99 Albrecht Greule *33 UDK 811.112.2'367-112(038) Universität Regensburg DOI: 10.4312/linguistica.59.1.99-115 SATZBAUPLÄNE, VALENZWANDEL UND DAS HISTORISCH SYNTAKTISCHE VERBWÖRTERBUCH AM BEISPIEL DES VERBS ACHTEN 1 VALENZWANDEL UND SATZBAUPLÄNE “Die Valenzeigenschaften des Verbs – insbesondere die Aktanten-Rollen (z. B. Agens, Patiens, Instrument) – und die damit verbundenen Szenen/Stereotype spie- len für die historische Semantik der Verben eine wichtige Rolle“ (Fritz 1998: 122). Die von Gerd Fritz zitierten Fallbeispiele von „Valenzwandel“ betreffen Änderun- gen in der Konstellation der Aktanten und Änderungen bei der metaphorischen Ver- wendung der Verben. Im Unterschied dazu lenkt Jarmo Korhonen (2006) unter dem Stichwort „Valenzwandel“ den Blick auf die morphologischen Veränderungen der Verbumgebung im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte. Er verfolgt die Verände- rungen der Ergänzungsklassen im Einzelnen und stellt am Beispiel des Verbs achten fest, dass dessen frnhd. Polyvalenz (Akkusativ-, Genetiv-, Präpositionalobjekt) im Nhd. funktional vereinfacht wird: Semem 1 ‚jmdm., einer Sache Aufmerksamkeit schenken‘ mit Präpositionalobjekt+auf versus Semem 2 ‚jmdn., etw. hochschätzen‘ mit Akkusativobjekt (Korhonen 2006: 1470). Die – in der nhd. Syntax eine zentrale Stellung einnehmenden – Satzbaupläne (SBP) (vgl. Duden-Grammatik 9 2016, §1169–1172, 1186, 1444–1513) spielen da- bei ebenso wenig eine Rolle wie die Konstellationen der Tiefenkasus, die (Tiefen-) Kasusrahmen (TKR) (vgl. Eroms 2000: 178–183). Nach Hans-Werner Eroms bilden Verb und Aktanten (Komplemente) „spezifische Konfigurationen“, mit denen pro- positionale Inhalte kompakt ausgedrückt werden und die aus dem mentalen Lexi- kon abgerufen werden können (Eroms 2000: 315). Diesem wichtigen Faktum der Verb-Syntax sind für die Gegenwartssprache Valenzlexika (Helbig/Schenkel 1973, E-Valbu), die einer Auswahl wichtiger deutscher Verben jeweils die SBP zuordnen, beigesellt. Auf die semantischen Rollen, die Kasusrahmen, geht nur das nach Wort- feldern geordnete Wörterbuch der Valenz und Distribution etymologisch verwandter Wörter (Sommerfeldt/Schreiber 1996) ein. Wenn sich Einführungen in die Historische Sprachwissenschaft und entsprechende Handbücher überhaupt mit dem Valenzwandel im Rahmen der Verb-Aktanten-Kons- tellation (kurz: V AK) befassen, dann fast ausschließlich mit dem Rückgang des Geni- tivobjekts und seiner Ersetzung z. B. durch Präpositionalgruppen (vgl. Korhonen 2000: 1472; zuletzt Schmid 2017: 185–201, wo der morphologische Valenzwandel sowohl * Albrecht.Greule@sprachlit.uni-regensburg.de Linguistica_2019_FINAL.indd 99 9.10.2019 8:58:47 100 bei den Ergänzungen als auch bei den (freien) Angaben anhand konkreter Einfach- satz-Beispiele aus den historischen Texten dargestellt wird). Einen Überblick über die auf jeder historischen Sprachstufe feststellbaren V AK (SBP und TKR) gibt es ebenso wenig wie einen Überblick über die Entwicklung der Satzbaupläne oder gar eine Ty- pologie des Valenzwandels, was ursächlich damit zu tun hat, dass kein – dem Nhd. vergleichbares – historisch syntaktisches Verbwörterbuch des Deutschen (HSVW, vgl. Greule/Korhonen 2016) existiert. 2 SATZBAUPLÄNE UND HISTORISCHE WÖRTERBÜCHER ONLINE Um einer Darstellung des Valenzwandels im Rahmen einer historischen Syntax des Deutschen gerecht zu werden, müssen die Verb-Aktanten-Konstellationen für jede Sprachstufe herausgearbeitet und typologisiert werden. Am einfachsten wäre dies zu bewerkstelligen, wenn die Satzbaupläne aus vorhandenen Verbvalenzwörterbüchern des Althochdeutschen (Ahd.), Mittelhochdeutschen (Mhd.) und Frühneuhochdeut- schen (Frnhd.) extrahiert und wie in der Duden-Grammatik ( 9 2016, §1444–1513) dargestellt werden könnten. Da aber bislang außer zum Deutschen des 9. Jahrhun- derts (Greule 1999) keine historischen Valenzwörterbücher existieren, bietet sich eine Vorgehensweise an, die von je einem nhd. Verb ausgehend – unter Wahrung der formalen Identität – dessen Belegung auf den historischen Sprachstufen verfolgt, die Satzbaupläne aus den Belegstellen extrahiert und letztendlich zu einem Historisch syntaktischen Verbwörterbuch (HSVW) führt. Die Methode wird dadurch erleichtert, dass die maßgeblichen historischen Wörterbücher teils digital verfügbar sind: Ahd. Wörterbuch, Mhd. Wörterbuch, Frnhd. Wörterbuch, Goethe-Wörterbuch (Älteres Nhd., änhd.) und Deutsches Wörterbuch der Brüder Grimm (zur Quellenproblema- tik vgl. Prinz 2016: 24–35). Zudem bieten diese Wörterbücher eine Gliederung des Verbbestandes nach Sememen, liefern zum Teil und versteckt morpho- und seman- to-syntaktische