzelnen Laute werden wieder auf verschiedene Weise zusammengesetzt. Das ist meiner Ansicht nach eine Verbesserung der Methode, vfenigstens wird sie praktischer und leichter. Der Leseunterricht beginnt mit zwei sehr wichtigen Uebungen, welche in der Zer- legung leichter vorgesprochener Worter in ihre Laute und in der Zusammenfassung vor- gesagter bekannter Laute zu Silben undAVortern bestehen. Von der griindlichen Betreibung dieser beiden Voriibungen hangt zumeist das Gelingen des ganzen Unterrichtes ab. — Der Gang der Behandlung eines Normalwortes — wie er in der von mir besuchten Elementar schule eingehalten wurde — ist folgender: 1.) Der Gegenstand, den das Wort bezeichnet, wird entweder in natura oder in einem Bilde vorgezeigt, angeschaut, besprochen, event. von den Schiilern gezeichnet; 2.) das Wort wird deutlich vor- und nachgesagt und in seine Laute zerlegt; 3.) das Wort wird an der Lesemaschine aufgestellt, und die Schuler lernen aus ihm die Buchstaben fiir seine einzelnen Laute; 4.) die Buchstaben werden nach ihren Lauten, die sie im Worte bezeichnen, nicht nach ihren Namen benannt und sicher eingeiibt; 5.) das Wort wird nebst den Lautgruppen, in die es zerlegt werden kann, an der Lesemaschine lautiert..und gelesen; 6.) das Wort wird darauf auch an den Normal- wortertafeln lautiert und gelesen; 7.) das Wort wird in Verbindung mit den bereits friiheren Normalwortern geiibt; 8.) sobald die Schiller das Normalwort lesen konnen, beginnt auch das Schreiben desselben. Hiebei wird folgender Gang beobachtet: a) Das Wort wird in Currentschrift moglichst gross vom Lehrer unter das Bild geschrieben, z. B. „Hut“; b) es wird den Kindern gesagt: Das heisst auch „Hut“, das ist das geschriebene Wort „Hut“; 24 c) das ganze Wort, sowie nachher auch die Lautgruppen, welche zu ihm gehoren, werden vom Lehrer an die Wandtafei geschrieben, vom Schiller lautiert und gelesen (Synthese), abgeschrieben and wieder gelesen. — Damit die Kinder das betreffende Normalwort ihrem Gediichtnisse desto besser einpragen, konnen auch kieine, recht ins Gehor fallende Lieder, \velche auf das vorgefiihrte Normahvort Bezug haben, gesungen werden. — Bei solcher Behandlung der Normahvorter miissen diese zu festen Gebilden in dem Kindesgeiste werden, und diese Punkte sind bei der geringen Festigkeit der kindlichen Seelengebilde ungemein wichtig ftir alles Lernen. Sie bleiben insbesondere fiir den Lese-, Schreib-, Anschauungs- und orthographischen Unterricht die sicheren Marken, auf welche bei jeder passenden Veranlassung zurtickgegriffen wird. Ist z. B. der Laut, an den ein Buchstabe erinnern soli, vergessen, so wtirde es heissen: In vvelchem Worte lerntest du diesen Buch- staben kennen? Wie heisst er demnach? Ganz besonders wichtig scheint mir die Normal- wortermethode ftir die Rechtschreibung. Wie bei keiner andern werden die Kinder an- geleitet und gewohnt, auf genaue Aussprache der VVorter zu merken, die Laute zu unter- scheiden und die Worter zu zerlegen. Auch bin ich der festen Ueberzeugung, dass bei dieser Methode, indem die Worter elementiert, die Laute und Buchstaben eiugetibt und zur Bildung ahnlicher Worter verwendet werden, die Selbstthatigkeit der Kinder in weit hoherem Grade in Anspruch genommen wird, als bei jeder anderen. In der erwahnten Classe wohnte ich auch noch der Rechenstunde bei. Es wurde die Zahl 7 behandelt, und zwar nach Grube’scher Methode. Der Lehrer verstand es, der Forderung: „Die Schtiler haben auf Grund der Anschauungen zu richtigen Zahlen- vorstellungen zu gelangen", gerecht zu werden. Diese Anschauungen wurden durch concrete Gegenstande (der Lehrer bentitzte sieben weisse und sieben schwarze, etwa sechs Centi¬ meter hohe Wtirfel) vermittelt. Das methodische Vorgehen liess einen geordneten, stufen- massigen Gang erkennen, wie denn auch die Sicherheit im Auftreten der Unterrichtenden einen wohlthuenden Eindruck auf den Zuhorer machte. Die Rechenstunde war in Wirk- lichkeit eine Denk- und Sprechstunde. Auch der deutsche Sprachunterricht vvird in alleu Classen sehr gut behandelt. Es wurde wahrgenommen, dass die Kinder bereits in der achten Classe schon strenge zum richtigen Anschauen, klaren Erkennen und sprachrichtigen Ausdruck angeleitet werden. Der beztigliche Štolf wird von den den Kindern bekannten Gegenstanden genommen, schliesst sich der Fibel, resp. dem Lesebuche an. Weitschweifigkeiten werden vermieden. Im allgemeinen wird moglichst alles in einfache Siitze gefasst. Gleich dem Lehrer miissen die Schtiler jeden Satz und jedes Wort lautrein und richtig betont sprechen. — Štolf zu den Stiltibungen (auf der Mittelstufe) liefert zunaehst und zumeist das Lesebueh. Kleinere Erzahlungen werden in einfachen Satzen zusammengestellt oder in gleicher Weise Be- schreibungen naheliegender Gegenstande geliefert, welchen eine sorgfaltige Besprechung vorausgeht. — Auf der Oberstufe bieten zu den stilistischen Uebungen Auswahl und Štolf ebenfalls die Lesestticke, ferner die tibrigen Unterrichtsfacher und die eigene Erfahrung. Die Aufgabeu umfassen: Vergleichungen, Erklarungen von Sinnsprtichen und Sprich- wortern, Natur- und Charakterscbilderungen, auch leichte Abhandlungen. — Der gram- matische Unterricht berticksichtigt auf dieser Stufe das Sclmerigere aus der Etymologie, Flexion, Rection, dem Satz- und