Liberalismus und Partikularismus im neuen Europa* Jelica Šuraič-Riha Wie wirkt sich auf die internationale Rechtsordnung die Tatsache aus, daß die internationale Gemeinschaft hypokritisch und zynisch der Zerstörung eines anerkannten Staates und der massenhaften Vernichtung seiner Bevölkerung zustimmt? Mit der resignierten Feststellung, der Krieg im Bosnien sei eines der tragischsten Szenarios des Übergangs vom Totalitarismus zur Demokratie, würden wir nur an der Antinomie des politisch ohnmächtigen Bewußtseins von den paralysierenden und destruktiven Wirkungen der vorherrschenden offiziellen Realpolitik der Europäischen Union und der USA einerseits und der moralisierenden Entrüßtung andererseits, die meistens genau das Entgegengesetzte vom Erwünschten hervorbringt, festhalten. Der erste Schritt zu einer ernsten politischen und rechtlichen Analyse der gegenwärtigen Lage kann deshalb nur in einem Überwinden dieser Antinomie bestehen. Mit dem Verschwinden von autoritären politischen Optionen und der Entschlossenheit der jungen Demokratien, dem leuchtenden Vorbild fest etablierter Demokratien folgen zu wollen, mit dem festen Glauben an die Heiligkeit der universellen Menschenrechte schien es, als ständen wir alle vor dem Versuch der Wiederherstellung der rechtlichen und politischen Ordnung, die - ähnlich wie das iuspublicum Europeum, das die blutigen Glaubenskriege in Europa beendete - der Kriminalisierung des Anderen und seiner Degradierung zu einem Wesen, das man prinzipiell nicht als sich selbst gleich behandeln kann, ein Ende setzen würde. Wenn die quasi-universalistischen totalitären Ideologien einen politischen und rechtlichen Manichäismus postulierten, der ihnen die Nichtanerkennung der Legitimität des Anderen und seiner Ansprüche erlaubte, dann wirft sich heute die Frage auf, auf welche rechtliche, politische und moralische Normen sich das neue demokratische Europa beruft, wenn es eine solche manichäische Praxis in Bosnien toleriert. Mit anderen Worten, welcher Konzeption der Legitimität der Rechtsordnung folgt das neue Europa, * Beim Beitrag handelt es sich um eine umgearbeitete Fassung des Referats »Die Konstitution des Gesetzes im Lichte des väterlichen und mütterlichen Über-Ichs«, der für die Kasseler Tagung »Mythen des Politischen 2« zusammen mit Rado Riha verfaßt wurde. Dabei greift der Beitrag auch auf die von Rado Riha entwickelten Argumente zurück. Fil. vest./Acta Phil., X I V (2/1993) , 213-225 . 214 Jelica Sumic-Riha wenn es Kriegsverbrecher als rechtsmäßige Repräsentanten des Volkes behandelt, seine wirklichen rechtsmäßigen Vertretter aber als Usurpatoren? * Der Zweifel, ob das Gesetz gerecht sei, und die Verwunderung, daß wir uns dem Gesetz unterwerfen, obwohl wir tief in uns überzeugt sind, er sei es nicht, hat seit Montaigne und Pascal das (rechts)philosophische Denken beschäftigt. Noch schmerzhafter betrifft das Bewußtsein vom Unterschied, mehr noch, vom Widerstreit zwischen Gesetz und Gerechtigkeit die moderne Demokratie, von der ihrem Selbstverständis nach das aufklärerische Projekt eines autonomen und freien, sich selbst das Gesetz gebenden, nur die Autorität der Wahrheit und der Vernunft anerkennenden Subjekts verwirklicht wird. Hier macht es sich in Form der fortwährend offenen Frage nach der Konstitution des Gesetzes geltend, der Frage nach dem Ort, wo es ausgesagt, und dem Subjekt, von dem es ausgesagt wird. Einer Frage, die heute, zu einem Zeitpunkt, in dem mit dem Zusammenbruch des realen Sozialismus das Modell der westlichen Demokratie, wie es scheint, zum einzig möglichen Modell der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung geworden ist, noch an Aktualität gewonnen hat. Mit dieser Universalisierung der demokratischen Invention, diesem siegreichen Marsch der Demokratie durch ganz Europa geht heute nämlich auch ein unbequemes Phänomen einher: in Europa der herrschenden Menschenrechte herrschen auch Nationalismus, Rassismus und agressiver gegendemokratischer Populismus, um von der allmählichen, aber konstanten Reduzirerung des Umfangs der schon erreichten Frauenrechte gar nicht zu sprechen. Die Demokratie erscheint uns heute als ein prekäres politisches und rechtliches System, ein System, dessen Grundlagen so problematisch, so brüchig sind, daß gesagt werden kann, es habe überhaupt keine feste Grundlagen, genauer gesagt, es sei auf einem Nichts gegründet. Übrigens wissen wir ja von Lefort, daß die Demokratie einem radikalem Mangel verbunden ist. Von ihm wird dieser Mangel bekanntermaßen vermittels des Theorems vom notwendig leeren Ort der Macht in der modernen Demokratie thematisiert. Leer muß dieser Ort deshalb bleiben, weil in der modernen Demokratie das