Filozofski vestnik Letnik/Volume XXIII • Številka/Number 2 • 2002 • 255-269 " L E B E N D E " A N A T O M I E N 1 9 0 0 / 2 0 0 0 : KINEMATOGRAPHISCHE SERIENSCHNITTANIMATION UND VOXELBASIERTE VOLUMEN VISUALISIERUNG CLAUDIA REICHE Relais In diesem Beitrag wird es darum gehen, ein Feld zwischen wissenschaftlichen Bildlichkeiten und Diskursen zu erzeugen, die die räumliche Darstellung des menschlichen Körpers betreffen. Die hierbei herangezogenen Bild-und Text- quellen markieren an ihren äußersten Polen eine historische Spanne von fast 100Jahren. Es entstammen die Materialkomplexe zwei verschiedenen medien- technischen Hervorbringungen und sollen den Unterschied, wie er zwischen analogen und dem digitalen Medium besteht, nach der Art eines Schaltgeräts kontaktgebend überspringen oder unterbrechen, indem Materialien aus der Anfangsphase der Kinematographie mit heutigen Datenvisualisierungen in eine bewegliche Relation gebracht werden. Zum einen werden aus dem Bereich des Films "Serienschnittanimationen" herangezogen. So werden kurze Filmstücke bezeichnet, die durch Einzelbild- Aufnahmen von Schnitten durch anatomische Präparate zustande kommen. Allerdings lassen sich die hier referierten Filmstreifen nicht mehr im Origi- nal auffinden, sondern erscheinen anhand der Spuren, die sie in der zeitge- nössischen Fachpresse von 1907 hinterlassen haben. Visuell und konzeptio- nell ergänzt wird dieser Pol durch technisch verwandtes Material serieller Animation in der Kunst, nämlich der Film-Avantgarde der 20er Jahre. Hier geht es um ein Verfahren Oskar Fischingers aus dem Kontext des "abstrakten o d e r - w i e es programmatischer h e i ß t - d e s 'Absoluten Films.'" Zum anderen werden errechnete Bildanimationen aus der Mitte der 1990er Jahre dazu in ein Verhältnis gesetzt. Sie sind im Umfeld des "Visible Human Projects" grup- piert und arbeiten an vieldimensionalen Bild- und Navigationssysteme sym- bolisch-räumlicher Computermodelle der mensclichen Anatomie. Stromfluß und Unterbrechung, die zwischen diesen beiden zueinander- gerückten gegensätzlichen Polen arrangiert werden sollen, haben mit einer schlagenden Ähnlichkeit umzugehen, einer überspringenden Verbindung 2 8 7 CLAUDIA REICHE dieser beiden historisch und medial differenten Materialgruppen. Solche Ähnlichkeitswahrnehmung entsteht zum einen in der konkreten Anschau- ung der filmischen und digitalen Animationen. Zusehen gegeben wird jeweils anhand von zweidimensionalen Schnittbildern das Innere eines Körpers. Die Bewegung eines Eindringens in dies Innere erzeugt eine spezifische Darstel- lung der Dreidimensionalität. Zum anderen entsteht eine Ähnlichkeit auch hinsichtlich der diskursiven Fassung, die sich jeweils als paradoxales, unmit- telbar gesehenes "Leben" artikuliert.1 Arzt/Trickfilmer Zunächst seien die medizinischen Filmexperimente von Dr. Karl Reicher vorgestellt. Zum historischen Kontext und zur Person: Karl Reicher begann bereits 19062in dem neurologischen Institut der Universität Wien mit Film- aufnahmen von Serienschnitten menschlicher Gewebe zu experimentieren. Die Resultate dieser Arbeit wurden erstmals 1907 in Deutschland veröffent- licht; zu dieser Zeit war er Assistenzarzt an der Berliner Charité.3 Seine Expe- rimente, Vorträge und Publikationen widmen sich seitdem wiederholt der wissenschaftlichen Anwendung der Kinematographie in der Medizin. Unbedingt als Pionierarbeiten haben diese sehr f rühen Erforschungen und Anwendungen des filmischen Mediums zu gelten, da ein neues Konzept zur Erzeugung von Ansichten des menschlichen Körperinneren entwickelt wurde: Schnittserien eines Gehirnpräparats wurden jeweils in Einzelbild- schaltung von einer Filmkamera auf Filmstreifen aufgezeichnet, wobei den aufeinanderfolgenden Schnitten die sukzessiven Filmkader entsprachen. Die Projektion zeigte insofern eine filmische Bewegungsdarstellung, wie sie z.B. ebenso aus den einzelnen Bildern eines gezeichneten Animationsfilm erreicht wird. Das Prinzip dieser Anordnung kann darin angegeben werden, daß um den Preis des konkreten Zerschneidens von dreidimensionalen Gewebe- präparaten, die filmische Apparatur wiederum eine visuelle Synthese erlaubt, die eine Bewegung durch das Präparat hindurch zu sehen gibt. Ebenso wie die Anatomie des menschlichen Körpers wurden die Prinzipien von Zerstü- ckelung und Verschmelzung durch Einzelbildaufnahmen der Kamera und anschließende Projektion erforscht. Es ist das neuartige Verhältnis von kon- kreten Schnitten in das anatomische Präparat und medientechnischen Ein- 1 Vgl. Claudia Reiche, '"Lebende Bilder' aus dem Computer," in: Bildkörper. Verwand- lungen des Menschen zwischen Medium und Medizin, hrsg. Marianne Schuller, Claudia Rei- che, Gunnar Schmidt, Hamburg 1998, S. 123 ff. 2 8 8 "LEBENDE" ANATOMIEN 1 9 0 0 / 2 0 0 0 : KINEMATOGRAPHISCHE SERIENSCHNITTANIMATION UND ... schnitten in die Zeit der Filmaufnahme, das die Serienschnittanimationen an einen medien- wie körpertheoretisch entscheidenden Punkt transportiert. Belegt sind von Karl Reicher aus dem Jahr 1907 zwei Filmstreifen, die Serienschnitte durch das menschliche Gehirn zeigen: der erste mit 1060 Bil- dern, der zweite mit 1235 Bildern. Bei einer Bildfrequenz von 16 Bildern pro Sekunde sind das 66 und 77 Sekunden Spieldauer.4 Für diese "Winzigkeit" an Material (umgerechnet wären das Celluloid-Streifen von unter 2 m Länge) sind die Filmstücke in deutschsprachigen Periodika des Jahres 1907 recht breit dokumentiert und besprochen, sowohl im Feld der Medizin als auch des Films. Um die Methode der Serienschnittanimationen Reichers und die zeitge- nössische Rezeption zu skizzieren, eignet sich gut folgende kurze Mitteilung aus dem "Kinematograph," der ersten deutschsprachigen Fachzeitschrift für Kinematographie: "Auf dem Kongress deutscher Nervenärzte zu Dresden am 15. und auf dem Kongress deutscher Naturforscher und Aerzte am 18. d. M. wurden von Dr. Karl Reicher aus Wien höchst interessante Kinematogramme vorgeführt. Der genannte Forscher hatte die originelle Idee, lückenlose Serien von Gehirn- schnitten auf Filmbändern wiederzugeben; und man hat beim raschen Ab- laufe dieser neuartigen lebenden Bilder den Eindruck, als ob die verschiede- nen äußerst kompliziert angeordneten Leitungsbahnen und Systeme des Gehirns aktiv vor dem Auge des Betrachters vorüberziehen. Man gewinnt dadurch viel bessere räumliche Vorstellungen von den Bahnen und Zentren im Gehirn als nach den bisherigen Methoden. Neben diesem außerordent- lich belehrendem Werte wird aber die Idee Dr. Reichers vielleicht auch eine ganz neue Forschungsmethode eröffnen. Auf dem erwähnten Kongress fan- den die Vorführungen jedenfalls lebhaften Beifall."5 Daß sich hier eine neue Lehr- und Forschungsmethode eröffnen würde, wird sich - nach relativ schnellem Vergessen des verfrühten Ansatzes - erst 2 Angaben Karl Reichers, "Mikrokinematographische Aufnahmen bei Dunkelfeldbe- leuchtung und Makrokinematographie," Berliner Klinische Wochenschrift, Nr. 11,14. 3. 1910, S. 484. Ob von diesen Filmstreifen Kopien angefertigt worden sind, ist ungewiß. 3 Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Arzte, 79. Versamm- lung zu Dresden, 15. - 21. September 1907, Leipzig 1908, S. 235 f. Als Mitarbeiter werden genannt: Obersteiner, Marburg, Alexander und Weidner. 4 Karl Reicher, "Mikrokinematographische Aufnahmen," a.a.O., sowie derselbe, "Kine- matographie in der Neurologie," a.a.O. Anthony R. Michaelis in seinem enzyklopädischen Werk: Research Films in Biology, Anthropologe, andMedicine, New York 1955, macht diesbezüg- lich eine andere Angabe. "Reicher was the first to realize such a project and to present, in 1907, a film composed of 2,000 sections of the brain [...]" heißt es auf Seite 92. 