Informationen und belegen das Verbvorkommen mit ganzen Sätzen aus den Originaltexten. Wie aus den digitalisierten (historischen) Wörterbüchern die Sememe zum Verb nhd. achten und zu seinen historischen Entsprechungen (ahd. ahtôn, mhd. ahten) ex- zerpiert werden, soll im Folgenden ausgeführt werden. Auf der Grundlage der Beleg- sätze werden für jedes im Wörterbuch angegebene Semem die Kasusrahmen (TKR), die Satzbaupläne (SBP) und jeweils ein aussagekräftiger Beispielsatz (in dem die Ak- tanten fett ausgezeichnet sind) aufgeführt und nummeriert. Die Aktanten werden nach der Morphologie ihrer Hauptvertreter durch eine Sigle markiert (NG = Nominalgruppe, NS = Nebensatz, PräpG = Präpositionalgruppe, IK = Infinitivkonstruktion) und durch Kasus (nom, gen, dat, akk), Präpositionen oder Konjunktionen indiziert (s. tabellari- sche Übersicht im Anhang). Mit der Exzerption und syntaktisch-semantischen Interpretation der in den histo- rischen Wörterbüchern gelisteten Belegsätze (ausführlich dazu Burghardt/Reimann 2016: 309–313) verfügen wir über eine Übersicht über die dem Verb achten auf den Sprachstufen Ahd., Mhd., Frnhd. und Änhd. jeweils zugeordneten Sememe, Satzbau- pläne und Tiefenkasusrahmen. Sie können einerseits in den Wörterbuchartikel mit Linguistica_2019_FINAL.indd 100 9.10.2019 8:58:47 101 dem Lemma achten übergeführt werden (s. u. 3), andererseits werden sie im Satzbau- plan-Inventar jeder einzelnen Sprachstufe verbucht. 3 ZUSAMMENFASSENDE DARSTELLUNG IN EINEM LEXIKONARTI- KEL: SEMEME, KASUSRAHMEN, SATZBAUPLÄNE I. Etymologie: Ahd. ahtôn, mhd. ahten, frnhd. achten. Denominale Ableitung von ahd. ahta ‚Überlegung, Meinung, Wertschätzung‘, westgerm. *ahtō f. ‚Beachtung‘. II. Ahd. Den vier Sememen unter ahtôn sind folgende SBP/TKR zugeordnet: Semem 1 ‚nachdenken, sich in Gedanken mit etw. beschäftigen, in seinen Ge- danken hin- und herbewegen‘ TKR: Agens (Mensch) – Objekt/Inhalt [+ Ort: in herzen, in muote] SBP: NGnom – NGakk / NSthaz / PräpGan/in / NSw- Beispiele: Maria uuarlihho gihielt allu thisu uuort ahtonti in ira herzen conferens in corde suo T 6,6. – joh giangun (die drei Frauen am Ostermorgen) ahtonti, thaz we- san thaz ni mohti, thaz sie thes steines burdin fon themo grabe irwullin O 5, 4,15. - an dinen rehten ahto ih in iustificationibus tuis meditabor 118 B, 16 (Np hogezo) Semem 2 ‚acht haben auf etw., seine Aufmerksamkeit auf etw. richten, etw. beachten‘ TKR: Agens (Mensch) – Objekt/Inhalt SBP: NGnom – NGakk / NGgen(+NSthaz) / NSw- / NSthaz Beispiele: sie ahtotun thia guati joh sine gomaheiti O 1,27,3. – joh ir ouh wiht thes ni ahtot ... thaz baz ist, man biwerbe, thaz ein man bi unsih sterbe O 3,25,24. - tho ah- totun thie liuti, wio er nan (Lazarus) minnoti, tho sie ... thie zahari gisahun O 3,24,71. Semem 3 ‚wertend beurteilen, durch Abwägen des Für und Wider den Wert von jmdm. oder etw. bestimmen‘ TKR: Agens (Mensch) – Patiens – (Prädikativ) SBP: NGnom – NGakk – (AdjGakk / PräpGze/obe/furi / KonjGalsô / NGgen) Beispiele: ter sine frehte (Verdienste) nieht neahtot after liumende . nube after ge- uuizenero uuarheite qui non metitur bonum suum populari rumore Nb 158,8 [169,22]. – er ahtot sia ... tia uuirsestun iudicat esse miserrimam Nb 295,23 [320,14]. – ioman . der daz ting anderes ahtot . tanne iz si aliquis existimet . quid aliorsum . atque se ha- beat res Nb 318,27 [348,9] - ter uuise man ... ahtot temporalia fure nieht Nb 255,27 [276,10]. – (Passiv): daz uuir geahtote birn also scaffine frunscinga aestimati sumus ut oves occisionis NpNpw 43,22. Linguistica_2019_FINAL.indd 101 9.10.2019 8:58:47 102 Semem 3a ‚zu etw. rechnen‘ SPB: NGnom – NGakk – PräpG in Beispiel: der sina sela neahtot in bosheite. nube in euuigheite qui non accepit in vano animam suam NpNpw 23,4. Semem 3b ‚jmdm. anrechnen als‘ SBP: NGnom – NGdat – NGakk – PräpGze Beispiel: (Passiv): vnde daz uuard imo geahtot ze rehte reputatum est ei in iustiti- am Np 105,31 (Npw pezalt). Semem 4 ‚glauben, annehmen; meinen, überzeugt sein‘ TKR: Agens(Mensch) – Inhalt SBP: NGnom –NSthaz / Inf(+akk) Beispiele: thie liuti datun mari, thaz Johannes Krist wari, joh warun ahtonti, theiz wola wesan mohti O 1,27,2. - die ... got ahtont uuesen iniustum (unrehtin) Np 91,6. III. Mhd. Den (elf) Sememen unter ahten sind folgende SBP/TKR zugeordnet: Semem 1 ‘jmdn./etw. prüfend, abwägend, überlegend betrachten; über etw. nachdenken, etw. überlegen, beraten‘) TKR: Agens (Mensch) – Adressat/Objekt SBP: NGnom – NGakk Beispiel: froe, din ere vnde din gemah / wellen wir mit dir ahten. / nv solt dv reine betrahten, / waz gotes wille daran si Wernh D 2043 [Semem 2 = geahten s. u.] Semem 3 ‘seine Aufmerksamkeit auf etw./jmdn. richten, jmdm./etw. Beachtung schenken‘; meist negiert ‘nicht beachten, nichts geben auf, sich nicht kümmern um‘ TKR: Agens (Mensch) – Adressat/Objekt SBP: NGnom – NGgen/ PräpGûf/umbe /AdvG / NSob/wie Beispiele: wan si [ schœne frowen ] sich so wîblîch schament, / sô ir achtent jun- ge man SM:Had 21: 2,6. – ahten ûf die heide, / wie si von ir kleide / hât gescheiden sich! SM:JvW 2: 1,1. 