Volk der einzige Souvären und gleichzeitig die Menge der dem Gesetz unterworfenen Untertanen ist, so daß es nie seinem eigenem Begriff entsprechend herrschen kann. Gerade dieses Paradox eines Selbstgesetzgebers, der gleichzeitig auch sein eigener Untertan ist, dieses Paradox der Herrschaft eines Gesetzes, das zwar universell, aber keiner Letzbegründung und Garantie fähig ist, sich letztendlich auf ein Nichts gründet, verlangt auch von der gegenwärtigen (post)modernen Gesell- schaft eine fortwährende Neuthematisierung ihrer konstitutiver Momente. Diese Neubestimmung betrifft vor allem den prekären Status des Gesetzes der demokratischen Ordnung, das nur als allumfassend, als universell geltend Liberalismus und Partikularismus im neuen Europa 215 möglich ist, das aber gleichzeitig, wie dies z.B. vom Ausbleiben der Letz- begründung, der Begründung seiner eigenen allumfassenden Geltung, angezeigt wird, nicht universell sein kann, immer etwas außerhalb seiner gesetzlichen Reichweite lassen muß, unkonsistent ist. Was für einen Status kann also dieses Äußere, dieses Nicht-Gesetzliche haben, wenn das Gesetz in der Demokratie nur als universelles, allumfassendes geltend ist, als Instanz, der Nichts entgeht? Mit anderen Worten, was ist dieses Nichts, das konstitutiv dem demokratischen Gesetz entgeht, so daß dieses nie ganz, konsistent sein kann? Die strukturelle Linguistik lehrt uns, daß aus jeder Aussage, also auch aus der universellen, notwendigerweise der partikuläre, kontingente Ort ausgeschlossen ist, an dem die Aussage geäußert wird. Von der Psychoanalyse wissen wir, daß das Verdrängte, Ausgeschlossene, Unter- drückte nicht restlos verschwindet, sondern auf diese oder andere Weise im Realen zurückkehrt. Von diesen zwei Axiomen des gegenwärtigen theoretischen Denkens ausgehend werden wir uns im weiterem zwei mögliche Lösungen des Dilemmas des unkonsistenten Gesetzes anschauen: die modernen Lösungen, die unter anderem auch von Habermas und Rawls vertretten werden, und die postmodernen, die Kritiken des sog. modernen Paradigma umfassenden Lö- sungen, die sich auf Foucault, Lyotard, Derrida und Lacan stützen. Unsere Aufmerksamkeit gilt dabei vor allem zwei Fragen. Erstens, wie wird von diesen Lösungen die Universalität des Gesetzes angesichts der von ihm struk- turnotwendig vollbrachten Ausschließung des Partikulären (des Subjekts der Äußerung) beurteilt? Und zweitens, welchen Status weisen sie diesem Ausgeschlossenen, diesem unfaßbaren partikulären Moment im Verhältnis zum universellen Geltungsbereich des Gesetzes zu? Mit anderen Worten, wir werden uns mit der Frage befassen, wie sich das Prekäre der Demokratie in dem kenntlich macht, das als Ethik und Politik des Gesetzesverständnisses bezeichnet werden könnte. Das erste Anzeichen dieses Prekären liegt unserer Meinung nach schon in der kritischen Auseinandersetzung, im différend, wie Lyotard sagen würde, zweier Lesarten des Gesetzes: der modernen bzw. klassischen und der postmodernen bzw. dekonstruktivistischen. Die klassische, vor allem von der orthodoxen Jurisprudenz entwickelte Lesart versteht das rechtliche Gesetz als einen kohärenten Korpus von Regeln, Grundsätzen, Vorsätzen und Ausdrücken des souvärenen Willens. Die Jurisprudenz ist vom offen zugegebenen, dokumen- tierten Wunsch besessen, die Ausübung der politischen Macht in Legitimität zu verkleiden. Die vorherrschende Strategie, mit der sie dieses Ziel zu erreichen sucht, liegt darin, den rechtlichen Text in ein unendliches, lückenloses Geflecht zu übersetzen, in dem ins Unendliche die gleichen Formeln (re)produziert und zirkuliert werden. Von der postmodernen Theorie wird, im Gegenteil, jeder 216 Jelica Sumic-Riha Versuch, eine große Erzählung, eine totalisierende Theorie, von der die bestehende politisch-rechtliche Ordnung als kohärent und vollkommen erklärt werden soll, auszuarbeiten, radikal in Zweifel gezogen. Für verschiedene Diskurse, verdrängte und unterdrückte Dialekte und Idiome empfänglich, die immer schon, obwohl aus dem dominanten Text ausgeschloßen, auf eine gewisse Weise anwesend sind, versucht die postmoderne Kritik zu zeigen, daß die Jurisprudenz schon auf der Ebene ihres eigenes Anspruchs fehlschlägt, einen in sich geschloßenen, durch den Siegel der Autorität gewährleisteten Text hervorzubringen. Feministische und ethische postmoderne Kritiken weisen nach, daß Recht und Gesetz, diese scheinbare Zeugnisse einer ewigen, universel- len Rationalität, in Wirklichkeit nur die Herrschaft eines europozentrischen Patriarchats darstellen. Mit anderen Worten, sie weisen nach, daß das universelle Gesetz unausweichlich von jenem Ort gekennzeichnet ist, von dem aus es ge- äußert wird.' Der Verdienst