Professional paper Strokovni članek DOI: 10.32022/PHI31.2022.120-121.4 UDC: 165.62:82-1 Martin Heidegger und Georg Trakl Die andere Zwiesprache zwischen Denken und Dichten Alfred Denker Archivo Heidegger de Sevilla, University of Seville, Faculty of Philosophy, C/ Camilo José Cela, s/n, 41018, Sevilla, Spain alfred.denker@yahoo.com Martin Heidegger and Georg Trakl. The Other Conversation between Thinking and Poetizing Abstract In the paper, I develop some thoughts on the relationship between thinking and poetizing on the basis of Heidegger's understanding of Georg Trakl's poetry. I attempt to appropriately illuminate Heidegger's interpretation in two steps: first through a Phainomena 31 | 120-121 | 2022 discussion of Iraki's poem "Ein Winterabend" ("A Winter Evening") and subsequently through a contemplation on Trakl's "Nachtgesang" ("nightly song"). The poet sings and the thinker can only contemplate upon his poetry. Of central importance are the question about the calling of the poet, whereby he calls being forth, and about the human mortality. Where can hope still be found in an era of the gods who have fled? Keywords: Heidegger, Trakl, poetry, contemplation, the essence of man, gods who have fled. Martin Heidegger in Georg Trakl. Drugi razgovor med mišljenjem in pesnjenjem Povzetek V članku na osnovi Heideggrove interpretacije pesništva Georga Trakla razgrnem nekaj misli o razmerju med mišljenjem in pesnjenjem. Heideggrovo tolmačenjem skušam primerno osvetliti v dveh korakih: najprej s pomočjo obravnave Traklove 80 pesmi »Ein Winterabend« (»Zimski večer«) in nato s pomočjo osmislitve njegovega »nočnega speva« (»Nachtgesang«). Pesnik poje in mislec lahko samo naknadno razmišlja o njegovem pesništvu. Osrednjega pomena sta vprašanji pesnikovega klicanja, s katerim priklicuje prikazovanje bivajočega, in človekove smrtnosti. Kje je še mogoče najti upanje v dobi pobeglih bogov? Ključne besede: Heidegger, Trakl, pesništvo, osmislitev, bistvo človeka, pobegli bogovi. Alfred Denker In diesem Aufsatz möchte ich einige Gedanken zum Verhältnis vom Dichten und Denken entfalten. Nach einigen einführenden Betrachtungen werde ich versuchen, die Zwiesprache zwischen Martin Heidegger und Georg Trakl zu erläutern. Im ersten Teil werde ich mich mit dem Gedicht „Ein Winterabend" von Trakl und Heideggers Gedanken zum Gedicht befassen. Der zweite Teil ist dem Nachtgesang von Trakl gewidmet. Martin Heidegger bringt in seinem schmalen Hüttenbuch Aus der Erfahrung des Denkens auf der linken Seite mit Winken, die alle mit „Wenn" anfangen, in die Stimmung, in welcher die auf der rechten Seite festgehalten Denkerfahrungen zum Ausdruck kommen.1 Dadurch eröffnet er nicht nur die räumliche, sondern auch die zeitliche Dimension seiner Heimat als Zeitspielraum. Auf Seite 85 finden wir einen für unser Thema bedeutungsvollen Wink. Heidegger beschreibt erst die Stimmung: „Wenn das Abendlicht, irgendwo im Wald einfallend, seine Stämme umgoldet..." Es ist Abend, weil das Abendlicht, der Mondschein im Wald einfallend, seine Stämme umgoldet. Wo fällt das Abendlicht ein? Irgendwo im Wald, d. h. in die Lichtung. Das Abendlicht scheint in die Lichtung im Wald und umgoldet seine Stämme. Es 81 ereignet