4:4,1. – die namen ich ze handen nam / Tantris unde Tristan [...] nu bedûhte mich an in zwein, / si hæten eteswaz in ein. / dâ nâch begunde ich trahten / und anclîchen ahten Tr 10608. – so sol man gemain levt dar zvͦ furen, die achten / ob meiner herren wein [...] wol verrichtet sei UrkCorp 1436,24. – sie en achten noch enruchten, / wie ez in erginge Herb 5694. Linguistica_2019_FINAL.indd 102 9.10.2019 8:58:47 103 Semem 4 ‘sich kümmern um, sorgen für‘ TKR: Agens (Mensch) – Adressat SBP: NGnom – PräpGumbe / NSdaz (vgl. Semem 3) Beispiele: ahtet selbe umb die ûzvart Iw 6181. – man sal daz ouch ahten, daz ein priester unde ein schûlere alle sunnetage sprechen daz ambeht von dem tage StatDtOrd 69,25. 87,25. Semem 5 ‚auf etw. sinnen, nach etw. trachten‘ (nur ein Beleg!) TKR: Agens (Mensch) – Inhalt SBP: NGnom – NGgen Belegsatz: man gicht, wes ich achte an ir [worauf ich es bei ihr abgesehen habe] : / sî sî mir doch gar ze hêre SM:Had 11: 4,1. Semem 6 ‘jmdn. (sich)/ etw. ansehen als, halten/erachten für, zählen zu, be- urteilen als‘ TKR: Agens (Mensch) – Patiens – Prädikativ SBP: NGnom – NGakk – AdjG / KonjG(als) / PräpGvür Beispiele: Alemani di bosen / achtent sich uil biderbe Rol 8109. – etslîcher grôze wunden / ahte als einer brâmen kraz Wh 449,15. 335,8. – daz enaht ich niht vür wunder Wh 339,23; BdN 489,21. 357,20. Semem 7 ‘jmdm. etw. als etw. anrechnen‘ (nur ein Beleg!) TKR: Agens (Mensch) – Adressat (Mensch) – Prädikativ – Inhalt SBP: NGnom – NGdat – PräpGze – NS Belegsatz: si beschirment auch irn künig gar vleizicleich und achtent inz zuo ainr frümchait, ob si umb iren küng sterbent BdN 290,33. Semem 8 ‘etw. (der Zahl nach) schätzen, in seinem Wert veranschlagen, berechnen‘ TKR: Agens (Mensch) – Patiens – Quantität NGnom – (NGakk) – PräpGze/ane/vür/ûf / NSwieviel Beispiele: ze zehen tûsint mahti man si ahten VAlex 1214. – er hiez ahten und reiten, / wie vil er schaden het genomen Ottok 50226. Semem 9 ‚meinen, der Ansicht sein, dass‘ TKR: Agens (Mensch) – Inhalt SBP: NGnom – NSdaz Linguistica_2019_FINAL.indd 103 9.10.2019 8:58:47 104 Beispiel: in der vuͦge [...] alse biderbe lúte achtent, daz es gelimphlich si UrkCorp N154,5. Semem 10 ‚(rechtsverbindlich) festsetzen, bestimmen, dass‘ TKR: Agens (Mensch) – Inhalt SBP: NGnom – NSdaz Beispiel: von erste wellen wir vnd ahten daz des selgeretes vnd gescheftes pfleger vnd vollaister sin vnser bvle grave Cvnrat von Abenberk vnser liebev tohter Anne von Nassav UrkCorp 3368,5. Semem 11 ‚jmdm. etw./jmdn. zuweisen, etw. zuerkennen, vermachen‘ TKR: Agens (Mensch/Gott) – Adressat (Mensch) – Patiens SBP: NGnom – NGdat – NGakk Beispiel: daz got geahtet hat im [dem Menschen] die tugent oder die craft dez wirkennes ThvASu 338,21. Nicht berücksichtigt: Feste Wendung ez achtet mich ringe ‚es kümmert mich nicht/ wenig‘ Nicht berücksichtigt g(e)ahten ‚ausdenken‘, gahten ‚aufpassen‘. IV. Frnhd. Unter 1 achten werden 12 Sememe registriert, von denen Semem 6 als Ge- richtsterminus außer Acht gelassen wird; den 11 Sememen sind folgende SBP/TKR zugeordnet: Semem 1 ‚etwas bemerken, sinnlich wahrnehmen; etwas feststellen‘ TKR: Zustandsträger (Mensch) – Objekt SBP: NGnom – NGgen / NSdaz Beispiele: (Vetter, Pred. Taulers 45, 23) (els., 14. Jh.): daz sú irs růffes nút hortent noch enachtent. – (Morgan u. a., MHG. Transl. Summa 313, 8) (schwäb., 14. Jh.): man ahtet, daz die redelichen creaturen zemale rüeren zuo der offenbarunge dez gesteltnüsses. Semem 2 ‚auf jemanden/etwas achten, jemanden/etwas beachten, sich um jemanden/etwas kümmern, sich an etwas kehren, auf etwas Wert legen‘ TKR: Agens (Mensch) – Objekt SBP: NGnom – NGgen / NGakk / PräpGvf / NSob Beispiele: (Jahr, H. v. Mügeln 2536) (omd., Hs. 1463): [welch mensch] hat zu kei- nem tranke pflicht | und achtet überfraßes nicht. – (Palm, Veter Buoch 36, 1) (schles., Hs. E. 14./A. 15. Jh.): Von den vrouden achte ich denne vf alle der werlde wollust als vf ein hor oder einen vulen mist. – (Schlosser, H. v. Sachsenh. Mörin 1592) (schwäb., 1453): Brinhilt, du achst nit, ob ain hůn |Ain kalten winter bairfůs gaͮt. Linguistica_2019_FINAL.indd 104 9.10.2019 8:58:47 105 Semem 3 ‚jemanden hochachten, hoch einschätzen, in hohem Ansehen halten‘ TKR: Agens (Mensch) – Patiens SBP: NGnom – NGakk Beispiel: (Gilman, Agricola. Sprichw. 