Rok Svetlic DAS PROBLEM DER ZEiTGENÖSSiSCHEN POLiTiSCHEN PHiLOSOPHiE. Der Transfer der individuellen Verantwortlichkeit Das Symposium „Europa, Welt und Humanität im 21. Jahrhundert" fordert die 167 Teilnehmer dazu auf, sich der Probleme des zeitgenössischen Europas und der Welt bewusst zu werden und diese zu thematisieren. Mit anderen Worten, es lädt dazu ein, sich mehr der Orientierung im noch offenen Horizont zu widmen, als alte philosophische Schriften zu analysieren. Das Ergebnis eines solchen Nachdenkens stellt somit eher ein Aufspüren als eine vertiefte Studie dar, wobei darauf hingewiesen werden soll, dass der vorliegende Beitrag nur als ein Versuch zu verstehen ist. Es ist besonderes erfreulich, dass solche Themen im Rahmen der Phänomeno-logie eröffnet werden, weil diese, zumindest meiner Meinung nach, noch viele nicht ausgeschöpfte Potentiale auf dem Gebiet der praktischen Philosophie in sich bergen. Aufgrund meines Betätigungsfeldes, der Rechtsphilosophie, fühle ich mich vor allem durch die Frage der Humanität angesprochen, die der Titel des Symposiums beinhaltet. Im Rahmen dieses Beitrags möchte ich mich einem Phänomen widmen, das mir in Slowenien sowie in Europa aufgefallen ist, und mir, was die Frage der Humanität anbelangt, als eines der bedeutendsten Probleme im zeitgenössischen Europa erscheint. Hierbei handelt es sich um die Beeinträchtigung der individuellen Verantwortlichkeit - genauer genommen um einen Transfer, durch den die Verantwort- lichkeit vom Einzelnen auf den Staat übertragen wird.1 Die Ursache für diesen Transfer basiert nicht etwa auf dem Standpunkt, dass das Individuum nicht etwa verantwortungsvolle Beziehungen einzugehen bräuchte, sondern auf der Überzeugung, dass dieses (aufgrund äußerer Umstände) zu diesen nicht fähig ist. Die Tatsache, dass der Handelnde von seiner Verantwortlichkeit entbunden wird, kann auf den ersten Blick als eine willkommene Entlastung des Individuums interpretiert werden. Obwohl dies für den Betroffenen zuträglich sein könnte, muss darauf beharrt werden, die Frage der Humanität auf einer anderen Ebene zu thematisieren, die sich vom Nutzkalkül streng unterscheidet. Beim erwähnten Verantwortlichkeitstransfer unterscheidet man zwischen verschiedenen Intensitätsstufen, wobei auf der extremsten Stufe das Individuum seine moralische Kompetenz zur Gänze verloren hat und sogar einem unmündigen Kind gleichgestellt wird. Demnach soll folgende These aufgestellt werden: Obwohl das Konzept der Humanität durchaus kontrovers bleibt, ist die Vorstellung eines verantwortungsvollen Menschen, der seiner Handlungsautonomie beraubt wurde, undenkbar. Denn der Standpunkt, dass Handlungen und deren Folgen nicht dem Handelnden, sondern dem zugeschrieben werden können, der für diesen Menschen verantwortlich ist, erinnert eher an die Vormundschaft über einen Unmündigen als 168 an ein respektvolles Verhältnis einem handlungsfähigen Wesen gegenüber. Wie zuvor erwähnt, kann das Ausmaß der Verantwortlichkeit, die dem Handelnden genommen wird, variieren. In Hinsicht auf einige vor kurzem geschehene Ereignisse in Europa scheint es, dass die Intensität dieses Transfers eher zunimmt. Dieser Transfer soll in verschiedenen Bereichen der staatlichen Politik untersucht werden, wobei an dieser Stelle angemerkt werden muss, dass der Verantwortlichkeitstransfer nur im Rahmen der politischen Moral problematisiert wird. Ob der Einzelne in seinem Privatleben die Verantwortlichkeit eines Anderen tragen möchte (oder umgekehrt, ob jemand seine eigene Verantwortlichkeit auf jemand Anderen übertragen möchte), bleibt indes eine Frage des privaten Kompetenzbereichs. Es ist aber unzulässig, wenn die öffentliche Moral die Handlungskompetenz des Individuums einschränkt oder gar zur Gänze unmöglich macht. Auf Grundlage des Angeführten wird sich der Beitrag näher mit der Sozial- und Strafpolitik befassen. 