Periodenbau. — Der Sprachunterricht beschrankt sich aber nicht nur auf die daftir ausdrticklich angesetzten Stunden, sondern es ist jede Unterrichtsstunde in dem Sinne eine Sprachstunde, als der Lehrer bei sich und den Schiilern auf Reinheit der Aussprache sowie auf die Vollstandigkeit und Correctheit des Ausdruckes mit grosster Consequenz und Sorgfalt balt. In der zweiten Classe (vorletztes Schuljahr) wohnte ich dem Geschichtsunterrichte bei. Den gemachten Wahrnehmungen gemass beschrankt sich dieser Unterricht lediglich 25 auf Charakterbilder aus der deutscken und preussischen Geschichte. Jede Geschiclite wird vom Lehrer anschaulich erzahlt, wozu die vorhandenen Karten und Bilder benutzt werden. Die Schiller tverden angehalten, das von dem Lehrer Vorgetragene im Zu- sammeuhauge wiederzugeben. Vaterlandische Gedichte werden der Geschichte zur Belebung angeschlossen. Der Zeichenunterricht wird nach der FlinzeFschen Methode ertheilt. Dieser Unter- richt wird zunachst auf Anleitung zur Darstellung einfacher raumlicher Gegenstande in einer Linearzeichnung beschrankt, dann aber mit Ausschluss kiinstlerischer Darstellung zur Fertigkeit in der Nachbildung einfacher Naturkorper, von Grund- und Aufrissen, wie sie das Bediirfnis des praktischen Lebens erheischt, gefordert. Der Gesang erfreut sich einer recht sorgfaltigen Pflege. In allen Classen wird auf gute Tonbildung und auf gute Aussprache des Gesangtextes hingewirkt, sowie auch das Treffen von Tonintervallen geiibt. Von Classe drei an tritt der Gesang zweistimmig und der dreistimmige in der ersten Classe auf. Die Chorale werden in allen Classen ohne Begleitung einer zweiten Stimme gesungen. Die Disciplin ist in sammtlichen Classen eine stramme. Die Schiiler sitzen schon und ruhig in der Bank. Das Herausnehmen der Schulrequisiten aus dem Pulte erfolgt auf ein kurzes Commando. Die Disciplin beschrankt sich auf folgende Strafmittel: Ver- weis, doch ohne beschimpfende Ausdriicke, Zuriicksetzen im Locus, Zurtickbehalten in der Schule unter Aufsicht, massige Strafarbeiten. Die Anwendung korperlicher Ziichtigung ist in Fallen beharrlichen Unfleisses oder groberer Verfehlungen gegen Schiiler unter 14 Jahren zullissig. Der Missbrauch des Ziichtigungsrechtes, wenn dadurch Nachtheil fiir die Gesundheit des Misshandelten entstanden ist, zieht schwere Strafen nach sich. BartlFs Erziehungsschule zu Leipzig. Diese Privat-Anstalt besteht aus einem Kindergarten, einer Elementarschule, einer Realschule und einer Gymnasialabtheilung. Am Kindergarten sind drei Lehrerinnen thatig. Nebst den Frobekschen Kinderspielen werden auch die selteneren Beschiiftigungen der Kindergarten: die Pflege der Gartenbeete und das Modellieren in den Kreis der Kinderbeschaftigungen gezogen. Die Elementarschule besteht aus drei Classen (9, 8, 7) und wird von Knaben und Madchen von sechs bis neun Jahren besucht. Aus ihr treten die Madchen in die hohere Tochterschule, die Knaben aber in die Real- oder Gymnasialabtheilung der Anstalt ein. — Die Realabtheilung ist eine vollstandig entwickelte Realschule zweiter Ordnung und besteht aus sechs Classen (6 — 1). In der funften Classe beginnt der Unterricht in der franzosischen, in der dritten Classe der Unterricht in der englischen Sprache. Der Unterricht im Latein, welcher in Classe sechs seinen Anfang nimmt, sowie der Unter¬ richt in der Stenographie, welcher in Classe zwei beginnt, ist facultativ. Alle iibrigen Facher sind obligatorisch. Diejenigen Schiiler, die die erste Classe mit Erfolg ab- solviert haben, erhalten das Zeugnis fiir den einjahrig-freiwilligen Militardienst. Die meisten Zoglinge der Anstalt treten in den Kaufmannsstand oder in hohere gewerbliche Berufskreise ein. Strebsame Zoglinge, die die Abgangspriifung im Latein abgelegt haben, konnen in die Obersecunda einer Realschule erster Ordnung eintreten.* — Die Gymnasialabtheilung besteht aus einer Sexta und Quinta, an welche Quarta und Untertertia angesetzt werden. Die Schiiler dieser Abtheilung erhalten besonderen Unter- In Eealschuleu erster Ordnung ist ein hoheres Ziel gesteckt als in Realsckulen zweiter Ordnung. 26 richt in der lateinischen und griechischen Sprache. In allen iibrigen Facheru sind sie, das Englische ausgenommen, mit den entsprechenden Classen der Realabtheilung vereinigt. Die Elementarschule hat die Aufgabe, auf den Unterricht in den Oberclassen vor- zubereiten. Es geschieht dies inbetreff der religios-sittlichen Bildung dadurch, dass die Kinder in Classe neun durch eine Auswahl klassischer, padagogisch bearbeiteter Marchen in unser Volksthum eingefiihrt und mit den hervorragendsten ethischen und religiosen Begriffen bekannt gemacbt werden. An dem Lebensbilde Robinson Crusoe’s erweitert und vertieft sicb in Classe acht die sittlicb-religiose Anschauung; es treten einzelne Gebote auf und die Culturgesckichte getvinnt den Anfangspunkt ihrer Ent- wicklung. In der siebenten Classe beginnt die bibliscke Geschichte mit der Patriarchen- zeit. Die zekn Gebote, das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser werden erklart und memoriert. Die thiiringischen Sagen bieten den Anfangspunkt fiir die vaterlandische Geschichte. Von den christlichen Festtagen werden in allen drei Classen entsprechende Erzahlungen aus dem neuen Testamente geboten. In engem Zusammenhange mit den besagten Erzahlungsstoffen steht die Naturkunde und Geographie. Die Schiiler miissen den Boden kennen lernen, auf dem sich die Personen der Geschichte bewegen, und Aufgabe des Lehrers ist es, ihn — den Boden — verstandlich zu machen durch ent¬ sprechende Objecte der Heimat. Ebenso werden die natiirlichen Bedingungen erklart, unter denen die Ereignisse erscheinen. Dabei erlangen ungesucht die beschreibenden Naturwissenschaften ihren Anfangspunkt. Die Objecte der Natur und der menschlichen Hand bieten die Anknupfung ftir das Zeichnen und die geometrische Formen- lehre.