Review scientific paper Pregledni znanstveni članek DOI: 10.32022/PHI33.2024.128-129.6 UDC: 165.62 Die Stille des Seyns und die Fülle des Nichts Zur Erfahrung des Heilsamen im Denken Martin Heideggers Johannes Vorlaufer FH Campus Wien, Favoritenstraße 226, A-1100 Wien, Österreich johannes.vorlaufer@gmail.com The Silence of Beyng and the Fullness of Nothingness. On the Experience of the Salvific in Martin Heidegger's Thought Abstract In various contexts of his work, Heidegger speaks of the wholesome and of the disaster, of the holy, of salvation, of need and of needlessness. The starting point for the following reflections is Heidegger's short essay "Der Feldweg [Country Path]," Phainomena 33 | 128-129 | 2024 where he speaks of the "silent power of the field path," its power of "serenity." But what is this "power" based on? In the third of his Feldweg-Gespräche [Country Path Conversations], Heidegger talks about the salutary in a dialogical way that invites into a conversation. The experience of silence mentioned there must be reflected upon, and thus the question of whether the experience of silence can be healing should be addressed: such a reconsideration of Heidegger leads the interpretation back to the fundamental ontological analysis of fallenness and, from there, gains access to "the need of needlessness" and the question of what is salutary. Keywords: silence, salvation, fallenness, need. Tišina biti in polnost niča. K izkustvu rešilnega v mišljenju Martina Heideggra Povzetek Heideggrovo delo v različnih kontekstih govori o zdravilnem in o nesreči, o svetem, o rešitvi, o nuji in o breznujnosti. Izhodišče pričujočih razmišljanj je Heideggrov kratki 144 esej z naslovom »Der Feldweg [Poljska pot]«, v katerem govori o »tihi sili poljske poti«, o njeni sili »zvedrenja«. Toda na čem temelji takšna »sila«? V tretjem izmed Feldweg-Gespräche [Pogovori s poljske poti] Heidegger govori o rešilnem na dialoški način, ki vabi v razgovor. Potrebno je razmisliti o izkustvu tišine, kakor ga omenja, in zato spregovoriti tudi o vprašanju, ali izkustvo tišine lahko celi: tovrsten vnovičen razmislek o Heideggru interpretacijo pelje nazaj k temeljni ontološki analizi zapadlosti in ji, na tej podlagi, razpre pot k »nuji breznujnosti« in k zagonetki rešilnega. Ključne besede: tišina, rešitev, zapadlost, nuja. Johannes Vorlaufer Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld zu seinem 95. Geburtstag dankend zugeeignet „Die Dankbarkeit strömt fortwährend aus, als ob eben das Unerwartetste geschehn sei, die Dankbarkeit eines Genesenden, -denn die Genesung war dieses Unerwartetste." Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1980a, 345) Einleitung: Die stille Kraft des Feldweges Als Ausgangsort der Frage nach der Erfahrung des Heilsamen im Denken Martin Heideggers soll seine kleine Schrift Der Feldweg gewählt werden. Kann uns ein Feldweg in all seiner Unscheinbarkeit etwas sagen, was wir nicht schon längst wissen? Kann er uns etwas zeigen und erfahren lassen, das uns selbst berührt? Hilft ein Feldweg, uns selbst zu erfahren? Ein Feldweg lässt Menschen einen Weg gehen: Wir selber müssen uns bewegen, wenn wir seinen Zuspruch erfahren wollen. Lassen wir uns auf diese leibhaftige Erfahrung ein, dann wird sie uns zu einer Selbstbewegung, und es ist nicht auszuschließen, dass sie uns „trifft, über uns kommt, uns umwirft und verwandelt" (Heidegger 1985, 149) in der Weise, wie wir in unserer Welt sind. Von dieser Möglichkeit spricht Heidegger: Unterwegs auf dem Feldweg gibt sich ihm eine „letzte" (Heidegger 1983, 89) und „wissende" (ibid., 90) Heiterkeit als ein „Tor zum Ewigen" (ibid., 90) zu erfahren. Spricht Heidegger hier von einer heilsamen Erfahrung, der Erfahrung eines Heilen? Verstärkt wird diese Mutmaßung durch seinen kurzen Verweis auf das „Träumerische" der Kindheit, das auf einem „ehemals noch kaum sichtbaren Glanz geborgen [blieb], der auf allen Dingen lag" (ibid., 88), denn nicht nur mit dem Ewigen, sondern auch mit dem Begriff des Glanzes ist ein deutliches Indiz für ein Heiles - und Heiliges - gegeben.1 Der Feldweg verspricht keine Unterhaltung und kein Erlebnis: Seine „Verheiterung" will im Unterschied zum Amüsierbetrieb nicht stumpf und taub2 machen, sondern sie ist gerade umgekehrt - wie man in Heideggers 1 Vgl. Thurnher 2008. Auch der Begriff der „letzten" Heiterkeit enthält eine vorsichtige Anspielung auf den „letzten" Gott der Beiträge. Vgl. dazu Wucherer-Huldenfeld 1997a. 2 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben in ihrer Dialektik der Aufklärung Phainomena 33 | 128-129 | 2024 Sprache wohl sagen müsste - gegründet in einem Hören und sich Ansprechen lassen von dem, was ist. Ist es das Hören der „Stille des Seyns" (Heidegger 1989, 96), von dem Heidegger in den Beiträgen zur Philosophie spricht? Dieses Hören lässt, so Heidegger, die Hörenden „Hörige ihrer Herkunft, aber nicht Knechte von Machenschaften" (Heidegger 1983, 89) werden. Mit „Knechtschaft" ist eine Unheilssituation angesprochen, mit „Machenschaften", dass diese Situation auch ein (Selbst)Entwurf von Herrschaft sein kann: eine Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft - weist der Feldweg einen Weg aus dieser unheilvollen Verflochtenheit? Dies ist nicht ausgeschlossen: Ohne den Begriff der Möglichkeit als die unsere Existenzialität tragende Modalität aus Sein und Zeit explizit zu verwenden, spricht der Feldweg von einem emanzipatorischen Geschehen, das aus den Strukturen von Wirken und Wirklichkeit in eine dem Menschen mögliche Freiheit führt und ihm so seine Möglichkeitsdimension erschließt. Denn bei den Hörenden erweckt der Feldweg einen Sinn, „der das Freie liebt und auch die Trübsal noch an der günstigen Stelle überspringt" (ibid., 89). „Trübsal" wird hier sehr unvermittelt und überraschend eingeführt, 146 ebenso wie „Knechtschaft". Während bei Heidegger Begriffe wie Machenschaft, Lärm der Apparate oder Zerstreuung immer wieder vorkommen, tauchen im Feldweg auch seltener verwendete Begriffe wie der des Weglosen oder des Verdrießlichen auf. So heißt es, in eine Unheilssituation verweisend: Das Einfache, das den Zerstreuten nur noch einförmig erscheint, „macht überdrüssig" (ibid., 89). Heidegger sieht offenbar Knechtschaft und Überdruss bzw. Trübsal sowohl als ein Moment eines geschichtlich-epochalen wie eines individuellen Selbstentwurfs. Das Emanzipatorische