vor allem der feministischen Kritik liegt dabei darin, auf die Logik des Rechts, von der diese partielle, patriarchalische Sicht- weise reproduziert wird, aufmerksam gemacht und All jenem zu Worte verholfen zu haben, das vom herrschenden Rechtstext zum Schweigen gebracht wurde, kurz, zugleich mit der Vernünftigkeit der rechtlichen Ratio auch die Stützen der Gewißheit der Moderne in Frage gestellt zu haben. Die Gewißheit der Moderne stützt sich aber, wie etwa von R. Rorty in seiner Philosophy and the Mirror of Nature dargelegt wurde, auf eine stillschweigende, unzerstörbare Überzeugung, daß alle Auffassungen der Wahrheit bzw. Gerechtigkeit kommensurabel sind, d.h., daß sie auf eine geordnete Menge von Regeln zurückführbar sind, von denen Wege zur Erreichung einer rationellen Übereinstimmung und Vorkehrungen zur Ausschaltung von Konfliken bzw. Widersprüchen zwischen den Aussagen vorgeschrieben wer-den.2 Menschliche Geschichte und Gesellschaft sind zwar vom Konflikt und kultureller Verschie- denheit geprägt, trotzdem herrscht aber die Überzeugung vor, unter dieser anscheinend irreduziblen Heterogenität der Erfahrung liege etwas, was man als gemeinsames Selbst bezeichnen könnte und was uns als rationelle Subjekte imstande setzt, eine Übereinstimmung hinsichtlich der Grundfragen unserer Existenz zu finden. Dieser vorherrschenden Überzeugung setzt Rorty bekanntermaßen entgegen, daß es nichts gebe, was als gemeinsame Grundlage der menschlichen Erfahrung bezeichnet werden könnte. Damit wird natürlich nicht nur der Versuch der Aufklärung, eine universelle Begründung der Wahrheit und des Gesetzes in 1 . Daß das universelle Gesetz selbst mit etwas Partikulären, Kontingenten behaftet ist, tritt auch darin zu Tage, daß es willkürlich die Vernunft, die Rasse oder das Geschlecht des Anderen für etwas Arbiträres oder Ungültiges erklärt. 2 . Cf. R. Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, Blackwell, Oxford 1980, S. 316. Liberalismus und Partikularismus im neuen Europa 217 der Autorität der Vernunft zu finden, problematisiert und in seiner Légitimât erschüttert. Vielmehr wird jeder vermittels eines in sich konsistenten Grundes operierende Begründungsversuch, handele es sich nun um die Natur des Menschen, um die universelle Vernunft oder um eine regulative Idee, etwa um die ideale Sprachsituation einer zwangslosen Kommunikation, als ein von radikaler Kontingenz geprägter Ansatz erklärt. Von diesem Gesichtspunkt kann keine Auffassung der Wahrheit, Gerechtigkeit oder des Guten vorherr- schend sein: alle sind gleichwertig, da es unmöglich ist, einen äußeren Ge- sichtspunkt einzunehmen, von dem aus man sie beurteilen und untereinander vergleichen könnte. Jeder Entschluß für dieses oder jenes ethische oder politi- sche Projekt ist letztendlich unbegründbar und arbiträr. Daß das Verhältnis von Moderne und Postmoderne mehr ein gleichzeitiges Bestehen von sich wechelseitig anschließenden Erklärungsansprüchen als zwei zeitlich getrennte Phänomene darstellt, wird von zwei so »anachronistischen« Erscheinungen bezeugt, wie dies Habermas und Rawls sind, zwei Vertretern der Moderne im Zeitalter der Postmoderne, die bemüht sind, nachzuweisen, daß es sogar in der Epoche der Postmoderne, in der die Gesellschaft den Höhepunkt ihrer Fragmentarisierung und Zerstreuung erreicht hat, möglich und sogar notwendig ist, den universellen Konsens für ein ethisches und politisches Projekt zu erreichen. Deshalb liegt das Hauptroblem des gegenwärtigen liberalen politischen Denkens, wie es etwa von Rawls vetretten wird, in der Frage, wie angesichts der scheinbar unendlichen Fragmentarisierung des Gesellschaftlichen die Einheit der gegenwärtigen Gesellschaft herzustellen wäre, wie der Dissens, die Frag- mentarisierung und die Kontingenz zu fixieren, lokalisieren und neutralisieren wären, dabei gleichzeitig das gemeinsame normative Ideal, das für alle verbindliche Moral imperativ der Gerechtigkeit bewahrend. Für Rawls, der darin Kant folgt, liegt die Bedingung für die Konstitution des universellen Gesetzes, des moralischen Gerechtigkeitsimperativs, im Vorrang der Gerech- tigkeit vor dem Guten,3 dessen Voraussetzung die Ausklammerung der (kontint- genten) Äußerungsposition des Gesetzes ist. Waren alle bisher bekannten Vorstellungen des Guten immer »pathologisch« in Kants Sinn des Wortes, irreduzibel partikulär, d.h. mit dem Ort ihres Äußerns gekennzeichnet und insofern nichtuniversalisierbar, dann muß, sollen die Glieder der Gemeinschaft gleich und gleichberechtigt, die Grundsätze der Gerechtigkeit aber universell sein, Rawls nach von jeder Besonderheit des konkreten gesellschaftlichen Lage, von allen Unterschieden hinsichtlich des Geschlechts, der Rasse, der gesellschaftlichen Statuses, der natürlichen Talente, der Wertsetzungen, 3 . Cf. J. Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, Mass. Harvard University Press 1971, S. 446- 52. 218 Jelica Sumic-Riha Interessen usw. abstrahiert werden, von all jenem also, was Gegensätze und Auseinandersetzungen generiert. Ein solcher ursprüngliche Gleichheits- und Gleichberechtigkeitszustand ist Rawls nach wenigstens in Form der Fiktion eines Naturzustandes, einer »Ursituation« denkbar, in der sich die Subjekte hinter einem »Schleier der Unwissenheit« (veil of ignorance) befinden. Die Gerechtigkeit einer konkreten gesellschaftlichen Situation ist den Grundsätzen nach zu beurteilen, die vermittels dieses ethischen Konstrukts gesetzt sind, eines symbolischen Paktes, der von den Teilnehmern an der Ursituation unter der Bedingung geschlossen wird, daß niemand seine eigene partikuläre gesellschaftliche Lage in Betracht zieht. Wenn sich also das moralische Subjekt nur aufgrund eines Abstraktionsaktes konstituieren kann, durch das In-Klammern-Setzen seiner konkreten Äußerungs- position, dann überrascht es nicht, daß auf der Ebene dieses ethischen Paktes die Übereinstimmung sozusagen schon in vorhinein versichert ist. Wenn nämlich die Mitglieder der Gemeinschaft keine Unterschiede untereinander kennen, alle gleichermaßen rational und ähnlich situiert sind, dann ist es auch möglich, daß gleiche Argumente alle überzeugen.4 Für Rawls ist Gerechtigkeit ohne universellen Konsens unvorstellbar: gäbe es keinen gemeinsamen Gesichts- punkt, dessen Voraussetzung die Einebnung der Meinungsunterschiede möglich macht, dann wären auch Reflexion und Argumentation überflüßig und sinnlos. Der Konsens ist also Rawls nach nur hinsichtlich der Gerechtigkeit möglich, und zwar unter Berufung auf eine grundsätzliche Gleichheit, d.h. auf ein von jeder kontingenten persönlichen Geschichte bereinigtes abstraktes Subjekt. Einzig ein vom Pathologisch-Kontingenten nicht gekennzeichnete Subjekt kann nämlich Subjekt-Untertan des Gesetzes sein. Die Gerechtigkeit verlangt, daß sich das Subjekt einzig jenen Gesetzen unterwirft, deren Autor es selbst ist, sie setzt also die Austauschbarkeit der Rollen von Autor und Adressat des Gesetzes voraus. Was bedeutet es aber, daß sich das Subjekt, soll die Gerechtigkeit universel sein, spalten muß, und zwar auf ein wirkliches, eigennütziges Individuum, das utilitaristisch seine Vorteile und Nachteile berechnet, und auf eine ethische Fiktion bzw. auf das Subjekt des Siginfikanten, das keine spezifische Merkmale trägt, so daß sich jeder mit ihm identifizieren kann? Was bedeutet es für das konkrete, pathologische Subjekt, daß es, wenn es auf der Ebene des Moralsubjekts sein, den universellen Gerechtigkeitsprinzipien folgen möchte, auf seine eigene Lage vergeßen muß, sei es auch auf Kosten seines eigenen Wohls? Wer ist es, der hier vergißt und indifferent der konkreten Lage des Subjekts gegenüber ist? 4 . Ibid., S. 138. Liberalismus und Partikularismus im neuen Europa 219 Die unmittelbare Antwort auf diese Frage würde lauten, das Subjekt müsse ohne Rücksicht auf sein eigenes Wohl urteilen und handeln, weil ihm dies vom Gesetz so befohlen wurde, und zwar vom Gesetz, das sich das Subjekt selbst gegeben hat. Nun, hinsichtlich dieses Gesetzes, das sich das Subjekt selbst gibt, eines Gesetzes, das in nichts ihm Äußeren begründet ist, also etwas Ursprüngliches zu sein scheint, muß hervorgehoben werden, daß es in Wirklichkeit nichts Ursprüngliches darstellt, vielmehr die Antwort auf den ursprünglichen Mangel des Guten als Grundlage und Garanten des Gesetzes ist, kurz, die Antwort auf die Unmöglichkeit eines Gesetzes des Gesetzes, des Anderen des Gesetzes. Für Rawls und Habermas steht es fest, daß das Gute in dieser Funktion für uns endgültig verloren ist, daß es nur noch in Form einer Menge von kontingenten, nichtuniversalisierbaren Vorstellungen vom Guten bestehen kann, d.h., gerade als jene Empirie, von der die Verwirklichung der emanzipatorischen Ideale der Moderne verhindert wird und die deshalb aus dem universellen Gesetz der Gerechtigkeit herausfällt. Das Dilemma des fehlenden Guten wird von der Moderne gelöst, indem am Ort seines Ausbleibens das Gesetz aufgestellt wird - damit ist aber noch bei weitem nicht auch das Dilemma des Gesetzes gelöst. Das Problem besteht nämlich nicht in der Frage, was das Gute ersetzen soll, es liegt vielmehr darin, daß die ethische Haltung der Moderne, ihr Asketismus, der sich im Festhalten am Verlust jeder Begründung des formalen, universellen Gesetzes in einem ihm Äußeren, im Festhalten an seiner Bodenlosigkeit manifestiert, eine Geste ist, die sogar für die