sich die Unverborgenheit. Das Abendlicht, der Mondschein, kann nur im Winter in die Lichtung scheinen, deshalb muss Heidegger sich an einem Winterabend in dieser Stimmung befunden haben, anders gesagt, seine Befindlichkeit war so gestimmt, und in dieser Stimmung kamen die folgenden Gedanken zu ihm: Singen und Denken sind die nachbarlichen Stämme des Dichtens. Sie entwachsen dem Seyn und reichen in seine Wahrheit. Ihr Verhältnis gibt zu denken, was Hölderlin von den Bäumen des Waldes singt: 1 Vgl. Heidegger 1983, 75-86. Phainomena 31 | 120-121 | 2022 „Und unbekannt einander bleiben sich, solang sie stehn, die nachbarlichen Stämme." (Heidegger 1983, 85.) In einer Zeit, in der alle lebendigen Sprachen sich in einem ständigen Absterben befinden und der Bildgewalt der neuen Medien jedes Hören auf das Ungesprochene überschreit, scheint der Versuch einer Erörterung poetischer Sprache ein unzeitgemäßes und hoffnungsloses Unternehmen zu sein. Was könnte Dichtung uns, heutigen Menschen, noch sagen? Wie sinnvoll könnte es sein, sich denkerisch auf Dichtung einzulassen? Es gibt bestimmt wichtigere und lebensnähere Aufgaben zu lösen. Ökologische Katastrophe, Terrorismus, nuklearer Bewaffnungswettlauf, politische Radikalisierung sind doch die Themen, mit denen jeder ernsthafter Denker sich auseinandersetzen soll. Wozu Dichtung? Wozu Dichter? Wozu Denker? Die Antwort auf diese Fragen ist eine ganz einfache: Im Dichten und Denken findet die menschliche Freiheit - „Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes" (Schelling 1992, 79) - ihren vollkommensten Ausdruck. Im Dichten und Denken eröffnet sich erst 82 die menschliche Welt in ihrer ganzen Breite und Tiefe. Nur im Dichten und Denken kann das Wesen des Menschen gerettet werden. „Singen und Denken sind die nachbarlichen Stämme des Dichtens." Aber, woraus besteht ihre Nachbarschaft? „Sie entwachsen dem Seyn und reichen in seine Wahrheit." Das heißt: sie wurzeln im Seyn selbst, und nicht im Sein, wie es in der Metaphysik als Seiendheit interpretiert wurde. Nur weil sie im Seyn wurzeln, können sie in die Wahrheit des Seyns, das heißt in die Lichtung oder Unverborgenheit, reichen. Nur deshalb kann das Mondlicht in die Lichtung hineinscheinen und seine Stämme umgolden, die uns hier als alles Seiende zugewinkt werden. In den letzten beiden Zeilen bringt Heidegger seine Denkerfahrung, dass die beiden Bäume oder Stämme einander unbekannt bleiben, solange sie stehn. „Ihr Verhältnis gibt zu denken, was Hölderlin von den Bäumen des Waldes singt: // ,Und unbekannt einander bleiben sich, / solang sie stehn, die nachbarlichen Stämme.'" Wenn sie stehn bleiben, bleiben sie stumm und können nicht hören voneinander. Erst in der Zwiesprache zwischen Dichter und Denker können die beiden Stämme sich gegenseitig umgolden. Der Denker denkt und der Dichter singt - auch wenn sein Leben kurz ist und überschattet von Alkoholmissbrauch und Drogensucht. Georg Trakl Alfred Denker wurde am 3. Februar 1887 in Salzburg geboren. Am 2. November 1914 starb er durch Kokainvergiftung im Feldhospital in Krakau. Sein Lebenswerk ist nicht umfangreich - zeitlebens wurde nur ein schmaler Band mit Gedichten publiziert.2 Den zweiten Band Sebastian im Traum3 hat