Karel Novotny EUROPA UND NACHEUROPA iN DER PHiLOSOPHiSCHEN REFLEXiON JAN PATOČKAS Motto: 47 „Wir haben kein anderes explizites Denken als das europäische, und gerade zu dem muß man sich extrem kritisch zu verhalten wissen, will man die Zukunft in ihren eigenen, eigentlichen Problemen sehen." Jan Patocka Es wurde darauf hingewiesen, daß die geschichtspilosphischen Texte Jan Patockas die Gefahr eines Eurozentrismus laufen, daß in diesem Sinne auch und besonders sein letztes Buch, die Ketzerischen Essais über Philosophie der Geschichte,1 sogar an manchen zentralen Stellen geradezu einem Eurozentrismus das Wort reden. Es geht um Stellen, wo sich Patocka den Thesen Edmund Husserls und Martin Heideggers über die Geschichtlichkeit der eigentlichen Geschichte anschließt, die trotz wichtigen Unterschieden das Gemeinsame haben, daß sie die Geschichte mit dem das abendländische Europa prägenden philosophischen Geist im Grunde entstehen, sich erneuern und fallen lassen. 1 Jan Patocka, Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte (1974/76), übers. von J. Bruss und P. Sacher, in: Jan Patocka, Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte und ergänzende Schriften, hg. von K. Nel-len und J. Nemec, Klett-Cotta, Stuttgart 1988, S. 21-164. Im Folgenden KE. Nach einer zugespitzten Formulierung Patockas, die genau in diese Richtung geht, gibt es eigentlich gar keine andere Geschichte als die europäische.2 Eine solche Geschichtsauffassung und entsprechende Philosophie der Geschichte scheint dann naiv und sogar gefährlich eurozentrisch zu sein. Ich möchte diese beiden Punkte, die Naivität und Gefährlichkeit der Geschichtsphilosophie Patockas mit seinen Reflexionen zu Nacheuropa konfrontieren, denen zufolge wir nach dem Ende der europäisch geprägten Geschichte leben, also in einer Geschichtsepoche, die ihr Zentrum eben nicht in Europa hat. Es ist bemerkenswert, daß Patockas eurozentrisch klingenden Thesen gerade in dem Moment formuliert werden, in dem er das Ende Europas als ein Faktum ausdrücklich anerkennt und versucht, sich mit der damit entstehenden, neuen Situation auseinanderzusetzen. Man kann also von einem etwas paradoxen Nebeneinander der beiden Befunde sprechen: einerseits wird gesagt, es gebe nur europäische Geschichte, andererseits aber sollen wir uns spätestens seit den 60er Jahren dieses Jahrhunderts in einer nacheuropäischen Epoche der Geschichte, also einer weiteren Epoche der Geschichte befinden. Die Geschichte geht weiter, obwohl sie eigentlich abgeschlossen sein soll, nachdem Europa im machtpolitischen Sinne den Kampf um die Welt oder zumindest um den Primat in der Welt verloren hat. 48 Die Frage ist aber eben, was unter der Geschichte hier verstanden wird, was die Geschichte zur Geschichte macht. Darauf hat Patocka eine bestimmte Antwort, die sich in verschiedenen Abwandlungen durch sein ganzes Werk hindurch zieht und die auf folgender Hypothese beruht: die Geschichte hat geistige Grundlagen, aus denen her sie verständlich ist. Es ist die Dimension, in der sich das Leben über sich selbst eine Klarheit schafft und davon ein Zeugnis ablegt. Wenn Patockas Hypothese stimmt, daß die Geschichtlichkeit, das, was Geschichte zur Geschichte macht, in der geistigen Existenz des Menschen, in seinem geistigen Vermächtnis wurzelt, im Aufschwung, durch den er sich aus dem Verfall (die Annahme der allgemeinen Tendenz zum Verfall ist notwendige Voraussetzung dieser Hypothese) aufrafft, dann ergibt sich die Frage, was Europa in diesem Sinne, geistig, noch in der neuen Situation anzubieten hat. Mit anderen Worten: ist das Nach-Europa auf diese Weise geschichtlich, d. h. der eigentlichen Geschichte fähig? Die Frage läuft darauf hinaus, wie, von welchen allgemeineren Rahmen aus, die Diskontinuität und Kontinuität zwischen dem Alten und Neuen gedacht werden sollen, und zwar doch noch von diesem nicht mehr zentralen 2 Siehe Jan Patočka, Platon a Evropa (Vorlesung aus dem Jahre 1973), in: Sebrané spiy Jana Patolky (Gesamtausgabe der Schriften Jan Patolkas), 2. Band: Péle o duši, II. Teil, hg. von I. Chvatik und P. Kouba, Oi-koumene, Praha 1999, S. 343. Im Folgenden PD II. Vgl. die Stelle in der französischen Übersetzung von E. Abrams, Plato et l'Europe, éditions Verdier, Lagrasse 1983, S. 225: „Or l'histoire est l'histoire de l'Europe, il n'y a pas d'autre." Ausgangspunkt, der uns als das geistesgeschichtliche Erbe Europas unvermeidlich bestimmt. Die