György Dalos 139 György Dalos Der italienische Seefahrer Christoph Columbus glaubte laut der Überliefe- rung bis zu seinem Tode fest daran, dass er anno 1493 in vollem Einklang mit dem Auftrag der Königin Isabella den Meeresweg nach Indien gefunden habe. Wenige Jahre später erreichte sein Landsmann Amerigo Vespucci mit einer von dem Bankhaus Medici gesponserten Flottille dieselben Küsten und wusste bereits, dass es sich dabei um einen bisher unbekannten Kontinent handelte. Die spätere Namensgebung des Erdteils sollte seinem Copyright als Entdek- ker Rechnung tragen. Da jedoch der Vorname Amerigo mit dem lateinischen Emericus und dem deutschen Emmerich identisch ist, dachten viele Ungarn, dass Fürst Imre, der frühzeitig verstorbene Sohn des heiligen Königs Stephan und der bairischen Fürstin Gisela der eigentliche Pate der USA gewesen sei. Ob sich dieser Stolz auch auf den »US-Imperialismus« oder den »American way of life« erstreckte, sei dahingestellt. Jedenfalls scheint mir als ehemaligem ungarischen Dissidenten Columbus´ produktiver Irrtum eine gespenstische Ähnlichkeit mit der Verfehlung unserer Andersdenkenden aufzuweisen. Wir träumten nämlich ebenfalls von einem relativ unkomplizierten Weg nach dem Wunderland Indien und sind dann ganz anderswo gelandet. So habe ich mir beispielsweise in einem Aufsatz für die Berliner Kulturzeitschrift Kursbuch Anfang 1985 den Ablauf folgenderma- ßen vorgestellt: »Stellen wir uns das Unwahrscheinliche vor: Ein verjüngtes Zentralkomitee in Moskau entscheidet sich für die Befreiung der Sowjetunion von ihren im- mer lästiger werdenden Verbündeten: ›Sehen Sie doch ein, Genossen‹, sagt der EUROPA: VISION UND WIRKLICHKEIT Phainomena xviii/68-69 György Dalos 140 erst dreiunddreißigjährige Erste Sekretär, ›dass diese kleinen osteuropäischen Staaten mit ihrer chaotischen ökonomischen Situation, mit ihren unbegreifli- chen inneren Widersprüchen und schädlichen Ideologien nur unseren kom- munistischen Aufbau erschweren. Viel richtiger wäre es meines Erachtens, diese Gesellschaften – unter Wahrung unserer militärischen Interessen – ihrer eigenen Entwicklungsdynamik zu überlassen. Vom propagandistischen Stand- punkt aus würde uns dies nur Vorteile bringen. Einerseits könnten wir dann wieder als Befreier dieser Länder gefeiert werden, andererseits waren unsere Ideale, wie die Erfahrung zeigt, stets viel erfolgreicher in Gesellschaften, in denen nichts oder nur sehr wenig von ihnen verwirklicht worden ist.‹ Die Worte des Ersten Sekretärs werden einstimmig zum Gesetz erhoben, der Warschauer Vertrag wird gekündigt, die in der osteuropäischen Region stationierten sowjetischen Truppen werden mit Militärmusik und Blumen verabschiedet, und die Länder des ehemaligen Ostblocks beginnen mit der Regelung ihrer eigenen Probleme. Durch freie Wahlen, an denen mehrere Par- teien teilnehmen dürfen, schaffen sie ihre parlamentarischen Institutionen, sie öffnen die Grenzen und garantieren die Freiheitsrechte, einschließlich eines vernünftig beschränkten Privatbesitzes. Alles andere – das McDonalds-Netz, die Arbeitslosigkeit, die Peep-Shows – kommen von selbst«. Noch viel früher, 1983 wagte mein Freund und Kollege György Konrád eine Landkarte der von ihm ersehnten Veränderungen vorzuzeichnen. In seiner Antipolitik schrieb er: »Ich halte nicht nur Budapest, Pressburg, Prag, Krakau, Warschau und Berlin für Europa. Doch wenn ich schon Leningrad und sogar Moskau zu Europa rechne, warum eigentlich sollte ich dann bei Wladiwostok stehen bleiben? Es handelt sich um Eurasien. Dazwischen gibt es keine Staats- grenze. Man kann auch im