er noch zusammengestellt, aber der Band erschien erst 1915 posthum. Der Dichter singt. In seiner Dichtung entspricht er der Sprache. Der Dichter ist der Hörende. Er hört auf das ihm Zugesprochene und ruft es in seiner Dichtung hervor. Erst wenn das Seiende ins Wort gerufen wird, ist es und kann es sich dem Menschen in seiner Unverborgenheit zeigen. Das Sein des Seienden ist Sinn. Der Dichter stiftet Sinn und eröffnet so erst die sinnvolle Welt, in der der Mensch immer schon zuhause ist und die ihm immer wieder verloren geht. Dichtung ist nicht eine besondere Art des Sprechens - sie ist das Wesen der menschlichen Sprache. Unsere Alltagssprache ist eine arme, beschränkte, sich selbst überschreiende Sprache, die ihre Poesie verloren hat. Der Denker sinnt nach. Er hört auf das vom Dichter Gesungene und erschließt den Sinn. Der Dichter eröffnet die menschliche Welt in ihren 83 vielfältigen und undurchschaubaren Strukturen - der Denker sinnt diesen Strukturen nach und versucht das Wesen des Menschen zu bestimmen. Sowie jeder Denker nur einen einzigen Gedanken denkt, dichtet jeder Dichter nur aus einem einzigen Gedicht. Der Denker denkt seinen einzigen Gedanken, indem er diesen in einer Vielfalt von Arbeiten zum Ausdruck bringt; und dennoch bleibt dieser eine Gedanke unausgesprochen im Werk. Der einzige Gedanke ermöglicht das Werk, seine Gliederung und Systematik. Die eigentliche Zwiesprache mit dem Gedanken eines Denkers ist allein die denkende: das denkende Gespräch der Denker, das wir die Geschichte der Philosophie nennen. Der Dichter dichtet nur aus einem Gedicht, d. h. das Gedicht bleibt ungesprochen. Keine der einzelnen Dichtungen, auch nicht ihr Gesamt sagt alles. Das eigentliche Gedicht bleibt ungesprochen. Die dichtende Zwiesprache kann das dichterische Gespräch der Dichter sein. Trakl antwortet in seiner Dichtung auf Hölderlin, Rimbaud und andere Dichter. 2 Das Buch Gedichte erschien als Band 7/8 der Reihe Der jüngste Tag (Leipzig 1912). 3 Georg Trakl: Sebastian im Traum (Leipzig 1915). Phainomena 31 | 120-121 | 2022 Die Zwiesprache des Denkens mit dem Dichten ist notwendig, weil der Sinn von Sein nur in der Dichtung gesungen wird. Ohne die schon immer in der Dichtung erschlossene sinnvolle Welt würde es nicht zu denken geben. Da sie wie die Eule der Minerva erst in der einbrechenden Dämmerung ihren Flug anfängt, das heißt, wenn das Abendlicht, irgendwo im Wald einfallend, seine Stämme umgoldet, kann die Philosophie nur nachsinnen. Das Gespräch des Denkens mit dem Dichten ist gefährlich und es verlangt eine sorgfältige Zurückhaltung. All zu leicht kann das Denken das Singen des Gedichts stören und verstummen lassen. Denkend hören auf eine Dichtung ist nachdenklich werden, und nur in diesem besinnlichen Nachdenken kann das Denken das Wesen der Sprache hervorrufen, damit wir wieder erfahren, was es bedeutet, in der Sprache zu wohnen. Winterabend Zuerst werden wir den Dichter hören; und erst danach werden wir 84 Heideggers Erläuterungen zu diesem Gedicht nachzudenken versuchen. EIN WINTERABEND Wenn der Schnee ans Fenster fällt, Lang die Abendglocke läutet, Vielen ist der Tisch bereitet Und das Haus ist wohlbestellt. Mancher auf der