1 Dieser Transfer soll anhand zweier Beispiele näher erläutert werden. II. Zunächst soll das provisorische Konzept der Verantwortlichkeit eingeführt werden, wobei im Rahmen dieses Beitrags folgende Definition als ausreichend angesehen werden soll: Einen Menschen als ein verantwortungsvolles Wesen zu behandeln, bedeutet, dass man die Handlungen und deren Folgen dem Handelnden zuschreibt. Die Verantwortlichkeit ist also die Bindung, die mit der Entscheidung für eine Handlung zwischen dem Handelnden und der Handlung entsteht. Diese Common-Sense-Definition wird von zahlreichen philosophischen Entwürfen übernommen, obwohl diese unterschiedlich begründet wird. Am häufigsten verweist das Problem der Verantwortlichkeit an das Problem der Freiheit. Die Frage der Freiheit des Handelnden steht in der Antike nur im Hintergrund des Problems des tugendhaften Lebens. So schreibt Aristoteles, dass das tugendhafte Leben zwar nicht selbstverständlich, aber durchaus zu erlernen ist. Weil dieses zur Glückseligkeit führt, nach der jeder strebt,2 impliziert die Möglichkeit des Scheiterns des glückseligen Lebens das Problem der Unerreichbarkeit des Gewollten. Dies veranlasst aber Aristoteles auf keinen Fall zum Schluss, dass der Mensch in seiner Freiheit irgendwie eingeschränkt wäre, sondern er sieht die Ursache für die Unfreiheit ausschließlich in äußeren Umständen, durch welche die Handelnden unmittelbar gestört werden. Eine besondere Stellung in der philosophischen Tradition der Freiheitsdiskussion nimmt Immanuel Kant ein. Seiner aprioristischen Optik gemäß fragt Kant nicht: „Was ist die Freiheit?", sondern „Wie ist die Freiheit möglich?". Er stellt fest, dass die Freiheit nicht als Gegenstand einer gültigen Erkenntnis, d.h. in der Anschauung, auftreten kann. Deswegen kann sie nur ein aprioristischer Bestandteil unserer Vernunft sein, d.h. eine bzw. die Idee. Es gibt aber genauso viele „Vernunftbegriffe" wie diesen Begriffen entsprechende Verhältnisse, die sich der Verstand mittels folgender Kategorien vorstellt: „...es wird also erstlich ein Unbedingtes der kategorischen Synthesis in einem Subjekt, zweitens der hypothetischen Synthesis der Glieder einer Reihe, drittens der disjunktiven Synthesis der Teile in 2 „Wenn es nun überhaupt ein Geschenk der Götter an die Menschen gibt, so kann folgerichtig auch das Glück eine Gabe der Gottheit sein und zwar um so eher, als es unter den menschlichen Gütern das wertvollste ist. (...) Doch ist soviel klar: selbst wenn uns das Glück nicht von den Göttern gesandt wird, sondern durch ethisches Handeln und in gewisser Weise durch Lernen und Üben zuteil wird, so gehört es doch zu den göttlichsten Gütern. Denn als Kampfpreis und Ziel der ethischen Trefflichkeit ist es ein höchstes Wert, göttlich und selig." (Aristoteles, Nikomachische Ethik, Akademie Verlag, Berlin 1969, 1099b.) 170 einem System zu suchen sein." 3 Diese drei Arten des Unbedingten sind die Seele, die Freiheit und Gott. Damit wird auf Ebene der reinen Vernunft die Freiheit als etwas nur Mögliches eingeführt und ihre Wirklichkeit wird die Vernunft nie erkennen imstande sein. Jedoch kann der Mensch auf gewisse Weise die Freiheit erkennen, wobei es sich natürlich nicht um die Erkenntnis im theoretischen Sinn handelt: „Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennet, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrücke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst eines Teils Phänomen, anderen Teils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibiler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann."4 Dies bedeutet, dass der Mensch die Freiheit in seiner praktischen, nicht aber in seiner theoretischen Betätigung erkennt. Hier setzt die kategorische Moral an, wie sie Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und in der Kritik der praktischen Vernunft entwarf. Kants Gedanken stellen den Höhepunkt der Philosophie der Aufklärung dar, die auf dem Vertrauen in die Vernunft und in das Subjekt baute. Diesem Vertrauen folgten die Enttäuschung und die Erkenntnis, dass man das „Evangelium der bloßen Vernunft" nicht schreiben kann. Wenn einmal eine auf dem Subjekt und auf der Vernunft gegründete Philosophie als Irrweg angesehen wird, ist das andere Extrem nur einen