Texte Patockas vom Anfang der 70er Jahren zum Thema „nach-europäische Epoche der Geschichte", die er selbst zwar nur teilweise publizierte, die aber auch in seinen letzten Essays und Aufsätzen deutliche Spuren hinterlassen haben, geben uns eine Möglichkeit, dieser Konstellation nachzugehen, in der die beiden gegenläufigen Thesen bei Patocka entstanden sind.3 Ich werde mich dabei auf folgende Schritte beschränken: Zuerst möchte ich zeigen, wie das Neue an der nacheuropäischen Epoche der Geschichte bei Patocka aufgefaßt wird. Zweitens möchte ich in zwei Schritten (2. und 3. Abschnitt) den doppelten Ansatz präsentieren, in dem Patocka sowohl konstruktiv an Europa anknüpft, dabei sich aber zugleich vom alten Europa distanziert, seine historische Destruktion tätigt. Schließlich soll die positive Antwort Patockas auf die Aufforderung der nacheuropäischen Epoche anhand seiner letzten Schriften skizziert werden. 1. Zum Begriff „Nacheuropa" Zunächst ist es deutlich, daß dieser Begriff mit dem Ende Europas zusammenhängt. Das Ende Europas wird als ein historisches Faktum aufgenommen: spätestens im zweiten Weltkrieg hat Europa seine Stellung der Weltmacht verloren. Von diesem Untergang Europas geht Patocka aus und versucht, die neue, nun kommende Situation, die damit entstanden ist und entsteht, zu beschreiben. Es ist aus der Art und Weise, wie Patocka über Europa und Nach-Europa spricht, klar, daß er nicht den geographischen Begriff Europa im Sinne hat, sondern daß er an ein historisches Phänomen „Europa", bzw. „Nacheuropa" denkt, von dem allein gesagt werden kann, daß es entstanden, bzw. im Entstehen ist und vergehen kann. 49 Was unsere Situation als eine neue prägt, ist die globalisierende, auf den ganzen Planeten sich ausbreitende Tendenz zu einer technisch-rationalen Zivilisation, die in Europa zu Hause war und die sich mit einem deutlichen universalistischen Anspruch auswirkt. Europa brachte diese Zivilisation als Voraussetzung einer 3 Der einzige publizierte Text ist der Aufsatz „Die geistigen Grundlagen des Lebens in unserer Zeit". Das Thema „Nach-Europa", das hier zum ersten Mal formuliert ist, wird dann weiter entwickelt in folgenden auf Deutsch verfaßten Manuskripten, die unpubliziert blieben: „Die nach-europäische Epoche und ihre geistigen Probleme", „Europa und Nach-Europa", „Geschichtsschema". Dazu gibt es noch kleine Entwürfe, ich werde weiter unten einen zitieren, der mit keiner Überschrift versehen die Signatur 3000/104 trägt. Alle diese Texte werden zugänglich in der tschechischen Übersetzung im zweiten und dritten Band der Gesamtausgabe: Jan Patočka, Pele o duši, sv. II, Oikoumene, Praha 1999 und Jan Patočka, Pele o duši, sv. III, Oikoumene, Praha 2002. planetarischen Menschheit hervor, ist aber machtpolitisch nicht mehr ihr Träger. Mit Europa ist historisch der Dynamismus verbunden, der zu einer Weltgeschichte real tendierte, dabei hat es sich aber durch die Katastrophen der beiden Weltkriege als das Zentrum der Weltgeschichte aufgelöst. Was ist das Neue an dieser Situation, das Patočka dazu zwingt, hier von einer radikalen Zäsur, von einem Bruch zu sprechen? Patočka ging in seinen geschichts-philosophischen Reflexionen immer davon aus, daß die Geschichte „geistige Grundlagen" hat und nur aus diesen zu verstehen ist. Er vertritt auch im Spätwerk diesen Standpunkt. Man kann Stellen aus seinen Texten der 30er, 40er, 50er, aber eben auch der 70er Jahren finden, die diese Überzeugung zum Ausdruck bringen. Nun wurde gerade seit den 30er Jahren immer klarer, daß sich alle drei Begriffe die Geschichte, der Geist und die Idee einer Grundlegung oder einer Grundlage sehr problematisch zeigen. Das Neue, was wir bei Patočka am Anfang der 70er Jahren, und zwar zuerst im Aufsatz „Die geistigen Grundlagen des Lebens in unserer Zeit" finden können, besteht nicht darin, daß er auf den problematischen Charakter der erwähnten Begriffe reflektiert. Das hat er auch früher gemacht, ohne diese Begriffe abzulehnen. Er wird sie auch jetzt nicht verwerfen und durch andere ersetzen. Patočka versucht sich jetzt mit dem neuen „Zeitgeist" der planetarischen Menschheit auseinanderzusetzen, die sich unter der Wirkung 50 der technisch-rationalen Zivilisation zu gestalten scheint. Es gibt ein Bild der neuen Welt, auf das sich Patočka in diesen Texten über Nacheuropa immer wieder bezieht, ein Bild, nach dem die europäische „geistige Ausweglosigkeit", die „dekadente