überzeugtesten Vertreter der Moderne unhaltbar ist. Zwei Interpretationsmöglichkeiten der Bodenlosigkeit des Gesetzes stehen uns hier zur Verfügung. Der ersten, radikalen Interpretation nach, die eigentlich erst von den postmodernen Autoren, vor allem von Lyotard aktualisiert wurde, ist das Gesetz des Gesetzes, das Andere des Gesetzes oder das höchste Gut zwar anwesend, doch nur als seine eigene Abwesenheit. Die Unmöglichkeit, das Gesetz zu begründen bzw. die Abwesenheit des Gesetzes des Gesetzes wird in diesem Interpretationsrahmen als Kehrseite der ursprünglichen Fragmenatarisierung der modernen Gesellschaft und des Verschwindens des ethischen Konsenses der voraufklärerischen traditionellen Gemeinschaft verstanden. Wenn es also kein Gute gibt, das uns im Alltagsleben leiten würde, kann es auch kein rational begrenzendes Prinzip geben, das uns die Beurteilung von rivalisierenden Interpretationen des Gesetzes möglich machte. Da es kein dem Gesellschaftlichen immanentes Gute gibt, kann es auch kein autonomes Subjekt geben, daß sich selbst auf dem Gebiet der Moral Gesetze geben würde. Das einzige, was es gibt, sind einander bekämpfende Impulse, die sich weder synchronisieren noch rationell versöhnen lassen. Das Gute ist dieser Interpre- tation nach für unser Leben nicht konstitutiv. Es ist eine absolute Abwesenheit, ein irreduzibler Mangel. 220 Jelica Sumic-Riha Von der zweiten Interpretationsrichtung wird die Bodenlosigkeit des Gesetzes, die als Folge des ausbleibenden Guten auftritt, zur normativen Selbstbegründung des Gesetzes verkehrt, zu einem Gesetz, daß sich das autonome Subjekt selbst vorschreibt. Insofern dieses sich selbst begründende Gesetz als Statthalter des fehlenden, abwesenden Guten fungiert, kann von dieser modernen Form des Gesetzes gesagt werden, daß durch sie die Grundlosigkeit des Gesetzes aner- kannt und zugleich verleugnet wird. Die moderne Lösung des Dilemmas der Grundlosigkeit des Gesetzes gründet sich nämlich auf die Voraussetzung von der absoluten Reziprozität zwischen dem Adressaten und dem Autor des Gesetzes. Mit anderen Worten, sie verleugnet die Spaltung zwischen dem Subjekt der Aussage und dem Subjekt der Äußerung. Weil aus der Aussage jede Spur der Äußerung ausgelöscht ist, verfällt der Adressat der Illusion, er selbst nehme den leeren Ort der Äußerung des Gesetzes ein. Er versetzt also sich selbt in die Rolle des Subjekts der Äußerung, wird zum Ursprung des Gesetzes. Diese Reziprozität von Autor und Adressat des Gesetzes wäre natürlich nicht möglich, wenn das Subjekt der Äußerung nicht, so wie bei Rawls, als anonymes, jeder Partikularität entledigtes Subjekt des Signifikanten gesetzt wäre, mit dem sich jeder und niemand identifizieren kann. Das Problem liegt nun darin, daß sich das Subjekt nie vollkommen mit dieser Rolle eines Subjekts, das sich selbst das Gesetz gibt, identifizieren kann, daß die Identifizierungsoperation immer einen Rest übrigläßt, der es dem Subjekt unmöglich macht, sich auf der Ebene seiner Aufgabe zu befinden. Dieser Fremdkörper, dieser Überrest des symbolischen Identifizierungprozesses, der das Subjekt nicht zur Ruhe kommen läßt, tritt zum Beispiel als Stimme des richtenden Gewissens auf. Das Paradox dieses Gewissens, dessen Stimme das Subjekt als sein Eigenstes, sein Innerstes vernehmen sollte, sich auf diese Weise als Selbstgesetzgeber verstehend, liegt darin, daß sie ihm absolut fremd klingt, als Stimme eines unbegreiflichen, extimen Anderen, als Stimme des Über-Ichs, das vom Subjekt unmögliche, unerfüllbare Aufgaben verlangt. Und wenn das Subjekt seine eigene Fähigkeit, auf der Ebene des Moralsubjekts zu sein und zu agieren bezweifelt, dann zweifelt es noch desto mehr an seinem Nächsten, an Anderem, vor allem an seiner Bereitschaft, das Beschlossene, die Gesetze oder die Prinzipien der Gerechtigkeit zu akzeptieren. So verbirgt die moderne, aufklärerische Formel von der Reziprozität die ursprüngliche Unreziprozität, das Ungleichgewicht zwischen dem Subjekt der Äußerung des Gesetzes und dem Anderen als seinem Adressaten. Von der Unwissenheit des Subjekts über den Ort der Gesetzesäußerung, wie sie etwa in Rawls Formel vom »Schleier der Unwissenheit« angesprochen ist, wird zunächst und vor allem verborgen, daß die Stimme des Gewissens die Stimme des obszönen Über-Ichs ist, dem es mehr darum zu tun ist, dem Liberalismus und Partikularismus im neuen Europa 221 Subjekt unmögliche, unerfüllbare Forderungen zu stellen, als das es sich um sein Wohl bekümmert. Rawls hat also vollkommen Recht, wenn er auf dem »veil of ignorance« als Konstituenten des Moralgesetzes festhält, sein Irrtum liegt nur im Urteil darüber, was eigentlich von diesem Schleier verdeckt