des Feldweges ist das Eröffnen eines ursprünglicheren Selbstentwurfs aus einer anderen Gestimmtheit, denn der vom Feldweg erweckte Sinn für das Freie überspringt die Stimmung des TrübSinns in eine andere Stimmung, in die zitierte „letzte" Heiterkeit. Was Trübsal meint, wird im Feldweg nur angedeutet und soll im Folgenden in Bezug auf die Analyse des Verfallens aus Sein und Zeit näher erörtert werden. zu Recht an das Amüsement als Moment einer Verdummungsmaschinerie erinnert: „Die Befreiung, die Amusement verspricht, ist die von Denken als von Negation." (Horkheimer und Adorno 1981, 167.) Johannes Vorlaufer Zugleich mit diesem Hinweis auf das Heilsame im Sinne eines Befreienden, die Möglichkeitsdimension menschlichen Daseins Freilegenden des Feldweges heißt es aber lapidar: „Seine stille Kraft ist versiegt." (Ibid., 89.) Damit aber ist eine harmonistische Lesart des Heidegger'schen Textes unterbunden: Der Feldweg ist eine Schrift über die Möglichkeit und Unmöglichkeit, von einem Heilsamen in An-Spruch genommen zu werden. Und zugleich über die Möglichkeit und Unmöglichkeit der eigentümlichen Sprache des Feldweges und eines entsprechenden Hören-Könnens. Quelle und Brunnen werden von Heidegger gerne herangezogen, um der Frage nach einem ursprünglichen Verständnis einen verstehenden Zugang zu erschließen. Es ist daher kein Zufall, dass Heidegger hier von einem „Versiegen" spricht. Ein versiegender Brunnen oder eine Quelle nennt anderes als ein bloßes Aufhören. Und so ist auch der Entzug der stillen Kraft des Feldwegs keine bloße Feststellung eines Nichtvorhandenseins, sondern er ist ein Privationsphänomen (vgl. Wucherer-Huldenfeld 2007): Der Entzug zeigt sich als ein Ziehen, in ihm meldet sich ein Fehlendes. Ist in diesem Fehlen noch eine Spur erfahrbar? In „Wozu Dichter?" schreibt 147 Heidegger: Das Heile entzieht sich. Die Welt wird heil-los. Dadurch bleibt nicht nur das Heilige als die Spur zur Gottheit verborgen, sondern sogar die Spur zum Heiligen, das Heile, scheint ausgelöscht zu sein. Es sei denn, daß noch einige Sterbliche vermögen, das Heillose als das Heillose drohen zu sehen. (Heidegger 1977a 295.)3 Dieses Versiegen und das Fehlen des Heils betrifft uns in unserer Weise in der Welt zu sein - und vielleicht „trifft" es uns in diesem Betreffen auch, falls wir uns noch nicht völlig an sein Fehlen gewöhnt haben und im Fehl, und dies meint nun: im Unheil, wohnen und uns darin wohnlich im Sinne von behaglich eingerichtet haben. Mit Heideggers Bemerkung über das Versiegen ist daher gesagt: Das Heilsame begegnet uns nicht unmittelbar (vgl. Vetter 1993), sondern im Entzug, und das Heil ist uns nur im und als Un-Heil 3 Zur Frage nach der Spur vgl. den ausführlichen Kommentar in: Herrmann 1994, v. a. 369. Phainomena 33 | 128-129 | 2024 gegeben. Doch auch das Un-Heil ist nicht einfach vorliegend im Sinne von: als Vorhanden feststellbar, denn ein Un-Heil ist nur in Bezug auf das Heil, so, wie Krankheit als Privationsphänomen nur aus der Gesundheit erfragt werden kann. Was sollen wir unter der stillen „Kraft" des Feldweges überhaupt verstehen? Der Begriff der Kraft, der uns alltagssprachlich vertraut ist und in einer Vielzahl von alltäglichen Wörtern in einer Vieldeutigkeit vorkommt -man denke nur an Arbeitskraft, Einbildungskraft, Urteilskraft, Kraftwerke, Kraftwagen, Krafttraining, Kraftanstrengung, etc. -, vor allem aber unsere technische Welt und unsere technische Selbstauslegung betrifft, benennt Wirkungszusammenhänge, d. h. das Verhältnis von Ursache und Wirkung. Für den Fall, dass bei Heidegger tatsächlich die Frage nach dem Heilsamen und somit Gesundheit angesprochen wird, müsste dann angenommen werden, dass der Feldweg einen „Wirkstoff" enthält, der unterschiedliche Zustände menschlicher Existenz bewirkt. Welcher „Wirkstoff" ruht in der Kraft des Feldweges? Worin „beruht" sein 148 Heilsames? In Heideggers Formulierung der „stillen Kraft" können wir, um seine spezifische Kraft zu verstehen, auch das Wort „still" betonen und seine Ruhe bedenken. Die Legitimation dieser Akzentuierung begründet sich darin, dass im Feldweg Entscheidendes angedeutet wird: In der kleinen Schrift liest man auffallend oft von einer Stille, die diesen Weg trägt. So heißt es schon in den ersten Sätzen, dass der Feldweg den Fuß „still durch die Weite des kargen Landes" (Heidegger 1983, 87) geleitet. Kann dies als ein Wink gelesen werden? Ruht die Heilkraft des Feldweges in dieser Stille? Dann allerdings wäre die Rede von einem Wirkstoff absurd, denn Stille ist kein Ding und kann keine Ursache sein, ihre „Kraft" muss eine andere sein als das, was das uns vertraute Wort sagt. Das Einzige, was der Feldweg „tut", ist ein äußerst sanftes „Machen" und „Bewirken": Er versammelt auf einen Weg, er be-wegt die Zerstreuten auf einen Weg des Hörens. Ist das Nichts in der Stille bzw. ist das Nichts der Stille, die der Feldweg zu erfahren gibt, eine Fülle, die unser Dasein ganz und in diesem Sinne uns heil sein lässt? Der Weg der hier versuchten Auslegung ist ein äußert eingeschränkter und ein Torso: Weder wird die Vielfalt der menschlichen Unheilssituation im Denken Heideggers entfaltet - so wird etwa Heideggers umfassende Johannes Vorlaufer Technikkritik4 ausgeklammert -, noch wird die Erfahrung des Heilen in Hinblick auf das Heilige, wie sie zentral in Heideggers Hölderlinauslegung thematisiert wird,5 ausgelegt. Der Beitrag beschränkt sich innerhalb dieser vielschichtigen Fragestellungen auf die Erfahrung von Stille als einen vielleicht möglichen Zugang zum Heilsamen und versucht hier auch nur einige wenige Schritte zu gehen: In einem ersten Schritt soll dem Un-Heil, d. h. dem Entzug des Heils nachgegangen werden. Das Versiegen der Kraft des Feldweges wird hier in Bezug auf das Verfallen in Sein und Zeit ausgelegt. Der zweite Schritt möchte die im Feldweg genannte Stille in ihrer existenzialen Dimension und die Stille als Stille des Selbstseins begreifen. Im dritten Schritt wird auf das dritte Feldweggespräch Heideggers Bezug genommen, das meines Erachtens die existenzielle Erfahrung des Feldweges und das Heilsame von Stille zur Sprache bringt. 