* Das Rechnen schreitet in den Zahlenraumen von 1 bis 10, von 10 bis 100, von 100 bis 1000 dargestellt vor, dass das Kopfrechnen wie das schriftliche Rechnen gleich- massig zur Beriicksichtigung kommt. Der Unterricht im Deutschen schliesst sich eben- falls moglichst eng an die iibrigen Stoffe an. Nach den gemachten Wahrnehmungen gelangt er so weit, dass die Zoglinge mit ziemlicher Sicherheit und Gelaufigkeit lesen und schreiben lernen und in den Hauptregeln der Orthographie fest werden. Im Decla- mieren, Singen, Turnen sowie in den Handfertigungsarbeiten machen die Kinder ent¬ sprechende Fortschritte. Regelmassige Spaziergange vermitteln die Kenntnis der Heimat und die ftir den Unterricht erforderlichen Anschauungsobjecte. Die Leipziger Schulwerkstatte. Die Erziehung der Jugend zur Arbeit durch friihzeitige Erweckung von Lust und Geschick zu anregendem und erfreuendem, zugleich niitzlichem Schaffen bildet seit langerer Zeit einen Gegenstand lebhafter Erorterung in den Kreisen von Mannern, denen die allseitige, gesunde und naturgemasse Ausbildung des Volkes am Herzen liegt. Bereits seit dem vorigen Jahrhunderte hat man in Deutschland und in der Schweiz immer wieder- holte Versuche zur Ausfiihrung dieser Idee gemacht, und Manner wie Pastalozzi, Frobel, Gutsmuths, Herbart sind in hervorragender Weise fur die Erziehung zur Arbeit ein- getreten. So oft und so eindringlich aber auch auf die Bedeutung der Arbeit als Er- ziehungsmittel hingewiesen worden ist, so haben doch jene erzieherischen Reformbestre- bungen feste und dauernde Einrichtungen in Deutschland noch nicht hervorzurufen ver- mocht. Erst in jiingerer Zeit ist man der thatkraftigen Ausfiihrung jenes Gedankens, namentlich in den nordischen Landern (Schweden und Danemark) naher getreten, und * Im geometrischen Unterrichte wird streng darstellend verfahren. Alle znr Behandlung kommenden Korper- und Raumformen miissen von jedem einzelnen Schiiler in Zeichnung und Pappe, auch wohl in Thon dargestellt werden. 27 in letzterem Lande hat sich in hervorragender Weise der Rittmeister Clauson von Kaas* in Schriften und praktischen Versucken, durck Arbeit und Unterricht mit der Realisierung der Idee besehaftigt. Infolge Verfugung des sachsischen Cultusministeriums ist im Vor- jabre unter Leitung des Rittmeisters Clauson von Kaas ein sechswochentlicher Unterrichts- cursus ins Leben gerufen worden, um vorzugsweise Lehrern an sachsischen Schulen Gelegenheit zu geben, diejenigen Arbeitsgebiete kennen zu lernen, tvelcke sich bis jetzt zur Ausbildung der Handfertigkeit und zur Ausnutzung fiir einen zweckentsprechenden Hausfleiss geeignet erwiesen haben, und sich zugleich diejenige Fertigkeit auf diesen Gebieten anzueignen, welche sie befahigt, durch Unterricht und Beispiel anregend auf ihre nachste Umgebung und auf die Schuljugend einzuwirken. — An diesem Unterrichts- curse haben dem Vernehmen nach circa 50 Volksschuldirectoren und Lehrer, drei Zeichen- lehrer, acht Lehrer verschiedener Lehr-Erziehungsanstalten, sammtlich aus dem Konig- reiche Sachsen, drei Lehrer aus Bokmen und ein Lehrer aus Schlesien theilgenommen. Eine Frucht dieses Unterrichtscurses ist u. a. die Schuhverkst&tte zu Leipzig. In derselben erhalten die Schiller Ausbildung in einfachen Holz- und Papparbeiten, im Modellieren und Metallarbeiten. Die von den Knaben angefertigten Gegenstande bieten einen recht gefalligen Anblick, und die Zoglinge bekunden grosses Interesse an der Arbeit. Zur Unter- stiitzung des geometrischen Unterrichtes wurden angefertigt: gleichseitige Dreiecke, Quadrate, Wurfel, Tetraeder, prismatische Gefasse, ein Cubikcentimeter, Cylindergefasse u. dergl. — Ausser diesen direct dem Schulunterrichte dienenden Gegenstanden werden aber auch viele andere, der Familie und dem Hause oder dem Spiele dienende Gerathschaften angefertigt, z. B.: einfache praktische Aufhange-Apparate fiir Teller, Ketten, Papierkalter, Streichholzbehalter etc. — Diese Resultate bestarkten mich in der Hoffnung, dass der Knaben-Arbeitsunterricht in Leipzig eine dauernde Statte gefunden hat. Ueberhaupt blickt die Bevolkerung Sachsens mit Wohlgefallen auf die Bestrebungen der Schule, den Knaben Lust und Liebe zu Handfertigkeiten beizubringen; man meint, dies fordere die Achtung vor dem Handwerke selbst und helfe praktische Menschen erziehen. Das Schulwesen der Hauptstadt Dresden. Biirgersehulen und Bezirksseliulen. Mit dem raschen Wacbsthume der Hauptstadt Dresden hat die Vermehrung der offentlichen Schulen gleichen Schritt gehalten. Dem Vernehmen nach ist in den letzten Jahrzehnten durchschnittlich jedes zweite Jahr eine neue Schule gegriindet, eroffnet und ein neues Schulhaus eingeweiht worden. Dass aber, wie