Kultur des Subjektivismus" durch einen energischen Lebenswillen der außereuropäischen Nationen ersetzt und in den Hintergrund verdrängt zu werden beginnt.4 Gegen eine optimistische Einschätzung der Verbindung der technischen Errungenschaften der Wissenschaft mit diesem Lebenswillen erinnert Patočka daran, daß auch in einem „positiven", anscheinend „nach-metaphysischen" Zeitgeist, der aus dieser Verbindung entstehen würde, eben auch eine bestimmte Einstellung zur Wirklichkeit impliziert wäre. Patočka sieht diese Verbindung sehr skeptisch an, weil die rationalistische Einstellung zur Wirklichkeit die Rolle der geistigen Grundlage, nach der er fragt, eben nicht erfüllen kann. Der globale, planetarische Leib der technischen Zivilisation scheint ihm keinen von der instrumentalen Ratio unterschiedlichen Geist zu haben, die wissen- 4 Patočka bezieht sich auf den Optimismus, den ihm die Analyse der gegenwärtigen „post-modernen" Epoche von Geoffrey Barraclough anzuzeigen scheint. Vgl. Geoffrey Barraclough, Introduction to Contemporary History, Penguin Books, London 1964. Vgl. Jan Patočka, „Die geistigen Grundlagen des Lebens in unserer Zeit", KE, 353 ff., „Europa und Nacheuropa", KE, S. 207 ff. Zitate aus der S. 215. schaftlich-technische Rationalität mit ihrer nivellierenden Wirkung scheint ihm sogar keine solche Geistigkeit zuzulassen. Patocka fragt sich da, ob die technische Einstellung der modernen Wissenschaft zur Wirklichkeit den alten Geist Europas, nämlich den Subjektivismus, tatsächlich überwindet und ob sie die beginnende Epoche der Menschheit als eine neue positiv bestimmen kann. Seine Antwort ist hier in diesem Punkte eindeutig: den planetarischen Ausgriff der Wissenschaft und Technik sieht er als die Verabsolutierung der Ratio im Sinne einer ausschließlichen Reduzierung auf das, was Kant als Verstand bestimmt. Dieser Einstellung des kalkulierenden Verstandes entspricht eine Praxis, die von der Voraussetzung einer Absolutheit des Subjekts ausgeht und insofern wäre diese auf den ganzen Planeten sich ausdehnende technische Einstellung nur eine Fortsetzung des „modernen", subjektivistischen Europas, dessen Grundfehler Patocka als ein „Sichverschliessen durch Verabsolutierung" charakterisiert.5 Wenn aber unsere Gegenwart demgegenüber tatsächlich neu ist, und von einer Diskontinuität der Gegenwart im Bezug auf das europäisch geprägte 19. Jahrhundert geht Patocka als einer Tatsache aus, dann kann das Neue der nacheuropäischen Epoche also nicht in dieser Einstellung beruhen, die eigentlich geistlos ist, weil sie eben nur auf einer Zweck-Mittel-Rationalität beruht. Das Problem ist also, für Patocka, wodurch sich das geistige Vakuum einer neuen planetarischen Menschheit erfüllen wird, wenn sie entscheidend durch die technische Zivilisation durchdrungen sein wird. Dieses Problem will Patocka natürlich nicht an Stelle der kommenden Menschen lösen, wofür sich diese entscheiden werden, das kann jetzt nicht gesagt werden, Patocka schlägt aber immerhin eine formale Bedingung einer Geistigkeit als solchen vor, die nämlich, die er „offene Seele" nennt. Der Mensch muß auch in der nacheuropäischen Epoche das bleiben, was er war, soll er einer Geistigkeit fähig sein: „ein existierendes Wesen, das sich nicht in sich selbst verschließt, sondern sich vielmehr Offenheit zur Aufgabe gemacht hat".6 Es geht offensichtlich bei Patocka darum, eine Art transzendentale Bedingung der Möglichkeit des Menschen mit der Seele, bzw. einer geistigen Existenz zu formulieren. Darum und nur darum scheint es Patocka zu gehen, diese Dimension der Offenheit gegen die Nivellierung durch die wissenschaftlich-technische Rationalität zu retten. Dies ist aber auch nichts wesentlich Neues gegenüber seiner früheren Philosophie, die sich ständig für eine Kontinuität der geistigen Existenz einsetzt, die im individuellem Aufschwung zu einer Eigentlichkeit ihren Kern hat. Was ist hier und jetzt das Neue, das eine Diskontinuität stiftet? 51 5 „Die nach-europäische Epoche und ihre geistigen Probleme", in: Jan Patočka, Pele o duši, sv. II, Oikou-mene, Praha 1999, S. 43. 6 „Die geistigen Grundlagen des Lebens in unserer Zeit", KE, S. 378. 