Schritt entfernt: Die Auseinandersetzung mit den rationalistischen Konzepten beginnt somit als selbstverständliches Legitimationspotenzial und als Devise des Postmodernismus zu fungieren. Dem unbegrenzten Glauben an die Vernunft und an das Subjekt folgt grenzenloses Misstrauen. Auf die Gefahr eines solchen extremen Standpunktes macht H. M. Baugarten im Aufsatz „ Welches Subjekt ist verschwundenaufmerksam. Schon der Titel verrät, dass der Begriff „Subjekt" keinesfalls eindeutig zu verstehen ist. Von den verschiedenen Bedeutungen erwähnt Baugarten zu Beginn die Personalpronomina als unvermeidliche Selbstreferenzen des Sprechenden. Zweitens kann das Subjekt auch im Sinn des kantschen „Ich denke" verstanden werden, das alle Vorstellungen des Erkennenden zu begleiten fähig sein muss, ohne dass damit das Subjekt substantialisiert wird. Drittens kann das Subjekt als ein Moment der Per- 3 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1998, A 323. 4 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1998, A 546. 5 Hans Michael Baumgarten, Welches Subjekt ist verschwunden? Einige Distinktionen zum Begriff der Subjektivität, in: Schrödter Hermann (Hg.), Das Verschwinden des Subjekts, Könighausen & Neumann, Würzburg 1994, S. 67-86. sönlichkeit verstanden werden, wobei nach Kant der Mensch zur Persönlichkeit wird, wenn er sich dem kategorischen Imperativ unterwirft. Die vierte Bedeutung hebt den Aspekt der intersubjektiven sprachlichen Kommunikation hervor, während erst in der fünften Bedeutung „Ich denke" und „Ich will" auf die Einheit der Substanz und des Subjekts zurückgeführt werden. Ein solches Subjekt versteht die Natur als die Veräußerlichung seiner selbst und stellt die Geschichte als Selbstverwirklichung des Geistes dar. Baumgartner betont, dass nur das fünfte Subjekt - das Instrument zur Erklärung der Natur und der Geschichte - „verschwunden" ist. Die übrigen „Subjekte" bestehen indes fort, weswegen durch die Auflösung des absoluten Subjekts nicht verhindert wird, den Menschen als verantwortungsvolles Wesen zu behandeln. In diesem Sinn bleibt der Mensch die Grundlage (Subjekt) seiner Handlungen. Es hat den Anschein, dass zumindest auf dem Gebiet der praktischen Philosophie - trotz der nüchternen Distanz zum rationalistischen Optimismus - auf einigen Begriffen der Aufklärung beharrt werden muss. Obwohl auf ontologi-scher Ebene mit dem „Subjekt", der „Vernunft" und der „Freiheit" nicht mehr die Wirklichkeit beschrieben werden kann, kann jedoch das Verantwortlichkeitskonzept nicht ohne Subjekt gedacht werden, das frei ist und rationale Entscheidungen für seine Handlungen trifft. Somit ist das Verantwortlichkeitskonzept nur als Ganzheit dieser drei Elemente möglich. In erster Linie muss ein verantwortungsvoller „jemand" existieren, der die Grundlage seiner Entscheidungen darstellt. Selbstverständlich ist damit seine ontolo-gische Beschreibung nicht erschöpft, noch weniger ist damit „cogito sum' ausgesprochen. Aber die Kategorie der Verantwortlichkeit muss die Kommunikation mit „jemandem" voraussetzen. Das handelnde Subjekt muss noch frei und imstande sein, rationale Überlegungen zu verschiedenen Handlungsoptionen anzustellen. Alles Erwähnte beruht aber auf Kategorien, die aus der Aufklärung stammen. Aus postmoderner Perspektive mag ein derartig ausgeprägtes Verantwortlichkeitskonzept anachronistisch und zu rigoros wirken. Doch ohne ein derartiges Konzept ist eine demokratische politische Moral unvorstellbar. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass eine derart entworfene Verantwortlichkeit auch eine Schutzfunktion ausübt. Einerseits verlangt die Verantwortlichkeit bedingungslos vom Handelnden, Rechenschaft abzulegen, andererseits gewährt sie ihm aber auch die so wichtige Sicherheit. Mit der Einführung des Subjekts als Träger der Verantwortlichkeit wird die Individualität der Verantwortlichkeit bei Strafverfahren eingeführt: Die Zugehörigkeit zu einer kollektiven Entität (z.B. Nation) darf nie die Anwendung von Zwangsmitteln legitimieren. Darüber hinaus haftet das Freiheitskonzept der Aufklärung für den säkularisierten Verantwortungsbegriff, nach dem die freie Entscheidung die einzige Referenz für den moralischen Status einer Handlung bleibt. Damit ist die durch die Erbsünde korrumpierte menschliche Natur ausgeschlossen. Das Element der Vernunft gewährleistet, dass die Verantwortlichkeit nur durch einen Rationaldiskurs bewiesen werden kann. In gewissem Sinn bleibt die praktische Philosophie somit der Tradition verpflichtet, wodurch nicht impliziert wird, dass die Bedeutigkeit, mit welcher der Mensch lebt, mit Vernunft- und Subjektkonzepten erfasst werden kann. Diese Erfahrung spiegelt sich auf dem Gebiet der Phänomenologie in der Hervorhebung der Welt wider, in welcher der Mensch Mitmenschen und Dingen begegnet. Die provisorische Definition der Verantwortlichkeit als eine Bindung zwischen dem Handelnden und der Handlung setzt zwar die erwähnten traditionellen Kategorien voraus. Da aber das Rationalparadigma, in dem diese Kategorien entworfen wurden, seine Geltung verloren hat, bleibt diesen Kategorien nur noch ihre „technische" Funktion. Denn diese sind nicht mehr imstande, den Horizont zu beschreiben, in welchem dem Handelnden seine Handlungen als etwas Sinnvolles zugänglich wären - die Welt als ontologische Bestimmung des Menschen. An dieser Stelle soll aus folgenden Gründen an das Denken von M. Heidegger erinnert werden. Erstens geht sein philosophisches Konzept über das Vernunftparadigma hinaus - Heideggers Denken stellt einen radikalen Bruch mit der „Metaphysik" dar, weil er das überlieferte Denken nicht mit verschiedenen Korrektiven zu sanieren versucht, sondern alles auf den „anderen Anfang" legt. Der zweite Grund, der für die praktische Philosophie von besonders großer Tragweite ist, liegt darin, dass das „neue Denken" mit dem traditionellen nicht kollidiert, da es sich auf einer durchwegs anderen Ebene bewegt. Der Vorwurf Tugenhats, dass Heideggers Wahrheitsbegriff den spezifischen Sinn der Wahrheit verfehlte, weil er nicht das Richtige vom Falschen zu unterscheiden fähig war, ist bekannt. Es trifft zwar zu, dass Aletheia einen derartigen Maßstab nicht gewährleistet, aber Heidegger untersucht das Problem der Wahrheit gar nicht in diesem Sinne. Er beschäftigt sich nicht mit den Korrespondenz-, Konsens- und Kohärenztheorien der Wahrheit, sondern er fragt nach dem Wesen der Wahrheit. Dieses Wahrheitsverständnis bewegt sich nicht auf gleicher Ebene wie die erwähnten Theorien, konkurriert nicht mit diesen und versucht diese auch nicht aufzuheben. Dasselbe gilt auch für die Ethik. Wie S. Bacca betonte, ist auch Heideggers Kritik an der praktischen Philosophie nicht banale Gegnerschaft. Die ursprüngli- che Ethik steht mit den traditionellen Ethiken „in dem selben Verhältnis"6 wie sein alethiologischer Wahrheitsbegriff mit den traditionellen Theorien der Wahrheit. Dies bedeutet nicht, dass Heidegger die traditionelle Ethik verwirft, sonders „dass diese ihren Grund erst aus der ursprünglichen Ethik erhält." 7 Obwohl Heideggers Entwurf weit über das traditionelle Denken hinausgeht, folgt daraus nicht zwangsläufig die Verbannung jeglicher traditioneller Kategorien. Zugleich erschließt er aber den Horizont, in welchem eine Handlung für den Handelnden erst ihre Bedeutung erhält. Das ist die ontologische Einordnung des Mensches in die Welt. In Sein und Zeit betont Heidegger, dass das Da-sein Inder-Welt-sein bedeutet, was eine ursprünglichere Bestimmung des Menschen als das „Denken" oder das „Wollen" ist, die erst aus der Position des In-der-Welt-sein verstanden werden können. In den Schriften, die Sein und Zeit folgten, begegnet man dem Existential In-der-Welt-sein nicht mehr, das nun als Eingebundenheit des Menschen im vorgegebenen Bedeutungshorizont artikuliert wird. In diesem Zusammenhang kommt dem Phänomen der Offenheit besondere Bedeutung zu, die Heidegger als Freiheit bezeichnet, wobei diese klar vom klassischen Freiheitsbegriff (facultas elegendi) zu unterscheiden ist. Heidegger versteht die Freiheit als etwas, wodurch jede Erfahrung wie auch die (freie) Entscheidung