es im Vorjahre der Fali war, gleichzeitig drei neugegriindete Schulen zu eroffnen und iiberhaupt vier neue Schul- gebaude einzuvveihen waren, dies muss als ein denkwiirdiges Ereignis in der Entwicklung und in der Chronik des Dresdener Volksschulwesens bezeichnet werden. — Dresden be- sitzt im ganzen sieben Biirgersehulen und 17 Bezirksschulen, ausserdem eine sogenannte Stiftsschule und eine Kinderbesserungsanstalt. Die Classenzahl ali’ dieser Schulen betragt 499, jene der Schiller iiber 20 000. Es kamen daher durchschnittlich auf eine Classe 40 Schiiler. Die Zahl der Lehrer (einschliesslich der Directoren) betragt iiber 500. Ferner hat Dresden acht Fortbildungsschulen mit 68 Classen, 75 Lehrern und 2200 Schiilern. Die Zahl der Classen und Schiiler hat sich, wie mr vernehmen, seit ein paar Jahren nur wenig geandert, so dass angenommen \verden darf, die stadtische Fort- bildungsschule habe ausserlick nunmehr die Gestalt und Ausdehnung gewonnen, die sie * Der Genannte ist trotz seinos fremdklingenden Namena ein geborner Deutscher; er ist niimlich nachst Altona geboren und studierte am Gymnasium zu Gliiekstadt. Spiiter trat er in das danische Heer und avancierte bis zura Rittmoister. 28 beibehalten wird, soweit nicht bedeutende Veranderungen in der Einwohnerzahl Dresdens oder besondere Verhaltnisse der Stadt in Frage kommen. Ueber diese Fortbildungsschulen aussert sich ein Schulmann folgendermassen: „Die fiir den Unterricht getroffenen Ein- richtungen bewahren sich, und der vor kurzem erscbienene Lehrplan fiir die Fortbildungs¬ schulen des Konigreiches Sachsen, herausgegeben vom Herrn geh. Schulrath Ivockel, wird fordernd auf den weitern inneren Ausbau, auf die Auswahl und Abgrenzung der Lebrstoffe sowie auf die Einheitlichkeit der Organisation unserer und der auswartigen Fortbildungs¬ schulen einwirken. Mehr und mehr stellt sich der Segen der Fortbildungsschule heraus, dass unfahige und nicht strebsame Schiller bewahrt werden vor dem Verlernen und Verlieren dessen, was durch die Schule erreicht worden ist, wahrend eine gute Zahl tiichtiger und strebsamer Schiiler auch anerkennenswertes Neues wirklich hinzulernt.“ Die stadtisehe hohere Tochtersehule. Diese Schule, vom konigl. Ministerium des Cultus und offentlichen Unterrichtes als hohere Bildungsanstalt anerkannt, ist eine stadtisehe offentliche Schule, wird vom Rathe zu Dresden unter verfassungsmassiger Mitwirkung der Gemeindevertreter verwaltet und, soweit die Zinsen des Stiftungscapitales und der Einnahmen an Schulgeld den Aufwand nicht decken, aus stadtischen Mitteln unterhalten. Mit Berathung der Schulangelegenheiten ist der fiir die stadtischen hoheren Bildungsanstalten niedergesetzte Ausschuss beauftragt, der Religionsunterrieht steht unter der Aufsicht der konigl. Superindentur; die oberste Instanz bildet das konigl. Ministerium fiir Cultus und offentlichen Unterricht. Die Anstalt hat die Bestimmung, der weiblichen Jugend durch Erziehung und Unter¬ richt auf religios-sittlicher Grundlage eine Ausbildung zu geben, welche die Ziele der hoheren Volksschule iibersteigt; sie hat aber nicht die Bestimmung, ihren Schiilerinnen durch Aufnahme von Fachstudien eine auf Erwerb berechnete Lebensrichtung zu schaffen. Wenn sie daher in der Ausbildung besonderer Unterrichtszweige hinter den Fachschulen zuriickstehen muss, so geht sie andererseits liber dieselben hinaus, indem sie, durch keine Riicksicht auf Erwerbskenntnisse gebunden, den Schwerpunkt lediglich in Vermitt- lung allgemeiner hoherer Bildung legt. Der Unterricht wird in zehn „Stufenclassen“ ertheilt, die sich in drei Hauptstufen gliedern. Zur Aufnahme in die unterste Classe geniigen dieselben Vorbedingungen, welche sich an den Eintritt in die Volksschule kniipfen, namlich das vollendete sechste Lebens- jahr. Wie ein Lehrer dieser Tochtersehule sehr richtig bemerkt, bedarf das aus dem Elternhause in die Schule iibertretende Madchen im Anfang noch der Eimvirkung weib- licher Erzieher, welche den Uebergang von der miitterliehen Pflege zur Weiterausbildung durch den Lehrer zu vermitteln haben. Es liegt daher der Unterricht auf der Elementar- stufe, Classe zehn bis acht, fast ausschliesslich in den Handen der Lehrerinnen, und erst nach und nach treten denselben tiichtige Volksschullehrer zur Seite. Classe sieben bis fiinf bildet die Mittelstufe, auf welcher der Unterricht vorzugsweise von Volksschul- lehrern ertheilt wird, welchen die Aufgabe zufallt, auf methodischem "VVege allmahlich zur wissenschaftlichen Behandlung der Lehrgegenstande iiberzuleiten. Eine solehe erfahrt der Unterricht vorherrschend auf der Oberstufe, Classe vier bis eins, und zwar, gesetz- licher Bestimmung entsprechend, unter der Leitung von akademisch gebildeten Ober- lehrern. Die Classen sind nach Jahrescursen gegliedert; bei normalem Eintritt in die Schule und regelmassigem Aufsteigen kann der Cursus mit dem vollendeten 16. Lebens- jahre abgeschlossen werden. — Die Unterrichtsgegenstande, Lehrziele, die Vertheilung des Unterrichtsstoffes in den Classen sind durch die Bestimmungen der Lehrordnung festgestellt. Lehrgegenstande sind: Religionslehre; Denkiibungen, Lesen, Schreiben, Rechnen; deutsche, franzosische, englische Sprache; Geschichte, Geographie; Natur- 29 geschichte, Pbysik und Chemie; Literatur- und