52 Das Neue, mit dem sich Patočka konfrontiert, und zwar zuerst im Aufsatz „Geistige Grundlagen des Lebens in unserer Zeit", liegt im Pluralismus verschiedener historischen Substanzen, die sich nicht mehr von der europäischen Substanz beherrschen lassen, wiewohl sie sich aus ihrem Erbe teilweise, d. h. für eigene Zwecke schöpfen. Die „Aufdeckung jenes Pluralismus der geistigen Quellen", sagt er da, kann „eine viel umwälzendere und tiefere Bedeutung haben, als es uns allen heute bewußt ist".7 Spätestens hier ist bei Patočka also die Bedeutung der Reflexion auf die Partikularität und Beschränktheit der europäischen Tradition deutlich. Das neue Problem, das hier zum Vorschein kommt, besteht in folgendem Widerspruch. Die Rationalität erfordert einen einheitlichen, von einem Punkt ausgehenden Überblick, eine Homogenisierung, der sich aber heute, immer dezidier-ter, verschiedene geistige Quellen widersetzen, die in anderen außereuropäischen Kulturen lebendig sind. Was uns bevorsteht, ist die Gefahr der vernichtenden Konflikte, in denen sich diese verschiedenen Kulturen in sich verschließen und eigene Positionen ideologisieren.8 Dabei hat Patočka ein wichtiges Problem der Rechtfertigung dieses Ansatzes nicht aus den Augen verloren, nämlich daß eine solche allgemeine Geschichtsreflexion einen Rahmen explizit aufstellen muß, in dem sich das Europäische, Außereuropäische und Nacheuropäische aufeinander beziehen und voneinander unterscheiden läßt. Patočka war sich dessen bewußt, daß er sich hier für eine Hypothese entscheiden muß, mit dem Risiko, daß der Rahmen seiner Reflexion zu eng oder zu formal und damit zu breit wäre. Als den grundlegenden, bestimmenden Rahmen schlägt Patočka wieder den Geist als „alles bestimmende Essenz und Form der Wirklichkeit" vor. Um diese seine Hypothese konkret zu realisieren, will er von der Beschreibung eines „Zeitgeistes" bestimmter Epoche zu der Feststellung übergehen, daß jeder Zeitgeist „auf einer bestimmten Vorstellung über den Geist, sein Wesen und seine grundlegende Aufgabe basiert".9 Die Resultate, zu denen Patočkas Analysen kommen, sollten aber dann auf diese anfängliche Entscheidung, Hypothese über den grundlegenden Rahmen zurückgezogen werden, denn Patočkas Beschreibungen und Analysen selbst gehen von einer zuerst nur vorläufigen, dann aber immer mehr bestimmten Vorstellung „über den Geist, sein Wesen und seine grundlegende Aufgabe" aus. Auf diese Weise, Schritt für Schritt, aber doch in einer vor-bestimmten Perspektive, will er auch seine Hypothese als den allgemeinen methodologischen Rahmen recht- 7 Ibid., KE, S. 361. 8 „Die nach-europäische Epoche und ihre geistigen Probleme", in: Jan Patočka, Pele o duši, sv. II, Oikou-mene, Praha 1999, S. 40. 9 „Die geistigen Grundlagen des Lebens in unserer Zeit", KE 353 f. fertigen, in dem er seine Thesen über die Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte entwickelt, die nach ihm von der europäischen in die planetarische übergeht. 2. Tiefere Grundlegung der Rationalität Den Befund der unreduzierbaren Pluralität ernst nehmen wollend, stellt sich Patocka die Frage, ob der faktische Verlust der zentralen Rolle Europas nicht auch die Überwindung der Prinzipien zur Folge haben muß, die den Sondergestalt Europa historisch formiert haben. Ein Schritt, den Patocka für eine solche Überwindung macht, ist bekannt, es ist sein Versuch, dem cartesianischen Subjektivismus als einer Quelle der Technowissenschaft eine a-subjektive Ontologie des In-der-Welt-seins entgegenzustellen. In diesem Schritt knüpft Patocka sowohl an das Husserlsche Programm einer „tieferen Grundlegung der Rationalität" als auch an Heideggers Idee der ontologischen Differenz an. Es ist auch bei Patocka ein transzendentaler Ansatz, der nach den Bedingungen der Möglichkeit eines Bodens fragt, auf dem die Lösung des Problems einer nacheuropäischen Menschheit versucht werden könnte, die faktisch auf den Wegen der Globalisierung im Entstehen ist. Es ist eine aktiv zu ergreifende Aufgabe, „einen Boden für die Menschheit der nacheuropäischen Geschichte zu schaffen", die vielleicht durch den Zusammenbruch Europas ermöglicht wurde. „Die nacheuropäische Epoche steht im Zeichen einer Chance, einer großartigen Möglichkeit, welche die gesamte Menschheit in die Zukunft nicht nur des technischen Verstandes, sondern der sich verstehenden Vernunft führen könnte."10 53 Diese Tendenz, an die einheitsbildende Rationalität anzuknüpfen, hängt mit dem transzendentalistischen Ansatz der tieferen Grundlegung der Rationalität zusammen, mit der Idee E. Husserls, auf die Patocka nie verzichtet hat. Um die „Aufspaltung der nacheuropäischen Menschheit ... diese innere und äußere Spannung zu vermeiden, gibt es kein anderes Mittel als den Grund der Rationalität tiefer zu legen, als es in Europa der europäischen Geschichtsepoche je gelungen ist."11 Andererseits knüpft Patocka Vorschlag einer Lösung auf seine Gegenüberstellung der Ideologie und des Lebens in der Idee - auf seine frühe Aneignung der ontologischen Differenz - an.12 Er schlägt jetzt mit der „offenen 10 „Europa und Nacheuropa", KE, S. 220. 