2, 182, 6) (Eisleben1548): Es ist nicht gůt die person des gotlosen achten / zů biegen den gerechten im gericht. Semem 4 ‚etwas erwägen, überlegen, bedenken; e. S. inne werden‘ TKR: Agens (Mensch) – Objekt/Inhalt SBP: NGnom – NGakk / NSdas/wer Beispiele: (Tittmann, Schausp. 16. Jh. Rebhun 68, 82) (Zwickau 1536): Meint ir nicht, wir haben sölches auch betrachtet | und zuvor denn ir bewogen und geachtet? – (Klein, Oswald 91, 18) (oobd., 1. H. 15. Jh.): so ich betracht und acht, | das mich liederlichen umbfacht | ermlin macht. Semem 5 ‚jemanden/etwas für etwas halten, als etwas betrachten, einschätzen, ansehen, beurteilen‘ TKR: Agens (Mensch) – Patiens – Prädikativ SBP: NGnom – NGakk / NSdaz – PräpGvur / AdjG Beispiele: (Wyss, Limb. Chron. 47, 16) (mfrk., 2. H. 14. Jh.): acht man den selben Hartung vur den aller wisesten leigen. – (Quint, Eckharts Trakt. 221, 7) (E. 13./A. 14. Jh.): ich ahtete verre bezzer, daz dû liezest von minne von dem und dientest dem dürftigen in mêrer minne. [Semem 6 ‚sich besprechen, beraten; vor Gericht sprechen‘; als Ergebnis dieser Handlung: ‚Rechtsweisung geben‘] Semem 7 ‚etwas meinen, vermuten, glauben‘ TKR: Agens (Mensch) – Inhalt SBP: NGnom – NS Beispiel: (Skála, Egerer Urgichtenb. 85, 12) (nwböhm., 1571): er Achte Es sej ein goldtschmidt gewest. Semem 8 ‚etwas schätzen, in seinem Wert veranschlagen‘ TKR: Agens (Mensch) – Objekt – Quantität SBP: NGnom – NGakk – (PräpGan) Linguistica_2019_FINAL.indd 105 9.10.2019 8:58:47 106 Beispiele: (Kollnig, Weist. Schriesh. 271, 7) (rhfrk., 1533): Die sollen das besehen und den schaden achten. – (Wyss, Limb. Chron. 27, 17) (mfrk., 2. H. 14. Jh.) [Passiv] worden si geachtet, wanne si zu felde zogen, me dan an zwei dusent burger. Semem 9 ‚etwas (auch Menschen) zählen‘ TKR: Agens (Mensch) – Objekt (auch Menschen) SBP: NGnom – NGakk Beispiel: (Holtzmann, Gr. Wolfdietrich 2211, 3) (Hs. A. 15. Jh.) [kausativ]: er hies daz folk ahten, daz sin sune dar | und sine diener brahten. Semem 10 ‚nach etwas trachten, streben‘ TKR: Agens (Mensch) – Ziel SBP: NGnom – PräpGnach/hin zu Beispiel: (Klein, Oswald 17, 12) (oobd., 1. H. 15. Jh.): nach deinem dankh so wil ich teglich achten. Semem 11 ‚etwas/jemanden zu etwas bestimmen, ausersehen‘ TKR: Agens (Mesch) – Objekt – Prädikativ SBP: NGnom – NGakk – PräpGzu/in Beispiel: (Mayer, Folz. Meisterl. 10, 155) (nobd., v. 1496): Du pist doch selber dere | Durch den dich Got | Ycz selig hat gemachte | Oder zu pein geachte. Semem 12 ‚jemandem etwas zuweisen, zuerkennen, geben‘; speziell: ‚jeman- dem etwas testamentarisch vermachen‘ TKR: Agens (Mensch) – Adressat – Objekt SBP: NGnom – NGdat – NGakk Beispiel: (Morgan u. a., MHG. Transl. Summa 413, 11) (schwäb., 14. Jh.): zuo dem daz got geahtet hat im [mensche] die tugent oder die craft dez wirkennes. Kommentar: Die zweiwertigen Sememe unterscheiden sich vorwiegend in der zweiten Rolle, für die ‚Objekt‘, ‚Patiens‘, ‚Inhalt‘, ‚Ziel‘ angesetzt werden. Syntak- tisch dominiert in dieser Rolle NGakk neben NS und PräpG. Bei Semem 1 und 2 wird die Rolle ‚Objekt‘ allerdings mit NGgen besetzt. Semem 1 sticht durch die Rolle ‚Wahrnehmungsträger‘ hervor. Bei den dreiwertigen Sememen (5, 8, 11, 12) wird die zweiwertige Struktur jeweils erweitert um die Rollen ‚Prädikativ‘, ‚Quantität‘, oder ‚Adressat‘. Semem 12 gehört zu dem Wortfeld der Verben des Besitzwechsels. Die dritte Rolle ist besetzt mit PräpG und AdjG; bei Semem 12 durch eine NGdat (‚Adressat‘). Linguistica_2019_FINAL.indd 106 9.10.2019 8:58:47 107 V. Änhd. Den drei Sememen unter achten sind folgende SBP/TKR zugeordnet: Semem 1 ‚sein Augenmerk, seine Aufmerksamkeit auf etw./jmdn. richten‘ TKR: Agens (Mensch) – Objekt SBP: NGnom – PräpGauf / NGgen(+nicht)/NGakk(+nicht) Beispiele: sie scheint auf einen Vogel zu a., der aus dem Rohr … sein Nest verthei- digend, mit leidenschaftlichem Geschrei gegen sie anstrebt 49 1 ,323,6 TischbeinsIdyl- len 10. – ihre Bewunderer stehen vor ihr, klatschen ihr entgegen, aber sie achtet ihrer nicht 48,149,9 TänzerinGrab=B22,366,10 Sickler 28.4.12 K. – solang niemand für das was in mir auf und abstieg einig Gefühl hatte, vielmehr wie’s geschieht, die Menschen erst mich nicht achteten, dann wegen einiger widerrennender Sonderbaarkeiten scheel ansahen B3,195,16 ChStein 9.12.