1. Das Unheil: Verschlossenheit, Not der Notlosigkeit, Verfallen - und die Stille des Seyns a. Das Unheil als Verschlossenheit Doch worin besteht das Unheile der Zerstreuten und Weglosen und das Unheil, das mit dem Versiegen der stillen Kraft des Feldweges angesprochen wird? Man könnte eine Stelle aus dem „Humanismusbrief" als Kommentar zu diesem Versiegen lesen. Heidegger schreibt dort: „Vielleicht besteht das Auszeichnende dieses Weltalters in der Verschlossenheit der Dimension des Heilen. Vielleicht ist dies das einzige Unheil." (Heidegger 1976, 352.) Heideggers „vielleicht" deutet an, dass hier keine zu beweisende „These" verkündet wird, dennoch aber verbirgt sich in dieser scheinbaren Unsicherheit der sprachlichen Formulierung bereits ein langer und verzweigter Denkweg, der Heidegger das Unheil zutiefst aus der denkerischen Erfahrung von Seinsvergessenheit und -verlassenheit sehen lässt. Diese Anmerkung über das Auszeichnende unseres Weltalters beruht auf Heideggers spezifischem 4 Sie reicht bis in die aktuell relevante Analyse der Künstlichen Intelligenz. Vgl. Leidlmair 1991. 5 Vgl. dazu die umfangreiche Auslegung von Helting, 1999. Phainomena 33 | 128-129 | 2024 Verständnis der Geschichte des Seins und zeigt in das Wesen des Nihilismus, der Heidegger nicht nur in seinen Nietzschevorlesungen, sondern auch etwa im Kontext der Frage nach der Ethik und einem Denken in Werten oder der Frage nach der Technik begegnet. Spricht Heidegger hier von der Verschlossenheit der Dimension des Heilen als dem „einzigen" Unheil, so ist diese Bezeichnung nicht in einem numerischen Sinn zu verstehen, sondern als unsere seinsgeschichtliche Epoche tragendes und be-stimmendes Unheil. Es kann daher nicht mit anderen „Unheilen" verrechnet werden. Mit seinem Hinweis auf die Verschlossenheit der Dimension des Heilen als dem einzigen Unheil verschließt Heidegger seine Augen nicht vor den alltäglich erfahrbaren und wissenschaftlich erforschbaren Erscheinungsformen dieses Unheils, auch wenn er selbst keine empirischen oder fachwissenschaftlichen Analysen anstellt: Die Atombombe, Wohnungslosigkeit, die Entwicklung des Menschen zum Maschinenwesen, Tod, Hoffnungslosigkeit - die Liste der von Heidegger wahrgenommenen Erfahrungen des Unheils ließe sich fortsetzen. Sein Denken, verkürzt gefasst als das Denken des Seyns, steht von Anfang an 150 in einer Spannung zu den Grundvollzügen unserer modernen Existenzweise, zu unserem Handeln bzw. Nichthandeln im Machenschaftlichen, zu den individuellen und gesellschaftlichen Entwürfen der Gegenwart, zu unserer Selbstinterpretation als animal rationale und zu unserem Denken als einem Rechnen und einer rechnenden Bestandssicherung. Der Begriff der Verschlossenheit kann sowohl seinsgeschichtlich wie auch im Horizont einer existenzialen fundamentalontologischen Analyse gefasst und erörtert werden. b. Das Unheil als Not der Notlosigkeit Angesichts des allgegenwärtigen Unheils kann eine Notlosigkeit also nicht konstatiert werden, und dennoch spricht Heidegger immer wieder, vor allem in seinen Beiträgen, von einer „Not der Notlosigkeit" (z. B.: Heidegger 1989, 125). Es kann daher nicht jene Not gemeint sein, die auf den ersten Blick die Menschen betrifft und deren Beseitigung ihre alltägliche Sorge und ihr Handeln gilt. Will man Heideggers Formulierung nicht voreilig verwerfen, sondern unterstellt man hier etwas Denkwürdiges, so ist vielleicht ein langer Atem nötig und die Bereitschaft, sich dem Denkwürdigen auch auf Umwegen Johannes Vorlaufer zu nähern. Das Versiegen der stillen Kraft des Feldweges, die Verschlossenheit der Dimension des Heilen und die Not der Notlosigkeit gehören, so sei supponiert, in das Selbe Geschehen der Geschichte des Seins. Ein Blick in die Texte Heideggers zeigt, dass er sein Thema als in der Geschichte der Metaphysik überliefert begreift und sein Denken darin verortet, diese Geschichte aber auch in die Frage nach dem Verfallen einfließen lässt: Unsere Fragestellung berührend ist etwa nicht zu übersehen, dass „Platons Lehre von der Wahrheit" mit dem expliziten Hinweis auf die Not der Notlosigkeit endet (vgl. Heidegger 1976, 238). Sind wir eingebunden und vielleicht sogar gefesselt an das Getriebe der modernen Welt, so, wie Platons Gefesselte in dessen Höhlengleichnis es sich nie hätten vorstellen können? c. Die unheilvolle Bewegung des Verfallens in die Verschlossenheit der Notlosigkeit Heideggers Platoninterpretation, gelesen als eine metaphysikgeschichtlich verortete Not der Notlosigkeit, öffnet einen möglichen Weg zum Verständnis des Verfallens in Sein und Zeit. Die darin entfaltete Begrifflichkeit greift zurück auf Äußerungen des jungen Heidegger, weist aber auch auf sein späteres Denken, wo zwar der Begriff selbst kaum noch verwendet wird, das in ihm Gedachte aber präsent ist (vgl. dazu Padrutt 1988). So sagt Heidegger im „Humanismusbrief", sich selbst interpretierend: „Das Vergessen der Wahrheit des Seins zugunsten des An-drangs des im Wesen unbedachten Seienden ist der Sinn des in ,S. u. Z.' genannten Verfallens'." (Heidegger 1976, 332.) Dies ist zumindest ein Hinweis darauf, dass ein zureichendes Verständnis des Verfallens ein Schlüssel sein könnte, um die Notlosigkeit zu verstehen. Dass das Verfallen kein Moralbegriff sein will und auch keine Gesellschaftskritik beabsichtigt, wurde zuvor in Sein und Zeit festgehalten: Er bezeichnet ein ontologisches und kein ontisches Verhältnis (Heidegger 1977b, 234). Genauerhin meint Verfallen eine der heilsamen Bewegung des Feldweges entgegengesetzte „Bewegung" (vgl. z. B. 1977b, 237) des alltäglichen In-der-Welt-seins: eine fluchtartige „Hinwegbewegung", d. h. eine Wegbewegung vom Sein als eine Hinbewegung zum Seienden. Die alltägliche Vergessenheit bzw. Verschlossenheit des Seins verschließt zwar nicht den Umgang mit Seiendem, lässt dieses sich als ein Bestimmtes zeigen, z. B. den Baum als Baum in seinem Phainomena 33 | 128-129 | 2024 Baumsein erkennen, es lässt auch etwas als etwas bewerten, und dennoch: In diesem sehenden bzw. verstehenden Umgang mit Seiendem wird der Horizont bzw. die Dimension dieses Sehens „über"-sehen, um es mit einer Schlüsselkategorie Platons zu benennen. Das hier alltagssprachlich verwendete „über" ist zugleich ein geschichtliches „über", das im „Meta" der Metaphysik ihre Reflexionsform findet. Wir können also effizient arbeiten, die Umwelt gestalten, Berge versetzen oder Energie gewinnen und Geld verdienen - die Vergessenheit des Seins ist so unauffällig, dass sie unser Tun in keiner Weise behindert. Wir können sogar präzise messen und forschen und so Zusammenhänge erkennen, die nützlich