11 Jan Patocka, „Die nacheuropäische Epoche und ihre geistige Probleme", ein Konzept, dessen größere, erste Teil in den Text „Europa und Nacheuropa" aufgenommen wurde. Die zitierte Stelle, in der Patocka ausdrücklich die Bedeutung des Husserlschen späten Ansatzes bei der „Krisis der europäischen Wissenschaften" hervorhebt, befindet sich im zweiten Teil des Manuskripts, der im deutschen Original im Archivsammlung der Schriften Jan Patocka (ASJP) im Band 6 der Reihe „Pece o dusi" zugänglich ist. Vgl. dort S. 375 f. 12 Vgl. Jan Patocka, „Ideologie und das Leben in der Idee" (1946), KE, S. 379 ff. 54 Seele" die Einstellung der Offenheit vor, die dem Offenen, d. h. einem positiv nicht Bestimmbaren entspricht, die nur durch die Differenz zu jeder Bestimmtheit charakterisiert werden kann, genauso wie die Idee in seinem Negativen Pla-tonismus.13 Er schlägt die Offenheit für das Geheimnis vor, das in jeder geistigen Tradition je anders gelebt wird.14 Die tiefste Dimension der Sorge für die Seele, von der Patockas späte Reflexionen als vom geistigen Prinzip Europas reden, ist der ausdrückliche Bezug zu dem, was als Geheimnis jede feste Gestalt des Geistes erschüttert. „Der Geist ist Erschüttertsein."15 Genauso wie im negativen Platonismus ist dieser Vorschlag als Abwehr gegen die metaphysische Philosophie gerichtet, die alles streicht, was sich nicht objektivieren, positiv erfassen läßt. Gegen die Gleichschaltung und Homogeniesierung der Welt erinnert Patocka an die Erfahrung der Transzendenz, die allerdings negativ bleiben muß, sie läßt sich nicht positiv festmachen, einem objektiven Wissen unterordnen. 3. Die innere Gefahr des Eurozentrismus und kritische selbstbesinnung Europas Wenn die Konzeption der „offenen Seele" als aktive Distanz von dem Ausgriff der Technik auf die Weltbeherrschung verstanden wäre, wäre sie in diesem neuen Zusammenhang der nacheuropäischen Epoche als ein Signal der Selbstkritik der Europäer gegenüber den Anderen zu deuten. Man kann aber auch in dieser aktiven Distanz der „offenen Seele" eine innere Gefahr des Eurozentrismus erblicken, die keineswegs zu unterschätzen ist. Patocka stellt dem Zeitgeist der vorherigen Epoche der Generalisierung Europas, die sich - wie er sagt - vor der Entstehung des planetarischen Bewußtseins der Menschheit als schreckliche und zynische Leugnung des Menschlichen auswirkte, seine Konzeption entgegen. Die „offene Seele" des Europäers soll nach Patocka die der neuen Welt entsprechende geistige Einstellung schaffen. Wenn aber die Einstellung der „offenen Seele" als das Suchen des transzendentalen Bodens für die nacheuropäische Menschheit aufgefaßt wäre, dann gäbe es dabei insofern eine innere Gefahr eines Eurozentrismus, als dadurch die Einstellung der geistigen Suprematie Europas fortgesetzt würde, gegen die sich eben die außer- 13 Vgl. Jan Patocka, „Negativer Platonismus" (etwa 1953), KE, S. 389 ff. 14 Vgl. Jan Patocka, „Die Selbstbesinnung Europas" (Anfang der 70er Jahren), in: Philosophische Perspektiven 20 (1994), S. 241 ff. Hier besonders S. 256 f. 15 „Der Geist ist weder ein Geist der Schwere, ein Kamel, noch ein Genius, der die Flügel hat. Der Geist ist Erschüttertsein (otfesenost)." In: ASJP, Pece o dusi, Bd. 6, S. 313. europäischen Gesellschaften zur Wehr setzen und dadurch die neue Lage auszeichnen. Es ist mit anderen Worten fraglich, ob wir, Europäer, mit der Einstellung der „offenen Seele", d. h. durch den transzendentalistischen Konzept der Offenheit gegenüber dem unbestimmt Transzendenten, im Kontakt mit anderen geistigen Traditionen weniger geistige Suprematie gegenüber dem Anderen manifestieren als wenn wir noch mit einer ganz bestimmten Auffassung, bzw. Verneinung des Transzendenten auftreten. Die Gefahr des Eurozentrismus scheint mir in diesem Kontext darin zu liegen, daß wir die Aufgabe der Offenheit für das Geheimnis der Dinge, die wir uns selbst, den Rationalisten vorschreiben, zusammen mit der nivellierenden technischen Vernunft der breiten Welt empfehlen. Die