5 Der Kinematograph, Nr. 40, Düsseldorf, 2.10.1907, o.P. 2 8 9 CLAUDIA REICHE im Computerzeitalter bestätigen, indem heute diverse Schichtbildverfahren in der Medizin breiteste Anwendung gefunden haben. Karl Reichers Verfah- ren war allerdings bereits 1907 in der Lage, entscheidende Topoi der Bild- wahrnehmung herauszuarbeiten, die später auch für die Rezeption der Visib- le Human - Bildlichkeiten maßgeblich werden sollen. Daß "lückenlose" Seri- en von Gehirnschnitten in diesen neuartigen lebenden Bildern gesehen wer- den, sei hervorgehoben, ebenso, daß diese Bilder "aktiv" vorüberziehen, und so "räumliche Vorstellungen" hervorriefen. Der Vortragstext Reichers zu den beiden Filmstücken ist unter dem Ti- tel: "Kinematographie in der Neurologie" in den "Verhandlungen der Ge- sellschaft Deutscher Naturforscher und Arzte vom September 1907" nachzu- lesen. Grundsätzlich gingen Karl Reicher und seine Mitarbeiter zunächst nach der üblichen zeitgenössischen Präparationstechnik vor, das heißt der ausge- wählte Teil des Gehirns wird in einen Celloidinblock eingeschlossen und anschließend mit einem Mikrotom in sehr dünne Schnitte zerlegt. Diese Schnitte wurden einzeln auf mikroskopische Objektträger aus Glas aufgebracht und gefärbt. Das Medium der präparatorischen Einbettung, das Celloidin, ist nun in treffender Ubereinstimmung chemisch sehr mit dem Celluloid des damaligen Filmmaterials verwandt. Die chemisch nahe Verbindung der Trägersubstanzen bei der Umbettung der Reicherschen Gewebepräparate von Celloidin auf Celluloid markiert allerdings im Konzeptuellen die Uberwin- dung mächtiger Schranken zwischen Medien und Disziplinen. Was in technischer Hinsicht a l lerdings von der konven t ione l len Präparationstechnik bei Reichers Verfahren abweichen mußte, um Filmauf- nahmen der Schnitte herstellen zu können, war die notwendige "Zentrierung" der einzelnen Schnitte, die immer möglichst exakt auf die gleiche Stelle des Objektträgers aufgebracht werden mußten, damit bei der anschließenden Filmaufnahme, die einzelnen Bilder nicht "gegenseitig verschoben wären," wie Reicher selbst ausführt.6 Denn was geschähe entsprechend den Gegeben- heiten der Filmprojektion? Wenn die einzelnen Bildmotive auf dem Film- streifen nicht jeweils in gleicher Position im Kader plaziert sind, ist keine Betrachtung auch der klarsten, schärfsten Aufnahme eines Einzelpräparate möglich, sondern ein unscharfes Vibrieren, Zittern und Zappeln (bei groben Abweichungen) wären die Folgen. Solche Verschiebungen sind für die Kunst, die das Medium formal erforscht, von größtem Interesse, machten jedoch gründlich den wissenschaftlichen Nutzen für die Neurologie zunichte. Das Präparat wurde zuerst auf einen Auffangschirm mit einem System farbiger Hilfslinien projiziert und unter Zuhilfenahme einer starken Lupe 6 Karl Reicher, "Die Kinematographie in der Neurologie," a.a.O., S. 235. 290 "LEBENDE" ANATOMIEN 1 9 0 0 / 2 0 0 0 : KINEMATOGRAPHISCHE SERIENSCHNITTANIMATION UND ... genau zentriert. Schließlich trat an Stelle des Schirms die Filmkamera. Der- selbe Vorgang wiederholt sich bei jedem Bild. Die Qualität der Filmstreifen war von der Handarbeit an jedem einzelnen Filmkader abhängig, denn es gab keine apparative Koppelung von Messer und Kamera. Wie mögen nun die Vorführungen dieser äußerst mühselig belichteten Filmstreifen Karl Reichers ausgesehen haben? "Sie müssen daher das störende Zittern der Bilder, das ja mit jeder kine- matographischen Vorführung an und für sich verbunden ist, entschuldigen, selbiges wird in den in Vorbereitung befindlichen kompletten Serien eines menschlichen Hirns fast vollständig fehlen."7 Es mußte also etwas zum Gesehenen hinzugefügt werden, damit die An- kündigung erfüllt würde. Strenggenommen versprach Reicher hier im Wort- sinn Unmögliches vorzubereiten: Eine "lückenlose" oder "komplette" Serie ist nie erreichbar, insofern zwischen Serienschnittbildern Lücken notwendig sind, sonst gäbe es kein Schnittbild und keine Serie. Die illusionäre Wahr- nehmung einer Lückenlosigkeit erzeugt sich in der Filmprojektion wiederum durch die minimalen Differenzen -d ie "Lücken" -zwischen den einzelnen Filmkadern. Es verwundert kaum, daß das Versprechen auf die kompletten, fast zitterfreien Gehirnabbildungen - zudem als Grenzüberschreitung des Leistungsvermögens zitternder Hände und schmerzender Augen - wohl nicht gehalten werden konnte, denn Hinweise auf tatsächliche Anfertigung weite- rer Se r i enschn i t t an ima t ionen durch Karl Reicher fehlen . In seinem Begleitvortrag fährt er fort: "Die erste Serie entstammt dem Hirn eines Erwachsenen und umfaßt in ihren 1060 Schnitten den Hirnstamm von der Gegend der Pyramidenkreuzung im Beginn der Medulla oblongata bis zur Mitte des Pons. Man kann hier besonders deutlich die Formierung und Umlagerung einzelner Systeme ver- folgen und hat den Eindruck aktiver Vorgänge. (Demonstration)."8 Statt auf die visuelle Demonstration können wir uns auf diese Behaup- tung konzentrieren. Ein entscheidender Begriff ist hier nochmals gefallen. Denn was heißt "aktive Vorgänge"? Eine Vermischung von Filmtechnik und Dargestelltem bezüglich der Frage nach dem Ursprung der gesehenen Bewe- gung macht sich geltend. Dies wäre vielleicht etwas weniger erstaunlich, wenn es sich um die Aufzeichnung von Bewegung gehandelt hätte. Doch das Gehirnstückchen zwischen verlängertem Mark und Brücke, war nun gewiß nicht in der Lage Bewegungen auszuführen. "Aktiv" wäre vielleicht die Tech- nik der Filmaufnahme oder die Bewegung des Projektionsapparates. Denn mit der Rede vom "Eindruck aktiver Vorgänge" muß es um eine Beschrei- 7 Ibid. 8 Ibid. 291 CLAUDIA REICHE bung des neuartigen, nicht lokalisierbaren Bewegungseindrucks gegangen sein - des Vordringens in das so bisher nie sichtbare Innere eines Körpers. Ein "aktiver Vorgang," das heißt hier notwendig Bewegung. Heißt das womöglich auch: Leben? In Meyers Konversationslexikon aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- derts wird eine spezifische Verbindung dieser Termini vorgeschlagen, die z.B. die sonderbare Verwendung der Begriffe bezüglich der Reicherschen Film- experimente ein wissenschaftshistorisches Licht werfen, und Aufschluß ge- ben über ein einstiges Verhältnis von "Leben" und (aktiver) "Bewegung." So heißt es zum Stichwort "Leben": "Das Leben ist Inbegriff gewisser Bewegungen des Organismus, und es sind diese Bewegungen von anderen zu unterscheiden, welche nicht zum Leben gehören. [...] Vielmehr hängt j ede Bewegung des Organismus sowohl von inneren als auch von äußeren Bewegungen ab. In vielen Fällen ist es unzweifelhaft, ob es sich um eine Lebensbewegung handle oder nicht, aber es gibt auch zahlreiche Bewegungen, über welche die Wissenschaft selbst noch im Zweifel ist, ob sie dieselben den Lebenserscheinungen beizählen soll oder nicht."9 Die hiermit formulierte Ungewißheit darüber, welche Bewegungen so- genannte "Lebensbewegungen" seien und welche Bewegungen nicht, kann heute erstaunen. Gewißheit herrschte nur darüber : "Unbelebte Körper be- sitzen niemals eine willkürliche Bewegung."10 Schwierig wird es jedoch, Le- ben eindeutig zu attribuieren, insofern "jede Bewegung des Organismus so- wohl von inneren als auch von äußeren Bewegungen abhängt." Denn: "Es wäre sicher unrichtig, zu sagen, daß Lebenserscheinungen solche seien, die nur von inneren, im Organismus selbst gegebenen Bedingungen abhängen, und daß Bewegungen des Organismus oder seiner Theile, die von äußeren Bedingungen abhängen, nicht zum Leben gehören."11 Problematisch ist also bezüglich solcher "Lebens"-definition, wenn sie über das grundlegende Merkmal Bewegung unternommen wird, - ganz wie beim Eindruck der Serienschnittanimationen - den Ursprung diese Bewe- gung sicher zu bestimmen. Am Beispiel der physikalischen "äußeren" Bedin- gung Schwerkraft, die auf den Blutkreislauf und dessen Bewegung einwirkt, wird diese Problematik erläutert. Die physikalischen Kräfte, die auf einen le- 9 Meyers Konversations-Lexikon, Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens, dritte Auflage, zehnter Band, Leipzig 1877, S. 650 f. Die Worte "Bewegung," "bewegen," "Lebens- bewegung" tauchen in dem etwas mehr als einspaltigen Artikel zum Eintrag "Leben" insgesamt 20 Mal auf. 10 Ibid., S. 651. 