Kuristgescliichte, Mythologie, praktische Erziehungslehre; Zeichnen, Singen, Turnen und weiblicke Handarbeiten. Der Unterricht beschrankt sich auf die Vormittagsstunden von acht bis ein Ubr, fiir die Turnabtheilungen bis zwei Uhr. Zu grosser Anstrengung ist durch entsprecbende Pausen vorgebeugt, in denen die Schiilerinnen bei niebt ganz ungiinstiger Witterung in dem freundlicben und ger&umigen Schulgarten Erholung finden. Am Schlusse jedes Halb- jahres findet eine sehriftliche Prufung statt, welcber zu Ostern eine offentlicbe miind- licbe folgt. Auf Grund des Ausfalles der scbriftlichen Priifungen und der im Halbjahre gemachten Wabrnehmungen erbalten die Schiilerinnen ihre Censuren in Fleiss, sittlickem Betragen und Fortschritten. — Das Schulgeld, das fiir Classe eins bis sieben 144 Mark, fiir Classe acht bis zehn 108 Mark jahrlick betragt, ist vierteljahrlich zu entriehten; ausserdem hat die Schiilerin bei der Aufnahme neun Mark, beim Abgang drei Mark zu leisten. Fiir ihre Lehr- und Erziehungszwecke besitzt die Scbule eine Lehrerbibliothek und eine Sammlung von Lehrmitteln, welche alljahrlich mittelst eines im stiidtiscken Haus- haltplane ausgevvorfenen Betrages entsprechend vermekrt und erganzt werden. Fiir die Schiilerinnen besteht eine kleine Lesebibliothek. Der Kreis der Pflichten der Schiilerinnen gegen die Anstalt, die Lekrenden und Mitschiilerinnen ist durch eine Schulordnung geregelt. Das Lehrercollegium besteht aus zwolf mannlicken und acht weiblicken Personen. Die Schule zaklt im ganzen 398 Schiilerinnen. Die Lehr- und Erziehungsanstalt fiir Knaben in Friedriehstadt-Dresden. Diese Anstalt ist ihrer Lehrverfassung nach eine dlfentliche Realschule zweiter Ordnung. Die Schiller der Anstalt sind theils Pensionare, welche Wohnung, Unterricht und Verpflegung in der Anstalt erhalten, theils Tagesschiiler, welche nur am Unterrichte und den Arbeitsstunden der Anstalt theilnehmen, auf Wunsck jedoch auch Bekdstigung in der Anstalt erhalten konnen. Die Anstalt ist zugleich milde Stiftung, insoferne sie einer Anzahl vaterloser oder ganzlich verwaister oder mittelloser Knaben theils unent- geltlich, theils zur Halfte des Pensionspreises Wohnung, Kleidung, Kost, Unterricht und Erziehung gewahrt. — Dem Director, welchem die Leitung der Anstalt zukommt, sind zur Seite gestellt: a) sammtliche standige Lehrer der Anstalt, vvelche unter Vorsitz des Directors die Lehrerconferenz bilden. Jeder Classe steht ein Mitglied des Lekrercollegiums als Ordinarius vor, welcbem speciell die Obhut iiber die Schiller seiner Classe obliegt; b) zwei Knaben-Inspectoren, welcben die unausgesetzte Aufsicht wakrend der vom Unter¬ richte nicht in Anspruch genommenen Zeit obliegt. Diese Inspectoren sowie diejenigen Lehrer, denen die specielle Fiirsorge fiir eine Classe iibergeben ist, wolmen in der An¬ stalt. — Auf die korperliche Bildung und Pfiege wird in dieser Anstalt ein grosses Ge- wicht gelegt. Die Gymnastik ist hier Gegenstand regelmassigen Unterrichtes, der in der Turnkalle der Anstalt den einzelnen Classen ertheilt wird. Ferner \verden die Zog- linge wiihrend des Sommers jede Woche mindestens zweimal in ein Bad gefiihrt, in welchem auch Schwimmunterricht an Zoglinge der Anstalt ertheilt wird. Die Anstalt als Lehranstalt insbesondere verfolgt unter Zugrundelegung des Lehrplanes der Realschulen das Ziel der Realschulen ziveiter Ordnung, welches Ziel spatestens bis zum 17. Lebens- jahre erreicht wird. Doch bleibt es auch ferner der Zweck der Anstalt, die ihr zuge- fiikrten Zoglinge entweder unmittelbar fiir einen bestimmten Lebensberuf, der nicht tiefere Fachstudien erfordert, geschickt zu machen, oder ihnen fiir weitere Ausbildung in Realschulen erster Ordnung sowie auf Gymnasien, Handels- und Militarschulen eine griindliche und umfassende Vorbildung zu geben. Die Zoglinge sind nach sechs auf- 30 steigenden Classen (sechs bis eins) vertheilt; die Schiilerzahl der einzelnen Classen darf in der Regel 30 nicht iibersteigen, weshalb zu Classe fiinf, vier und drei, um Ueberfiillung zu verliiiten, Parallelclassen errichtet sind. Die unterste Classe ist als Vor- bereitungsclasse zu betrachten, wahrend die iibrigen als Realschulclassen gelten. Neben diesen aber bestehen fiir diejenigen Zdglinge, -welche auf ein Gymnasium ubergehen wollen, zwei besondere Gymnasialclassen, deren Schiiler im allgemeinen an dem Unter- richte der mittleren Realclassen Antheil nehmen, von einigen Lehrgegenstanden dieser Classen jedocb dispensiert sind, um diese Zeit der lateinischen und griechischen Sprache widmen zu konnen. Zweimal im Jahre, nainlich zu Ostern und zu Michaelis, wird eine Priifung sammt- licher Classen veranstaltet. Die Michaelispriifung ist in der Regel nur eine schriftliche. Die Osterpriifung ist eine private schriftliche und eine offentliche miindliche. Die Resultate dieser Priifungen sowie die im Verlaufe des Hauptjahres liber Verhalten, Fleiss und Fortsehritte der Zdglinge gemachten Wahrnehmungen sind massgebend bei Ertheilung der Hauptcensuren am Schlusse jeden Semesters. Die halbjahrigen Hauptcensuren werden den Eltern, resp. deren Stellvertretern von den Classenlehrern schriftlich zugefertigt. — Jeder Schiller erhalt ausserdem ein Censurbuch, in vvelches vor Pfingsten, den Sommer- ferien und vor Weihnachten Censuren