Handeln und Urteilen Zur Problematik von Hannah Arendts Lektüre von Kants Kritik der Urteilskraft unter einer politischen Perspektive Ernst Vollrath I. Niemand hat den Bezug von Handeln und Urteilen emphatischer herausgestellt und zum Fundament des Verständnisses des Politischen gemacht als Hannah Arendt. Ihre Bemühungen um die Klärung dieses Bezuges machen das eigentliche Zentrum ihres politischen Denkens aus, und dem Urteilsvermögen, welches in der deutschen Sprache den Namen einer UrteilsXxa// trägt, ist bei ihr die Vernünftigkeit anvertraut, die das Politische aufweisen kann, sofern es aus dem Handeln hervorkommt, das doch aller Rationalität so schwer zugänglich zu sein scheint. In Kants Kritik der Urteilskraft, zumal in ihrem ersten Teil, der Kritik der ästhetischen Urteilskraft, und hier vor allem im Paragraphen 40, hat Hannah Arendt schließlich den Ansatz einer Theorie zu finden geglaubt, die die Problematik des Verhältnisses von Handeln und Urteilen, welche wiederum der Perplexität des Politischen zugrunde liegt, verständlich zu machen gestattet. In einem Brief an Karl Jaspers vom 29. August 1957 schreibt sie: »Im Augenblick lese ich mit steigender Begeisterung die Kritik der Urteilskraft. Da ist Kants wirkliche politische Philosophie begraben, nicht in der Kritik der praktischen Vernunft. Der Lobgesang auf den so geschmähten Gemeinsinn, das Phänomen des Geschmacks als Grundphänomen der Urteilskraft - was er vermutlich in allen Aristokratien wirklich ist - philosophisch ernstgenommen, die erweiterte Denkungsart, die zum Urteilen gehört, daß man an der Stelle aller anderen denken kann. Die Forderung nach Mitteilbarkeit. Das sind die Erfahrungen des jungen Kant in der Gesellschaft; und dann von dem alten Mann wieder ganz lebendig gemacht«.1 Dieser Brief ist der erste Beleg dafür, daß Hannah Arendt in Kants Kritik der (ästhetischen) Urteilskraft jenen Text aus der Tradition des philosophischen Nachdenkens erblicken zu können geglaubt hat, der ihr bei der Suche nach einem vernünftigen Verständnis des Bezuges von Handeln und Urteilen behilflich sein konnte. Karl Jaspers geht in seiner Antwort auch kurz auf die Bemerkung ein: »In der Kritik der Urteilskraft haben Sie die wundervollen Gedanken bemerkt, die auch mir von Jugend an unverlierbare Einsicht bedeuteten. Gleich möchte ich mit Ihnen ein Seminar halten und gemeinsam mit Ihnen alle anderen Kostbarkeiten und den 1. Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel 1926-1969, München/ Zürich 1985, Nr. 209, S. 355. 184 Ernst Vollrath Sinn des Ganzen zutage fördern für die heutige Jugend«.2 Und darauf antwortet Hannah Arendt: »... ein Seminar wäre schön, über das Schöne, so wie Kant es verstand, als den Inbegriff der Weltlichkeit der Welt. Und zwar für jedermann. Und über seinen damit so eng verbundenen Begriff der Humanität, die nur dadurch möglich wird, daß man über die Dinge, über die man nicht disputieren kann, streiten kann, weil Hoffnung ist, untereinander übereinzukommen, auch wo man nicht zwingend überzeugen kann«.3 In dem Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Karl Jaspers kommt es dann nicht mehr zum Austauch ihrer Gedanken über das Thema. Hannah Arendt informiert ihren Lehrer und Freund zwar zuweilen über ihre andauernde Beschäftigung mit dem Problem der politischen Urteilskraft.4 Aber zu einem weiteren Gespräch ist es, wenn überhaupt, dann nur mündlich gekommen. Es steht sogar zu vermuten, daß Hannah Arendt gegenüber Karl Jaspers ihre Lektüre von Kants Kritik der Urteilskraft unter einer politischen Perspektive nicht weiter zur Debatte gestellt hat. Bei aller moralischen Sensibilität war ihm das Politische eigentlich doch fremd - und Hannah Arendt nahm Rücksicht darauf. Aber sie selbst hat das Problem der politischen Urteilskraft immer wieder aufgenommen. Die Grundmotive ihres Verständnisses von Kants Kritik der Urteilskraft unter der politischen Perspektive sind in den zitierten Briefen an Karl Jaspers ausgesprochen und in späteren Werken finden sich zahlreiche Ausführungen zum Thema.5 Es sind, vor der posthumen Veröffentlichung einer Vorlesung von 1970, vor allem, aber keineswegs ausschließlich, zwei kleinere Aufsätze, in denen sie sich über die Rolle der Urteilskraft und über Kants dritte Kritik unter dieser Perspektive ausspricht: Kultur und Politik6 und Wahrheit und Politik,7 In Vorlesungen und Übungen an der University of Chicago und an der Graduate Faculty of the New School for Social Research in New York City hat sie Kants Kritik der Urteilskraft unter der politischen Perspektive traktiert, und Ronald Beiner hat die Vorlesung vom Herbst 1970 und Notizen eines Seminars aus dem gleichen Zeitraum posthum veröffentlicht.8 Schließlich hat Hannah Arendt beabsichtigt, ihr Projekt einer Prüfung der weltlichen Leistungen der menschlichen Erkenntnisvermögen, das 2 . Ibid., Brief vom 8. September 1957, No. 210. S. 357. 