wird. Wie wir gesehen haben, verdeckt er zunächst und vor allem dies, daß der Ursprung des neutralen, unparteilichen und gerechten Moralgesetzes im sadistischen Subjekt der Äußerung zu suchen ist, das vom Adressaten/Untertan des Gesetzes radikal getrennt, ihm unangleichbar ist. Und gerade in jenem Maße, in dem sich hinter dem scheinbar unparteilichen, neutralen Gesetzgeber das arbiträre, launenhafte, das Wohl des Subjekt zerstörrende Über-Ich verbirgt,5 mit anderen Worten, in jenem Maße, in dem sich die moderne Ethik auf die Reziprozität gründet, von der die unüberbrückbare Spaltung zwischen dem Subjekt als dem Adressaten/Untertan des Gesetzes und dem Über-Ich als seinem Äußerungsort zugeschüttet und verborgen wird, ist sie im Gegensatz zu ihrem eigenen Anspruch ungerecht und unehrlich, letztendlich unethisch. Aber die Lüge des Prinzips der modernen liberalen Ethik offenbart sich noch auf einer anderen Ebene: weil es am aufklärerischen Phantasma von der Universalisierbarkeit des Gleichheitsprinzips und der Gerechtigkeit partizipiert, generiert sie auch den strukturnotwendigen Zweifel, es gäbe etwas im Anderen, das ihn fiir dieses Prinzip taub macht. J. Copjec hat überzeugend nachgewiesen, daß das Phantasma von der absoluten Reziprozität der gesellschaftlichen Verhältnisse gerade aus der Negation des Reziprozitätsprinzips, aus der Voraussetzung von etwas, das sich dieser Universalisierung widersetzt, ihre Kraft schöpft. Da gleichzeitig für den aufklärerischen Glauben an die Universalität von Vernunftprinzipien ein Anderer, der wirklich anders, für Vernunftprinzipien prinzipiell unempfänglich wäre, vollkommen unmöglich ist, wird dieses Problem so gelöst, daß stillschweigend vorausgesetzt wird, der Andere sei zwar grundsätzich imstande, universelle Prinzipien anzunehmen, dies aber nicht tun wolle, wobei es dann vollkomen gleichgültig ist, ob er sich dem bewußt, aus eigenem Willen, egoistischen Interessen oder aber irrationalen Vorurteilen widersetzt. Hier können wir also die Vorgehensweise der modernen Universaliserung am Werk sehen: die moderne liberale Ethik kann sich nur so ihrem Universalitätsanspruch gemäß konstituieren, daß sie ein Element ihrer eigenen Negation in sich einbeschließt, ein Element, daß ihre eigene Unmöglichkeit verköpert. Aber die Anwesenheit dieses paradoxen Elementes ihrer eigenen Negation kann sie nur so akzeptieren, daß sie ihn zugleich neutralisiert, mariginalisiert, ihn in Form einer empirischen Randbedingung entkräftigt und ausgrenzt. 5 . Cf. J. Copjec, »The Sartorial Super Ego«, October, New York 1989. 222 Jelica Sumic-Riha Dieser Punkt wird nun von der postmodernen Kritik als der größte Mangel des modernen Paradigmas hervorgehoben. Lyotard kritisert in diesem Kontext vor allem Habermas' modernistische Verklärung des dialogischen Konsenses, der idealen Sprachsituation die zur universelen Legitimität führen soll. Diese nostalgische Sehnsucht nach einem Ideal der Kommunikation, in dem sich der Sprecher/Autor zugleich als Hörer/Leser sieht, ist seiner Meinung nach unannehmbar, weil in der Forderung, sich in die Situation desjenigen zu versetzen, von dem die universelle Regel ausgesagt wird, Selbstbetrug im Verhältnis zum Subjekt des Äußerns und absolute Schuld im Verhältnis zum Anderen, dem Adressaten einer solchen Regel enthalten ist6. In diesem Zwang zur Identifikation mit dem Subjekt der Äußerung, mit jenen, die als »wir« (Menschen, Republikaner, Deutsche, Slowenen usw.) bezeichnet sind, liegen Lyotard nach der heimliche Imperialismus und Toatalitarismus der Universa- lisierung verborgen. Problematisch bei einer solchen Identifikation sind nämlich der Ort, von dem aus dieses »wir« geäußert wird, und der Status desjenigen, der berechtigt ist (in wessen Namen?), »wir« zu sagen. Wer sind wir, die wir dies »wir« aussagen? Mit welchen Recht sagen wir dies aus? Problematisch deshalb, weil es im gewissen Sinne unmöglich, verboten ist, die Frage nach diesem »wir«, das spricht, zu stellen, nach jenem »wir«, das uns dadurch, daß wir uns mit ihm sozusagen in vorhinein und bedenkenlos identifizieren, erst ermöglicht, auch wirklich wir (das Volk, Republikaner, Kommunisten usw.) zu werden.7 Diese Ausgrenzung, Ausschließung des Subjekts der Äußerung, genauer gesagt, die Herrschaft des Subjekts der Äußerung über das Subjekt der Aussage, die Herrschaft, die durch ihre scheinbare Assimilierung verborgen wird, ist strukturnotwendig, wenn Homogenität und Konsensus hervorgebracht werden sollen. Insofern es nun für das aufklärerische und modernistische Projekt unverständlich ist, daß »verschiedene Sprachen« nicht in eine universelle Sprache übersetzbar wären (die der Menschenrechte etwa), die beim Vergleich von Streitfällen vom Nutzen sein könnte, kann gesagt werden, daß dieser Totalitarismus, dieser Terror der Universalisierung dem konsensuellen Modell der Gerechtigkeit immanent ist, einem Modell, in dem, wie wir gesehen haben, jenes, was in ein solches »common law« der Menschheit unübersetzbar ist, notwendig unterdrückt und mariginalisiert, als Differenz nicht anerkannt wird.8 6 . Cf. J.