und überlebensnotwendig sind, ohne den Horizont dieses Tuns zu bedenken. Wir brauchen ein Denken des Seins somit nicht, um zu überleben, zu handeln und uns „wohnlich" in der Welt einzurichten. Um „gemütlich" zu „wohnen", müssen wir nicht über unser Sein in der Welt, d. h. die Tiefendimension von Bauen und Wohnen nachdenken. Zwar kann es sein, dass wir gelegentlich vor dem Gewöhnlichen unseres Wohnens aus unseren abgewohnten Behausungen 152 flüchten und Urlaub „machen", oder es kann sein, dass wir Angst haben, uns vom Tod bedrängt fühlen oder aber einfach gelangweilt sind, dass wir den Schrecken einer Sinnkrise kriegen, wenn wir unvorsichtigerweise unser Tun betrachten, doch das Ungeplante dieses Einbruchs des Seins in unsere Welt währt meist nur kurz und wir haben Strategien entworfen, um uns davor abzusichern und uns nicht einer Abgründigkeit aussetzen zu müssen. Um die Tiefe unseres In-der-Welt-seins nicht allzu nahe erfahren zu müssen, genügt es schon, z. B. Blumen als Pflanzen zu begreifen, die mit Wasser versorgt werden müssen - und wie von Zauberhand verwandelt sich ihre abgründige Schönheit in einen ästhetischen Anblick. Solange wir unser In-der-Welt-sein als Sein im Sinne eines „Vorkommens" in der Welt deuten, können wir ungehindert agieren und mehr oder weniger segensreich wirken. Erst wenn das Sein-in sich wandelt in ein In-sein in der Welt und dieses In, d. h. der Horizont unseres Existierens, uns berührt, geraten wir ins Stocken und vielleicht ins Fragen. Weil mit Verfallen nicht eine ontische Frage im Sinne einer „Eigenschaft" (Heidegger 1977b, 234), die wir haben, sondern eine ontologische, in unsere Möglichkeitsdimension reichende Frage nach uns selbst gefragt wird, und d. h. nach der Weise, wie wir unseren Bezug zu dem, was ist, austragen, wird dieser Begriff in dem ersten Johannes Vorlaufer Abschnitt von Sein und Zeit im „Kapitel 5: Das In-sein als solches" erörtert: Er bezieht die existenziale Konstitution des Da auf seine alltägliche Erfahrung und benennt, wie Heidegger 1969 im „Seminar in Le Thor" sagt, einen „Naturzustand"6 unseres Existierens. Es ist die Klugheit der klugen Tiere, wie sie bereits Friedrich Nietzsche (vgl. 1980b) kennt, oder, mit Heidegger formuliert: Es ist „der ,gesunde' Menschenverstand" (Heidegger 1976, 177),7 der nicht angekränkelt ist vom Denken und Fragen, dessen Selbstverstehen hier zur Sprache kommt: Der Mensch, der Notwendiges und Nützliches macht und das Nutzlose und Überflüssige meidet. Verbirgt sich im - von Heidegger unter Anführungszeichen gesetzten -„gesunden" Menschenverstand Unheiles? Weist er in die „Verschlossenheit" der Dimension des Heilen - obwohl er sich doch als „weltoffene" Erschlossenheit unseres besorgenden Existierens bewährt? Wie ist ihm sein In-der-Welt-sein erschlossen? Die ihm spezifische Erschlossenheit bezeichnet Heidegger als Benommenheit von der Welt und dem Mitdasein Anderer (vgl. Heidegger 1977b, 234): Benommenheit aber ist eine besondere Weise des In-Anspruch-genommen-Seins: Besorgend geht das Dasein auf als ein Sein-bei. Man darf hier 153 vermutlich wieder an die von den Schatten beanspruchten Menschen in Platons Gleichnis denken: Heidegger spricht von einem Geblendetsein (Heidegger 1976, 220), an anderen Stellen sogar von „Verblendung" (Heidegger 2000, 528; 2006, 96). Man könnte daher sagen, dass die Dinge hier den Menschen sehr „nahe" sind, und dennoch spricht Sein und Zeit8 und noch deutlicher der „Humanismusbrief" (Heidegger 1976, 339) von einer Entfremdung, um die Bewegung dieses Seins-bei zu charakterisieren. Doch warum schlägt die scheinbare Nähe um in eine Fremde?9 6 Vgl. Heidegger 1986, 362: „Das ontologisch verstandene Verfallen' ist sogar der Naturzustand des Daseins, sofern es sich nur mit den Dingen befassen kann, indem es sich nicht auf das Sein einläßt." 7 Vgl. dazu „Vom Wesen der Wahrheit": „Der gemeine Menschenverstand hat seine eigene Notwendigkeit; er behauptet sein Recht mit der ihm allein zustehenden Waffe." (Heidegger 1976, 178.) 8 Vgl. Heidegger 1977b, 236: „Das verfallende In-der-Welt-sein ist als versuchend-beruhigendes zugleich entfremdend." 9 An einem Alltagsbeispiel gefragt: Warum wird der Weihnachtsschmuck in all seinem Phainomena 33 | 128-129 | 2024 Wenn man in einem wegweisenden Satz in Sein und Zeit das Wörtchen „kann" hervorhebt, wird sichtbar, dass es Heidegger nicht um eine simple „Kritik" an unserem sorgenden Verhalten geht: „Das Besorgen ist je schon, wie es ist, auf dem Grunde einer Vertrautheit mit Welt. In dieser Vertrautheit kann [sic!] sich das Dasein an das innerweltlich Begegnende verlieren und von ihm benommen sein." (Heidegger 1977b, 102.) Sich an etwas sorgend zu verlieren,10 ist noch kein Benommensein, aber Benommensein ist ein Sich-Verlieren an etwas. Wo das Möglichsein unseres Selbstseins sich sorgend an sein handelndes Wirken und an Wirklichkeit verliert und dessen Struktur des zu-Tun-Habens auf das Dasein zurückschlägt, verwandeln wir selbst uns in ein vorhanden „Wirkliches" und unterliegen in diesem Sinne einer Verdinglichung. Nicht die Abschaffung von Sorge kann daher in Heideggers Frage nach dem eigentlichen In-der-Welt-sein liegen, sondern eine - vielleicht - andere, als wir uns in unserem geschichtlich-epochalen Selbstentwurf angeeignet, zu eigen gemacht haben: Der Ausdruck „Sorge" hat „nichts zu tun mit ,Mühsal', Trübsinn' und ,Lebenssorge', die ontisch 154 in jedem Dasein vorfindlich sind. Dergleichen ist ontisch nur möglich ebenso wie ,Sorglosigkeit' und ,Heiterkeit', weil Dasein ontologisch verstanden Sorge ist." (Ibid., 77.)11 Damit ist gesagt, dass Trübsinn ebenso wie Heiterkeit ontologisch in der Sorge gründen. Mit Sorge ist ein Ganzsein, der Ermöglichungsgrund eines Heilen angesprochen. Glitzern nicht zu einem Glanz aus der Tiefe, sondern eigentümlich trostlos, warum wandelt sich der geschmückte Weihnachtsbaum jedes Jahr innerhalb von Stunden in einen zu entsorgenden Sondermüll und warum sind die in den Supermärkten gespielten Weihnachtslieder schal und freudlos? 10 Vgl. Heidegger 2006, 256: „Verfallen ist immer ein Verfallen an das nicht daseinsmäßig Seiende." 