Wanderschaft Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden. Golden blüht der Baum der Gnaden Aus der Erde kühlem Saft. Wanderer tritt still herein; Schmerz versteinerte die Schwelle. Da erglänzt in reiner Helle Auf dem Tische Brot und Wein.4 4 Zitiert nach Martin Heidegger: „Die Sprache" (1950), in: Heidegger 1959, 17. Alfred Denker Warum hat Heidegger gerade dieses Gedicht ausgewählt? Es gibt bestimmt poetisch bedeutendere Gedichte von Trakl. Aber ich glaube, dass gerade dieses „einfache" Gedicht Heidegger ermöglicht, seine Sprachphilosophie zu entfalten. Der zentrale Gedanke ist, dass die Sprache spricht. Die Sprache spricht, weil sie das Haus des Seins ist. Nicht Menschen haben die Sprache, sondern die Sprache spricht zu uns. Das Sein ist sinnvoll und spricht uns zu. Alles Seiende spricht in seinem Sein und deshalb können wir das Sein des Seienden verstehen. Trakls Gedicht nennt den Schnee, der am späten Nachmittag lautlos ans Fenster fällt. Lang läutet die Abendglocke. Das Nennen ruft in die Nähe. Aber es bringt es nicht leiblich näher. Wenn wir Trakls Gedicht lesen, fängt es nicht zu schneien an, und doch ruft es den Winterabend in die Nähe. Das Gedicht ruft das Genannte hervor in die Anwesenheit und zugleich in die Abwesenheit. Es ist heute ein Sommertag und kein Winterabend. Der Schnee und die Glocke sind anwesend im Ruf des Nennens. Die erste Strophe ruft die Dinge und bittet sie zu kommen. Sie ruft den Schnee - er bringt uns unter den Himmel. Die läutende Abendglocke bringt uns als Sterbliche vor die Göttlichen. Das Haus ist wohlbestellt und der Tisch gerichtet. Die erste 85 Strophe heißt die Welt kommen. Sie eröffnet die Welt als Geviert: Erde und Himmel, Sterbliche und Göttliche. Entscheidend ist der zweite Vers der dritten Strophe: „Schmerz versteinerte die Schwelle." Die Schwelle ist der Grundbalken, der das Tor im Ganzen hält und damit auch den Unter-Schied trägt. Der Unter-Schied zwischen innen und außen. Aber warum Schmerz? Was ist Schmerz? Der Schmerz reißt. Er ist der Riß. Schmerz ist der Streit zwischen Ding und Welt. Der Riß ist der Unterschied zwischen dem Geviert und der Welt und die Identität von beiden. Ohne Geviert gibt es keine Welt, aber ohne Welt gibt es keinen Platz für das Geviert. Der dritte und vierte Vers: „Da erglänzt in reiner Helle / Auf dem Tische Brot und Wein", heißen die Welt und die Dinge kommen. Dieses Heißen ist das Sprechen des Gedichtes. Der Unter-Schied stillt die Dinge in die Welt, aber das ist nur möglich, wenn dieses Stillen zugleich das Aufstellen einer Welt ist. Brot und Wein rufen Erde und Himmel, und auf dem Tisch des letzten Abendmahls zugleich die Sterblichen und die Göttlichen. Sprache spricht in der Dichtung als das Geläut der Stille. Phainomena 31 | 120-121 | 2022 Nachtgesang Eine von Trakls Dichtungen, „Die Nacht der Armen", sagt: „Es dämmert!"5 Der Dichter ruft die Nacht in eine Nähe her. Er heißt sie kommen. Sein Singen bringt uns die Nacht näher, ohne sie der Ferne zu entreißen. Die Anwesenheit, in die der Dichter die Nacht ruft, ist nicht die der Gegenwart. Es wird nicht hier und jetzt Nacht. Die Anwesenheit des Gerufenen ist eine andere und wesentlich tiefere. Des Dichters Rufen sagt uns erst, was die Nacht ist. „Es