11 Ibid. 2 9 2 "LEBENDE" ANATOMIEN 1 9 0 0 / 2 0 0 0 : KINEMATOGRAPHISCHE SERIENSCHNITTANIMATION UND ... benden Organismus einwirken, so gesehen auf einen "passiven Körper," kön- nen nicht sicher von dessen "eigenen," "aktiven" Lebens-Bewegungen abge- trennt werden, die sich an ihm wiederum entsprechend seinem innewohnen- den "Gesetz seiner Gestaltung"12 vollziehen. Die Wahrnehmung "aktiver Vorgänge" anhand der Reicherschen Vor- führung der Gehirnschnittanimationen bietet in seiner schiefen Formulie- rung ebenso wie der Lexikonartikel eine durchaus produktive Ungewißheit an. Daß Reicher ausgerechnet Gehirnpräparate filmisch erforschen wollte, schafft eine weitere oszillierende Verschaltung seiner zitternden Bilder mit Fragen über die Funktionsweise der Nerven, über Kontakt und Unterbre- chung, Fragen nach Kontinuität und Diskontinuität, die "unmittelbar" am sichtbaren Bewegungsablauf beantwortet werden sollten. Reicher will näm- lich über das sonderbar "Aktive" der Filmvorführung möglicherweise bei ei- ner großen Streitfrage in der Neurologie der Jahrhundertwende entschei- dende Hinweise bieten. Gemeint ist die sogenannte Neuronenfrage, in de- ren Kontext die Frage nach Aktivität und Passivität von Nervengewebe ge- stellt und durch Schnitte erforscht wurde, die Nervenzellen kontrolliert zum Absterben brachten.13 Bezweifelt wurde damals, ob es sich bei der Zelle, das wir heute als Neu- ron kennen, nicht um ein ganz anders zu denkendes Gebilde handelte. Strit- tig war, ob nicht eine weitere Gliederung dieses Gebildes die richtige anato- mische Darstellung bieten würde, ob nicht vielmehr beim Neuron mehrere getrennte Teile zusammenwirken. Insbesondere die Eigenständigkeit des lan- gen Nervenfortsatzes wurde von Gegnern der Neuronentheorie behauptet. Die Annahmen von der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit des Nerven- fortsatzes wurde auch in Termen von Passivität und Aktivität gefaßt. Dies ging so weit, daß die Hypothese existierte: "nach welcher das periphere Neuron das eigentlich treibende oder bewegende Element sein soll." Dagegen stand sie Meinung, "das periphere Neuron leistet für sich allein gar nichts, sondern steht sofort still, sobald die eigentliche Kraftquelle, das zentrale Neuron zer- stört ist."14 Wie Karl Reicher zu dieser großen Streitfrage beitragen wollte, deuten die folgenden Ausführungen an: 12 Ibid. 13 Eine Darstellung bezüglich der Debatten zur Neuronenfrage in der "Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Arzte," dem Ort der Filmvorführungen Reichers bietet Udo Jerns, Die neurologisch-psychiatrischen Vorträge in der Abteilung für Neurologie und Psychiatrie der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Arzte von 1886 bis 1913, Berlin 1991, S. 41 ff. 14 Ibid., S. 42f. 293 CLAUDIA REICHE "Gerade das Aktive daran prägt sich dem Lernenden besser ein und gibt auch bessere räumliche Vorstellungen von den Bahnen und Zentren. [... ] es ist jedoch - und dabei ist an das Bild der Schleife zu denken - sehr wahr- scheinlich, daß man bei langsameren Ablauf der Bilder einzelne Fasergruppen wird leichter verfolgen können, selbst wenn diese nicht degeneriert sind, und damit wäre eine neue Möglichkeit gegeben, unsere Kenntnisse in dem noch immer nicht ganz erschlossenen Gebiet Leitungsbahnen zu vervollständigen."15 Nach der hier angespielten Degenerations-Lehre degenerieren motori- sche Leitungsbahnen in absteigender, sensible in aufsteigender Richtung bei Leitungsunterbrechung, und das heißt konkret: bei Schnitten in das Rücken- mark. Anhand der Ausfälle und Degenerationen am lebenden Körper, im Tierversuch oder bei Unfallopfern wurde geforscht. Was Karl Reicher andeu- tet, ist eine ungeheuerliche Forschungsmöglichkeit durch sein Verfahren der Serienschnittanimation, wodurch die Nervenbahnen auf ganz andere Weise untersucht werden könnten. Dies könne geschehen, ohne daß eine Degene- ration, eine Abtötung am lebenden Organismus herbeigeführt werden müßte. Eine Umlagerung der strittigen Frage nach Aktivität des Kerns oder des Fort- satzes der Nervenfaser auf die Darstellungsform wurde angeboten. Reicher macht den Vorschlag, doch die neuartige kinematographischen Sichtbarkeit zu nutzen, die Frage nach Passivität oder Aktivität der Nervenfaser, als Frage nach Unterbrechung oder Kontinuität in der räumlichen Rekonstruktion des filmischen Ablaufs visuell zu überprüfen.1 6 Er stellt es in einer weiteren Übertragung zudem so dar, als könne man bei der Analyse seines Filmstreifens einen nicht degenerierten Nervenstrang untersuchen. Es sei nicht mehr nötig, das Absterben von Nerven experimen- tell herbeizuführen, sondern die unzerstörten Nerven könnten in seinem Film einer unmittelbaren Beobachtung zugänglich werden. Und das hieße, in die- ser Logik, daß sein Gehirnpräparat in medizinischem Sinne bei der Projekti- on "lebt." Wenn dann das kurze Filmstück noch zur Endlosschleife zusam- mengeklebt wird, wie vorgeschlagen, dann wäre ein nicht endendes "Leben," eine künstliche Unsterblichkeit installiert. Diese mediale Übertragung weist - selbst wie eine Endlosschleife arbeitend - auf heutige Deutungen computer- erzeugter Bildlichkeit voraus. So ist es nicht erstaunlich, daß in der Kinozeitschrift "Kinematograph" das neue "Leben"der Reicherschen Filmstreifen sprachlich präzise artikuliert wird: "Der Forscher hatte die originelle Idee, einige Tausend mikroskopische Gehirnschnitte und zwar jeden einzelnen als totes Bild auf dem Kinofilm auf- 15 Karl Reicher, "Kinematographie in der Neurologie," a.a.O., S. 236. 16 Vgl: Sigmund Freud, "Die Structur der Elemente des Nervensystems" (1884), in: Sigmund Freud, Hirnforscher, Neurologe, Psychotherapeut, Leipzig 1990, S. 91 ff. 294 "LEBENDE" ANATOMIEN 1 9 0 0 / 2 0 0 0 : KINEMATOGRAPHISCHE SERIENSCHNITTANIMATION UND ... zunehmen, dergestalt, daß die aufeinanderfolgenden Bilder die Reproduktion der aufeinanderfolgenden Gehirnschnitte darstellten. Bei Projizierung diese Kinofilms erhält man dadurch gewissermaßen ein lebendes Bild des Gehirns."17 Dem Einwand, das einschränkende Wort "gewissermaßen" milderte, re- lativierte die Lebensbehauptung, sei entgegnet, daß gerade diese Einfügung belegt, daß hier die Frage nach dem Leben der Bilder wieder explizit reflek- tiert wurde, und eine ungeheuerliche Vermutung vorsichtig bejaht wurde. Denn nicht zu vergessen ist: der Terminus "lebendes Bild" bedeutete 1907- in längst verblaßter Metapher - schlicht "Film." Wenn nun stattdessen "gewissermaßen ein lebendes Bild des Gehirns" erzeugt wurde, dann ist hier einmal nicht der triviale Sinn zu unterstellen, daß schlicht ein "Film" vom Gehirn erzeugt wurde, sondern daß dieses wissenschaftliche "lebende Bild" auf problematische, kühne Weise nur als "lebend" zu bezeichnen wäre. Medientechnisch reanimierte Präparate, die die Grenze zwischen Bildern und sogenannter Wirklichkeit auf ungewohnte Weise durchkreuzen, stellte Karl Reicher nicht allein her. Denn als eine Reaktion auf seine Vorträge ar- beitet der Physiologe Victor Widakovich18 noch im gleichen Jahr eine Metho- de der kinematographischen Serienschnittanimation aus, die nicht nur tech- nisch bei der Uberwindung des Zentrierungsproblems überlegen ist, sondern auch hinsichtlich der kategorialen Verwirrung über "Leben" und "Bilder" noch einen Schritt weiter geht.19 Dessen Methode besteht darin, den Schritt photographischer Aufzeichnung ganz zu übersprungen, das heißt die Präpa- rate selbst werden projiziert. Wenn Reichers Film im "Kinematographen" als "gewissermaßen lebendes Bild des Gehirns" bezeichnet wurde, so wäre in die- ser Logik Widakowichs Film "ein gewissermaßen lebendes Gehirn." Denn eine Kamera ist für diese Art Serienschnittanimationen nicht mehr nötig, da ein Verfahren angewandt wird, bei dem die Schnitte direkt auf einen Filmstrei- fen ohne photoempfindliche Schicht aufgebracht werden und nur noch mit einer Celloidinlösung darauf fixiert werden müssen. Widakowich beschreibt sein Verfahren an einem Rattenembryo: "Ein 118 mm