Maßstab Eurasiens denken. Das ist eine Perspek- tive, die besser passt zur zweiten Jahrtausendwende als die Perspektive des kleinen Westeuropa. Ich möchte mich für den Sohn eines utopischen Europa halten, der mit seinen Armen den Stillen Ozean sowohl bei San Francisco als auch bei Wladiwostok erreicht und das Umarmte in Frieden hält«. Einige Jahre später, im Frühjahr 1989 gab ein ungarischer Rechtswissen- schaftler auf die Journalistenfrage, was in der damals vorbereiteten neuen Ver- fassung aus der alten (1949) erhalten bleibe, die knappe Antwort: »Die Haupt- stadt des Landes ist Budapest«. In den Flitterwochen Ungarns mit der jungen Demokratie war Europa ein Schlüsselbegriff. Die Erwähnung des Kontinents in den Medien erreichte ein Ausmaß, das den Autor Peter Esterházy auf die Idee brachte, jeder, der das Wort »Europa« in den Mund nehme, solle auto- matisch einen Forint in die Staatskasse einzahlen (was angesichts des Schul- György Dalos 141 denberges und der beginnenden Rezession keine wirkliche Sanierung ergeben hätte). Die Erwartungen waren gut gemeint, doch naiv. Von der Übernahme der europäischen Normen von Politik und Moral erwartete man einen durch- schlagenden ökonomischen und sozialen Aufstieg - eine Demokratie mit al- len Vorteilen, aber ohne Nachteile der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Selbstverständlich verlief die Entwicklung viel schwieriger. Allein das Klopfen am Tor der EU dauerte fünfzehn Jahre lang an. Nun ist es soweit, wir Ungarn schreiben bereits das vierte Jahr unserer neu- en europäischen Zeitrechnung. Die Wende, oder wie sie bei uns genannt wird, der Systemwechsel, forderte enorme Anstrengungen von dem Zehnmillionen- land, die Marktwirtschaft erwies sich, milde gesagt, keineswegs als automa- tisch menschenfreundlich, die früher staatlich geförderte Kultur verwandelte sich zunehmend zum Sozialfall. Was aber die Vorstellungskraft der achtziger Jahre am meisten übertraf, war die Tatsache, dass der Zusammenbruch eines der beiden mächtigen Militärblöcke die Welt keineswegs näher an den Frie- den heranbringen konnte, und selbst in unserem engen geographischen Um- feld alles andere als eine harmonische kontinentale Demokratie entstand. Im Nachhinein sagen wir uns kopfschüttelnd: Wie konnten wir angesichts unserer schweren und komplizierten Vergangenheit überhaupt eine dermaßen rosige Zukunftsvision ausmalen? Zur Entschuldigung sei gesagt, dass man am Ende der sowjetischen Ära manche Phänomene gar nicht vorausahnen konnte. Erstens dachte niemand an das verrückte Tempo der Veränderungen, zweitens unterschätzten selbst viele Ökonomen die Schwierigkeiten des Übergangs zur Marktwirtschaft und drittens, was vielleicht am wichtigsten ist, rechnete man nicht mit der natio- nalen Wiedergeburt in dem heutigen Maße. Einige Länder wie Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Albanien gewannen in ihrem früheren geographi- schen Rahmen die Rechtsstaatlichkeit, während auf der Landkarte der neunzi- ger Jahre gleichzeitig auch völlig neue Staatsbildungen erschienen: Armenien, Aserbeidschan, Belarus, Bosnien, Deutschland (als einheitliches Land), Est- land, Georgien, Kroatien, Lettland, Litauen, Moldau, Montenegro, Russland, Serbien, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und die Ukraine. Die Verän- derung der Landkarte betraf ein Territorium mit einer Bevölkerung von fast fünfhundert Millionen Menschen. Einerseits war die Bildung dieser modernen Nationalstaaten das Allernatür- lichste nach so vielen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten der Fremdbestim- mung. Geschulte