erst ermöglicht werden, als den Ort, in welchem der Mensch ontologisch überhaupt irgendetwas begegnen kann, und zwar nicht als einen neutralen (naturwissenschaftlichen) Raum, sondern als lebendige Entschlossenheit. Nur weil sich der Mensch an diesem Ort befindet, kann er sich auch praktisch orientieren8 und seine Handlungen als die seinigen begreifen. Wie bereits erwähnt, behandelt dieser Artikel das Problem des Verantwortlichkeitstransfers im Zusammenhang mit der Humanitätsfrage, und wie bereits postuliert, stellt die individuelle Verantwortlichkeit ein notwendiges Element eines jeden Humanitätskonzepts dar. Selbstverständlich darf diese Konzeption nicht zum einzigen9 Inhalt erklärt werden, durch den die Humanität begründet wäre, da in diesem Fall einige Gruppen, z.B. Geisteskranke, ausgeschlossen wä- 6 Luis Santiesteban Baca, Die Ethik des „anderen Anfangs " — zu einer Problemstellung von Heideggers Zeitdenken, Ergon Verlag, Würzburg 2000, S. 226. 7 Ebd. 8 Dieses Sich-Orientieren reicht weit über das Erkenntnisvermögen des Subjekts und der Vernunft hinaus. Denn Stimmungen z.B. können einen viel reicheren Bedeutungshorizont erschließen als die zwischen dem Subjekt und dem Objekt gefangene Vernunft. (Siehe auch: Janko Lozar, Posluh za izročilo. Na poti k razpoloženju, Phainomena. XII/43—44, 2003, S. 151—174.) 9 Dieser Beitrag möchte nicht alle Fragen der Humanitätsfrage diskutieren, sondern es sollen nur die Beziehungen erarbeitet werden, die zwischen dem Verantwortlichkeitstransfer und der Humanitätsfrage bestehen. ren. Man könnte jedoch nur schwer verneinen, dass die Menschenwürde verletzt wird, wenn eine öffentliche Institution einem mündigen Menschen apriori seine Handlungen, für die er sich entschieden hat, aberkennen würde. Selbst im Fall, wenn ihm das zugute käme. Der Mensch bleibt, in gewissem Maß, das handelnde Subjekt: „Für die Rückkehr des Menschen zum eigenen Da-sein ist nicht (...) das Negieren seiner selbst als Subjekt notwendig, sondern nur die Distanzierung von der Absolutisierung des Subjekts."10 Nur das Beharren auf der freien und rationalen Subjektivität ermöglicht den Einstieg in den Horizont des verantwortlichen Handelns. Denn wenn dem nicht so wäre, würde der Mensch ein amoralisches Wesen bleiben, und zwar nicht jenseits, sondern vielmehr diesseits des Guten/Rechtmäßigen und Bösen/Rechtswidrigen - wie ein unmündiges Kind. Aus diesem Grund kann der Verantwortlichkeitstransfer, metaphorisch ausgedrückt, als ein Prozess der Infantilisierung, d.h. der Ver-Kindlichung, eines mündigen Menschen angesehen werden. Die Auflösung der Verantwortlichkeit des Einzelnen bedeutet nicht einen Abschied von der Verantwortlichkeit als solche, sondern nur die Übertragung dieser auf ein anderes Subjekt. Dem Prozess der Infantilisierung entspricht, auf anderer Seite, der Prozess der Paternalisierung: d.h. die Schaffung einer „elterlichen" Position, wohin die dem einzelnen Menschen genommene Verantwortung abgelegt wird. Diese Rolle ist dem „Staat" zugekommen. Der Staatsbegriff wird inkonsequent verwendet. Es handelt sich eher um eine unklare Erbschaft der (post)marxistischen Kritik an einer ungerechten Gesellschaftsordnung. Mit dem Ausdruck „der Staat" kann entweder eine konkrete (politische, wirtschaftliche etc.) Ordnung bezeichnet werden, der die Legitimität aberkannt wird, oder „der Staat" kann auch wortwörtlich verstanden werden, wenn die Kritik in der anarchistischen Radikalität wurzelt. Auf jeden Fall impliziert der Staatsbegriff aber einen defekten Modus des Soziallebens. Das Prädikat dieser Defektivität ermöglicht gemeinsam mit der soziologischen Lehre von der sozialen Bedingtheit des Mensches den behandelten Verantwortlichkeitstransfer: Da jeder Einzelne durch das Gesellschaftliche wesentlich determiniert ist, macht diese Defektivität zwangsläufig eine optimale Lebensführung unmöglich. Somit wird der „Staat" zu einer Entität, in der stets die Ursache für die moralische, rechtliche und soziale Pathologie des Individuums zu finden ist. 10 Tine Hribar, Pustiti biti — kriza evropskega