langer Rattenembryo wurde in Zelloidin eingebettet, die Seiten des Blockes wurden vollkommen symmetrisch zugeschnitten. Nach Zerlegung des Objektes in eine Schnittserie wurden die einzelnen Schnitte in der natürlichen Reihenfolge auf einem der lichtempfindlichen Schicht 17 Der Kinematograph, Nr. 44, 30.10.1907, "Die Kinematographie im Dienste der Na- turwissenschaft." o. P. 18 Anthony R. Michaelis, Research Film, a.a.O. 19 V. Widakowich, "Uber kinematographische Vorführung von Serienschnitten durch Embryonen," in: Zentralblatt für Physiologie, Organ der deutschen physiologischen Gesellschaft, Bd. XXI., Nr. 23, Leipzig und Wien 8.2.1907, S. 784 f. 295 CLAUDIA REICHE entbehrendem Kinematographenfilm montiert. Die Art der Konstruktion des kinematographischen Projektionsaopparates bringt es mit sich, daß ein pro- jiziertes Bild nur dann als Fortsetzung des Vorangegangenen erscheint, wenn die Bildhöhe einer jeden Aufnahme genau 19 mm beträgt. In unserem Falle handelte es sich also darum, die einzelnen Schnitte in den entsprechenden Abständen voneinander und möglichst gleichmäßig orientiert aufzulegen."20 Das heißt im Klartext, daß der Embryo für den damaligen Industrie- standard des Filmformats zugeschnitten werden mußte, da ohne Linsensyste- me und bildliche Projektionsebene keine Verkleinerungen oder Vergröße- rungen möglich sind. Die gläsernen Objektträger, die Reicher für die einzel- nen Schnitte verwendete, sind durch den flexiblen, perforierten Filmstreifen ersetzt. Die Perforat ion bietet dabei die notwendige Maßeinhe i t zur Zentrierung der Schnitte. Nicht hätte hier nach Rudolf Arnheims Definition technischer Medien, "die Gegenstände der Wirklichkeit ihr Bild mechanisch auf die photographische Schicht"21 geprägt, sondern sogar würden sie materialiter zu Film verarbeitet. Sie wären aus ihrer Existenz dreidimensiona- ler geometrischer Körper herausgelöst: in konkreter Uberführung einer Raum- dimension in eine Zeitdimension. Die "lebenden Bilder" Widakowichs eröffnen eine neue Sicht auf den mechanisch erzeugten und halluzinatorischen Abbildrealismus einer Film- aufnahme. Indem durchscheinende Gewebeschnitte - "Leichenteile" - wie Filmbilder projiziert werden, ist ein anatomisches Präparat in sonderbarer "unmittelbarer Medialität" Film geworden. Die Zuschauer einer solchen ki- nematographischen Vorführung Widakowichs dürften zu Recht davon aus- gehen, zwar so etwas wie Bilder, jedoch gleichermaßen unmittelbar den zer- schnittenen Tierkörper, ebenso wie die filmische Apparatur selbst gesehen zu haben. Sie hätten den Körper der kinematographischen Technik, das Medium selbst, ununterscheidbar vom Dargestellten als Eindringen in den Embryo gesehen hätten. Sie hätten auf diese Weise auch in der gleichen paradoxalen Unmittelbarkeit ihren eigenen Körper als die Basis der media- len Täuschung "sehen" können, insofern die Konstruktion des Projektors die Sehphysiologie zu simulieren hat.22 Filmhistorisch anzumerken ist noch, daß 20 V. Widakowich, "Uber kinematographische Vorführung von Serienschnitten durch Embryonen," a.a.O. 21 Rudolf Arnheim, "Systematik der f rühen kinematographischen Erfindungen," in: Kritiken und Aufsätze zum Film, hrsg. Helmut H. Diederichs, München 1977, S. 27. 22 "Während Künste Ordnungen des Symbolischen oder Ordnungen der Dinge verar- beitet haben, sendet der Film seinen Zuschauern seinen eigenen Wahrnehmungsprozeß - und das in einer Präzision, die sonst nur dem Experiment zugänglich ist, also weder dem Bewußtsein noch der Sprache." Friedrich Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 240. 296 "LEBENDE" ANATOMIEN 1 9 0 0 / 2 0 0 0 : KINEMATOGRAPHISCHE SERIENSCHNITTANIMATION UND ... wie den Filmen Reichers auch der Animation Widakowichs mehr als zweifel- hafte abbildrealistische Qualitäten zuzuschreiben sind: "Projected, this film simulated movement pendicularly through the dense structure of the object with much the same effect as a camera moving through a foggy indeterminate space in which atmospheric particles scatter light diffusely across the field."23 Widakowich selbst fürchtet entsprechend wenig um die Gefährdung tra- ditioneller Bildkonzepte, sondern fürchtet eher die Gefährdung des Präpa- rats bei der Projektion. "Nachteilig muß allerdings der Umstand empfunden werden, daß eine kostbare Serie einem Film nicht wohl anvertraut werden kann."24 Er fürchtet, ganz Medienkünstler, bei einer heiklen Transformation im Materiellen wie Konzeptuellen, daß die Apparatur den empfindlichen, seltenen Körper des Filmstreifens verletzen könne, daß die materielle Seite des neuen paradoxalen Körpers zu zerbrechlich sei. Diese Betrachtungsweise führ t direkt in das Feld des Experimentalfilms als technisch basierter Kunst, genauer zu Filmexperimenten, die im Medium weiterdenken, statt ein "Le- ben" der Bilder im täuschenden Abbildrealismus zu suchen. Künstler/Ingenieur Ein zusätzlicher Schalter ist hier in die Darstellung einzufügen, indem die wissenschaftlichen Filme von Reicher und Widakowich jetzt durch Expe- rimente aus dem nichtgegenständlichen Animationsfilm nachträglich noch einmal anders in ihrer bildlogischen Bedeutung hervortreten können, so wie sie in der Kunst ausgearbeitet wurde. Eine derartige Grundlagenforschung an den Elementen des Films als Medium, oder des "Films als Film"25 umfaßte auch - technisch gesprochen - Serienschnittanimationen eines Filmavant- gardisten in den Jahren 1920-1927. Gemeint ist die Erfindung der "Wachs- schneidemaschine" und die folgenden filmischen "Wachsexperimente" durch Oskar Fischinger. Fischinger, dessen bedeutendes Werk, trotz relativ großer Bekanntheit seiner Filme in Deutschland der 30er Jahre bis zu seiner Ausrei- se in die USA, erst spät kunsthistorisch gewürdigt wurde,26 hat insbesondere 23 Lisa Cartwright in ihrem Grundlagenwerk: Screening the Body, Tracing Medicine's Visual Culture, Minneapolis 1995, S. 97. 24 V. Widakowich, a.a.O.., S. 785. 25 Vgl. Film als Film, 1910 bis heute, hrsg. Birgit Hein und Wulf Herzogenrath, Stuttgart 1978. 26 Film als Film, 1910 bis heute, S. 8. Einen umfassenden Uberblick über Leben und Werk Oskar Fischingers bietet William Moritz in: Optische Poesie, Oskar Fischinger Leben und Werk, hrsg. Hilmar Hoffmann und Walter Schobert, Schriftenreihe des Deutschen Filmmuseums, Kinematograph Nr. 9, Frankfurt a. M. 1993. 2 9 7 CLAUDIA REICHE die Entwicklung des "absoluten Films" maßgeblich beeinflußt, dem auch sei- ne "Wachsexperimente" zuzuordnen sind. Der Terminus "Absoluter Film" wie er in den 20er Jahren zunächst für den ungegenständlichen Animations- film geprägt wurde, markiert die Arbeit an und mit den formalen Grund- elementen des Mediums selbst - dem Filmstreifen (Filmmaterial), der Pro- jektion mit intermittierendem Licht und dem projizierten Bild.27 Die überlie- ferten Filmstücke der Wachsexperimente Fischingers stellen indessen keine durchkomponierten Filme dar, sondern sind Ergebnisse aus Versuchsreihen mit der Wachsschneidemaschine und wurden in späteren Werken an einigen Stellen eingebunden.28 Sie erlauben insofern um so mehr eine Betrachtung Abb. 1: Screenshots aus: Oscar Fischinger, "Wachs Experimente 1923-1927, Ori- ginal Animation."29 27 Siehe Birgfit Hein: "Definition der Elemente des Films," in: Film als Film, a.a.O., S. 31f. 28 "Die Symbolik der Wachsbilder findet sich auch in Fischingers Silhouettenfilmen und seinen Aufführungen mit mehreren Projektoren in den späteren zwanziger Jahren wieder; er selbst hat wahrscheinlich ältere Filme auseinandergeschnitten, um das Materi- al für spätere Arbeiten zu verwenden." William Moritz, Oskar Fischinger, in: Optische Po- esie, a.a.O. S. 11. 29 Dank an William Moritz für die Zugänglichmachung der "Wachsexperimente 1923- 1927" auf Video. 