dämmert!" Die Strophe, in die dieser Satz gehört, fährt fort: Und dumpf o hämmert Die Nacht an unsre Tür! Es flüstert ein Kind: Wie zittert ihr So sehr! Doch tiefer neigen Wir Armen uns und schweigen 86 Und schweigen, als wären wir nicht mehr! (Trakl 1969, 260.) „Dumpf hämmert die Nacht an unsre Tür." Die Dämmerung kündigt das Kommen der Nacht an. Und die Nacht ist die Zeit der Finsternis. Die Nacht kann schrecklich sein, weil sie uns blind macht und in ihr alles Seiende in das Nichts versinkt. Die Angst überfällt uns und lässt uns zitternd zurück. Sie ist eine Grundbefindlichkeit der menschlichen Existenz und erschließt das Leben des Menschen in seiner Unheimlichkeit. In der Angst befindet der Mensch sich im Nichts und Nirgendwo. Sein In-der-Welt-sein als solches und sein Mit-Anderen-sein verschwinden in der Angst, so dass er in seiner Vereinzelung mit der Endlichkeit seiner eigenen Existenz konfrontiert wird. Der Mensch wird sterblich und weiß vom Tode. In der Angst wird alles finster und verstummt jedes Sprechen. Das Kind flüstert, weil es in seiner Unschuld noch keine Angst kennt. Aber die Dämmerung kommt wieder, weil auch die längste Nacht vorübergeht. Der Morgen dämmert am Ende der Nacht und mit ihm geht der Tag wieder auf. 5 Die Gedichte Trakls zitiere ich nach der historisch-kritischen Ausgabe der Dichtungen und Briefe (vgl. Trakl 1969). Alfred Denker Trakls Dichtungen leben von der Mehrdeutigkeit der Sprache. Seine Sätze sind keine Aussagen. Sie rufen das Seiende in die Unverborgenheit. Die Nacht ist schrecklich, aber dies bedeutet nicht, dass sie reine Finsternis ist, da sie auch besinnlich macht. Die Mystik weiß von der Urgewalt der Nacht. Erst wenn alles Sinnliche in der Nacht verschwindet, werden die unsinnlichen Dinge sichtbar und nähert sich Gott dem Menschen. Die Nacht gehört zum Tag, sowie der Tod zum Leben. Die erste Strophe einer Dichtung, die „Nachtlied" überschrieben ist, singt: [...] Ein Tiergesicht Erstarrt vor Bläue, ihrer Heiligkeit. Gewaltig ist das Schweigen im Stein; (Trakl 1969, 68.) Welches Tiergesicht könnte hier gemeint sein? Es erstarrt vor der Heiligkeit der Bläue. In der Erstarrung sammelt sich das Gesicht des Tieres. Dieses Tier hält sich an sich, um in seinem gewaltigen Schweigen das Heilige anzuschauen. Die dritte Strophe gibt uns einen weiteren Wink: 87 O! ihr stillen Spiegel der Wahrheit. An des Einsamen elfenbeinerner Schläfe Erscheint der Abglanz gefallener Engel. (Ibid.) Im Spiegel der Wahrheit schaut dieses Tier das Heilige an. Die Tierheit dieses Tieres ist unbestimmt und schwankend. Es ist das noch nicht festgestellte Tier: der Mensch als animal rationale. Der Abglanz gefallener Engel erinnert uns an das verlorene Paradies und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Das Schweigen ist gewaltig im Stein - der Stein ist das Gebirge des Schmerzes. Der Mensch ist in dem Moment, als er die Bläue der göttlichen Heiligkeit anschaute, sterblich geworden. Das Leben ist schmerzhaft. Eine andere Dichtung des gleichen Titels, „Nachtlied" sagt: Phainomena 31 | 120-121 | 2022 Triff mich Schmerz! Die Wunde glüht. Dieser Qual hab' ich nicht acht! Sieh aus meinen Wunden blüht Rätselvoll ein Stern zur Nacht! Triff mich Tod! Ich bin vollbracht. (Trakl 1969, 261.) 