Frage ist allerdings, ob dies Patocka vorhatte mit seinem Vorschlag der „offenen Seele". Ich möchte nun auf einige Stellen hinweisen, aus denen klar wird, daß sich Patocka auch der inneren Gefahr des Eurozentrismus bewußt war und daß also auch das ursprüngliche Konzept der offenen Seele nicht nur transzendentalistisch gefaßt und entwickelt wurde. Die europäische Reflexion ist „nicht dazu bestimmt, die außereuropäische Reflexion überflüssig zu machen", die Bedeutung einer solchen europäischen Besinnung besteht darin, die außereuropäische Reflexion „erst eigentlich einzuleiten und fruchtbar zu machen". Patockas Vorschlag, „für die geistigen Probleme von morgen eine notwendige Offenheit zu schaffen", und zwar durch die Konzeption der Existenz als einer „offenen Seele", würde dann keine Vorschrift, ja keinen Vorschlag für die Anderen mehr bedeuten, sondern sie würde sich vor allem kritisch eigener, europäischen Tradition zuwenden. Diese kritische Wendung zur eigenen Tradition, die nicht beim neuzeitlichen absoluten Subjekt halt macht, sondern weiter in die Anfänge Europas zurückgreift, kann mit Patocka als eine Destruktion der europäischen Geistesmetaphysik genannt werden.16 In diesem Schritt der historischen Destruktion Europas wird dessen zentrale geistige Prinzip, so wie es eigentlich Patocka immer vor Augen hatte, nämlich das Prinzip der Sorge für die Seele erst schärfer eruiert. Es wurde 55 16 Ein an den Text „Die nacheuropäische Epoche und ihre geistige Probleme" anknüpfendes Fragment ohne Überschrift, Signatur 3000/104, das mit dem Satz beginnt: „Man kann zu den oben angedeuteten Problemen der heutigen Geschichtsepoche gar nicht vordringen, ohne den Versuch einer sehr radikalen Distanzierung von den europäisch-traditionellen Weisen der Weltgeschichtsbetrachtung zu unternehmen." Zur Destruktion vgl. die folgende Stelle: „Die bisherige Geschichtsmetaphysik ist ihrerseits eine spezifisch europäische Geistmetaphysik, welche mit der europäischen Philosophie als Metaphysik überhaupt zusammenhängt. Ihre Revision ist deshalb eine Revision dieser Metaphysik überhaupt, wahrscheinlich ihre Destruktion." Ebd., S. 19. bei ihm bekanntlich zum zentralen Thema von vielen geschichtsphilosophischen Texten, in denen er eine zweideutige Rolle gewinnt. Es ist das in sich differenzierte, griechisch-christliche Prinzip des alten Europa, das aber in seiner Echtheit noch nicht zu Ende gedacht wurde und das vielleicht auch den Maßstab oder zumindest Orientierungspunkt der Geistigkeit auch für die kommende Epoche der Geschichte, zumindest für uns Europäer geben kann. Der Begriff der Sorge für die Seele hat zumindest zwei Seiten, sie führt sowohl zur Expansion der Rationalität über alle Bereiche des Lebens als auch zur kritischen Selbstprüfung und zu einem Selbstverzicht. 56 Die Auszeichnung Europas sieht Patocka in seiner Tendenz zur Allgemeinheit, die mit seiner Logos-Auffassung zusammenhängt. Das „Allgemein-Verständliche", das „Rationale" strebt sich „auf alles und jedes auszustrecken", es läßt „nichts aus seinem Bereich" aus, es läßt „das ganze Leben durch eine Reflexion durchgehen ... welche (das Leben) auf das Durchsichtige und Nachvollziehbare in ihm durchsiebt".17 Das so gefaßte Rationale ist nach Patocka für die Griechen der Logos, der wiederum „ein eminent auf die Geschichte bezogenes Element" darstellt, weil er „ein aktiv zu Vollziehendes" ist.18 Die „Einzigartigkeit der europäischen Geschichte" sieht Patocka dementsprechend darin, „daß hier versucht wurde, eine bestimmte Logos-Auffassung als geistige Macht und Autorität tatsächlich zu verwirklichen, daß diese Auffassung eine Menschheit mitsamt allen ihren Betätigungen, Traditionen, Institutionen prägte und dadurch geschichtliche Realität wurde". Diese Realität hat sich dann aus inneren Gründen aufgelöst, doch noch in dieser Auflösung, die wir heute leben, sieht Patocka ihr Prinzip weiter wirken, welches „die Möglichkeit einer einheitlichen Menschheit in einer einzigen Welt, die nicht mehr bloße Lebenswelt ist, entwirft und offenhält".19 Dies Prinzip aber war und ist ein Widerspruch der Partikularität, die sich als Universales will und in diesem Wollen auf einen faktischen, nicht nur logischen Widerstand stößt und an ihm zerbricht. Daher können wir an diesem Prinzip nicht mehr ohne weiteres unsere Handlung orientieren. Zugleich aber will Patocka an dieses aktive Prinzip positiv anknüpfen, so daß der Geist auch in der nacheuropäischen Epoche die Autorität und Macht erreichen soll, wofür die Möglichkeit im Greichenland einmal gestiftet wurde. Der Geist, von dem Patocka in diesem nacheuropäischen Zusammenhang spricht, ist der Geist der Solidarität der Erschütterten, also nicht mehr ein Geist, der aus dem aktiven vereinzelten Kampf der Seele um den Sinn entsteht, sondern ein Geist, 17 Ebd., S. 8. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 10. der von der Nichtigkeit jedes einzelnen Sinnes ausgeht, und in gewisser Weise gerade mit diesem naiven Aktivismus des Tages bricht. Diese Forderung der Distanznahme in Bezug auf die eigene geistige Tradition ist besonders hier dringend, wo die Reflexion auf die geistigen Grundlagen den Rahmen einer Geschichtsphilosophie liefern soll, so wie es bei Patocka der Fall ist. Die kritische Destruktion der europäischen Tradition gipfelt in diesem Text in folgenden Gedanken: Der gemeinsame Nenner dieser Tradition und des daraus folgenden modernen europäischen Superioritätsgedankens basiert nach Patocka auf dem Gedanken der immanenten Teleologie der Geschichte, durch die sich der europäische Mensch definierte, wobei dieser sich das Telos wie selbstverständlich sich selbst anpaßte. Mit dieser Überzeugung haben die europäischen Menschheiten den anderen begegnet, und diese Begegnungen liefen immer auf einen Kampf hinaus, den Patocka als „Kampf um Besitz und Dasein, Kampf um die Seele, Kampf innerhalb des europäischen Geistes selber" charakterisiert. Von dieser Tradition distanziert sich Patocka mit folgenden Worten: „In diesem Ringen ist die europäische, verpflanzte Menschheit meist siegreich vorgedrungen, obwohl der Ausgang auf großen Abschnitten der planetarischen Front immer ungewiß ist. Europa als weltbeherrschende Macht ist darin zugrundegegangen und die europäische Geschichtsmetaphysik hat sich vollends als unzulänglich erwiesen ... Mit einer neuen Menschheit muß auch eine prinzipielle Revision der Sinnfrage entstehen, die Frage muß neu gestellt werden."20 4. Das geistige Erbe Europas nach der Revision Um diese Revision geht es im Spätwerk, besonders in den Ketzerischen Essais aber auch in anderen Texten, wir können das Problematische dieser Revision noch einmal am Text „Geschichtschema" ablesen, der eine der letzten geschichtsphilo-sophischen Arbeiten darstellt. Dieser schließlich von Patocka unpublizierter Text faßt noch einmal das Konstruktive der Geschichtsphilosophie Patockas zusammen, das aus der historischen Reflexion für die Gegenwart zu übernehmen ist. Einerseits wird die These bestätigt, daß wir am Ende, ja nach dem Ende der europäischen, durch abendländische, metaphysische Philosophie geprägten Geschichte stehen. „Unsere Philosophie, sagt Patocka dort, von der aus die Hauptmöglichkeiten unseres geschichtlichen Daseins ausgehen, ist dem geschichtlichen Menschen inadäquat", insofern sie ihn „nur als ein Lebendiges zu fassen 57 20 Ebd., S. 20. 58 fähig ist".21 Dieses Ungenügen der bisherigen europäischen Geistigkeit, die Tatsache, daß sie nicht mehr brauchbar ist und daß auch die Besinnung der rationalen Zivilisation auf ihre eigenen Grenzen diese Grenzen nicht zu durchbrechen und neue Möglichkeiten zu zeigen vermag, bringt Patocka zur Frage, ob der Mensch der nacheuropäischen Ära „wirklich geschichtlich zu leben vermögen"22 wird? Daß er dabei andererseits seinen alten Begriff der Geschichtlichkeit als ein ganz bestimmtes geistiges Prinzip gebraucht, davon zeugt die Fortsetzung der Stelle: „Da ist die Besinnung am Platz, die wohl nicht von den in die historische Arena Eintretenden, sondern durch die Europäer im breiten Sinne zu leisten ist. Was gibt es, geistig betrachtet, auf dieser Erde Lebendiges? Worauf könnte man noch den Glauben oder besser: die Hoffnung an ein Leben über der biologischen Ebene stützen?"23 Trotz aller berechtigten Skepsis zu der bisherigen europäischen Geistigkeit, scheint hier Patocka doch noch in ihren Bahnen vorzugehen, indem er auf dem Gegensatz Leben und Geist verharrt, wobei er anscheinend den Nichteuropäern sogar auch diese Differenz abspricht. Als ob die Europäer im breiten Sinne darüber entscheiden sollten, was im geistigen Sinne lebendig ist und was nicht. Spätestens in diesem Punkt, der aber auch schon im dritten Ketzerischen Essay entworfen ist, nämlich im Punkte der Unterscheidung vom Leben und Sein stößt man also wieder an einen Eurozentrismus der Frage