2 9 8 "LEBENDE" ANATOMIEN 1 9 0 0 / 2 0 0 0 : KINEMATOGRAPHISCHE SERIENSCHNITTANIMATION UND ... als eine technische und formale Reflexion der spezifischen Räumlichkeit und Zeitlichkeit einer Serienschnittanimation. Kaum auszuschließen, daß in einer gemeinsamen Vorführung ohne Kontextinformation und ohne anatomische Kenntnisse die Filmstreifen von Reicher oder Widakowich ähnlich erschienen wären, wie die "reinen" Form- wandlungen und Bewegungen durch diese absichtsvoll gestalteten Blöcke Fischingers. Doch Achtung, das Durchquerung der Disziplinen, das Anschauen von Wissenschaftsbildern mit den erfahrenen Augen der Kunst, birgt Gefah- ren. So setzte der absolute Film im Absehen vom Gegenständlichen in "un- mittelbarer" Verschaltung mit dem Medium auch sinnliche Potentiale frei, in schöner geschlechtlicher Asymmetrie. Eine Dissertation der 30er Jahre von Victor Schamoni zum absoluten Film weiß folgendes zu berichten: "Von manchen Vorführungen dieser Filme wird berichtet, daß das Publi- kum soweit es nicht durch die Fremdheit der Dinge überrascht, teilnahmslos und aus Mißverständnis auch ablehnend oder hilflos lächelnd diesen Filmen gegenüberstand, eigenartig bewegt gewesen sei, daß vielfach die Zuschauer eine gewisse Ergriffenheit zeigten oder sogar tiefe Bewegtheit und merkwür- dige Erregung. In einigen Kritiken wurde sogar behauptet, daß die Filme [... ] starke Assoziationen erotischer Art veranlaßt und dem Publikum schein- bar eigenartige Lustgefühle verursacht hätten." und: "Das Lichtspielhaus Uitkijk in Amsterdam erklärte, zahlreiche Zuschriften vor allem weiblicher Besucher erhalten zu haben, die dringend aus ähnlichen Gründen weitere solche Filme wünschen."30 So kann es gehen, wenn die Seele von Medientechniken trainiert wird.31 Medienpraktisch ist diese Erregung und Ergriffenheit wohl zugleich als ein aufgeklärtes und zugleich unmittelbares Verhalten dieses weiblichen Publikums zu bezeichnen, dem es nicht um abbildliches "Leben der Bilder," sondern Ero- tik der kinematographischen Formen und Bedingungen geht. Durch die abso- luten Filme soll programmgemäß die Wahrnehmung ebenso wie die spezifisch filmischen Elemente der Gestaltung, die "Anatomie" der kinematographischen Apparates erforscht und erfunden werden - so dicht an den Filmstreifen, wie die Mediziner an den Nervenbahnen. In beiden Fällen ist der unmögliche, ordose Perspektivpunkt der einer gleichermaßen unmittelbarer Medialität der "Körper" - von "Mensch" und "Maschine." Eine genauere Beschäftigung mit den Wachsexperimenten gibt diesbezüglich näheren Aufschluß. Als Oskar Fischinger mit dem dreidimensional formbaren Wachs - und Kaolinmischungen zu experimentieren begann, war sein Ziel die Herstellung 30 Victor Schamoni, Das Lichtspiel, Möglichkeiten des absoluten Films, Dissertation, Mün- chen 1936, S. 59, Anmerkung S. 89. 2 9 9 CLAUDIA REICHE eines abstrakten Films, der nicht gezeichnet oder gemalt wäre. Sein Plan ging hier einen Schritt weiter, fort von gestaltend beherrschten Bildern zu mecha- nisch erzeugten Bildserien mit unkalkulierbaren Zufallsmomenten, wie sie beim seriellen Abschneiden auftreten mußten. Eine Forschungshaltung hat- te Vorrang vor dem auktorialen Künstlergestus. Die Wachsschneidemaschine war technisch deutlich dem zeitraubenden Verfahren von Reicher überle- gen, denn die "Klinge einer guillotineartigen Schneidemaschine, mit der man normalerweise hauchdünne Schinken- oder Käsescheiben schneidet,"32 wur- de mechanisch mit der Blende einer Filmkamera synchronisiert. "Jedesmal, wenn die Maschine eine Scheibe geschnitten hatte, nahm die Kamera ein Einzelbild von der durch den Schnitt freigelegten Oberfläche auf. Der dabei entstehende Film zeigte zeitlupenartig den sich durch den Wachsblock bewegenden Querschnitt, der entsprechend den jeweils hinein- modellierten Konfigurationen gegenständliche oder abstrakte Bewegungen darstellte."33 In der Frankfurter Zeitung, wird 1926 die konzeptionelle Seite von Fischingers Verfahrens anschaulich beschrieben. "Nehmen Sie ein geschäl- tes, hart gesottenes Ei und ein scharfes Messer, und schneiden Sie das Ei sehr schnell in möglichst dünne Scheiben. Wenn Sie es so schnell und fein auf- schneiden könnten, daß aus der stets sich verändernden Schnittfläche gewissermaßen eine zusammenhängende Bewegung entstünde, so hätten sie wiederum die Auflösung eines Körpers in Bewegung erlebt: Der Querschnitt durch das Ei, der zuerst als kleiner Kreis erschienen wäre, hätte sich langsam vergrößert, es wäre darin der Dotter zum Vorschein gekommen, um gleichfalls zur Kreisfläche zu wachsen und wieder dahinzuschmelzen, und der äußere Umriß des Eies hätte sich schließlich bis zur auslaufenden Spitze verjüngt und wäre in einem stumpfen Punkt verschwunden."34 Die hier verlangte Vorstellung einer handwerklich unmöglichen Schnel- ligkeit des Messers, die das Ei aufblätternd animiert, konstruiert sich ein Daumenkino aus organischem Material. Wie kann es gelingen, das Innere des Eies als seine eigene illusionäre Bewegung zu sehen? Wessen Bewegung? Nicht des Eies, das ist in diesem Beispiel klar, denn kein Küken schlüpft mehr aus dem hart Gesottenen, sondern hervor kommt die maschinelle zugleich 31 Hans Richter, Die schlecht trainierte Seele (1924), in: Film als Film, a.a.O., S. 50 ff. Der strikt kalkulierte Text schlägt als Programm des Absoluten Films eine "Nerven"-For- schung und -Bildung vor, denn "Empfinden ist ein ebenso präzise organisierter und mechanisch exakter Prozeß wie Denken," S. 50. 32 William Moritz, Oskar Fischinger, a.a.O., S. 9. 33 Ibid. 34 Rudolf Schneider, "Formspiel durch Kino," Frankfurter Zeitung Nr. 512, 12.7.1926, S.l, in: Film als Film a.a.O., S. 28f. 3 0 0 "LEBENDE" ANATOMIEN 1 9 0 0 / 2 0 0 0 : KINEMATOGRAPHISCHE SERIENSCHNITTANIMATION UND ... mit der Wahrnehmungs- Bewegung, die aus dem Ei eine abstrakte Animation eines Kreises macht. Denn, was in solchem Ei wächst, ist ein Kreis. Was wird der Wachsblock Fischingers, der von der Wachsschneide- maschine zerlegt wurde, enthalten haben? Der Block wird in sich die Vergan- genheit, Gegenwart und Zukunft einer Animationssequenz enthalten haben, jedoch in suspendierter Form. Was die Klinge mi t jedem Schnitt freisetzt, ist die medientechnische Erzeugung dieser unterbrochenen, sequentiellen, dann in der Projektion wieder verschmolzenen, linearen Zeit - der filmischen Be- wegung. In diesem Sinne wären Wachsblöcke "Körper," denen die Leerstelle für eine sonderbare Umstülpung in eine andere Dimension, die Zeit, hinein- geknetet worden wäre. Inkorporiert im Modus von Nachträglichkeit, in einer verschobenen Sichtbarkeit wäre diesen Wachsblöcken ihre auflösende Ver- flüssigung in Bewegung, die doch erst ihren medialen Körper ausmacht. Gewissermaßen wäre ihnen eine reine, differentielle, maschinell manipulier- bar gewordene Zeit eingeschrieben: eine Zeit der Maschine, in zählbaren Einzelschritten wie die des Films (der in seinem Inneren einen Uhren- mechanismus trägt) oder auch wie die Zeit einer Rechenmaschine. Sprung Dahin ist es nicht mehr weit, doch statt nur eines Schnittes oder eines Schrittes zur nächsten diskreten Einheit eines Filmkaders heißt es hier einen Sprung zu bewerkstelligen. Nicht allein der Sprung ins Digitale, wo ein Uber- gang von einem Zeichen zu einem anderen definitionsgemäß "sprungartig" geschieht, ist denknotwendig, sondern es geht um einen komplizierter arran- gierten Sprung in der implementierten Schaltalgebra der Rechner, um einen "bedingten Sprung." In der Welt der Rechenmaschinen meint "Sprung" eine Anweisung, nach dessen Ausführung ein Programm die weitere Abarbeitung an einer durch das Sprungziel festgelegten Stelle fortsetzt. Man spricht von einem "bedingten Sprung," wenn der Sprung nur dann ausgeführt wird, falls eine bestimmte Bedingung erfüllt ist. Hier kommt die maschinensprachliche Schaltung des Elements "if' ins Spiel. Die Formel des "bedingten Sprungs" aber, oder auch "bedingtem Befehls" lautet: "If x then a eise b."35 Hier läge eine Rückführung auf die ersten Anlässe kybernetischer Be- rechnung nahe, denn schließlich war es Norbert Wiener, der im zweiten Weltkrieg die Flugbahnen in ihrer zukünftigen Entwicklung maschinell vor- ausberechnen ließ, um deutsche Jagdbomber an dem Ort zu treffen, an dem 35 Duden, Informatik, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1993, S. 303. 