[77] ReinF XII 157 B12,108,24 Meyer 28.4.97. Semem 2 ‚respektieren, schätzen; hochachten‘ TKR: Agens (Mensch) – Patiens SBP: NGnom – NGakk/gen Beispiele: ein großes Publicum verdient, daß man es achte, daß man es nicht wie Kinder, denen man das Geld abnehmen will, behandle 22,189,8 Lj V 9. – Auf dem Gotthart … Doch sind wir schon durch so vieles grose durchgegangen dass wir wie Leviathane sind die den Strom trincken und sein nicht a. 1) B4,121,10 ChStein 13.11.79. Semem 3 ‚erachten, halten für‘ TKR: Agens (Mensch) – Patiens – Prädikativ SBP: NGnom – NGakk/dat – Adj / NGgen / PräpGvon/für/zu / KonjGals Beispiele: Dieß ist Tantal, von dem sie sagen, die Götter haben ihn ihrer Tafel … werth geachtet? 39,334,21 Iph 1 I 3. – (Passiv): das, was bisher so großen Werthes geachtet wurde N3,147,3 FlH III. – Ich vermeide sorgfältig alle Bekanntschafft, die nur Zeit verdirbt und sehe und studire unermüdet mit Künstlern und Kennern alles andre acht ich vom Übel B8,66,25, ChStein 24.11.86. – er achte [halte Var] den Genuß derselben [Krebse] für .. heilsam 35,224,11 TuJ. – (Passiv): Winderzeu- gung. Ist gleichfalls vorerst, als von dem Barometerstand abhängig, zu a. N12,91,3 Witterungslehre. [Semem 4 sich achten nach ‚sich richten nach‘ nur in amtlichen Schriften und Briefen] 4 VERSUCH ZUM VALENZ-WANDEL VON ACHTEN Die Wörterbücher der historischen deutschen Sprachstufen bieten im Unterschied zu dem in den Wörterbüchern des Nhd. unter achten präsentierten Bestand eine weit grö- ßere Vielfalt an Sememen, Valenzen und Satzbauplänen. Linguistica_2019_FINAL.indd 107 9.10.2019 8:58:47 108 Im „Wörterbuch zur Valenz und Distribution deutscher Verben“ (Helbig/Schenkel 1973: 101) wird nhd. achten mit zwei (2-wertigen) Satzbauplänen beschrieben: 1. ‚hochschätzen‘, SBP: Sn, Sa 2. ‚aufpassen‘, SBP: Sn, pS/NS/Inf Semantisch sind die Rollen in beiden Fällen bei Sn beschränkt auf Hum (Mensch/ en), bei Sa auf Hum und Abstr, bei pS ohne Selektionsbeschränkung bzw. bei NS/Inf auf Act (Handlung). Die syntaktische Unterscheidung besteht darin, dass die zweite Ergänzung entweder (1.) mit einem Akkusativ oder (2.) mit einer Präpositionalgruppe (oder bei der Rolle ‚Inhalt’ mit einem Nebensatz bzw. einer Infinitivkonstruktion) be- setzt werden muss. Im Unterschied zu Helbig/Schenkel differenziert das E-V ALBU (Zugriff 15.1.2018) unter nhd. achten sechs Sememe und SBP: 1. ‚seine Aufmerksamkeit auf die Einhaltung von etwas richten‘ SBP: K sub , K prp (auf+Akk /+darauf / NSdass/ob/w- / Inf-S) 2. ‚jemand achtet jemanden/etwas schätzen‘ SBP: K sub , K akk 3. ‚jemand achtet etwas, respektieren, beachten, berücksichtigen‘ SBP: K sub , K akk 4 . ‚ jemand achtet auf jemanden/etwas, auf etwas aufpassen, Acht geben‘ (gehoben) SBP: K sub , K prp (auf+Akk) 5. ‚jemand achtet auf jemanden/etwas, bewusst wahrnehmen, beachten‘ SBP: K sub , K prp (auf+Akk/+darauf /NSdass/ob/w-) 6. ‚jemand achtet irgendwobei auf etwas, etwas zur Kenntnis nehmen und in seine Überlegungen einbeziehen, beachten, berücksichtigen‘ SBP: K sub , K prp (auf+Akk/+darauf /NSdass/ob/w-/Inf-Satz+zu), (K adv ) (bei+Dat/ in+Dat) Für 6. achten auf „etwas in seine Überlegungen einbeziehen“ wird ein – nicht aus- formulierter Kasusrahmen „Agens (Mensch), Objekt, Zusammenhang“ (Beispiel „Du musst an der Kreuzung auf die Ampel achten“) – mit dem dreiwertigen Satzbauplan K sub , K prp , (K adv ) in Verbindung gebracht. „Duden, Deutsches Universalwörterbuch“ (Mannheim 1 2001) listet unter achten vier Sememe auf: Semem 1: ‚jmdm. Achtung entgegenbringen, jmdn. Respektieren‘ (= E-Valbu Se- meme 2, 3) Semem 2: ‚jmdm., einer Sache Beachtung, Aufmerksamkeit schenken; jmdn., eine Sache beobachten‘ – gehoben, veraltend mit Gen. und veraltet mit Akk.; gewöhnlich in verneinten Sätzen: er achtete nicht des Schmerzes, die Gefahr (= E-Valbu Sememe 5, 6) Semem 3: ‚aufpassen, Acht geben‘ +auf (= E-Valbu Sememe 1, 4) Semem 4: (gehoben, veraltend) ‚für jmdn., etw. halten, erachten‘. Linguistica_2019_FINAL.indd 108 9.10.2019 8:58:47 109 Das „Deutsche Wörterbuch“ (DWB, Neubearbeitung, 1. Band, Leipzig 1983: 1384–1389) verzeichnet – verfasst von Ulrich Schröter – vier durch Subsememe spezi- fizierte „Hauptsememe“ (ohne Satzbauplan): 1. ‚etwas (gemeinsam) überlegen, erwägen, über etwas nachdenken, nachsinnen‘ 2. ‚taxieren; erachten; meinen, wertschätzen; respektieren‘ 3. ‚aufmerksam sein‘ 4. ‚vermachen, zuteilen; bestimmen; ausersehen‘. Berücksichtigt man sowohl alle im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte (ahd., mhd., frnhd, änhd, nhd.) in den Wörterbüchern zu achten notierten Sememe als auch die Etymologie des Verbs, so ergibt sich folgendes Bedeutungsspektrum, dessen Rei- henfolge aber nicht einer chronologischen Entwicklung des Gebrauchs von achten im Verlauf der Sprachgeschichte entspricht. Die Grundbedeutung ist: [A] ‚a (Mensch) richtet seinen Verstand auf b‘ Es handelt sich um ein zweiwertiges