eingetragen werden, die den Eltern oder deren Stellvertretern zur Einsicht vorzulegen sind. Die Pensionsbetrage ftir die Kostganger der Anstalt sind in folgender Weise fest- gesetzt: 1. ) in Classe 6 und 5 jahrlich 750 Mark, 2. ) „ „ 4 i, 3 „ 825 „ 3 . ) „ „ 2 „ 1 „ 900 „ Die Schule zahlt im ganzen ungefahr 200 Schiiler und ein Lehrercollegium von 23 Personen. Ueber die innern Schulverhaltnisse (Unterrichtsertheilung, Lehrmethoden etc.) der genannten Schulen Dresdens kann nicht berichtet werden, da wahrend meiner Anwesen- heit in Dresden die Schulen geschlossen waren. Das Schuhvesen der Reichsmetropole Berlin. Das Gemeindeschuhvesen Berlins zahlt circa 1530 Classen, welche mit etwa 1000 Communallehrern und 300 Lehrerinnen besetzt sind. Dazu kommen circa 400 Hand- arbeitslehrerinnen, mithin ein Lehrerpersonale von circa 1700 Kopfen. Die Zahl der Schiiler belauft sich auf 65000; hiezu kommen noch etwa 1000 Kinder, welche in stadtischen Waisen-, Erziehungs- und andern Anstalten Unterricht empfangen, so dass die Commune Berlin fiir 66 000 Kinder freien Schulunterricht zu beschaffen hat. Dies geschieht mit einem Kostenaufwand von nahezu 8 Millionen Mark. Der Maximalgehalt der Oberlehrer betragt 3900 Mark (incl. Wohnung), jener der Classenlehrer 3200 Mark; der Gehalt der Lehrerinnen bewegt sich zwischen 1175 und 1950 Mark. Bei dem Umstande, als ich in Berlin meine Aufmerksamkeit vorwiegend wissen- schaftlichen Instituten, wie der konigl. Hofbibliothek, der Šternwarte, dem zoologischen Museum, ferner dem beriihmten Aquarium, dem Thiergarten etc. ;vidmete, habe ich im ganzen nur zwei Schulen besucht, und zwar die St. Hedwigsschule und die Louisenschule. Die St. Hedvvigsselmle. Ueber die Verhaltnisse dieser Schule theilte mir Herr Director (Wernicke) Fol- gendes mit: „Unsere St. Hedtvigs-Pfarrschule ist nicht etwa eine solche Schule, die irgend- vvie in den Rahmen der Berliner Communalschulen passt, sondern nur eine ganz arme, 31 1 auf geringe Fonds und eine jalirliche Unterstiitzung von 3600 Mark seitens des Mini- steriums angewiesene Pfarrschule, bestehend aus vier Classen. Es wird auch von einem Theile der Schiiler Sehulgeld gezablt. Aus dieser Sachlage erklart sich auch fasc alles Folgende. Wahrend die stadtischen Communalschulen auf das reichhaltigste und gene- roseste ausgestattet sind, die Lehrergehalte von 1950 bis 3900 Mark steigen, ist unsere Schule nur recht diirftig eingerichtet. Aus einer kleinen katholiscben Privatschule, die vor etwa 100 Jabren gegrundet wurde, hervorgegangeu, war sie bis etwa in die Mitte dieses Jahrkunderts die einzige katholische Schule Berlins. Spater nakm sich die Stadt der Sache an und hat bis jetzt acht zahlreich besuchte und auf das beste ausgestattete katholische Communalschulen in verschiedenen Stadttheilen eingerichtet. Diese acht Schulen stehen, was die aussere Einrichtung, was Lehrergehalte, Lehr- und Lernmittel betrifft, ganz auf der Hohe der protestantischen Schulen. Unsere Schule ist Pfarrschule geblieben, weil der Kirchenvorstand dieselbe und mit ihr das schone Gebaude und die Fonds der Stadt nicht ubergeben wollte. Man war und ist der Meinung, dass uuter kirchlicher Leitung die katholische Sache besser gewakrt bleibe. Und vvirklich geniesst unsere Schule das ganz besondere Vertrauen unserer Gemeinde. Die Leute drangen sich, ihre Kinder in unsere Schule zu bekommen, obvvohl sie Sehulgeld bezahlen sollen, wahrend in den stadtischen Schulen der Unterricht unentgeltlich ist. Die Zahl der Schiiler — grosstentheils Madchen — betragt ungefahr 500, die von vier Lehrerinnen unterrichtet werden. Der Gehalt derselben variiert zwischen 1000 und 1200 Mark. Die Lehrerinnen sind stets Westfalinnen, meist in demselben Seminar gebildet, wenigstens immer ganz genau nach denselben Principien erzogen, und ich glaube, unsere Schule kanu sich zu solehen Lehrerinnen Gltick vviinschen, die ihren Beruf als einen Gottesdient, als ein fort- wahrendes, Gott wohlgefalliges Opfer betrachten. Was meine Wenigkeit betrifft, so wurde ich vor etwa 10 Jahren hieher gerufen. Mein Vorganger solite pensioniert werden; der Gehalt betrug 800 Thaler; es war aber kein Pensionsfond vorhandeu. Da berief man mich, da ich Priester bin und als soleher wenig Bedurfnisse habe, mit 400 Thaler Gehalt hieher und die noch iibrigen 400 Thaler gab man meinem Vorganger als Pension. Seit dem Tode des letzteren erkalte ich 600 Thaler und bin damit zufrieden. Die Schule untersteht dem Probst zu St. Hedvvig; die Stadt hat nur ein gewisses Aufsichtsrecht. Da wie bemerkt, die Schule sehr arm ist, so sind die Lehrmittel derselben sehr gering; die Lehrkrafte miissen diesen Mangel durch ihre Personlichkeit und Pflichteifer moglichst ersetzen und, wie ich hoffe, mit dem besten Erfolge.