11 Dies ist auch die einzige Textstelle in Sein und Zeit, wo der Terminus „Trübsinn" explizit genannt wird. Johannes Vorlaufer 2. Selbstsorge: Die existenziale Interpretation der Frage nach dem Heilen in Sein und Zeit a. Die Flucht vor der Stille ... Heidegger konzipiert keine Handlungstheorie im Sinne einer Reflexion und Optimierung unseres Handelns, sondern fragt nach unserer existentialen Struktur in ihrer Verwobenheit mit der Seinsgeschichte unter der Perspektive, dass wir in diesem Besorgen uns selbst in dem, wer wir (eigentlich) sind, vergessen, d. h. er fragt nach dem In-der-Welt-sein im Modus der Uneigentlichkeit. Diese Existenzweise bestimmt sich aus der Flucht vor der abgründigen Möglichkeit, sich als Selbst zu eigen zu sein, d. h. sich in seiner Faktizität zu übernehmen. Faktizität meint: Wir sind uns selbst als Gabe so gegeben, dass uns diese Weise zu sein aufgegeben ist. Warum aber flüchten wir? Ein Fluchtverhalten vor unserem eigensten Sein ist eine Flucht vor der aus der „Mitte" unseres Selbst uns rufenden Stille: Der Ruf des Gewissens „ruft das aufgerufene Dasein als still zu werdendes in die Stille seiner selbst zurück" (Heidegger 1977b, 393). In die Stille seiner selbst zurückgerufen zu werden meint nicht nur einen Rück-Ruf aus unseren Selbstentwürfen, sondern ein Zurück an einen Ort, der nirgends ist und sich in diesem Sinne durch Ortlosigkeit auszeichnet und in seiner kategorialen Unbestimmtheit ein Nichts zu sein scheint. Denn Stille ist nicht nur nichts Seiendes, sie ist auch in ihrem Nichts-„sein" unbestimmt und vieldeutig und bestimmt uns, indem sie uns in eine Stimmung versetzt. Nicht nur in unserer Mitte, sondern auch am Anfang oder im Tod am Ende unseres Daseins trägt uns und erwartet uns eine eigenartige und vielleicht beängstigende Stille, aber auch dort, wo wir uns Ich-sagend denkend und handelnd sicher wähnen - etwa in Gestalt einer Pause (vgl. Pöltner 2018), in einer Langeweile oder im Schweigen während eines Gesprächs: Mitten im Heimischen waltet so offenbar eine vielfältige und oftmals unheimliche Stille. Hat sie uns nichts zu sagen oder sagt sie uns nichts oder verstehen wir ihr Nichts vorschnell und gedankenlos als ein pejoratives, d. h. ein negatives Nichts, als Nichts eines Mangels? Als Mangel an Sicherheit etwa aufgrund der Haltlosigkeit ihres Abgrundes? Oder aber sagt sie zu viel für unser gewohntes Hören, so Phainomena 33 | 128-129 | 2024 dass ein „Hören der Stille" erst mühsam eingeübt werden muss - vielleicht auf einem Feldweg? Warum aber flüchten wir vor der Stille - in den Lärm? Was Heidegger als Fluchtbewegung des Verfallens begreift, gibt sich uns ganz anders, nämlich als das Versprechen, das Gefühl eines „lebendigen Lebens" (Heidegger 1977b, 230) zu erleben, gewissermaßen die Leere der Stille zu füllen. Es ist eine Flucht aus dem Nichts der Stille des Selbst in ein Man-selbst, und dies „entlastet", wie Heidegger immer wieder betont (z. B. ibid. 1977b, 170), unseren Selbstentwurf so sehr, dass wir die Unruhe dieser Bewegung als beruhigend (ibid., 236) erleben können: Die Flucht in den Lärm des Getriebes beruhigt insofern, als er die in der Stille erfahrbare Vereinzelung aufhebt und den stillen Ruf des Gewissens übertönt. Wir können uns dann als Mitsein erfahren und in diesem Miteinander Bestätigungen oder Wertschätzungen erhalten, die uns den ersehnten Halt geben.12 Es ist das Beruhigende dieser Unruhe, das uns antreibt und das Getriebe am Laufen hält. Sogar der tradierte Hoffnungsbegriff, der auf etwas hofft, gründet in diesem Verfallen.13 156 Flucht vor sich selbst kann deshalb unterschiedlichste und fast unscheinbare Formen annehmen bzw. sich selbst gerade als das Gegenteil von Flucht, etwa als Engagement oder Aktivität, interpretieren und als Erfolg, Macht, Anerkennung, Interesse, Weltoffenheit, Kommunikation, Teamgeist, etc. maskieren. Wenn Heidegger dieses entlastende Man-selbst-sein im Gerede, in Neugier und Zweideutigkeit in unterschiedlichen Erscheinungsformen wie Aufenthaltslosigkeit, Unverweilen oder Zerstreuung sich entfalten sieht, so mögen diese Begriffe zwar nicht unserer gegenwärtigen Alltagssprache entnommen sein, das damit Angesprochene aber trifft hingegen die alltägliche Lebensweise moderner Gesellschaften. So verbirgt sich etwa in dem allgegenwärtigen Mobilitätsdruck Bewegtheit als ein unstetes Herumirren in einer Welt, die sich zunehmend als Aufenthaltsort entzieht.14 12 Alltägliche Beispiele könnten diesen vielleicht sperrigen Gedanken vielleicht zugänglich machen, wenn wir etwa ökonomischen Erfolg beobachten und die Bedingungen des Erklimmens einer Karriereleiter bedenken. 13 Vgl. den Diskurs Heideggers mit Fink (Heidegger 1986, 244-248). 14 Gerd Häffner erörtert, warum es so schwierig ist, Nähe, und d. h. die Gegenwart des Johannes Vorlaufer Flüchten wir vor der Stille, so flüchten wir vor uns selbst: Zwar begreift Heidegger die Wegbewegung von unserem Sein als Hinbewegung zum Seienden als den Versuch einer Entlastung unseres Existierens, aber er sieht in dieser Fluchtbewegung zugleich eine Zerrissenheit und auch, dass sich dem Menschen auf dem Grunde dieser Uneinigkeit mit sich selbst das Dasein gerade als „Last" erweisen kann: Der Mensch wird - so, wie es auch Der Feldweg späterhin formuliert - sich selbst als Selbst „überdrüssig" (Heidegger 1977b, 179). Wer der Welt so verfallen ist, dass er sich nur noch aus dem zu Besorgenden - und hier ist auch die besorgende Fürsorge inkludiert -versteht, vermag zwar der Überdrüssigkeit entkommen wollen, indem er sich vollends in Aktivität zu retten sucht, in einen „Wirbel" (ibid., 237) stürzt, um in der Zerstreuung eines vollen und echten Lebens (vgl. ibid., 235 f.) die Last Daseins abzuwerfen. Das im Verfallen angebotene Wohlbefinden mag dann als angenehmer Stress wahrgenommen werden und kann dennoch kränkend sein, wenn das Ganzsein des Daseins nicht zugelassen wird. Denn getrennt von unserer Mitte und ihr entfremdet sind wir ent-zweit, uneins mit uns selbst und bilden so in uns das Fundament einer Verzweiflung. 157 Manches von dem, was Heidegger hier gesehen hat, wurde auch von anderen bemerkt, so hat z. B. der Psychoanalytiker Arno Gruen in Der Wahnsinn der Normalität (1987) gezeigt, wie machtorientierte Menschen versuchen, ihre innere Leere zu kompensieren. Zugleich aber ist das Phänomen auch seit alters her bekannt und wurde, worauf Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld hingewiesen hat, „schon in der griechischen und lateinischen Mönchsliteratur der Väterzeit" (1954, 460) erwähnt und späterhin als Lasterlehre bzw. Achtlasterlehre bekannt. Wie Wucherer-Huldenfeld in seinen Ausführungen unter dem Titel „Maskierte Depression und Trägheit' in der klassischen Achtlasterlehre"15 zeigt, wurde hier aus einem spezifischen, in der christlichen Spiritualität verankerten Kontext vor allem die acedia in ihrer Verbindung mit der tristitia in ihrem eigentümlichen Leiden gesehen. Die Leiden der „Laster" entspringen, wie seine philosophische Besinnung Gegenwärtigen, zu erfahren (1996) und nicht vor ihr zu flüchten. 