Marxisten hätten diesen Prozess wie seinerzeit die deutsche Reichsgründung zähneknirschend als »objektiv fortschrittlich« bezeichnet. Phainomena xviii/68-69 György Dalos 142 Andererseits bedeutete der Zerfall des Riesenreiches eine enorme Desintegra- tion, die besonders in den Fällen, wo das Recht auf Selbstbestimmung man- chen Völkerschaften oder Minderheiten verweigert worden war, mitunter apo- kalyptischen Züge trug. Während zwischen den EU-Staaten die Grenz- und Zollbeamten langsam zur Arbeitslosigkeit verurteilt werden, entstanden seit 1989 ungefähr 40 neue zwischenstaatliche Grenzen, zur Zeit des Eurotrium- phes wurden mehr als 20 neue nationale Währungen, von der estnischen bis zur slowakischen Krone eingeführt, und während die NATO, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen die Straffung und Vereinheitlichung der Verteidigungs- systeme des Kontinents betreibt, werden in Europas Osten neue nationale Armeen gegründet. Die Tatsache, dass etwa moldauische oder ukrainische Geldscheine am Anfang der neunziger Jahre in Paris gedruckt werden, unter- streicht nur die Absurdität des Gesamtprozesses und lässt die Kluft zwischen Ost und West weiter veranschaulichen. Die Länder, welche in den ehemaligen politischen oder ideologischen Ein- flussbereich der Sowjetunion gehörten, waren früher von der freien Welt mehr oder weniger isoliert. Anders als mancher autoritärer Staat des Westens wie Portugal, Spanien, Griechenland oder die Türkei, haben die Diktaturen des Ostens dafür gesorgt, dass ihre Völker die Jahrzehnte der europäischen Nach- kriegszeit und damit die Modernisierung des politischen Lebens versäumten. Mehr als fünfzehn Jahre trennen diese Länder von dem »real existierenden So- zialismus«, aber sie leben immer noch zumindest parallel heute und gestern, wobei wir unter der letzteren Zeitebene manchmal die gesamte, unter den Teppich gekehrte nationale Geschichte verstehen. Versatzstücke der grauen Urgeschichte, des Mittelalters, der frühen Neuzeit, die durch jahrhundertelan- ge Fremdherrschaft ausgelösten Animositäten, Mythen, Illusionen und Ängste prägen das aktuelle Geschehen von Baku bis Warschau in einem Maße mit, das westlich von der Leitha unvorstellbar wäre. Im Dezember 2006 haben 46 polnische Abgeordnete von drei konservati- ven regierenden Parteien einen Antrag im Sejm gestellt, wonach Jesus Christus zum König der Rzeczpospolita gewählt werden sollte. Der absurd anmutende Vorschlag, der sowohl von der parlamentarischen Mehrheit als auch vom Kle- rus abgelehnt wurde, wurzelt in einer Tradition des 17. Jahrhunderts. Damals wurde die Gottesmutter Maria durch eine symbolische Vermählung mit dem König Kazimierz zur Herrscherin des Landes erkoren, um Polen im Krieg mit dem protestantischen Schweden zu schützen. Sicher stand hinter dem Hirnge- spinst der Landesväter keine Mehrheit, aber religiöses, emotionelles, morali- sierendes und symbolisches Politisieren ist der ansonsten hochmodernen pol- György Dalos 143 nischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts überhaupt nicht fremd. Der Eklat um die geheimdienstliche Verstrickung von Kardinal Stanislaw Wielgus zeigt jedoch nicht zuletzt, wie zwiespältig diese Modernität aussieht: Der Fall des Oberhirten wird einerseits als streng gehütetes Kirchengeheimnis, anderer- seits als grandioser Medienskandal inszeniert. Im Herbst desselben Jahres brachen in Ungarn Unruhen aus. Die Ursache dafür lag in den wachsenden sozialen Unkosten des Reformprogramms der sozialliberalen Regierung. Der direkte Auslöser war jedoch eine Ansprache des Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, in der dieser vor internem Kreis Zwecklügen während der Wahlkampagne zugegeben hatte. Da die teilweise von beiden Seiten rabiat ausgefochtenen Auseinandersetzungen zeitlich mit der fünfzigsten Jahreswende des Volksaufstandes 1956 zusammenfielen, wähn- ten sich manche Beteiligten als direkte Nachfolger der »Freiheitskämpfer« und bevorzugten bei ihren Kundgebungen historische Standorte von damals. Ein Teil der Demonstranten trug außer der traditionellen Trikolore Fahnen mit den so genannten Árpádstreifen, einem mittelalterlichen Symbol, die später die Rechtsradikalen der Vorkriegszeit benützt hatten. Unabhängig von der peinlichen Konnotation des letzten Sinnbildes, wäre es in Deutschland sicher wenig wahrscheinlich, dass Proteste gegen die restriktive Politik unter dem Banner von Friedrich Barbarossa vonstatten gegangen wären. Die populistischen Politiker in den ehemaligen Ostblockländern – als her- ausragende Persönlichkeiten seien hier die Gebrüder Kaczynski und Viktor Orbán erwähnt – bedienen sich gerne der Versatzstücke der christlich-natio- nalen Ideologie, indem sie diese in ein merkwürdiges Konstrukt einfügen, das ich als postumen Antikommunismus bezeichnen würde. In Ermangelung eines kommunistischen Bösewichts stempeln sie ihre liberalen Kontrahenten als Bolschewisten ab, bezichtigen sie der Gottlosigkeit und des Landesverrats und versprechen durch die »Entkommunisierung« der Gesellschaft die Lösung aller sozialen und politischen Spannungen. Die liberalen Gegner bezichtigen ihrer- seits die Konservativen ebenfalls mit Vorliebe »bolschewistischer Methoden.« Diese Konstellation ist uralt, sie wurde bereits von Marx und Engels anno 1848 im Manifest beschrieben: »Wo ist die Oppositionspartei, die nicht von ihren regierenden Gegnern als kommunistisch verschrien worden wäre, wo die Oppositionspartei, die fortge- schritteneren Oppositionsleuten sowohl wie ihren reaktionären Gegnern den brandmarkenden Vorwurf des Kommunismus nicht zurückgeschleudert hät- te?« In diesem Kampf um das berühmte Gespenst, wird nicht nur die Natur der politischen Rivalen verkannt und verklärt sondern auch die Motive der Phainomena xviii/68-69 György Dalos 144 Bürger, deren ambivalente Haltung zwischen Bruch und Kontinuität seit 1990 alle Wahlkampagnen beherrschte. Denn auch die nähere Vergangenheit drückt ihren unverkennbaren Stem- pel der politischen Kultur der »Reformländer« auf. In Ungarn, Tschechien und nicht zuletzt in der ehemaligen DDR zeigt sich eine statistisch messbare, mas- senhafte Nostalgie für die »goldenen« siebziger und achtziger Jahre als Reflex vor allem der mittleren und älteren Generation auf eine Gegenwart, in dessen Atmosphäre sie nicht mehr heimisch werden konnten. In den tristen Nach- folgestaaten der ehemaligen UdSSR äußert sich die existentielle Unsicherheit in der direkten Hinwendung zu den KP-s, die vielerorts als Wahlsieger davon profitieren. Bei aller Bedeutung der sozialen Nöte, welche die Menschen in die Arme der früheren Machthaber treiben, müssen wir auf die psychischen Hinter- und Abgründe dieses Phänomens hinweisen. Zigmillionen Menschen leben in einem historischen Vakuum und sehnen sich nach einer stabilen Wer- tehierarchie. Als typische »Nachwehen des Sozialismus« erscheinen uns selbst die mitun- ter heftigen innenpolitischen Kämpfe des Ostens – wie in Serbien, der Ukraine oder Georgien. Diese werden abseits des institutionellen Rahmens und au- ßerdem ziemlich vehement ausgefochten und von den beteiligten Bürgern als Revolution erlebt. Sie korrigieren mancherorts die nicht immer