Tätigkeitsverb mit dem Kasusrahmen Agens – Objekt. Dafür werden von den historischen Wörterbüchern folgende nhd. Synonyme verwendet: achten auf, nachdenken, bedacht sein auf, beachten, sich in Gedanken mit etwas beschäftigen, überlegen, erwägen, mit sich zu Rate gehen, planen, bedenken, sein Augenmerk/Aufmerksamkeit richten auf, in seine Überlegungen einbeziehen, aufpas- sen. Weil das Semem ‚a (Mensch) nimmt b geistig wahr‘ als zweiwertiges Zustandsverb (vgl. bemerken, gewahren, sinnlich wahrnehmen, feststellen) erst im Frühneuhochdeut- schen auftaucht (frnhd. Semem 1), wird es nicht als Grund-Semem, sondern als Varian- te der Grundbedeutung gewertet, indem der Zustandsträger (der geistig wahrnehmende Mensch) anstelle des Agens (der geistig tätige Mensch) verwendet wird. Das Semem A wird im Verlauf der Sprachgeschichte durch folgende Satzbaupläne realisiert: Ahd.: NGnom – NGakk / NSthaz / PräpGan/in / NSw- Mhd.: (1) NGnom – NGakk; (2) NGnom – NGgen / PräpGûf/umbe /AdvG / NSob/wie Frnhd.: (1) NGnom – NGgen / NGakk / PräpGvf / NSob; (2) NGnom – NGakk / NSdas/wer Änhd.: NGnom – PräpGauf / NGgen(+nicht) / NGakk(+nicht) Nhd.: K sub , K prp (auf+Akk/ +darauf / NSdass/ob/w-). Durch Erweiterung der Grundbedeutung (Bedeutungserweiterung) entstand das Semem [B] ‚a (Mensch) bezieht das geistig Wahrgenommene b in sein Verhalten ein‘ (Synonyme: seine Aufmerksamkeit auf etwas richten, Acht haben, Beachtung schenken, Rücksicht nehmen, sich danach richten, planen, beachten, sich nach etwas richten, Sorge tragen, sorgen für, in Rechnung stellen, befolgen, Obacht geben, sich kümmern um, auf etwas Wert legen, trachten, streben) Linguistica_2019_FINAL.indd 109 9.10.2019 8:58:47 110 Satzbaupläne: Ahd.: NGnom – NGakk / NGgen(+NSthaz) / NSw- / NSthaz Mhd.: NGnom – NGgen/ PräpGûf/umbe /AdvG / NSdaz/ob/wie Frhnd.: NGnom – PräpGnach/hin zu Änhd.: ---- Nhd.: K sub , K akk Mit Erweiterung um die Zweckbestimmung (dreiwertig): [C] ‚a (Mensch) richtet seinen Verstand auf b, um b als c einzuschätzen‘ (Synonyme: abschätzen, taxieren, veranschlagen, erachten als/für, ansehen als, halten für, einschätzen, als etwas beurteilen, rechnen unter, in seinem Wert veranschlagen, berechnen, betrachten als, schätzen, zählen) Satzbaupläne: Ahd.: NGnom – NGakk – (AdjGakk / PräpGze/obe/furi / KonjGalsô / NGgen) Mhd.: NGnom – NGakk – AdjG / KonjG(sam) / PräpGvür Frnhd.: (1) NGnom – NGakk / NSdaz – PräpGvur / AdjG; (2) NGnom – NGakk – (PräpGan) Änhd.: NGnom – NGakk/dat – Adj / NGgen / PräpGvon/für/zu / KonjGals Nhd.: ---- Verkürzt → (zweiwertig): [D] ‚a (Mensch) schätzt b hoch/wertvoll ein‘ (Synonyme: achten, wertschätzen, ehren, respektieren, hochachten, hoch einschätzen, in hohem Ansehen halten, schätzen) Satzbaupläne: Ahd.: ---- Mhd.: ---- Frnhd.: NGnom – NGgen / NGakk / PräpGvf / NSob Änhd.: NGnom – NGakk/gen Nhd.: K sub , K akk Mit Wechsel des Wortfeldes: zu einem Verb der Äußerung: [E] ‚a (Mensch) äußert seine Einschätzung von b‘ (Synonyme: glauben, meinen, vermuten, annehmen, der Ansicht sein) Satzbaupläne: Ahd.: NGnom – NSthaz / Inf(+akk) Mhd.: NGnom – NSdaz Frnhd.: NGnom – NS Änhd.: ---- Nhd.: ---- Mit Wechsel zu einem dreiwertigen Verb des Besitzwechsels: Linguistica_2019_FINAL.indd 110 9.10.2019 8:58:47 111 [F] ‚a (Mensch) vermacht/teilt b dem c (Mensch) zu‘ (aufgrund der Einschätzung von c?) (Synonyme: zuweisen, zuerkennen, geben, [testamentarisch] vermachen) Satzbaupläne: Ahd.: ----- Mhd.: NGnom – NGdat – NGakk Frnhd.: NGnom – NGdat – NGakk Änhd.: ---- Nhd.: ---- Mit Wechsel zu einem Verb im „Feld der rationalen Einwirkung auf den Men- schen“ (nach Sommerfeldt/Schreiber 1996: 220f.): [G] ‚a (Mensch) bestimmt b (Mensch) zu c‘ (vgl. bestimmen zu, ausersehen) Satzbaupläne: Ahd.: ---- Mhd.: ---- Frnhd.: NGnom – NGakk – PräpGzu/in Änhd.: ---- Nhd.: ---- Überblickt man das in Sememe untergliederte diachrone Bedeutungsspektrum des Verbs achten, dann fällt als Erstes auf, dass nur die „Grundbedeutung“ A ‚a (Mensch) richtet seinen Verstand auf b‘ mit dem Kasusrahmen Agens – Objekt für alle Sprach- stufen durchgehend belegt ist. Ebenso fällt auf, dass Semem G ‚a (Mensch) bestimmt b (Mensch) zu c‘ nur im Frnhd. vorkommt und damit als eine Sonderentwicklung im Verlauf dieser Sprachperiode anzusehen ist, die mit der großen Fülle an überlieferten Texten und aus einer sondersprachlichen Entwicklung erklärbar ist. An zweiter Stelle in einer Hierarchie der achten-Sememe stehen die bis ins Nhd. geltenden Sememe B ‚a (Mensch) bezieht das geistig Wahrgenommene b in sein Ver- halten ein‘ (nicht im Goethe-Wörterbuch nachgewiesen) und D ‚a (Mensch) schätzt b hoch/wertvoll ein‘ (nicht im Ahd. und