3 . Ibidv Brief vom 16. September 1957, Nr. 211, S. 357. 4 . Ibid., Brief vom 14. Mai 1964, Nr. 353, S. 592; Brief vom 29. November 1964, Nr. 365, S. 612. 5 . Verf., »Hannah Arendt über Meinung und Urteilskraft«, in: A. Reif (Hrsg.), Hannah Arendt, Materialien zu ihrem Werk, Wien 1979, 85ff.; s. künftig: Verf., Hannah Arendts Kritik der politischen Urteilskraft (erscheint 1993). 6 . in: Merkur 12, No. 130 (1958), 122ff„ bes. 1141ff. 7 . in: Wahrheit und Lüge in der Politik, Zwei Essays, München 1972, 44ff., bes. 61ff. 8 . Hannah Arendt, Lectures on Kant's Political Philosophy, Edited and with an Interpretative Essay by Ronald Beiner, The University of Chicago Press 1982; dt. Hannah Arendt, Das Handeln und Urteilen 185 sie unter dem Titel The Life of the Mind vorzulegen beabsichtigte, nach den beiden ersten Teilen Thinking und Willing mit einem dritten Teil Judging zu vollenden. Sie nahm an, daß ihr die Vollendung relativ schnell nach all' ihren Vorarbeiten gelingen würde. Aber ihr Tod am 5. Dezember 1975 hat es ihr nicht mehr gestattet, dieses Projekt zu verwirklichen. So ist ihre Theorie der politischen Urteilskraft Fragment geblieben, und niemand kann wissen, wohin und wieweit sie in der Aufklärung über die Reichweite der Urteilskraft in politischer Perspektive gelangt wäre. II. Fragt man nach den Motiven, die Hannah Arendt veranlaßt haben, die Vernünftigkeit des Handelns, zumal des politischen Handelns, das für sie das Paradigma des authentischen Handelns par excellence war, der Urteilskraft anzuvertrauen, dann muß man zunächst auf ihre oftmals geäußerte Überzeugung hinweisen, daß das Ereignis der totalen Herrschaft alle traditionellen politischen, sozialen und moralischen Kategorien, die bislang unser Verständnis der weltlichen Vernünftigkeit geleitet haben, sinnlos hat werden lassen. Es ist zumal das Phänomen des Totalitarismus selbst, an dem der radikale Traditionsbruch sichtbar wird, denn gerade es läßt sich mit den überkommenen Schemata nicht verständlich machen. Es handelt sich bei diesem absolut neuartigen Phänomen um keine der bislang bekannten oder angenommenen Entartungen des Politischen, und Hannah Arendt hat es stets für eine gefährliche Unterschätzung der Herrschaftssysteme Hitlers oder Stalins gehalten, von Tyrannis, Diktatur oder Despotie zu sprechen. Auch die moralischen Kategorien versagen vor Verbrechen, die keiner der sonst angesetzten Übeltaten vergleichbar sind, die sie in jeder Hinsicht nicht nur quantitativ, sondern gerade in ihrem Charakter vollkommen übersteigen. Aber die Aufgabe des Verstehens bleibt gleichwohl bestehen, weil sonst die Sinnlosigkeit noch größere Ausmaße annehmen und einen gelingenden Weltaufenthalt von Menschen vollends gefährden würde.9 Eine Rückkehr zu den althergebrachten Kategorien und Schemata der Weltauslegung schien Hannah Arendt hilflos, ja aussichtslos zu sein. Wo also ließ sich Ausschau halten wenigstens nach einem Ansatz, um dieser Problematik beizukommen? Von ihrer bildungsmäßigen Herkunft her10 hätte es sich nahegelegt, im philosophischen Denken jenen Anhalt zu suchen. Das Verhältnis von Hannah Arendt zum philosophischen Denken ist ganz einzigartig. Auf der einen Seite hat sie es als die oberste Tätigkeit des Geistes Urteilen, Texte zu Kants politischer Philosophie, Herausgegeben und mit einem Essay von Ronald Beiner, Aus dem Amerikanischen von Ursula Ludz, München/Zürich 1985. 9 . »Understanding and Politics«, in: Partisan Review20/4 (1953), 377ff. 10. »Wenn ich überhaupt aus etwas hervorgegangen bin, so aus der deutschen Philosophie«, Briefwechsel mit Gershom Scholem, jetzt in: Hannah Arendt, Nach Auschwitz, Essays und Kommentare I, hrsg. v. E. Geisel u. K. Bittermann, Berlin 1989, 81. 