15 Vgl. Wucherer-Huldenfeld, 1997b. Für eine umfangreiche Darstellung zur philosophiegeschichtlichen Rezeption der acedia vgl. Lambrecht 1996. Phainomena 33 | 128-129 | 2024 deutlich macht, einer Unruhe des Sich-nicht-zu-eigen-Seins. Das Nichthören und Sich-nicht-ansprechen-Lassen von dem Anruf an uns selbst könnte man, Heideggers Terminologie aufgreifend, als ein Verweigern unserer „Selbstsorge" (Heidegger 1977b, 256) und in diesem Sinne als Sorglosigkeit verstehen. Mit seiner phänomenorientierten Übersetzung der acedia als „sorgloser Uneigentlichkeit" (Wucherer-Huldenfeld 1977, 352) sucht Wucherer-Huldenfeld entgegen der vorherrschenden Übersetzung mit Trägheit diesen Ursprung des in der Lasterlehre dargestellten menschlichen Leidens adäquater zu benennen. Zugleich wird in dieser sprachlichen Formulierung der Anschluss an die Terminologie von Sein und Zeit möglich und die Relevanz für eine existenziale Interpretation deutlich. Die Analysen der Zeitlichkeit im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit verdeutlichen, warum das Verfallen nicht nur keine Moralkritik sein will, sondern vielmehr als ein Schlüsselbegriff der Fundamentalontologie fungiert, denn dem Verfallen wird die Zeitdimension der Gegenwart zugeordnet, genauer: Es kennzeichnet unsere Weise zu sein: uneigentlich gegenwärtig zu 158 sein. Deshalb heißt es in Sein und Zeit: „An das Besorgte vielgeschäftig sich verlierend, verliert der Unentschlossene an es seine Zeit [...]" (Heidegger 1977b, 542) - und hat daher nie Zeit für das, was die Situation erfordert (vgl. ibid., 542). So ist auch das Hörenkönnen in der Epoche des Verfallens ein eingeschränktes, nämlich ein technisches Hören, ein Scannen von Informationen. So sehr dieses vielleicht schnell und präzise Informationen verarbeiten kann, ist es aber dennoch dem Ungesagten verschlossen. Denn dieses zu vernehmen - und dies hieße im Kontext des Mitseins: den Anderen in seiner Andersheit wahrnehmen - bedürfte einer anderen Ruhe als in der „Ruhe" des Man-selbst erfahrbar ist. Diese Ruhe kann deshalb, Heideggers Analyse auslegend, eine uneigentliche Ruhe - beruhigt durch das Bewerten des Man - genannt werden: Verfallend existiert das Dasein uneigentlich, und dies meint im Kontext unserer Auslegung: die Stille seiner selbst übertönend. Als zerrissenes aber vermag das Dasein sein Ganzsein nur als Kompositum, ein Zusammengesetztes, zu erfahren. In dieser Zusammensetzung liegt ein Befremdliches, sich selbst verneinendes Moment, ein bis in unsere Leiblichkeit hinein uns Zerreißendes. Keine Psychosomatik, solange sie nur die Zerrissenheit zweier Teile flicken will, kann den Riss im Dasein als Verfallensein wieder Johannes Vorlaufer kitten, die Fuge in eine Fügsamkeit schließen,16 sondern nur eine Fügsamkeit, die als Selbstbewegung unser Dasein in seine Möglichkeit hinein freigibt. b. ... und die Stille des Selbst Stille, als Erkenntnisobjekt verstanden, ist nichtssagend: Über Stille kann „nichts" ausgesagt werden, denn sie entzieht sich allem Sprechen über sie - in ein Nichts. Zugleich überspringt das Verständnis von Stille als Negation des Lauten - z. B. die empirisch korrekte Feststellung von 0 Schallwellen - das erfahrene Phänomen in ein vorgestelltes - und bestätigt die Vorannahme, dass hier nichts zu hören sei. Die Vorgangsweise, ein Phänomen erst zu definieren, um es dann zu bestimmen, scheitert offensichtlich. Umgekehrt aber: Suchen wir uns selbst zu begreifen in dem, wer wir sind und was wir tun, erfahren wir uns als von einer Stille getragen: Stille stimmt und bestimmt uns in unserer Weise, wer und wie wir sind. Zumeist lassen wir zwar ihre Erfahrung nicht zu, sondern vertreiben sie so, wie wir Zeit und Langeweile vertreiben - vielleicht, weil in diesen Alltagsphänomenen sich ^ eine Stille meldet? Wenn wir versuchen wollen, Stille zu verstehen, müssen wir zumindest einen Augenblick still werden, um das Nichtverstehen von Stille verstehen zu können. Waltet vielleicht im Nicht des Nichtverstehens eine Stille - wenngleich zumeist nur für die Dauer einer „Schrecksekunde"? Denken ist nicht möglich, ohne still zu sein, horchend innezuhalten. Meint Denken gar ein „Hören der Stille", wie Heidegger sagt?17 Und manchmal sehnen wir uns sogar nach ihr, wenn der Lärm des Getriebes zu heftig ausfällt und wir so überlastet und erschöpft sind, dass eine Sehnsucht nach einem „ganz anderen" erwacht. Doch trotz dieser vorübergehenden und schnell wieder entschwindenden Sehnsucht ist unser Verhältnis zur Stille zwiespältig und es bleibt die Frage: Sagt uns Stille nichts oder sagt sie zu viel, sodass wir nichts hören können? 16 Vgl. Schopf 2023. Zum hier angesprochenen Verständnis von Fügsamkeit vgl. Heidegger 1989, 309: „Der Entwurf des Da-seins ist nur möglich als Einrückung in das Da-sein. Der einrückende Entwurf aber entspringt nur aus der Fügsamkeit gegen die verborgenste Fügung unserer Geschichte in der Grundstimmung der Verhaltenheit." 17 Vgl. Heidegger 2018, 109: „Denken ist Hören der Stille." Vgl. dazu Vorlaufer 2024. Phainomena 33 | 128-129 | 2024 Diese kurzen und nicht erschöpfenden Hinweise wollen zeigen, dass Stille, wie immer wir sie verstehen oder nicht verstehen, uns in unserem Dasein und Denken trägt und begleitet. Wir können nur die Erfahrung der Stille als Erfahrung ihres Stillens zur Sprache zu bringen suchen, genauer: das Erfahrene dieser Erfahrung - und sei dies die Erfahrung der Nichterfahrbarkeit, das Sprechen über das Unaussprechliche, das uns in seinem eigentümlichen „Un" anspricht: die „große" Stille. Vielleicht muss dieses Sprechen sich aber auch in ein Erschweigen verwandeln, um Stille als das zu Sagende zu wahren und nicht zu zerreden.18 Wenn uns daher der Ruf des Gewissens zurückruft in die Stille unserer selbst (vgl. Heidegger 1977b, 393), so postuliert dieser Ruf nicht eine wilde Entschlossenheit, sich Stille vorzustellen und vor dieser Vorstellung nicht zu flüchten, sondern will uns vor die