-F. Lyotard, Au juste, Ch. Bourgeois Editions, Paris 1979, S. 99. 7 . Einfacher gesagt, die Wirksamkeit solcher Aussagen stützt sich aufdie verborgene performative Selbstautorisierung und Selbstrechtfertigung. Dies ist zum Beispiel aus der Unabhän- gigkeitserklärung ersichtlich. Bei der Aussage »wir - das Volk, Deutsche, Slowenen usw.«, die bei der Gründung eines Nationalstaates geäußert wird, wird notwendigerweise verkannt, daß es dieses Volk, diese Nation, die von der Aussage »denotiert« wird, noch nicht gibt, daß sie erst nachträglich, durch die Deklaration selbst konstruiert werden. 8 . Von diesem auf Reziprozität gründenden Modell des Gesetzes, der Gerechtigkeit usw. wird verdrängt - und diese Verdrängung ist für sein Wirken konstitutiv daß die größte Liberalismus und Partikularismus im neuen Europa 223 Im Gegensatz dazu ist für Lyotard die Frage der Gerechtigkeit gerade deshalb interessant, weil sie sich nicht auf die gesellschaftliche Interaktion zwischen gleichberechtigten Partnern reduzieren läßt. Die wahre Reichweite des Gerechtigkeitsproblems zeigt sich erst in einer auf das Reziprozitätzsmodell nicht zurückftihrbaren Situation, in der der Andere ein irreduzibel Anderer bleibt, also nicht dem Spiegelbildnis des Redners subsumiert weden kann, in der aber auch der Redner selbst verschiedene Äußerungsorte einnehmen kann.9 Die postmoderne Toleranz der Differenz gegenüber verlangt deshalb nicht Identifikation mit dem Anderem, Verständis des Anderen, es geht ihr vielmehr um das Ertragen einer unerträglichen Differenz, einer Differenz, die erhalten, nicht assimiliert werden soll. Die Aussage, wir seien alle Menschen, alle Kulturen seien im Wesen gleich, trägt schon einen Kulturimperialismus in sich, die Subsumption des Anderen, des Heterogenen des aufklärerischen Rationalismus. Ein sich auf die postmoderne Toleranz und Gerechtigkeit berufender politische Diskurs gründet deshalb die Gemeinschaft nicht auf dem Konsens, sondern auf der Irreduzibilität des Dissens. Der springende Punkt liegt natürlich in der Frage, wie die Verwirklichung einer solchen Gerechtigkeitsidee in der Sphäre des Politischen möglich ist. Der Versuch, das Politische vermittels der Idee von den Gerechtigkeiten und des Rechts auf Vielfalt zu regulieren, verlangt eine positive Bewertung des Konfliktes, des diférrends, und zugleich damit die Zurückweisung der Auffassung des Gesetzes als geschlossenen, den Konflikt in Bezug auf einen Endzweck ordnenden Regelsystems. Denn auf dem Weg zu einer »richtigen Antwort«, um Dworkins beliebten Ausdruck zu gebrauchen, schließt das Gesetz notwendigerweise alle Fälle der Gerechtigkeit aus, die sich nicht dem gegebenen Rechtsystem subsumieren lassen. Die universalistische Gesetzesauffassung ist nicht nur nicht imstande, eine gerechte Lösung der Konflikte herbeizuführen, sie bringt diese Konflikte vielmehr selber hervor, und zwar in ihrer radikalsten, unaufhebaren Form, die von Lyotard différend genannt wird. Mit dem Fall des différends, des Widerstreits zweier Rechtsparteien haben wir es dann zu tun, wenn die Regulation des Konflikts im Idiom einer der streitenden Parteien vollzogen wird, die von der anderen erdultete Ungerechtigkeit aber unver- nommen bleibt bzw. in diesem Idiom überhaupt nicht zum Ausdruck kommen kann. Im Unterschied zur Moderne, deren Metasprache eine universelle Gerechtigkeits- oder Gleichheitsregel voraussetzt, von der jedes sich auf andere Ungerechtigkeit z.B Einheimischen, Kolonisierten, Emigranten, Flüchtlingen, kurz, dem Anderen gegnüber, nicht die Folge der Unehrlichkeit, Voreingenommenheit... der westlichen Gesetzgebung, der korrumpierten Richter, Polizisten usw., daß sie vielmehr das unmittelbare Produkt einer Unvoreingenommenheit und Gerechtigkeit bilden, die als universelles, für Alle geltende Gesetz verstanden werden. 9 . Cf. J.-F. Lyotard, Au juste, S. 100. 