3 0 1 CLAUDIA REICHE sie gewesen sein werden, wenn keine Abwehrrakete sie dort trifft. "Demgemäß ist es außerordentlich wichtig, ein Geschoß nicht auf das Ziel abzuschießen, sondern so, daß Geschoß und Ziel zu einem späteren Zeitpunkt zusammen- treffen."36 Wo treffen Geschoß und Ziel zusammen - etwa im "Wirklichen"? Brächte ein Treffer, Differenzen löschend, die Paradoxien des "Medialen," des "Körpers," des "Lebens" zurück an einen identifizierbaren Punkt und führ- te die Ortlosigkeit der technischen Medien heim? Kurzum: Bestätigt ein computerberechneter Treffer den Zusammenfall der statistischen Voraus- berechnung mit einem lebend getroffenen Körper? Nicht restlos - und inso- fern keineswegs. Es kann ein tödlicher Treffer gelingen, jedoch trifft dieser nichtjene "mediale Unmittelbarkeit," die bereits filmisch an den "aktiven Vor- gängen" und den "gewissermaßen lebenden Körpern" aus Wissenschaft und Kunst entwickelt worden ist. Nicht lokalisiert sich also in einem Punkt der zu- reichenden Fast-Ubereinstimmung eines Modells mit dem Abgebildeten - in einem möglichen zerstörenden Treffen des Abgebildeten- der in diesem Text interessierende Sprung zwischen analogen und digitalem Medium. Gewiß liegt eine Qualität der Simulation gegenüber der Fiktion in die- sen Treffern, in der Realisierbarkeit von tödlichen Identifikationen. Jedoch das unvordenklich Neue, das Skandalon, das das digitale Medium nach dem analogen Film auszeichnet, liegt nicht in einer weiteren Möglichkeit waffen- technischer Koppelungen, sondern darin, daß maschinelle Programmdurch- läufe unvorhersehbar werden. Denn Softwareprogrammierung heißt die ge- meinsame Speicherung von Daten und Instruktionen und: Instruktionen kön- nen im Verlauf der Berechnung geändert werden, zum Beispiel in Abhängig- keit des Resultats des vorhergehenden Rechenschritts. Instruktionen werden in andere Instruktionen überführt, und ab hier rückkoppelt die Architektur der Befehle und Schaltkreise die "Körper" - im Modus von Simulation. Wenn auch ein sonderbarer Wachsblock sich öffnende Blütenornamente produzieren oder dies bei weiblichen Zuschauern bewirken kann, indem die- ser Block - wie ein Gehirn - durch eine Schneidemaschine und einen Film- projektor paßt, so ist das doch ein anderes Verfahren, das dem Kybernetiker Norbert Wiener vorschwebte, als er die berühmt gewordene Formulierung prägte, daß ein Mensch durch eine Telegraphenleitung passe, sprich: gesen- det werden könne - als "Information." An Anatomie war hier allerdings weni- ger gedacht, sondern an den Unterschied zwischen Rauschen und Signal. "Folglich kann eine Maschine Information erzeugen, und die Information kann eine neue Maschine erzeugen. Hier haben wir einen Gedanken [...] - 36 Norbert Wiener, Kybernetik: Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf, Wien 1963, S. 28. 302 "LEBENDE" ANATOMIEN 1 9 0 0 / 2 0 0 0 : KINEMATOGRAPHISCHE SERIENSCHNITTANIMATION UND ... daß es begrifflich möglich ist, einen Menschen durch eine Telegraphenleitung zu senden."37 Wenn Informationen neue "Maschinen" erzeugen können, dann kön- nen das auch "Menschen" sein und allerdings "Menschen" wie "Maschinen" durch Datenleitungen gesendet werden. Ist dies seit 1964 auch anders als begrifflich möglich geworden? Die folgenden Bildserien, die auf seriellen Schnitten durch ein menschliches Präparat beruhen, wie die Serienschnitt- animationen vom Karl Reicher, sind unterdessen über Datenleitungen und in digitalem Format zugänglich, sind aus dem World Wide Web herunter- geladen, von den Seiten der University of Colorado aus dem Center for Hu- man Simulation. Feedback - The Visible Human Project™ Als Ikonen des digitalen Zeitalters gefeiert, haben diese und ähnliche Bilder des Visible Human Project eine steile Medienkarriere gemacht. Die ersten 1994 im World Wide Web veröffentlichten Bildanimationen, die ent- sprechend der ersten Zeile der Abbildung 2 eine transversale Schnittserie durch einen männlichen Körper vom Kopf bis zu den Füßen zeigten, ent- sprachen im filmischen Ablauf (z.B. als Quicktime-Movie) den bereits refe- rierten filmischen Bildkonzeptionen. Angenommen, die Gehirnschnitt- animationen Reichers seien noch greifbar und in ein digitales Format über- tragen, so würde die motivische und bildlogische Entsprechung mit geeigne- ten Ausschnitten des "Visible Human" Datenmaterials ins Auge springen. Ein medientechnischer "Sprung" ist konkret durch die zwei folgenden Zeilen der Abbildung vollzogen, die zeigen, daß ein einziges Präparat heute in drei verschiedenen Schnittrichtungen durchfahren werden kann, ohne daß anhand sichtbarer Merkmale entschieden werden kann, welche Schnitte durch den toten Körper geführt wurden und welche nachträglich am digital rekonstruierten Modell dieses Körpers simuliert worden sind. Einst hatte die Anfertigung von Schnittfolgen die Entscheidung für eine einzige Ansicht bedeutet, die allenfalls als Endlosschleife in Wiederholung gezeigt werden konnte. Programme und Programmierarbeit von Spezialisten anatomischer Bildverarbeitung machen es inzwischen möglich, die seriellen Bilder im Com- puter virtuell wieder zu einem dreidimensionalen Bildkörper in der Darstel- lung zu verrechnen. Aus den Bildserien eines zerschnittenen Körpers kann ein virtueller Körper unter Berücksichtigung aller vorhandenen räumlichen 37 Norbert Wiener, Gott & Golem Inc., Düsseldorf 1965, S. 57 f. 3 0 3 CLAUDIA REICHE Daten, gleichsam in Umkehrung des Ablaufs wie ein Wachsblock Fischingers zusammengesetzt werden. Dieser Block besteht aus Voxeln, Volume Picture Abb. 2: Orthogonale Schnittebenen durch den Kopf des männlichen Visible Human. Die Serie der transversalen Schnitte wurden an der Leiche durchge- führt, die sagittalen und koronalen Schnittserien aus diesen transversalen Schnitt- bildern computererzeugt.38 38 University of Colorado School of Medicine, Center for Human Simulation h t t p : / / wvw.uchsc.edu/sm/chs/gallery_gifs/MHeadCor.mpg, h t tp : / /www.uchsc .edu /sm/chs / gallery_gifs/MHeadSag.mpg, h t t p : / / w w w . u c h s c . e d u / s m / c h s / g a l l e r y _ g i f s / M H e a d Trn.mpg (aufgesucht 16.1.2001) 3 0 4 "LEBENDE" ANATOMIEN 1 9 0 0 / 2 0 0 0 : KINEMATOGRAPHISCHE SERIENSCHNITTANIMATION UND ... Elements, die anders als die Pixel durch eine dreidimensionale Lage- bestimmung charakterisiert sind - im virtuellen Raum. Es wird ein dreidi- mensionaler Körper berechnet, der entsprechend den fortschreitenden Daten- bearbeitungen und Programmierungen aus jeder Perspektive beliebig oft zu zerlegen, zu verschmelzen, zu öffnen, zu schließen und zu durchfahren ist.39 Als umso auffälliger und bedeutsamer muß indes gelten, daß bereits un- ter dem Eindruck der ersten digitalen Animationen der Visible Human-Schnitt- bilder, die vom Prinzip her ebenso ein Filmprojektor hätte zeigen können, die Sichtbarkeit eines emphatisch Neuen und der Eintritt in ein neues Zeital- ter deklariert wurden. Massenmedial galten die Darstellungen als ein "Noch nie Gesehenes," nachdem in der Mitte der 90er Jahre diese ersten, weitge- hend unbearbeiteten Bildserien auf wissenschaftlicher und populärer Ebene Verbreitung gefunden hatten. Versprochen wurde eine radikale Neuheit, die gleichermaßen als Blick in das Körperinnere eines Menschen, wie auch als Blick auf einen neuen Daten-Menschen dargestellt wurde. Versprochen wur- de so ein mehrfach Unmögliches: ein neuartiger "lebender Datenmensch," der zugleich "identisches Abbild" jener Leiche war, die zur Bildherstellung gedient hatte. - Wie in der Frühzeit des Kinos ging es wieder buchstäblich um das "Leben" dieser Bilder, nur diesmal aus dem Computer. Eine beispiel- hafte Formulierung bietet das populärwissenschaftliche Magazin P.M. zum "Visible Human Project" Dort gilt das Projekt als "Die phantastische Schöp- fung des ersten (echten) digitalen Menschen."40 Mit einer wiederkehrenden, euphorischen Unentschiedenheit über Gegenstand oder Repräsentation, wurden im Namen eines "Neuen" wieder "Echtheit" und "Leben" in Bewe- gung versetzt. Geradezu als Verschmelzung von Mensch und Computer, als Vorstellung, der Körper "lebte" entmaterialisiert als Datenmenge im Compu- ter weiter, wurden die ersten Bilder der digitalisierten Leichenschnitte in den Medien besprochen.41 Wie stellte demgegenüber die Institution, die das "Visible Human Project" initiierte, ihr Vorhaben dar? Bereits in der Planungsphase dieses Projekts der National Library of Medicine (U.S.) wurde dieser "sichtbare Mensch" in knap- pe Worte gefaßt, die das Projekt zu der "first digital description of an entire human being"42 erklärten. "Ein ganzer Mensch," so lautet konkret der An- 39 Vgl. Claudia Reiche, "The Visible Human Project.