Patockas nach der Geschichte. Der „Sokratismus" der Sorge für die Seele, der im Text „Europa und Nacheuropa" durch „sittliche Einsicht" näher charakterisiert wird, ist das Positive, was Patocka aus dem europäischen Erbe für die Zukunft abgewinnt. So sagt er von diesem Prinzip der sittlichen Einsicht, daß es einen Kern der europäischen Menschheit ausmacht, „welcher gegen Katastrophen und Zusammenbrüche gefeit und zu immer neuen, vielleicht umfassenderen und formaleren Einheitsbildungen fähig ist". Die Katastrophen würden so für die europäische Menschheit „kein endgültiges Versagen ... bedeuten, falls einsichtige, umfassendere Rahmen für neue Menschheitsformungen vorhanden" wären.24 Die Gefahr der expandierenden Rationalität von Europa aus hat also Patocka bewußt auf sich genommen. Patocka hat eine ganz bestimmte Auffassung davon, was geistige Lebendigkeit, geistige Existenz heißt - nämlich der Kampf mit der Sinnlosigkeit des Seins, Kampf gegen den Verfall, der mit dem bloßen Leben notwendig vor sich geht. Wenn es um die Fähigkeit geht, sich gegen die Universalisierung der Zweck- 21 Jan Patocka, „Geschichtsschema", publiziert unter dem Titel „Die Epochen der Geschichte (Skizze)" in KE. Hier KE, S. 202 22 Ebd., S. 203. 23 Ebd. 24 Jan Patocka, „Europa und Nacheuropa", KE, S. 232. Mittel-Rationalität, die mit dem Leben verbunden ist, und von der Bindung ans Leben zu befreien, was Patocka am radikalsten mit dem Begriff des Opfers, einer extremen Entgegensetzung vom Sein und Leben, zu denken versucht, dann scheinen mir außereuropäische Kulturen dafür besser geistig vorbereitet zu sein, als die Denker der ontologischen Differenz. Denn Patocka geht es nur um diese Differenz, nicht um ein Opfer um eines seienden Zwecks willen. Auch das Leben ist ein solcher Zweck. Die geistige Lebendigkeit als Erneuerung des eigentlich Geschichtlichen gibt es nur in der Erschütterung des Lebens. Das Ende der Geschichte ist für Patocka ein definitives sich Verschließen des Lebens, des On-tischen in sich selbst. Das ist die Gefahr, die er aus der neuen nacheuropäischen Welt kommen sieht und wogegen er den Geist mobilisiert. Dabei geht er vom europäischen Erbe aus, nämlich so, daß er für einen neuen, viel weniger naiven Sokratismus plädiert. Eine Stelle aus dem dritten Ketzerischen Essay sei hier in extenso zitiert, die den Anknüpfungspunkt Patockas an einen durch die neue, nacheuropäische Lage modifizierten Sokratismus deutlich anzeigt: „Wohl kann der Mensch ohne Sinn, und zwar ohne den absoluten und ganzheitlichen, wahrhaftig nicht leben: er kann nicht in der Sicherheit einer vanitas vanitatum leben. Aber bedeutet dies, er könne nicht im gesuchten und fraglichen Sinn sein Leben verbringen? In einem Sinn, der als die Frucht eines im Grunde des Alls selbst sich unüberwindlich, sachlich begründet ausbreitenden Dunkels erscheint, das zwar nie auszumerzen ist, aber eine Suche ermöglicht, welche sinnbedingend und sinngenügend ist, allerdings in einer tief gewandelten Bedeutung, wo die Positivität und ungebrochene Naivität nicht mehr walten? Wo der Mensch vor Dunkel, Fraglichkeiten, Widersprüchen nicht einfach halt macht, vor ihnen nicht die Augen schließt, sie anathematisiert und auszumerzen versucht, sondern sich ihnen stellt und sie zu bestehen sucht? Wo infolgedessen eine Brüderlichkeit der in der Naivität Erschütterten, ihre Solidarität über Konflikte und Widersprüche hinaus nicht nur möglich, sondern notwendig gefordert wird? Wo - allerdings erst allmählich - etwas wie Weltanschauungskrieg überwunden werden kann ohne in platte, gleichgültige Toleranz zu münden, in einer allgemeinen Möglichkeit und Überdruß begründet? Ein neuer, viel weiterer, viel weniger naiver Sokratismus täte dann not, eine neue Askese und ein ganz neuer, an den Kämpfen, der Arbeit und dem Blut der furchtbarsten Kriegsepoche geschulter Mut, um aus der drohenden Sinnlosigkeit herauszukommen. Im Grunde wäre es derselbe Sinn, welchen die geschichtliche Menschheit immer suchte, indem sie sich den Aufschwung gab aus der Dämmerung der vor-geschichtlichen Sinnbescheidung ins 59 Wagnis, wo zwar unendlich viel zu verlieren war, aber am Ende vielleicht doch so viel zu gewinnen, daß der Einsatz sich lohnte: das Leben in Wahrheit, das Leben des Geistes."25 25 Jan Patocka, „Hat Geschichte einen Sinn?", Typoskript der von Patocka auf deutsch verfaßten, modifizierten Version des dritten ketzerischen Essay. S. 25 f.