nihilizma, Založba Obzorja, Maribor 1994, S. 28. Zu Beginn wurde der Verantwortlichkeitstransfer als eine der größten Herausforderungen für die zeitgenössische Humanitätsfrage bezeichnet. Obwohl man an dieser Stelle verschiedene postmoderne Autoren anführen könnte, die sowohl die Voraussetzungen als auch das Verantwortlichkeitskonzept selbst infrage stellen, fände man aber nur schwer eine derart radikale Auflösung der individuellen Verantwortlichkeit, wie man sie in den kürzlich gehaltenen öffentlichen Diskussionen über einige aktuelle Probleme findet. Deswegen ragen vor allem die Straf-und Sozialpolitik heraus. Erstere, weil sie das Sanktionieren der obersten ethischen Regeln (z.B. Mordverbot) betrifft, bei denen jegliche Relativisierung und folglich der Transfer der Verantwortlichkeit des Täters besonderes delikat ist. Die zweite indes deswegen, weil die Sozialpolitik angesichts der letzten Ereignisse zu einem Ort geworden ist, in dem der Verantwortlichkeitstransfer in radikalster Weise durchgeführt wird. iii. Zunächst zur Strafpolitik. Obwohl das Recht und die Moral als zwei voneinander getrennte Regelsysteme existieren, beinhaltet das Strafrecht die wichtigsten moralischen Regeln - wie z.B. das Mordverbot, das Verbot der Körperverletzung usw. Aus diesem Grund handelt es sich beim Sanktionieren von Vergehen gegen derartige Verbote unausweichlich (auch) um die Moral betreffende Phänomene. Obwohl davon ausgegangen werden kann, dass jeder Mensch zur Befolgung solcher Verbote imstande ist, weisen soziologische Studien darauf hin, dass die Kriminalität in gewissem Maß durch die sozialen Verhältnisse in der Gesellschaft bedingt wird. Diese Erkenntnis kann als willkommene Ergänzung zur staatlichen Strafpolitik auf Ebene der Prävention fungieren. Wird aber dieser empirische Ansatz zur einzigen Betrachtungsweise, führt dies unvermeidlich zum Verantwortlichkeitstransfer. Die Strafproblematik wird von der Ebene der freien Entscheidung auf die Ebene der sozialen Bedingtheit des Individuums verlagert - die Empirie ersetzt die Moral. Da eine Handlung eines Täters wesentlich durch die gesellschaftlichen Verhältnisse determiniert ist, ist er somit in erster Linie (passives) Opfer und nicht (aktiver) Täter. Dies bedeutet, dass der Täter eher ein missbrauchtes Werkzeug in den Händen einer kranken Gesellschaft denn ein Akteur einer Handlung ist, von der er weiß, das sie verboten ist, sie aber trotzdem begeht. Daraus folgt der Schluss, dass ein Täter resozialisiert statt bestraft werden soll. Die Sanktionen werden nicht mehr als Vergeltung, sondern als Erziehungs-, Aus-bildungs- und Besserungsmaßnahmen verstanden. Ziel dieser Maßnahmen ist es, auf den Täter derart einzuwirken, dass er imstande ist, die sozialen Regeln zu befolgen. Dahinter steht die stille Voraussetzung, dass der Handelnde als jemand 175 angesehen wird, der nicht fähig ist, die grundlegenden moralischen Normen zu respektieren. Diese unausgesprochene These steckt hinter der gefälligen These Hilfe statt Rache,11 Mitleid statt Hass. Angesichts der Humanitätsfrage meine ich, dass es unzulässig ist, die Handlungskompetenz des Einzelnen so zu schwächen, dass dieser nicht mehr imstande ist, die grundlegendsten moralischen Regeln zu respektieren.12 Indes ist es natürlich zulässig, dass infolge bestimmter physischer oder psychischer Umstände dem Täter nicht immer die Verantwortlichkeit zugeschrieben werden kann - was aber die Frage der Zurechnungsfähigkeit betrifft. Etwas ganz anderes indes ist, in das Konzept der strafrechtlichen Verantwortlichkeit das Element der Verantwortungsunfähigkeit einzubringen, auch wenn jemand von der ungerechten13 Gesellschaftsordnung zutiefst überzeugt ist. Das zweite Beispiel des Verantwortlichkeitstransfers kann auf dem Gebiet der Sozialpolitik gefunden werden. Vor zwei Jahren erschütterten Demonstrationen 11 Diese Alternative ist unangemessen. Schon Kant, der als theoretischer Urheber des retributivistischen Strafmodells gilt, machte in seiner Tugendlehre darauf aufmerksam, dass eine Strafe nie aus Hass verhängt werden darf. 12 Neben der Strittigkeit der Voraussetzung, dass der Handelnde nicht verantwortungsfähig ist, bleibt angesichts der Humanitätsfrage auch das Konzept der Sozialisation selbst fraglich. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, dass der Einzug des pragmatischen Arguments in das Gebiet der Strafpolitik vorteilhaft ist. Denn es steht in Aussicht, sich vom starren Beharren zu trennen, dass die Pflicht zur Bestrafung Sache der abstrakten Moral ist. Dabei wird aber vergessen, dass das Konzept der Resozialisierung ohne einen moralischen Referenzrahmen zahlreiche Schwierigkeiten in sich birgt. Denn ist der Hauptzweck die Resozialisierung, so gäbe es z.B. keinen Grund mehr, die grausamsten Verbrechen zu sanktionieren, wenn der Täter in der Zeit bis zu seiner späten Verhaftung ein tadelloses Leben geführt hat. Dem gegenüber ermöglicht dieses Konzept auch unverhältnismäßig schwere und ungerechte Strafen: Wären alle Maßnahmen auf die Prävention von Straftaten gerichtet und würde man der Resozialisierung geringe Erfolgschancen einräumen, so schienen auch für Bagatelldelikte extrem lange Freiheitsstrafen gerechtfertigt. Mehr noch, es bestünde auch kein Hinderungsgrund mehr dafür (im engeren Sinn dieses Konzepts), Präventivsanktionen zu verhängen, wenn z.B. eine Person Spuren asozialen Verhaltens und ein hohes kriminelles Potential aufweisen würde. Man sieht, dass eine Rhetorik, die auf der Auseinandersetzung mit der Vergeltungstheorie als bloße Rachelegitimation baut, nicht selbstredend milde Sanktionen und den Vergebungsgedanken impliziert. Es hat den Anschein, dass die moralische Dimension in der Strafpolitik unabdingbar bleibt. 13 Nach der marxistischen Kritik ist das Recht in seiner Gesamtheit (gemeinsam mit dem übrigen Überbau) ein Klassenprodukt, durch das auch seine Illegitimität und Ideologität begründet wird. Gegen diese These spricht die Erkenntnis, dass in allen Kulturen, seien sie noch so verschieden, etwas wie Strafrecht zu finden ist und sich auch die zu ahndenden Straftaten überraschend ähneln. So macht O. Höffe auf Folgendes aufmerksam: „Die heute üblichen Klassen der Delikte (Strafrechtnormen) finden wir aber so gut wie in allen Kulturen: Tötungsdelikte, Eigentumsdelikte, strafbare Handlungen gegen die Ehre, Sexualdelikte, Brandstiftung, Maß-, Gewicht-, und Geldfälschungen, Urkundefälschung (bzw. Grenzsteinversetzung)." (Otfried Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1999, S. 67.) in französischen Vorstädten ganz Europa. Das Ausmaß und die Dauer der Ausschreitungen können mit keinem anderen Ereignis im Nachkriegseuropa verglichen werden. Die Vorfälle lösten unverzüglich eine Reihe von Spekulationen unter der kritischen Öffentlichkeit aus, die dieses Phänomen zu beschreiben und zu erklären versuchte. Wahrscheinlich waren die Demonstrationsteilnehmer noch nie so radikal aus der Diskussion wie in diesen Erklärungsversuchen ausgeschlossen. Lässt man die populistischen und beleidigenden Äußerungen einiger Politikern bei Seite, kommt man zum Schluss, dass diese Diskussionen durchwegs im Verantwortlichkeitstransfer gefangen waren, wobei ausschließlich „der Staat" für die eskalierte Situation verantwortlich gemacht wurde. Die meisten Kritiker führten ein Staatskonzept ins Feld, nach dem der Staat nicht weniger als omnipotente Ursache für alle sozialen Phänomene fungiert, wobei die Diskussion mit diesem Standpunkt sowohl begann als auch endete. Lässt man zu, dass eine totalitäre Begründung ins Feld geführt wird, so beinhaltet diese somit ausreichend Deutungspotenzial, mit dem alles a priori erklärt werden kann. Dies hat zur Folge, dass keine anderen möglichen Ursachen des Ereignisses diskutiert werden können. Selbst bei einem wissenschaftlichen Symposium,14 das von der Abteilung für Soziologie an der Philosophischen Fakultät in Ljubljana organisiert wurde und an dem zahlreiche namhafte Soziologen teilnahmen, ließ die Diskussion keine anderen Gründe zu, nicht einmal auf Ebene der „Bedingungen der Möglichkeiten". Die staatliche Politik stellt mit Sicherheit einen überaus