* Lehrer der ersten Classe ist der Director dieser Schule. Derselbe behandelte bei meinem Eintritte in die Classe das Sonntagsevangelium. Er liess dasselbe lesen, fragte um den Inhalt desselben, gieng den ganzen evangel. Abschnitt von Vers zu Vers durch, fiihrte die nothigen Erlauterungen an, liess endlich die darin enthaltenen Glaubens- und Sittenlehren aufsuchen und fugte die nothigen Bemerkungen, Erinnerungen und Ermah- nungen hinzu. — In der nachsten Stunde wurde ein realistisches Lesestiick behaudelt. Der Lehrer scheint beim Realunterrichte daran festzuhalten, dass es ihm nicht so sehr auf ein bestimmtes Wissensquantum, als vielmehr darauf ankommt, den Stoff so zu wahlen und zu behandeln, dass dadurch auf das Herz und Gerniit, auf die Gesinnung eingewirkt und neben und mit der Anschauungskraft der Verstand und das Sprachver- mogen gebildet vverden. " In der vierten, d. i. in der Elementarclasse, die sehr iiberfullt war, traf ich eine Lehrerin, die im Schreiblesen unterrichtete. — Durch verstandige Anwendung des Lau- tierens sind die Schiiler zu einigermassen selbstandigem Lesen der Current- und Druck- schrift (im ersten Semester) gekommen. Mit dem Lesen wird selbstverstandlich das Schreiben in Verbindung gesetzt, und es richtet sich die Art dieser Verbindung nach 32 der in dieser Schule eingefiihrten Fibel von Haesters.* Die Kinder lernen auch Denk- spruche und kleine Gedichte unter besonderer Beriicksicktigung des Liederstoffes durcb Vorsprechen der Lekrerin auswendig, nachdem sie ihnen vorher zum Verstandnisse gebracbt worden sind. Der Rechenunterricht wird meines Wissens nach Grube ertheilt. Das Rechnen um 1 - fasst in dieser Classe (erstes Schuljahr) wie bei uns den Zalilenraum von 1 bis 10, die Anordnung zeigt jedoch Versckiedenheiten von unserem Lehrplane. Vom Multiplicieren und Dividieren kommen nur leichtere Falle zur Anwendung, zuerst mit Anschauungs- inittein, danil in reinen Zahlen. Der Handarbeitsunterricht beginnt in der St. Hed\vigsschule erst auf der Mittel- stufe, also mit dem S. oder 9. Jahre der Sekiilerin. Der Unterricht wird classenmassig, d. h. so vertheilt, dass alle Madchen derselben Abtheilung moglichst gleichmassig \veiter gefiihrt werden konnen. Die Handarbeiten einiger Schiilerinnen sind von grosser Feinheit und bewegen sich lediglich auf dem Gebiete jener Arbeiten, die im Leben verwertbar und niitzlich sind. Die Louisensehule. Dieselbe ist eine bohere Madchenschule, die schon vor 43 Jahren gegrundet wurde und seit ihrem Besteben von Dr. Matzner geleitet wird. Das Schulgebaude (sowie die Turnhalle) geniigen den Bediirfnissen der Anstalt. Der mit Baumen bepflanzte, selir geraumige Schulhof gewakrt einen recht schonen Anblick. Die Schule hat neun auf- steigende Classen. Acbt Classen haben Parallelclassen. Die Zakl der Schiilerinnen belauft sich auf 840; es kommen daher durchschnittlick 56 Schiilerinnen auf eine Classe. An der Louisensehule unterrickten derzeit 20 Lehrer und 12 Lehrerinnen. — Die Unter- richtsgegenstande sind: 1.) Religion (fiir evangelische und fiir mosaische Schiilerinnen). 2.) Anschauungs- und Sprachiibungen. 3.) Lesen. 4.) Deutsche Sprache. 5.) Deutsche Literaturgeschickte. 6.) Franzosische Sprache. 7.) Englische Sprache. 8.) Italienische Sprache. 9.) Rechnen. 10.) Geschichte. 11.) Geographie. 12.) Naturgeschichte. 13.) Pkysik. 14.) Chemie. 15.) Schreiben. 16.) Zeichnen. 17.) Gesang. 18.) Handarbeiten. 19.) Turnen. — Daraus ist zu entnehmen, dass Geometrie gar nicht, dafiir aber drei fremde Sprachen gelehrt werden. Charakteristisch ist ferner die Vertheilung der Lehrgegen- stande; schon in der neunten Classe (der Elementarclasse) finden sich sieben Lehrkrafte; es ist also schon auf der Unterstufe das Fachsystem eingefukrt. Wahrend des bald 44jahrigen Bestehens der Louisensehule hat dieselbe eine nicht zu unterschatzende Anzahl von Lehrapparaten und Sammlungen jeglicher Art sowie eine ausreichende Lehrerbibliothek envorben. So zahlt gegenwartig der physikalische Apparat 192, der chemische Apparat 120, der geographische 104, der Zeichen- und Schreibapparat 76 Nummern; das mineralogische Cabinet hat eine Anzahl von 188, der Gesangunter- richt 69 und endlich die Bibliothek 1016 Nummern aufzuweisen. Im Monate Oktober feierte der Director der Louisensehule, Herr Dr. Matzner, sem 50jahriges Amtsjubilaum, bei \velchem der Stadtrath dem greisen Jubilar als Zeichen koniglicher Huld und Anerkennung den rothen Adlerorden iiberreichte. — Die Garnisonsschule und das Militarwaisenliaus in Potsdam. Meine Schulreise erhielt einen wiirdigen Abschluss durch den Besuch der besagten Anstalten. Die Garnisonsschule ist in einem grossen, imposanten Gebaude untergebracht. Die Lehrzimmer sind hell und geraumig. Die Anzahl der Schiller belauft sich auf circa 400. Diese Anstalt hat die Einrichtung einer Biirgerschule, und es ist mit derselben auch * Plese Fibel basiert auf katholischem Standpunlcte. 33 sehr zweckmassig eine Arbeitsschule ftir Knaben und Madchen verbunden. Die Fonds dieses Institutes sollen dem Vernehmen nach nicht unbedeutend sein. Es war im Jahre 1787, als Friedrich Wilhelm II. eine Schenkung von 10000 Thalern gemacht hatte. Die aufnahmsfahigen Subjecte ftir die Garnisonsschule sind tbeils Soldatenkinder, theils Kin¬ der koniglicher Bedienten. Das Ziel des Spraeh- und Rechenunterriehtes an dieser Schule diirfte sich dem unserer Btirgerscbulen nakern. Geographie, Gescbichte und Naturwissenscbaften umfassen jedoch weniger Lehrstoff. Die Handschriften der Schtiler erheben sich zu schonen Lei- stungen. Von der Garnisonsschule verftigte ich mich in das grosse Militarwaisenhaus, wel- ehes entscbieden eines der grossten padagogischen, resp. padagogisch-militarischen Insti¬ tute Deutscblands ist. Grtinder dieser Anstalt ist Friedrich Wilkelm I. Die Stiftung dieses Ftirsten war anfanglich