™ Einführung in einen obszönen Bildkörper," in: Von Buchstaben, Bildern und Bytes, hrsg. Projekt Wahrnehmung, Basel, Frankfurt a. M. 2001 (in Vorbereitung) 40 Maria Biel, "Die phantastische Schöpfung des ersten (echten) digitalen Menschen," in: P.M., (2) 1996, 87. 41 Vgl. Claudia Reiche, ' "Lebende Bilder' aus dem Computer," a.a.O. 42 National Library of Medicine (U.S.) Board of Regents, "Electronic Imaging, Report 3 0 5 CLAUDIA REICHE spruch, wird erstmalig auf digitaler Basis zum "sichtbaren Menschen." Erin- nert sei an die einstigen entsprechend uneinlösbaren Behauptungen Karl Reichers, der "komplette Serien" von Gehirnschnitten versprach. So klingt der Anspruch heute: ".. .a digital image library of Volumetrie data representing a comlplete, normal adult male and female. This Visible Human Project will include digitized photographic imagesfrom cryosectioning, digital images derived from computerized tomography and digital magnetic resonance images of cadavers."43 Für die digitale Beschreibung des "sichtbaren Menschen" sollen also zunächst Volumendaten jeweils eines "vollständigen, normalen männlichen und weiblichen Erwachsenen" erfaßt werden, und zwar im wesentlichen durch digitalisierte photographische Schnittbilder gefrorener Leichen, ergänzt durch eine Anzahl computertomographischer und Magnetresonanz-Bilder. Die angeblich "komplette" Sichtbarkeit, die den digitalen "Adam" und die digitale "Eva" einmal mehr auszeichnen soll, macht übrigens einen decouvrierenden Unterschied zwischen den Geschlechtern , insofern die weibliche Leiche in dreimal dünnere Schichten als der zunächst bearbeitete "Adam" geschnitten wurde. Beide gelten jedoch weiterhin als "vollständige," "normale," oszillierende Seinsformen zwischen Bildern und Menschen. "Bil- der," die so sonderbar vollständig wären, daß sie keine Bilder im herkömmli- chen Sinne mehr sein könnten, sondern "absolute" Bilder oder neue "Men- schen"? Als ein ebenfalls Erstaunliches kann nun - im Zeitalter von Compu- tertomographie und ähnlichen Schichtbildverfahren - überhaupt die Ver- wendung von Messern, Leichen und der photographischen Aufnahme gel- ten. Denn dies geschieht ja, um erklärtermaßen in das digitale Zeitalter des Bildes einzutreten. Das ist insofern neu, - gerade weil die kinematographisch ausgerichteten Verfahren von Forschern wie Karl Reicher wiederholt, im Di- gitalen simuliert werden. Denn wenn beim Visible Human Project photographiert wird, muß das Innere des Körpers wieder durch Messer, durch Aufschneiden, sichtbar ge- macht werden; Schicht für Schicht muß der Körper von Kopf bis zu den Fü- ßen in immer neue Schnittflächen abgehobelt werden, Photo für Photo wei- tere Gewebeschichten freigelegt werden, bis mit Beendigung der Bilderserie vom gefrorenen Block nur noch geschmolzene Hobelspäne im Submillimeter- bereich übriggeblieben sein werden. Im World Wide Web finden sich Texte von Wissenschaftlern, die die Prozeduren des Aufschneidens und die photo- of the Board ofRegents," U.S. Department of Health and Human Sciences, Public Health Service, National Institutes of Health, 1990, NIH Publication 90-2197. 43 National Library of Medicine (U.S.), h t tp: / /www.nlm.nih.gov/pubs/factssheets / visible_human.html, aufgesucht 25. 3. 99. 306 "LEBENDE" ANATOMIEN 1 9 0 0 / 2 0 0 0 : KINEMATOGRAPHISCHE SERIENSCHNITTANIMATION UND ... realistische, hochaufgelöste Erscheinung der Bilddateien enthusiastisch als überwältigendes Erlebnis beschreiben, als einen Vorgang "revealing slice-by- slice the beauty and detail within."44 Verrät nicht auch diese Aussage, die die Begeisterung angesichts der visuellen Dichte und Klarheit der alten Serien- schnittanimationen wiederzugeben scheint, eine seltsame Ver-rückung, den Sprachgestus eines Als-Ob? Ein fetischistischer Blick, der sich einst wie heute unt rennbar an den Oberflächendetails der medientechnischen Erscheinung wie dem jeweils abbildlichen "Körper" berauschte, träfe wohl auf die eupho- rische Leere und Konkretion des Medialen - zu. Lesbar würde an diesen verpaßten, fehlgehenden und schwankenden Zuschreibungen: Das "Leben" der Bilder springt ersatzweise in die Leerstelle einer ständigen Oszillation und Platzverschiebung ein. Wenn in den vorliegenden Beispielen "Leben" mit der Vorstellung einer "restlosen" Übertragung eines "Menschen in das Medienformat" verbunden ist - beim Visible Human Project als Übertragung einer "überwältigend" gro- ßen Datenmenge "in den Computer" und bei den Serienschnittanimationen in die "lückenlose" Serie der Filmkader - so erscheint ein unhaltbarer Ort des Subjekts als List in der Darstellung. Erscheint das Subjekt als die "-Losikeit," des Rests, der Lücken. Der in Science Fiction-Literatur und -Filmen längst kursierende Wunsch einer möglichen paradoxalen Rückkehr solch "vollstän- diger" Datensätze in die körperliche Form biologischer Existenz, spräche beredt von dem Wunsch durch das digitale Medium allererst die beschwore- ne "Vollständigkeit" zu erlangen. Die gewissermaßen offizielle Phantasie des "Informationszeitalters" nun, denkt einen "Menschen" als mit sich selbst identische "Information" auf ver- schiedenen materiellen Trägern - carbon- oder siliciumbasierten Speicher- medien und wird insbesondere an Konzepten des menschlichen Genoms, in der Artificial Life-Forschung und auch anhand der Visible Human Daten entwickelt. Beruht diese Phantasie vom digitalen "Leben" nicht doch auf ei- ner grundlegenden Wandlung im Medialen gegenüber dem Vorgänger- medium Film? Wäre hier doch etwas qualitativ Unterschiedenes zu den "le- benden" Gehirnen in kinematographischer Projektion zu bestimmen? Die eine Antwort lautet: Nein, bezüglich der reflexartigen Schließung des medial erfahrbaren symbolischen Selbstverlusts, wie sie die historisch wie- derkehrende "Lebens" -Behauptung versucht. Die andere Antwort lautet: Ja, 44 "A custom-designed cryogenic macrotome was then used to remove one millimeter (1mm) sections of the frozen cadaver, revealing slice-by-slice the beauty and detail within." Scientif ic C o m p u t i n g Division de r University of Colorado, (National Center for Atmospheric Research), http:/ /www.ncar.ucar.edu/METASCI/VHP.html, aufgesucht 28.3.1999. 