Mhd. belegt). An den SBP, die diachron den Sememen A und B zugeordnet sind, fällt die Polyvalenz auf, die bei der Mar- kierung der zweiten semantischen Rolle ‚Objekt‘ (oder ‚Inhalt‘) herrscht; besonders die Konkurrenz zwischen Akkusativ-, Genitiv- und Präpositionalobjekt. Wohl unter dem Einfluss der Sprachnormierung kommt es zur Reduzierung der Polyvalenz und zu der im Nhd. geltenden Unterscheidung, dass bei Semem A die zweite semantische Rolle mit PräpGauf, bei Semem B demgegenüber mit NGakk zu besetzen ist (vgl. Korhonen 2006: 1470). Unter dem Eindruck dieser Entwicklung ist das Aufkommen von Semem D, das inhaltlich Semem B nahe steht und im Nhd. damit zusammenfällt, zu erklären. Ebenfalls sind von der „Bereinigung“ der Semem-Palette bei achten – im Sinn einer Reduktion der historisch ausgeprägten Polyvalenz – die schon im Ahd. Linguistica_2019_FINAL.indd 111 9.10.2019 8:58:47 112 oder Mhd. vorhandenen dreiwertigen Sememe C und F sowie des zweiwertigen Se- mems E betroffen; bei allen drei spielte der Druck von Synonymen beim Verschwin- den der Sememe eine Rolle. 5 ZUSAMMENFASSUNG Das Fehlen eines historischen Verbwörterbuchs der deutschen Sprache, in dem die Entwicklung der syntaktischen Umgebung der Verben, die als das „Herz des Satzes“ gelten, im Verlauf der Sprachgeschichte nachvollzogen und für die historische deut- sche Grammatik nutzbar gemacht werden kann, ist eine bekannte und beklagte Tat- sache. Seit die historischen deutschen Wörterbücher online verfügbar sind, kann die Forschungslücke auf der Basis der digitalisierten Wörterbücher und auf der Grundlage einer noch auszuarbeitenden Verb-Strecke in überschaubarem Umfang und angemes- sener Zeit in Form eines – auch digital verfügbaren – Wörterbuchs (vgl. Burghardt/ Reimann 2016) gefüllt werden. Das Vorgehen dabei und die Ausarbeitung eines Wör- terbuchartikels wurden am Beispiel von nhd. achten vorgeführt. Vom Nhd. ausgehend wurden aus den Wörterbüchern des Änhd., Frnhd., Mhd. und Ahd. die Tiefenkasus- rahmen, Satzbaupläne und damit die Verb-Aktanten-Konstellation des Verbs achten herausgearbeitet, so dass pro Sprachstufe ein Überblick über die zum Verb achten in den Texten belegten VAK vorliegt. In einem vergleichenden und zusammenfassenden Kommentar wird auch die semantische Entwicklung des Verbs im Kontext der sich ändernden Verb-Aktanten-Konstellationen (Valenzwandel) mit – aufschlussreichen – Einsichten in den Sprachwandel allgemein erfasst und dargestellt. Literatur BURGHARDT, Manuel/Sandra REIMANN (2016) „Möglichkeiten der elektroni- schen Aufbereitung und Nutzung eines historisch syntaktischen Verbwörterbuchs des Deutschen“. In: A. Greule/J. Korhonen (Hrsg.), Historisch syntaktisches Verb- wörterbuch. Valenz- und konstruktionsgrammatische Beiträge. Frankfurt a. Main: Peter Lang, 301–322. Deutsches Wörterbuch der Brüder Grimm (1983). Neubearbeitung. 1. Band A – Affri- kata. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Leipzig/Stuttgart: Hirzel. EROMS, Hans-Werner (2000) Syntax der deutschen Sprache. Berlin/New York: de Gruyter. FRITZ, Gerd (1998) Historische Semantik. Stuttgart/Weimar: Metzler. GREULE, Albrecht (1999) Syntaktisches Verbwörterbuch zu den althochdeutschen Texten des 9. Jahrhunderts. Frankfurt a. Main: Peter Lang. GREULE, Albrecht/Jarmo KORHONEN (Hrsg.) (2016) Historisch syntaktisches Verbwörterbuch: Valenz- und konstruktionsgrammatische Beiträge. Frankfurt a. Main: Peter Lang. HELBIG, Gerhardt/Wolfgang SCHENKEL (1973) Wörterbuch zur Valenz und Dis- tribution deutscher Verben. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Leipzig: VEB Verlag Enzyklopädie. Linguistica_2019_FINAL.indd 112 9.10.2019 8:58:47 113 KORHONEN, Jarmo (2006) „Valenzwandel am Beispiel des Deutschen“. In: V. Ágel/L. M. Eichinger/H.-W. Eroms et al. (Hrsg.), Dependenz und Valenz. Depen- dency and Valency. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung, II. Berlin/New York: de Gruyter, 1462–1474. PRINZ, Michael (2016) „Wörterbücher und digitale Belegrepositorien als Quellen für ein historisch syntaktisches Verbwörterbuch. Am Beispiel des benefaktiven Da- tivs bei mhd. bachen.