ftir 2000 aufzunehmende Waisen berechnet; langere Zeit war die Anzahl derselben aucb wirklich so gross. Seit einigen Jahren bat die Zahl der Waisen abgenommen. Ueber dieses Institut ist ein militarisches Directorium aufgestellt, das Erziehungswesen steht aber unter einer Sckulcoinmission. Der Lekrplan dieser Anstalt ist jenem der Garnisonsschule ahnlich. — Der Unter- richt ist in den meisten Lehrfachern vortrefflich. — So wird z. B. Geschichte nicht als Wort- und Gedachtniskram behandelt, sondern es wird dabei vorzuglich auf Verstand und Herz hingewiikt. Die Lehrer verstehen es, grosse, beriihmte Manner interessant darzustellen und alles zu bertihren, was Patriotismus, Ehrgeftihl und Ruhmbegierde erweckt und befestigt. Auch die ubrigen Disciplinen werden ganz rationell behandelt. Da es in Potsdam ausser den militarischen Instituten wenige Schulanstalten gibt, die einen reisenden Padagogen interessieren konnten, zog ich mich von den Schulvisiten zurtick und wendete meine Aufmerksamkeit den Sehensvvtirdigkeiten der Stadt zu, von denen ich das Wichtigste und Interessanteste mittheilen will. Potsdam, das preussische Versailles, ist auf einer Insel erbaut und liegt in der anmutbigsten Gegend der Mark Brandenburg. Sovvohl die Havel, welche den sudlichen Theil der Stadt umsptilt und dort weit,e Wasserbecken bildet, wie die rings aufsteigen- den Htigel verleihen der Landscbaft einen malerischen Charakter, dessen Reiz durch die Hand der Cultur ausserordentlich gehoben wurde. Prachtvolle Schlosser und herr- liche Parks bilden die Glanzpunkte. Gevahrt Potsdam schon durch seine bezaubernde Lage an der Havel, die gleichsam einen silberspiegelnden Halbmond um die Stadt bildet, ein so seliges Entzticken, was muss der Freund des Grossen und Schonen erst dann ftihlen, wenn er in den konigl. Garten lustvvandelt, wenn er seine Schritte dorthin lenkt, wo Friedrich der Grosse so oft und so lange weilte — nach Sanssouci? Den grossartigen schonen Ruhesitz Sanssouci schuf Friedrich der Grosse nach dem ersten schlesischen Kriege und lebte hier in den Zeiten des Friedens mit den grossten Geistern seines Jahrhunderts, nament- lich mit Voltaire, der diesen Aufenthalt n le paradis du pTiilosophe"- nannte. „War es da“, dachte ich bei mir selbst, „wo dieser Ftirst, tief in der Einsamkeit sinnend, seine Ge- danken zu Thaten erzeugte?" Das Schloss Sanssouci ist ein tiber 100 Meter langes einstockiges Gebaude von circa 9 Metern Hohe. Das Schloss vrarde 1745—1747 aufgeftihrt und ist im Innern noch so eingerichtet, wie es Friedrich der Grosse geschaffen hat. Die aussere Front ist mit Barock-Vasen und Kindergruppen verziert; die Fenster gehen fast bis zum Boden nieder und bilden zum Theil Glastktiren. Auf beiden Seitenfltigeln stelien in Nischen zwei Marmorcopien schoner antiker Bildsaulen. Die Colonnade an der Ruekseite bildet einen halbkreisrunden Saulengang mit 88 korinthischen Saulen, welche die Dečke ti'agen. Das 34 Innere des Schlosses ist sehenswert. Ich betrat, in tiefe Betrachtungen versunken, den langlich runden Marmorsaal. Schonheit, Geschmack und Kunst wekte mir entgegen. War es hier, fragte ieb mich selbst, wo Friedrich der Grosse einen ewigen Bund mit den Musen schloss? wo er sich den Reizen der Poesie, der siissen Harmonie der Tone und den hohen Ideen der Pbilosophie hingab? Ich bewegte mich weiter und kam nuu auch in den Sterbesaal — Friedrichs. Alle Gegenstande und Umgebungen befinden sich noch in der namlichen Stellung und Lage, wie sie waren zur Stunde seines Hin- scheidens. Das Buch ist noch aufgeschlagen, in dem er las; das Fauteuil, in welehem er in seinen letzten Lebenstagen ausruhte von den Anstrengungen seines Wirkens, befindet sich noch auf dem einstigen Platze. Vom Schlosse weg lenkte ich meine Schritte nach dem Orangeriehause, einem stattlichen Bau mit zwei Tkiirmen, von dessen glattem Dache sich ein entziickendes Rund-Panorama erschliesst. Im Innern des Gebaudes hat Kouig Friedrich Wilhelm IV. mehrere Zimmer elegant einrichten sowie eine Anzahl Copien von Gemalden Rafael Sanzios aufstellen lassen. Sehensvvert ist u. a. auch die Garnisonskirche mit einem Thurme von 365 Stufen, in welchem ein schones Glockenspiel auffallt, das halbstiindlich ein geistliches Lied spielt. An den Emporen im Innern der Kirche sind die 1813—15 und 1870—71 eroberten franzosischen Fahnen angebracht. In einem Gewolbe ebener Erde befindet sich die Grabstatte Friedrichs des Grossen. Urspriinglich soli Friedrich der Grosse einen Platz auf einem Plateau nachst dem Schlosse zu seiner Grabstatte bestimmt und mit Riicksicht darauf einst zum Marquis d ! Argant gesagt haben: „Quand je serai la, je serai sans souci “, welchen Worten Sanssouci denn auch seinen Namen verdankt. Bevor ich Potsdam verliess, bestieg ich noch den Pfingstberg, welcher den schonsten Aussichtspunkt der Stadt bildet. Ein unvollendet gebliebenes Belvedere, mit zwei durch eine Veranda verbundenen Thiirmen, bietet eine nach allen Seiten freie Aussicht; der Blick schweift iiber ganz Potsdam und die Havel, nach Spandau und Berlin, Nauen und Brandenburg. Ich verliess Potsdam mit den angenehmsten Eindriicken, und es vvird mir der Besuch dieser reizenden und denkvviirdigen Stadt eine bleibeude Erinnerung sein. UflRODMFf IM UNIOERZITETHR KNJI2MICR 0000044 1 '370