3 0 7 CLAUDIA REICHE und dies auf zweifachem Weg. Zum ersten: Ja, das digital definierte "Leben" ist ein neues, anderes "Leben." Denn als eindeutig neu (in den Relationen des hier unternommenen Vergleichs) sind die weiteren Arbeiten der Pro- grammierung am Datenmaterial des "Visible Human" zu erkennen. Weitere Verwendungen des Datenmaterials im Simulationsmodus von virtueller Rea- lität differenzieren dieses neue Konzept als ein abstrakt räumliches aus, wie es Serienschnittanimationen allenfalls begonnen hatten. Wie wäre dieser neue Simulationsraum der dreidimensionalen virtuel- len Körper des Visible Human zu beschreiben? Wesentliche Voraussetzun- gen sind das Anlegen bildexterner Koordinaten und das Rasterprinzip als technische Basis. Die Bildpunkte, sogenannten Picture Elements, eines aus Zeilendurchläufen in der Wahrnehmung entstehenden Bildeindrucks, ope- rieren wie der Film mit der Grenze wahrnehmbarer Geschwindigkeiten - und der Grenze des optischen Auflösungsvermögens des Auges. Eine zeitliche Verschmelzung der seriellen Schnittbilder war ja bereits bei der kinemato- graphischen Bewegungstäuschung entscheidend, im virtuellen Raum müs- sen die Schnitte nicht nur zwischen den Bildern verborgen werden, sondern auch innerhalb jeden Bildes, das nicht einem photographierten Schnittbild entspricht. Prinzip ist eine virtuelle "Stapelung" der Serienschnittbilder zu einem dreidimensionalen Bilderstapel. Dessen Höhe wird anhand der Schnitt- stärken bestimmt. Der virtuell rekonstruierte dreidimensionale Bildkörper soll die mechanischen Schnitte nicht mehr anzeigen. Als regelmäßige Diffe- renz zwischen Volumenelementen sind sie im neuen virtuellen, bildlichen "Gewebe" verschwunden. Vorstellungen einer "restlosen" Wiederherstellung, einer Heilung der toten, zerstückelten Spenderkörper des Visible Human Projects werden aufgerufen, von Inszenierungen etwa in der TV- Berichter- stattung, die Assoziationen zum narbenlosen Verheilen einer Schnittwunde in einem lebenden Gewebe unterstützen.45 Die Grenze solcher bildlichen "Wunderheilung" bildet allerdings immer noch der Blick. Angenommen die optische Auflösung eines Bildschirms be- trägt maximal 72 dots per inch, so lägen bereits dem alltäglichen Blick auf das Display vertikale und horizontale Linien eines zweidimensionalen Gitters zugrunde, die allerdings in so kleinteiligem Abstand die Pixel definieren - 0,353 mm2 —, daß sie nicht gesehen werden. Visuell verschmelzen können solche "Schnitte" des Pixelrasters nur, wenn ein bestimmter Abstand zwischen Auge und Ausgabemedium nicht unterschritten wird. Doch auch unter weni- ger konkreter Perspektive steht ein Raster in gewisser Diskrepanz zu der Wirklichkeitszumutung und zur euphorischen Aufnahme, die die eingetra- 45 Magazin Prisma, N3, 27.2.1996. 3 0 8 "LEBENDE" ANATOMIEN 1 9 0 0 / 2 0 0 0 : KINEMATOGRAPHISCHE SERIENSCHNITTANIMATION UND . . . genen Bildinformationen im virtuellen Raum als echter "Mensch" gefunden haben. Umgangen - besser: vertuscht - wird der Unterschied zwischen rea- len Schnitten und den Linien des dreidimensionalen Gitters, der Basis der Simulation. Denn die virtuelle "Stapelung" zur plastischen Rekonstruktion des Körpers kann nicht auf millimeterdicke "Scheiben" zurückgreifen, son- dern auf die Serie photographierter Schnittflächen. Daß hier ein Unterschied besteht, ist evident, da eine Photographie nicht das materielle Substrat der darunter befindlichen Gewebestrukturen durchdringen kann. Es fehlt etwas zwischen den Schnittabständen: "not visible." Wenn der Visible Human demgegenüber die räumlich korrekte Anord- nung digitaler Spuren eines zerschnittenen Objekts in einem dreidimensio- nalen Gitter meint, so ist die entscheidende Arbeit die einer lokalen Bestim- mung und Zuordnung. Die virtuelle Rekonstruktion ersetzt nicht nur die Materialverluste, sondern übergehtauch Unterscheidungen zwischen Gegen- stand und seiner informationellen Aufzeichnung, nämlich durch das vorran- gige Konzept exakter Lokalisation. Konzeptionell in eine oszillierende Ambi- valenz gebracht werden der menschliche Körper und seine räumliche Re- konstruktion, werden der mechanische Schnitt des Kiyomakrotoms und das Gitter der dreidimensionalen Graphik, werden die medientechnische Mate- rialität und das Fleisch der Leiche. Die dreidimensionale Bildlichkeit der vir- tuellen Realität erlaubt eine beliebige Positionierung des Blicks auf die dar- gestellten Objekte. Mit virtuellen "Kamera'-schwenks kann der jeweilige Voxel- Körper betrachtet werden.46 Jedoch auch die Innenwände und Hohlräume des Körpers werden visu- ell zugänglich. Der Betrachter wird nicht mehr imaginär an einem Ort belas- sen, sondern wird in Bewegung versetzt, um wie ein ausdehnungsloser, doch "sehender" Punkt in die Hohlräume und Tunnel des im Größenmaßstab vari- ablen Körperinneren einzudringen.4 7 Der virtuelle Körper wird für den solcherart explorierenden Blick geradezu umgestülpt. Der User wird zu ei- nem neuen Wirklichkeitseffekt und zugleich zur imaginären Entmate- rialisierung eingeladen: "sich" als Element des virtuellen Raums zu begreifen - w i e ein "Visible Human," der in "sich" selbst, durch die Datenlandschaften seines eigenen anatomischen Strukturen sausen könnte. Denn das ist nicht nur metaphorisch, sondern in programmierbarer Ubersetzung eine neue 46 Diese Möglichkeiten bietet in besonderer technischer wie konzeptioneller Präzision das an der Hamburger Universität entwickelte Programm VOXEL-MAN an, ein virtuelles ana tomisches Model l , das auch mit den Visible H u m a n Daten arbei tet , h t t p : / / www.uke.uni-hamburg.de/institute/imdm.idv/VisibleHuman.html, aufgesucht 16.1.2001. 47 Entsprechen den Bildberechnungen im Video Professor Roentgen Meeets the Virtual Body, IMDM Universität Hamburg 1995. 309 CLAUDIA REICHE wichtige Eigenschaft der aus den Visible H u m a n -Daten gewonnenen Voxelstrukturen. Durch räumlich bildliche Vermessung der eigenen Körper- daten kann ein "Visible Human" die Gestalt entsprechend dieser Daten an- nehmen. Data Matching. Und weiter: Wie könnten durch Manipulationen digitaler Bildlichkeiten direkte Zugriffe auf das Referenzobjekt der Abbildung möglich sein, einen lebenden Körper? Auf dem Gebiet der telepräsentischen Chirurgie werden bereits Möglichkeiten geschaffen, mit visuellen und taktilen Aus- und Einga- begeräten einen chirurgischen Eingriff simulieren zu können. Chirurgen können komplizierte Eingriffe, z.B. in der Neurochirurgie, an dem individu- ellen Datenmaterial des Patienten trainieren und sogar bereits tatsächliche Eingriffe am Patienten vornehmen. Operiert wird so am Voxel-körper mit lebensentscheidenden Konsequenzen für die derart simulierten lebenden Körper. So kann ein Schnitt in das Als -Ob eines neuartigen Bildkörpers als ein Rechenvorgang und zugleich als ein Schnitt in einen lebenden Körper wirken. Im telepräsentischen chirurgischen Setting ist eine Ununterscheid- barkeit zwischen Körper und Repräsentation operativ gemacht. Ein Arzt kann in einem solchen Operationssimulator unter bestimmten Umständen nicht mehr sicher feststellen, ob er übt oder die Operation bereits am Patienten durchführt wird. Auf anderem Weg erzeugt, lautet eine weitere Antwort auf die Frage, ob die wiederkehrende Rede vom "Leben" der jeweils medientechnisch neuesten Bildlichkeit nicht doch Anzeichen eines epistemologisch wirksamen Sprungs zwischen analogen und digitalem Medium sei - ebenfalls und widersprüchlich zum zweiten Mal: Ja. Dies tritt ein, wenn schlicht die Figur dieser Wiederkehr selbst bedacht wird. Denn ein oft übersehener Unterschied liegt allein in der Tatsache der historischen Wiederholung unter grundlegend anderen Bedin- gungen - mitsamt ihrer fingierten Vergeßlichkeit gegenüber der vorausgegan- genen Epoche "lebender Bilder." Die aktuelle Behauptung vom "Leben" der Daten simuliert, - wie im Technischen so auch die vorangegangenen Medien- diskurse. Erinnert sei an dieser Stelle an die Struktur einer Serie. Unentscheidbar anhand einer verschaltenden Rückkopplung dieser drei Antworten auf die Frage nach der medialen Zäsur des Digitalen bliebe, ob nun im Sprung von der filmischen Serienschnittanimation zur virtuellen Re- alität der Voxel-Modelle, der "Körper" und das "Leben" sich verändert hätten - und dies gerade indem sie unweigerlich und in einer nicht endlichen Zahl von Schritten nicht aufgehört haben werden "sich" zu verschieben. Anders gesagt: geht es hier um das "Halteproblem," in der Informatik eines der wich- tigsten Entscheidungsprobleme, das die Maschine mit "unentscheidbar" be- antwortet: 310 "LEBENDE" ANATOMIEN 1 9 0 0 / 2 0 0 0 : KINEMATOGRAPHISCHE SERIENSCHNITTANIMATION UND ... "Es gibt kein automatisches Verfahren, mit dem man für jedes Programm entscheiden kann, ob es eine Endlosschleife enthält oder nicht. Diese Tatsa- che ist für die Informatik sehr gravierend. Sie besagt gleichzeitig, daß man die Korrektheit eines Programms [... ] nicht automatisch überprüfen kann."48 48 Duden, Informatik,a.a.O. S. 291. 511