sauberen Wahlergebnisse, führen jedoch bestenfalls zur neuen Aufteilung der Pfründe zwischen den verschiedenen Machteliten, die wiederum, unabhängig von ih- rer weltanschaulichen Färbung immer noch nach dem alten Apparat riechen. Dies bedeutet vor allem, dass die insgesamt zweiundzwanzig Staaten, die sich 1989/91 allmählich aus dem Bereich des ehemaligen Ostblocks heraus- lösten und sich zurzeit auf den unterschiedlichsten Niveaus der Integration befinden, keineswegs idealtypische europäische Partner sind, selbst wenn sie die formalen Aufnahmekriterien der EU erfüllen. Sie werden noch lange in der Logik ihrer Geschichtlichkeit gefangen bleiben und diese erst aus eigenem Antrieb überwinden können. Wenn es darum geht, die inneren Verhältnisse dieser Länder zu demokratisieren, humanisieren, die führenden Gruppen zur Respektierung der Menschenrechte zu bewegen, dann ist es der größtmögli- che Fehler, eine Verweigerung oder Beschleunigung der Klubmitgliedschaft als Druckmittel zu benützen. Wir können kein Land in die Gemeinschaft frei- heitsliebender Völker quasi einsperren. Gleichzeitig sollte uns diese Andersartigkeit der neuen Mitglieder und erst recht der Bewerber bedenklich stimmen. Die Vorläuferin der EU, die 1957 gegründete Europäische Gemeinschaft, entstand am Höhepunkt des Kalten György Dalos 145 Krieges, als sich der Kontinent im Rahmen des Atlantischen Bündnisses be- haupten wollte. Zwei Jahre nach der Schaffung des Warschauer Pakts und ein Jahr nach der Unterdrückung des ungarischen Volksaufstands war das Ende der Blockkonfrontation kaum abzusehen. Als 1979 das Europäische Parlament seine Arbeit begann, rechnete ebenfalls niemand damit, dass freie Wahlen jen- seits des Eisernen Vorhangs noch in diesem Jahrhundert stattfänden. Selbst die viel gerühmte Entspannung brachte die Ostblockstaaten ihren westlichen Nachbarn nicht wirklich näher und die einzige feste, weil unauflösbare Bin- dung der Diktaturen an die Demokratien bestand in ihrer wachsenden Ver- schuldung. Der Kollaps des sowjetischen Imperiums bedeutete für die EU eine Her- ausforderung, der sie in ihren jetzigen Strukturen bis dato nicht gerecht wer- den konnte. Ob man will oder nicht, verändert die Einbeziehung von jedem einzelnen neuen Mitglied den Charakter der Staatengemeinschaft und eine, aus ihren Grundsätzen logisch folgende potentielle Verdoppelung des europä- ischen Territoriums und der Bevölkerung hätte deren ursprünglichen Rahmen gesprengt. Paradoxerweise würde die Aufnahme der Türkei weniger techni- sche Probleme verursachen als die Integration von geographisch und kulturell näher liegenden Kandidaten wie Albanien oder Georgien. In jedem Fall wird eine massive Ausdehnung die Kontrolle über das gesamte System erschweren, und es wäre bereits jetzt ratsam, über dezentrale Lösungen unter Beibehaltung der Wertegemeinschaft nachzudenken. Schließlich erlauben Sie mir eine persönliche Anmerkung. Selbst wenn unsere schöngeistige optimistische Vision aus den achtziger Jahren von der realen Entwicklung widerlegt worden ist, glaube ich nicht, dass die private Fu- turologie, welche an den Küchentischen der Dissidenten entstand, ein bloßer intellektueller Zeitvertreib war. Im Gegenteil: Damals produzierten wir Ideen mit alltäglicher Intensität, ohne uns darum zu scheren, ob sie zur öffentlichen Verbreitung jemals zugelassen werden. Heute hingegen verfügt unsere Gesell- schaft über die großzügigste Redefreiheit ihrer Geschichte und sie scheint – dies konstatiere ich mit einiger Melancholie – wenig Lust, Mut und Phantasie zu haben, um über die eigene Zukunft nachzudenken.