88 Der Schmerz der Endlichkeit wird vom Dichter besungen. Dieser Schmerz ist eine glühende Wunde. Er gibt dieser Qual der Endlichkeit nicht Acht, weil er sterblich geworden ist. Der Mensch ist der Sterbliche. Sterblich sein heißt: vom Tode getroffen werden, und dadurch von ihm wissen. Und aus diesem schmerzlichen Wissen blüht rätselvoll ein Stern zur Nacht. Welcher Stern dieser ist, werden wir später erfahren. Wenn der Tod zum Leben gehört, dann geht mit dem Tod das Leben nicht zu Ende. Aber die Nacht bringt nicht nur den Tod näher. Ihr Dunkel ist auch das Dunkel der Lust und der Erotik. Das Leben geht aus der Nacht und dem Dunkel hervor. Die blaue Nacht ist sanft auf unsren Stirnen aufgegangen. Leise berühren sich unsre verwesten Hände Süße Braut! (Trakl 1969, 313.) Blau ist die Nacht, weil sie die Heilige Nacht der Hochzeit ist. Der Dichter singt von der süßen Braut. Die Hände sind verwest; die Hochzeit bedeutet ja das Ende der Kindheit. Die Nacht ist die Zeit „der dunklen Spiele der Wollust" (Trakl 1969, 160). In einer anderen Dichtung „Nachts" heißt es: Die Bläue meiner Augen ist erloschen in dieser Nacht, Das rote Gold meines Herzens. O! wie stille brannte das Licht. Dein blauer Mantel umfing den Sinkenden; Dein roter Mund besiegelte des Freundes Umnachtung. (Trakl 1969, 96.) Das rote Gold und „Dein" roter Mund; die still brennende Liebe - rot ist die Farbe des Blutes, der Liebe, des Lebens. Der Dichter singt: „Die Nacht": Alfred Denker Dich sing ich wilde Zerklüftung, Im Nachtsturm Aufgetürmtes Gebirge; Ihr grauen Türme Überfließend von höllischen Fratzen, Feurigem Getier, Rauhen Farnen, Fichten, Kristallnen Blumen. Unendliche Qual, Daß Du Gott erjagtest Sanfter Geist, Aufseufzend im Wassersturz, In wogenden Föhren. (Trakl 1969, 160.) In dieser Dichtung singt Trakl „Dich", die wilde Zerklüftung. Die wilde Zerklüftung ist der sanfte Geist, der Gott erjagt. Mit der Sterblichkeit des Menschen bricht das Seiende im Ganzen auseinander. Das Sinnliche und das Übersinnliche, das Endliche und das Unendliche, Mensch und Natur, Mensch und Gott; überall ist nur noch Zerklüftung. Aber die Zerklüftung ist auch die Lichtung, in der das Seiende in die Unverborgenheit gerufen werden kann. Unendlich ist die Qual der Erbsünde. In der zweiten Strophe singt der Dichter: Golden lodern die Feuer Der Völker rings. Über schwärzliche Klippen Stürzt todestrunken Die erglühende Windsbraut, Die blaue Woge Des Gletschers Und es dröhnt Gewaltig die Glocke im Tal: Flammen, Flüche Und die dunklen Spiele der Wollust, Stürmt den Himmel Ein versteinertes Haupt. (Ibid.) 89 Phainomena 31 | 120-121 | 2022 Ein versteinertes Haupt - das Haupt des nicht festgestellten Tieres -stürmt den Himmel und erjagt Gott. Der Dichter singt hier von der Nacht der entflohenen Götter. Es ist die Zeit des vollendeten Nihilismus, die er in den Schrecken des ersten Weltkrieges erfahren und die ihm das Leben geraubt hat. Gottesfinsternis ist auch die unendliche Qual. Ohne die Göttlichen kann es keine Sterblichen geben, und ohne Sterblichkeit geht dem Menschen sein Wesen verloren. In einem anderen Nachtgesang sammeln sich die Todesmotive. Die Dichtung ist überschrieben „Sommer": Am