bedeutenden Faktor dar, der zur Lösung solcher Probleme beitragen kann. Dem Verständnis, die staatliche Politik als alleinigen Grund für alle sozialen Phänomene zu sehen, widersetzt sich jedoch der Grundgedanke der Demokratie als solchen - die Demokratie als eine Gesellschaftsordnung, die - auf welchem Gebiet auch immer -unvereinbar mit dem Konzept der totalitären Politik ist. Soll der Mensch als verantwortungsvolles und würdevolles Wesen betrachten werden, muss ihm eingeräumt werden, dass er sein Schicksal zumindest mitbestimmen kann. Deswegen ist es in diesem Fall unabdingbar, eine Reihe von Fragen zuzulassen, die auch die Teilnehmer der Demonstrationen betreffen -Fragen,15 durch die erörtern werden soll, in welchem Ausmaß die Teilnehmer zur eigenen Situation beigetragen haben. Es darf sogar vermutet werden, dass das staatliche Monopol über die Verantwortlichkeit zur Vertiefung und Verbreitung 14 Das Symposium wurde am 24. 11. 2005 an der Philosophischen Fakultät in Ljubljana abgehalten. 15 So könnte z.B. die Frage gestellt werden, ob sich die Demonstranten den Ausbildungsprozess im selben Umfang wie die übrigen Bürger zunutze gemacht haben. 178 der Krise beiträgt, da dieses Monopol ein gefährliches und sich schnell verbreitendes Denkinstrument bietet, das die Exculpation jeglicher Verantwortlichkeit ermöglicht. IV. Obwohl der Versuch der Aufhebung des Subjekts in allen seinen Aspekten als postmodern gilt, tragen derartige Versuche überraschenderweise auch einige vormoderne Züge, die sich am offensichtlichsten bei Handlungsproblemen zeigen. Man könnte sogar von einer Integration religiöser Elemente in die zeitgenössische politische Moral reden. Aufschlussreich ist z.B. die Abneigung gegen die Vergeltungstheorie, die durch die postmoderne Resozialisierungstheorie ersetzt wurde, was die Nähe zu den christlichen Werten der Vergebung und des Beistands dem Sünder verrät. Für den vorliegenden Beitrag ist aber die Hauptvoraussetzung für den Verantwortlichkeitstransfer von Interesse: die Unfähigkeit, sich grundlegenden moralischen Regeln zu unterwerfen. Dadurch wird die Vorstellung der Aufklärung von einem autonomen Menschen negiert und durch die (metaphorisch ausgedrückt) Lehre von einer von außen verdorbenen menschlichen Natur ersetzt. Wenn das Christentum auf der Verantwortlichkeit des Menschen beharrt, obwohl seine Entscheidungsfähigkeit eingeschränkt ist (A. Augustinus sagte, dass der Mensch nur noch die Freiheit für das Böse besitzt), so stellt der Verantwortlichkeitstransfer die Verantwortlichkeit selbst in Frage. Wird neben den Menschen eine alles bestimmende Entität (Gott oder „der Staat") eingeführt, wodurch der Mensch ohne Möglichkeiten für seine eigene Welt bleibt, so handelt es sich im praktisch-philosophischen Sinn um ein vormodernes Konzept. Man könnte auch von einem Transfer des Prädikats der Omni-potenz Gottes auf den Staat sprechen. Ein so geprägter Staatsbegriff schließt jede Bedeutungsautonomie der sozialen Phänomene aus und die Verantwortlichkeit eines derartigen Staates wird allumfassend, was bedeutet, dass kein moralisches Phänomen existiert, das außerhalb dieses Rahmens bestehen würde. Es handelt sich um eine interessante Perversion des Gedankens von Emanuel Levinas, und zwar des Gedankens über die absolute Verantwortlichkeit für den Anderen mit folgendem Unterschied: Die Erfahrung der Verantwortlichkeit verpflichtet nicht den Erfahrenden, sondern den Dritten, d.h. den Staat, der für den Bürger und auch für dessen Unverantwortlichkeit die absolute Verantwortung trägt. Dieser Staatsbegriff fungiert auf aitiologischer Ebene als einzige Ursache für alle sozialen Phänomene, auf Ebene der Moral aber als Deponie für jegliche Verantwortlichkeit des Individuums. Die Achtung der Humanität des Menschen ist demzufolge nur durch die Auseinandersetzung mit totalitären Elementen in der (politischen) Moral und durch die Rehabilitation der individuellen Verantwortlichkeit möglich. Denn der Mensch ist u.a. ein Wesen, das durchaus fähig ist, richtige und falsche Entscheidungen zu treffen. 179