224 Jelica Sumic-Riha Prinzipien stützende Argument mariginalisiert wird, wird von der postmodernen Gerechtigkeitstheorie die radikale Unkommensurabilität zweier Argumente anerkannt, d.h, sie geht davon aus, daß keine Seite die Argumente der anderen als Argumente anerkennen kann. Jede Assimilierung, Rationalisierung, Identifizierung bedeutet schon die Vernichtung der radikalen Andersheit, Heterogenität. Im Rahmen einer konstitutiv ungerechten Gesellschaft und ihrer Gesetze besteht die einzige Möglichkeit zur Erlangung der Gerechtigkeit im unendlichen Kampf um die Durchsetzung der Stimme all jener, denen Ungerechtigeit zugefügt worden ist, jener, die systematisch aus dem Universum der Sprachspiele ausgeschlossen sind. Die Valorisierung des fortwährenden Kampfes wirft natürlich die Frage nach dem Subjekt des Widerstandes auf. Auf den ersten Blick scheint es, daß die Auflösung, die Zersetzung des Subjekts im Netz der Sprachspiele und ihrer Subjektpositionen jede Strategie der gesellschaftlchen Umwandlung und der radikalen Politik unmöglich macht. Lyotard sieht nun die Lösung gerade in der Fragmentarisierung der Position des Subjekts (die Vielfalt von Subjektpositionen) bzw. in der Proliferation neuer Formen der Subjektivität. Der Widerstand besteht Lyotard nach gerade in der Anerkennung dieser Proliferation der Subjektivität, die vom dominanten politischen Diskurs verleugnet wird. Jeder von uns, sagt Lyotard, gehört verschiedenen Minderheiten an, es geht nur darum, daß keine unter ihne vorherrschend wird. Nur in diesem Fall kann von einer gerechten Gesellschaft gesprochen werden.10 Das Paradox einer solchen Gerechtigkeitsauffassung liegt nun darin, daß weder für die eine noch für die andere Streitpartei gesagt werden kann, sie habe recht, da es keinen gemeinsamen Maßtab, kein Kriterium für eine notwendige Beurteilung gibt. Und haben wir es nicht, um zum Anfang zurückzukehren, gerade im Fall Bosniens mit einem différend in Lyotards Sinne zu tun, dem Punkt, an dem die internationale Diplomatie und der politische Diskurs der neuen Weltordnung Opfer produziert, viktimisiert, Ungerechtigkeiten zufügt, wobei diese Ungerechtigkeit im Rahmen des bestehenden politischen Diskurses und der bestehenden internationalen Rechtsordnung überhaupt nicht als Ungerechtigkeit wahrgenommen und damit zur offenen Wunde wird? Genauer gesagt, erweckt nicht die Vorgehensweise der internationalen Diplomatie den Eindruck, als würde sie auf Bosnien als Beispiel eines radikal partikulären, singulären Konflikts, der sich nicht gerecht losen läßt, weil eine für alle Parteien annehmbare Regel der Beurteilung fehlt, die lyotardsche Bestimmung des différend applizieren? Ist nicht das, was im Fall Bosniens fehlt, die Existenz eines festen Entscheidungskriteriums, das Vorherrschen einer Regel, wären 10. Ibid., S. 95. Liberalismus und Partikularismus im neuen Europa 225 dieses Kriterium und diese Regel auch durch den Sprung in den Abgrund der unbegründeten Entscheidung und des bodenlosen Gesetzes hervorgebracht? Der différend zwischen dem modernen Bevorzugen des universellen Gesetzes (des Symbolischen), und dem postmodernen Bevorzugen der heterogenen, auf das Gesetz irreduziblen Gerechtigkeiten, stellt bloß die Wiederholung und Bestätigung des ursprünglichen différends zwischen dem Gesetz und der Gerechtigkeit dar. So könnte man sagen, daß die von Habermas und Rawls einerseits, von Lyotard andererseits vertrettenen Auffassungen des Verhältnisses von Gesetz und Gerechtigkeit nur eine der anderen ihren eigenen Mangel, ihre eigene Botschaft in verkehrter Form zurückgeben. Wenn die verdrängte Wahrheit der modernen Gesetzesauffassung, wie von der postmodemen Krtik nachgewiesen wurde, darin liegt, daß das universelle Gesetz immer von einem partikulären, obszönem Genießen des Über-Ichs geprägt ist, dann erweist sich die Wahrheit des postmodernen Festhaltens an der absoluten Heterogenität der Gerechtigkeit, der absoluten Unentscheidbarkeit, was Rechtens ist, letztendlich als universalisierte Ungerechtigkeit, als das radikal Böse. Beiden Ansätzen mangelt es gerade an Bereitschaft, diese Aporie des Gesetzes und der Gerechtigkeit auf sich zu nehmen. Was von ihnen ausgeschlossen wird, ist eine Art bewußtes Verkennen des konstitutiven Mißverhältnisses von Gesetz und Gerechtigkeit. Eine »fetischistische« Geste also, die man folgendermaßen umschreiben könnte: ich weiß ja, daß die Gerechtigkeit nie vollkommen im Gesetz begründet sein kein, daß bloße Anwendung des Gesetzes nicht schon Verwirklichung der Gerechtigkeit ist, daß also die Gerechtigkeit als etwas Singuläres, Kontingentes, Reales, immer schon das symbolische Gesetz übertritt, ihn aushöhlt, unkonsistent macht, dennoch lasse ich mich aber in meinem Handeln vom Glauben führen, die Gerechtigkeit könne nicht anders verwirklicht werden als unter Berufung auf das Gesetz. Mit anderen Worten, die Verwirklichung der Gerechtigkeit wird nicht durch den blinden Glauben an die Gerechtigkeit des Gesetzes, sondern paradoxerweise durch das Bewußtsein, das Gesetz könne an sich selbst nicht »gerecht« sein, möglich gemacht.