Abend schweigt die Klage Des Kuckucks im Wald. Tiefer neigt sich das Korn, Der rote Mohn. Schwarzes Gewitter droht Über dem Hügel. Das alte Lied der Grille 90 Erstirbt im Feld. Nimmer regt sich das Laub Der Kastanie. Auf der Wendeltreppe Rauscht dein Kleid. Stille leuchtet die Kerze Im dunklen Zimmer; Eine silberne Hand Löschte sie aus; Windstille, sternlose Nacht. (Trakl 1969, 136.) Die Nacht ist windstill, sternlos, finster und bedrohend. Das Gedicht scheint klar zu sein. Der Dichter singt vom Sommer, und dennoch gibt es kein Licht. Schwarzes Gewitter droht. Alles wird still und lautlos. Das Laub der Kastanie regt sich nicht mehr. Die Klage des Kuckucks verstummt. Trakl erwähnt den Wind nicht. Aber wir fühlen seine Nähe im Neigen des Kornes, das den Mohn herunterdrückt. Es herrscht eine unerträgliche Spannung. Aber im Hause auf Alfred Denker der Wendeltreppe rauscht „Dein" Kleid. Es ist das Kleid einer Frau, der süßen Braut. Die letzte Strophe scheint ganz klar zu sein. Eine silberne Hand löscht eine Kerze aus. Aber wenn wir genauer hören, verschwindet die Selbstverständlichkeit. Draußen auf dunklen Pfaden wanderten wir - aber jetzt sind wir heimgekommen. Das drohende Gewitter ist ausgeschlossen und das Geräusch des Kleides unserer Geliebten heißt uns willkommen. Es wird todesstill. Es ist nicht ganz dunkel und finster, denn stille leuchtet eine Kerze. Kann Stille aber scheinen? Ist es nicht das Licht der Kerze, das scheint? Aber die Kerze scheint im dunklen Zimmer. Die Kerze beleuchtet den Raum nicht mehr. Sie wurde erlöscht von einer silbernen Hand. Es ist eine windstille, sternlose Nacht. Dieser Satz verstärkt die Dunkelheit des Zimmers. Eine silberne Hand, wem gehört sie? Und könnte die Kerze die Seele unserer Geliebten sein? War das Rauschen des Kleides das Lauten ihrer Todesglocken? Ist es die silberne Hand, die Hand des Sensenmannes, der das Leben raubt und das Licht der Kerzen mit der sanftesten Berührung erlischt? Diese sollen alle offenen Fragen bleiben. Der Dichter singt und der Denker 91 kann seinen Dichtungen nur nachsinnen. Der Schlusszeile der Dichtung „Psalm" soll uns Hoffnung geben. Die Last der Sterblichkeit ist unerträglich ohne Hoffnung auf Erlösung. Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen. (Trakl 1969, 56.) Die Schädelstätte ist die Zeit der entflohenen Götter. Die goldenen Augen des kommenden Gottes öffnen sich schweigsam, weil Er vom Dichter noch nicht in die Nähe gerufen wurde. Wie Hölderlin, konnte auch Trakl nur sein Kommen vorbereiten. Bibliography | Bibliografija Heidegger, Martin. 1959. Unterwegs zur Sprache. Pfullingen: Neske. ---. 1983. Aus der Erfahrung des Denkens (GA 13). Hrsg. von Hermann Heidegger. Frankfurt am Main: Verlag Vittorio Klostermann. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph. 1992. Urfassung der Philosophie der Offenbarung: Teilband 1. Hrsg. von Walter E. Ehrhardt. Hamburg: Felix Meiner. Phainomena 31 | 120-121 | 2022 Trakl, Georg. 1912. Gedichte (= Der jüngste Tag, Bd. 7/8). Leipzig: Kurt Wolff Verlag. ---. 1915. Sebastian im Traum. Leipzig: Kurt Wolff Verlag. ---. 1969. Dichtungen und Briefe. Band 1. Herausgegeben von Walther Killy und Hans Szklenar. Salzburg: Otto Müller Verlag. 92