Möglichkeit bringen, die Stille zu sein. Auch Heidegger hat keine „Theorie" und kein Konzept, wie Stille zu fassen ist, aber nennt ein Fragwürdiges: „Horchen und Inständigkeit im Da nicht als ,Hören'-mit dem Ohr aufnehmen - sondern als still-sein: die Stille - sein. Was aber 160 ist die Stille? Und welcher Art dieses ,- sein'? Das Da-sein." (Heidegger 2010, 133.) Die Umwandlung der Frage nach der Stille von einer vorgestellten Stille in eine erfahrene radikalisiert die schlichte Frage: Was ist Stille? Der Ruf des Gewissens berührt uns deshalb in unserer Modaldimension als Wesen der Möglichkeit. Meldet sich im Hören des Gewissensrufes ein Heilsames? Wenn nicht einmal die Leere des Kruges aus einem bloßen Nichts zu begreifen ist, ist dann die als Dasein erfahrene Stille eine Leere, die uns - aus der Zerstreuung rufend - zu sammeln vermag? Worin beruht ihr Stillen? c. Die Erfahrung des Ganzseins in der Stille des Augenblicks Sein und Zeit spricht weder vom Heilsamen noch vom Heilen, geschweige denn vom Heiligen. Aber die Frage, die den Gedankengang bewegt, ist die nach einem möglichen Ganzsein des Menschen und findet ihre Verankerung im Begriff der Sorge. Sorge bindet die existenzielle und die existenziale Fragerichtung der Fundamentalontologie in eine verschränkte Einheit - und 18 Vgl. Vorlaufer 2023. Johannes Vorlaufer es wäre grotesk, würden die beiden Fragestränge gerade in der Frage nach dem Ganzsein nicht nur unterschieden, sondern in zwei getrennte Dimensionen menschlicher Existenz zerrissen werden. Als ontologischer Begriff verweist Sorge in unseren Alltag, als existenzieller Begriff in unsere Modalstruktur: Sorge „umgreift" unsere Seinsbestimmungen und kann in bestimmter Weise tautologisch als Selbstsorge verstanden werden, denn sie „birgt schon das Phänomen des Selbst in sich" (Heidegger 1977b, 421).19 In diesem Bergen kann ein Vorgriff auf jenes „Hüten" und „Schonen" mitgelesen werden, wie es das spätere Denken Heideggers charakterisieren wird. Denn schon in Sein und Zeit verschärft sich „das Problem der ontologischen Bestimmung der Selbstheit des Daseins zur Frage nach dem existenzialen Zusammenhang' zwischen Sorge und Selbstheit" (ibid.). Aus der Perspektive der vorliegenden Fragestellung gelesen ist Selbstsorge Sorge um die Stille unserer selbst. Über der Eingangstür zu Heideggers Wohnhaus in Freiburg am Haus am Rötebuck 47 in Freiburg/Zähringen ist ein Spruch aus der jüdischen Bibel eingraviert, der dieses Selbstverhältnis benennt: „Behüte dein hertz mit allem vleiß / Denn daraus gehet das Leben." (Sprüche Salomo 161 4,23; Luther 1974.) Diese existenziell-ethische Formulierung findet in Sein und Zeit eine existenzial-ontologische, wenn sie die Temporalität der Sorge entfaltet. Die Sorge mit ihrer Formel „Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)" (Heidegger 1977b, 256) meint kein Kompositum, kein additives Verhältnis chronologischer Zeitmomente, sondern sucht die Frage nach dem Ganzsein in einem fundierenden temporalen Geschehen zu fassen, dies, dass wir Menschen als ek-sistierende die werden können, die wir sind. Sorgend ist das Dasein unterwegs zu seinem Ganzsein, und in diesem Unterwegssein ist das Dasein ein Auf-sich-zu-kommen, auf sich zurück in sein Anfängliches, Mögliches. Die temporale Analyse ist somit die Frage nach einer ursprünglichen Zeiterfahrung und entfaltet Sorge als Sorge 19 Vgl. auch Heidegger 1977b, 256: „Die Sorge charakterisiert nicht etwa nur Existenzialität, abgelöst von Faktizität und Verfallen, sondern umgreift die Einheit dieser Seinsbestimmungen. Sorge meint daher auch nicht primär und ausschließlich ein isoliertes Verhalten des Ich zu ihm selbst. Der Ausdruck ,Selbstsorge' nach der Analogie von Besorgen und Fürsorge wäre eine Tautologie." Phainomena 33 | 128-129 | 2024 ums Ganze. Damit verfolgt sie eine Gegenbewegung gegen die Zerstörung der Ganzheit durch den Chronos und sucht die temporale Unversehrtheit als ein nicht-Zerrissensein in Stücke, die das Dasein dann ver-zwei-felt wieder zusammenstücken müsste, zu verstehen: „[...] ist einmal die Zeit als Uhrzeit definiert, so ist es hoffnungslos, je zu ihrem ursprünglichen Sinn zu gelangen" (Heidegger 2004, 122). Die Frage nach dieser ursprünglichen Zeiterfahrung aber ist nicht zu fragen ohne die nach der Stille, denn: Die „Zeit selbst im Ganzen ihres Wesens bewegt sich nicht, ruht still" (Heidegger 1985, 202). In den Schwarzen Heften lautet dementsprechend eine Anmerkung Heideggers: „Die Jähe der Stille ist die einzige Spur des unvordenklichen Wesens der Zeit als der Ortschaft des Seyns [Seyn von Heidegger kreuzweise durchgestrichen, J. V.]." (Heidegger 2015, 354.) „Jähe der Stille" wäre eine geeignete Definition für die Augenblicklichkeit unseres Daseins. Denn der Augenblick der Stille, wie er uns auch alltäglich begegnen mag, verweist in die Stille des Augenblicks: So wie das Innerste einer Flamme dunkel ist, so ist das Innerste des Augenblicks still. Dementsprechend 162 ist die Stille des Augenblicks umhüllt und eingehüllt in Sprache. Stille ist kein Zustand und kann daher weder gemessen noch vorgestellt werden. Sie gibt sich deshalb augenblicklich zu erfahren als Entzug aus dem Getriebe der Normalität, d. h. als ein Ziehen in ein „Nichts". Stille zu hören ist deshalb kein alltägliches Tun, aber ein Tun, das den Alltag verwandelt -augenblicklich. In Sein und Zeit ist der Gegenbegriff zur Zeitlichkeit des Verfallens die Augenblicklichkeit:20 Eigentlichkeit ist uns nur ereignishaft-augenblicklich und nicht als Zuhandenes gegeben, ebenso das Heilsame. 