“ In: A. Greule/J. Korhonen (Hrsg.), Historisch syntaktisches Verbwörterbuch: Valenz- und konstruktionsgrammatische Beiträge. Frankfurt a. Main: Peter Lang, 17–53. SCHMID, Hans Ulrich (2017) Einführung in die deutsche Sprachgeschichte, 3., aktua- lisierte und überarbeitete Auflage. Stuttgart: Metzler. SOMMERFELDT, Karl-Ernst/Herbert SCHREIBER (1996) Wörterbuch der Va- lenz etymologisch verwandter Wörter: Verben, Adjektive, Substantive. Tübingen: Niemeyer. WÖLLSTEIN, Angelika et al. (Hrsg.) (2016) Duden: Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch. 9., völlig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Berlin: Dudenverlag. Internetquellen Althochdeutsches Wörterbuch online: https://de.wikipedia.org/wiki/Althochdeutsches_ Wörterbuch [01.08.2018] E-VALBU: Das elektronische Valenzwörterbuch deutscher Verben: https://grammis. ids-mannheim.de/verbvalenz [16.07.2018] Frühneuhochdeutsches Wörterbuch: FWB-online. https://fwb-online.de [10.08.2018] Goethe-Wörterbuch online: http://gwb.uni-trier.de/de [Zugriff 14.08.2018] Mittelhochdeutsches Wörterbuch: mhdwb-online.de: http://www.mhdwb-online.de [03.08.2018] Abkürzungen AdjG: Adjektivgruppe AdvG: Adverbgruppe DWB: Deutsches Wörterbuch der Brüder Grimm E-V ALBU: Elektronisches Valenzwörterbuch deutscher Verben IK: Infinitivkonstruktion KonjG: Konjunktionalgruppe NG: Nominalgruppe NS: Nebensatz PräpG: Präpositionalgruppe SBP: Satzbauplan TKR: (Tiefen-)Kasusrahmen V AK: Verb-Aktanten-Konstellation Linguistica_2019_FINAL.indd 113 9.10.2019 8:58:47 114 Zusammenfassung SATZBAUPLÄNE, VALENZWANDEL UND DAS HISTORISCH SYNTAKTISCHE VERBWÖRTERBUCH AM BEISPIEL DES VERBS ACHTEN Der Beitrag befasst sich mit der historischen deutschen Syntax, insbesondere mit der Verbumgebung, ihrer systematischen Erfassung auf der Grundlage der Valenz-Theorie und ihrer Entwicklung im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte vom Althochdeut- schen bis zum Deutsch der Gegenwart. Dabei geht es um die Erfassung sowohl der Tiefenkasusrahmen als auch der Satzbaupläne der in allen sprachgeschichtlichen Pe- rioden belegten deutschen Verben. Als Beispiel dient das Verb neuhochdeutsch achten und seine historischen Entsprechungen (ahd. ahtôn, mhd. ahten, frühnhd. achten). Es wird gezeigt, wie aus den historischen, online verfügbaren Wörterbüchern die Struktur des Eintrags unter dem Stichwort achten in einem Historisch syntaktischen Wörter- buch (kurz HSVW) abgeleitet werden kann. Abschließend wird auf der Grundlage der im Historisch syntaktischen Wörterbuch gespeicherten Informationen das diachrone Bedeutungsspektrum des Verbs achten erfasst und versucht, daraus den Valenzwandel bei achten zu beschreiben. Schlüsselwörter: Sprachgeschichte, Syntax, Valenz, Semantik, Verbwörterbuch Abstract SENTENCE STRUCTURE, V ALENCY-CHANGING AND THE HISTORICAL SYNTACTIC DICTIONARY OF VERBS AS EXEMPLIFIED BY THE GERMAN VERB ACHTEN The article deals with historical German syntax, in particular with the verbal sys- tem, its systematic recording on the basis of valence theory and its historical develop- ment from Old High German (OHG) to the present day German. The aim is to record both the deep case frames and the sentence structure of the German verbs documented in all periods of linguistic history. As an example the New High German (NHG) verb achten and its historical equivalents (OHG ahtôn, MHG ahten, ENHG achten) are used. It will be shown how the structure of the entry under the keyword achten in a historical syntactic dictionary (abbreviated to HSVW) can be derived from the histori- cal dictionaries available online. Finally, on the basis of the information stored in the historical syntactic dictionary, the diachronic spectrum of meaning of the verb achten is recorded and its valency changing pattern is presented. Keywords: historical linguistics, syntax, valency, semantics, historical syntactic dictionary Linguistica_2019_FINAL.indd 114 9.10.2019 8:58:47 115 Povzetek STA VČNI VZORCI, SPREMEMBA VEZLJIVOSTI IN ZGODOVINSKI GLAGOLSKI SLOVAR NA PRIMERU GLAGOLA ACHTEN Prispevek obravnava nemško zgodovinsko skladnjo, zlasti glagolsko besedno zvezo, njeno sistemsko obravnavo na osnovi vezljivostne teorije in razvoj v zgodo- vini nemškega jezika v času od stare visoke nemščine do sodobne nemščine. Pri tem gre za določitev tako pomenskih skladenjskih vzorcev kot tudi strukturnih stavčnih vzorcev posameznih glagolov, ki so bili zabeleženi v vseh jezikovnozgodovinskih obdobjih. Kot primer služijo novovisokonemški glagol achten ter njegove zgodo- vinske ustreznice (stvnem. ahtôn, srvnem. ahten, zgnvnem. achten). Prispevek pri- kaže, kako je mogoče na osnovi zgodovinskih spletnih slovarjev pripraviti strukturo slovarskega sestavka achten za Zgodovinski skladenjski slovar (HSVW). V zadnjem delu prispevka služijo podatki iz Zgodovinskega skladenjskega slovarja za določitev diahronega spektra pomenov glagola achten, na osnovi tega pa je opisano spreminja- nje njegove vezljivostne strukture. Ključne besede: zgodovina jezika, skladnja, vezljivost, semantika, glagolski slovar Linguistica_2019_FINAL.indd 115 9.10.2019 8:58:47