20 Augenblick meint die „in der Entschlossenheit gehaltene Entrückung des Daseins an das, was in der Situation an besorgbaren Möglichkeiten, Umständen begegnet" (Heidegger 1977b, 447). Im Augenblick wird die Gegenwart „in der Zukunft und Gewesenheit gehalten" (ibid.) und „erschließt das eigentliche ,Da'" (ibid., 459): Während das Dasein in der uneigentlichen Gegenwart „überall und nirgends" (ibid.) ist, lässt hingegen der Augenblick Innerweltliches und Innerzeitiges in seinem Sein „begegnen" (ibid., 447). Johannes Vorlaufer 3. Rückkehr auf den Feldweg: Von der Erfahrung des Heilsamen in der Stille Der Kontext des dritten Feldweggesprächs mit dem Titel „Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager in Russland zwischen einem Jüngeren und einem Älteren" (Heidegger 2007, 203-245) ist ein unheiler. Dass der biografische Hintergrund der ist, dass Heideggers Söhne dort interniert waren, sei in unseren Überlegungen ebenso ausgeblendet wie Heideggers persönliche Lebenssituation zur Zeit der Entstehung dieser „erdachten Gespräche 1944/45" (vgl. dazu Riedel 2013). In diesem Gespräch spricht der „Jüngere": „Als wir heute früh zu unserem Arbeitsplatz marschierten, überkam mich plötzlich aus dem Rauschen des weiten Waldes etwas Heilsames. Den ganzen Tag hindurch sann ich darüber nach, worin wohl dieses Heilende beruhen könnte." (Heidegger 2007, 205.) Zwar ist das Rauschen des weiten Waldes auf dem Marsch zu einem Arbeitsplatz nicht das gleiche wie der Gang auf einem Feldweg, aber vielleicht zeigt sich hier ein Selbes, dem wir hörend entsprechen können - die Kennzeichnung des Waldes als eines „weiten" ist ein möglicher 1^3 Hinweis. Unterwegs „überkommt" den jüngeren Gesprächsteilnehmer etwas Heilsames, und er fragt sich, worin dieses „beruhen" könnte. Mit den Termini „überkommen" und „beruhen" zeigt Heidegger eine Richtung seines Verstehens an: Das dritte Feldweggespräch versteht das Heilsame aus der Ruhe des Wartens. So lautet der Schlüsselsatz: „Was anders könnte das Heilende sein als Jenes, was unser Wesen warten lässt" (ibid., 226) - denn im Warten „wird das Menschenwesen gesammelt in die Achtsamkeit auf das, wohin es gehört" (ibid.). Die Zeitdimension des Wartens ist das andere der Zeit des Verfallens, denn im alltäglichen Besorgen erwarten wir etwas, doch das Erwarten ist nicht mit dem erwartungslosen Warten gleichzusetzen: Diese Weise präsent zu sein ist getragen von einem gesammelten Lassen. Was uns aber gesammelt präsent sein lässt, ist nichts Gegenständliches mehr - es ist das Unvordenkliche: das, „dem vorauf sich überhaupt nichts mehr denken läßt" (ibid., 231). Das „Unvordenkliche" enthält „mehr" als alles Vorstellen jemals vor sich stellen und erwarten könnte, denn das „Mehr" nennt das „ganz andere" des gewöhnlich Phainomena 33 | 128-129 | 2024 Gehörten: die „Stille des Seyns".21 Daher, so heißt es deshalb weiter, „lässt sich auch das Heilende nie in aussagenden Sätzen darstellen" (Heidegger 2007, 231). Zurückgerufen von der Stille des Wartens vermögen wir unvermutet im Rauschen des „weiten Waldes" die Weite und Tiefe menschlichen Daseins zu erfahren. Blicken wir auf den Feldweg zurück, denn auch dort wird von einer Weite und Tiefe22 gesprochen: „Die Eiche selber sprach: [...] daß wachsen heißt: der Weite des Himmels sich öffnen und zugleich in das Dunkle der Erde wurzeln." (Heidegger 1983, 88.) In dieser Verwurzelung wandelt sich der das Verfallen23 kennzeichnende Absturz in die Bodenlosigkeit in eine neue Erfahrung eines Gegründetseins. So wird mit dem Hören der Stille der Feldweg zugleich zum Ort der Erfahrung des „Ge-Vierts".24 In der Schlusspassage des Feldwegs spricht Heidegger wieder von Stille und intensiviert ihre Erfahrung als die von Zeit: Unter den „Schlägen des Stundenhammers" wird „die Stille [.] mit seinem letzten Schlag noch stiller" (Heidegger 1983, 90). In dieser - wie es Heidegger in den Beiträgen nennt -164 „große[n] Stille des Seyns" (Heidegger 1989, 96) erwacht „die unerschöpfliche Kraft des Einfachen" (Heidegger 1983, 90). So kann Heidegger seinen aus der kleinen Schrift Aus der Erfahrung des Denkens stammenden, berühmt gewordenen Gedanken reformulieren: „Die Verdüsterung einer Welt erreicht nie das stille Licht des Seins." (Heidegger 2015, 21.)25 Im Un-Heil - inmitten der Not des Gefangenenlagers, der Not des Verfallens oder der Not der Notlosigkeit - kann sich ein Un-Nötiges26 auftun: 21 Vgl. Heidegger 2013, 744: „Der andenkende Dank fügt sich dem einstigen Wink der Stille des Einzigen. Die winkende Stille des Seyns ist das ursprüngliche, noch saglose und vollends lautlose Wort. Der andenkende Dank empfängt die winkende Stille. Er sagt erst das ursprüngliche Wort." 22 Vgl. Wucherer-Huldenfeld 1993. 23 Vgl. Heidegger 1977b, 237: „Das Dasein stürzt aus ihm selbst in es selbst, in die Bodenlosigkeit und Nichtigkeit der uneigentlichen Alltäglichkeit." 24 Vgl. auch Heidegger 2007, 88: Nur gedeiht, „wenn gleich recht beides ist: bereit dem Anspruch des höchsten Himmels und aufgehoben im Schutz der tragenden Erde". Zum Schema des Gevierts vgl. Marafioti 2024. 25 In Aus der Erfahrung des Denkens (1983, 75) heißt es etwas verkürzt: „Die Verdüsterung der Welt erreicht nie das Licht des Seyns." 26 Zum Begriff des Unnötigen bei Heidegger und seinen Bezug zum Taoismus vgl. Johannes Vorlaufer die Stille des Nichts und das Nichts der Stille. Wer sich auf den Ruf der Stille einlässt, kann sich „unvermutet" als eingelassen erfahren in ein Geschehen des Sich-gegeben-Seins. Stille ist dann ein anderes als ein bloßes Nichts, sie wird zur Stille des Seyns - zu jenem Sein, von der es im „Humanismusbrief" heißt: Es ist „die ,stille Kraft' des mögenden Vermögens, das heißt des Möglichen" (Heidegger 1976, 316). Schlussbemerkung Der Ruf der Stille ist ein Sammeln: Dieses entzieht der Zerrissenheit ihren Boden und lässt den, der sich vom Feldweg in Anspruch nehmen lässt, mit sich geeint sein. In ihrem Stillen gönnt Stille uns die Ruhe der Sammlung: ein schonendes Lassen in-mitten des Verfallens. Das Hören der Stille ist dann als ein zur-Ruhe-kommen ein zur-Welt-kommen. Denn dann erst kann Welt in ihrer Weite und Tiefe und nicht als eine Anhäufung von Gegenständen erfahren werden. Bibliography | Bibliografija Choong-Su, Han. 2017. „Heideggers Rezeption des Taoismus. Die Notwendigkeit des Unnötigen (Mffl^ffl) in der Leistungsgesellschaft." In Perspektiven mit Heidegger. Zugänge - Pfade - Anknüpfungen, hrsg. von G. Thonhauser, 326-339. München: Karl Alber. Gruen, Arno. 1987. Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit: Eine grundlegende Theorie zur menschlichen Destruktivität. Stuttgart: Kösel. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von. 1994. Wege ins Ereignis. 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Eugen Fink Annäherungen | Approaches | Rapprochements Cathrin Nielsen | Hans Rainer Sepp | Alexander Schnell | Giovanni Jan Giubilato | Lutz Niemann | Karel Novotny | Artur R. Boelderl | Jakub Capek | Marcia Sa Cavalcante Schuback | Dominique F. Epple | Anna Luiza Coli | Annika Schlitte | Istvan Fazakas D NR INSTITUTE NOVA REVIJA FOR THE HUMANITIES 0 phainomena PHENOMENOLOGICAL SOCIF^ OF LJUBLJANA 977131833620412829