186 Ernst Vollrath aufs allerhöchste geschätzt und gewürdigt. Auf der anderen Seite aber war sie hinsichtlich des Vermögens des reinen Denkens zur Erfassung der Eigenart des Politischen höchst skeptisch. Es bedürfte, was hier nicht geschehen kann, längerer Ausführungen, um näher darzustellen und zu analysieren, was hier geschehen ist. Nur so viel sei angedeutet, daß Hannah Arendt das Vermögen des reinen Denkens, das sie mit dem Geschäft der Denker von Gewerbe (Kant) identifizierte, zu einer objektiven Erkennntnis zu gelangen, bestreitet. Für sie hat es in diesem Betracht ausschließlich eine negative Funktion, die in der Auflösung von Vorurteilen, in ihrer In-Frage-Stellung, besteht. Ihre Skepsis reicht so weit, daß ihr sogar die Kantische Auslegung des Handelns unter einem moralischen Aspekt bedenklich zu sein schien: »Daß es ein Absolutes gibt, die Pflicht des kategorischen Imperativs, die über den Menschen steht, in allen menschlichen Angelegenheiten entscheidet und auch um der Menschlichkeit in jeglichem Verstände nicht gebrochen werden darf - dies ist ja den Kritikern der Kantischen Ethik oft als etwas durchaus Unmenschliches und Unbarmherziges aufgefallen. Aber diese Unmenschlichkeit ist nicht dem geschuldet, daß die Forderung des kategorischen Imperativs etwa die Möglichkeit einer schwachen Menschennatur überforderte, sondern einzig und allein dem, daß er absolut gesetzt ist und in seiner Absolutheit den zwischenmenschlichen Bereich, der seinem Wesen nach aus Bezügen und Relationen besteht, auf etwas festlegt, das seiner grundsätzlichen Relativität widerspricht. Gerade weil Kant die Wahrheit im praktischen Verstände etablieren wollte, kommt die Unmenschlichkeit, die dem Begriff der einen Wahrheit anhaftet, bei ihm besonders klar zum Ausdruck; es ist, als hätte er, der den Menschen im Bereich der Erkenntnis so unerbittlich auf seine Eingeschränktheit verwiesen hatte, es nicht ausgehalten zu denken, daß er auch im Handeln es nicht einem Gotte gleichtun könne«.11 Es ist zweifelsfrei, daß ihre Skepsis gegenüber dem Vermögen des reinen Denkens zur Erfassung der Weltlichkeit der Welt und der Wirklichkeit des menschlichen Handelns von den Erfahrungen geprägt ist, die sie mit dem Verhalten ihres Lehrers Martin Heidegger während der Epoche der Machtergreifung Hitlers hat machen müssen. Aber über diese sehr persönlichen Erfahrungen hinaus stand für sie fest, daß zwischen dem reinen Denken der Philosophen und dem Politischen eine Kluft sich aufgetan hatte - für sie seit dem Justizmord an Sokrates - , die vom reinen Denken nicht überbrückt werden konnte. In ihren eigenen Worten: »Und so gibt es eine Art von Feindseligkeit gegen alle Politik bei den meisten Philosophen, ganz wenige Ausgenommen, Kant ist ausgenommen (meine Hervorhebung). Eine Feindseligkeit, die für diesen ganzen Komplex außerordentlich wichtig ist, weil 11. »Gedanken zu Lessing, Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten,« in: Menschen in finsteren Zeiten, Hrsg. von Ursula Ludz, München/Zürich 1989, 43f. Handeln und Urteilen 187 es keine Personenfrage ist. Es liegt im Wesen der Sache selber«.12 Und an dieser Feindseligkeit wollte sie keinen Anteil haben! Der Kant, von dem Hannah Arendt hier spricht, ist der Kant der Kritik der Urteilskraft, nicht der Kritik der praktischen Vernunft, von deren Prinzipien und Schemata her Kant selbst das entwickelt, was seine eigene Politische Philosophie genannt wird. Nicht nur fehlt bei ihm dieser traditionelle Disziplinentitel, sondern dieses Fehlen deutet auf Vorannahmen hin, unter denen sein politisches Denken schon ohne eigene Reflexion steht: die in der deutschen politischen Apperzeption aus Gründen, die mit den realen politischen und sozialen Zuständen in Deutschland herrschen, vorgenommene Identifikation des Politischen mit dem Staatlichen. Er - wie viele andere seiner Zeit und nach ihm - nennt diesen ganzen Bereich daher den des Staatsrechts, der Staatswissenschaft oder der Staatslehre, weil das Politische ganz unbefangen mit dem Staat als dem Rechtssubjekt identifiziert wird (Es kann hier nicht dargelegt werden, was diese unterschiedliche Benennung bedeutet!). Hannah Arendt war sich sehr wohl im klaren darüber, was sie tat, als sie nicht die gleichsam offizielle Politische Philosophie Kants, sein Staatsrecht, sondern die Kritik der Urteilskraft zu seiner eigentlichen Politischen Philosophie erklärte. Für sie stand fest, »daß der erste Teil der Kritik der Urteilskraft eigentlich eine Philosophie der Politik ist ... Die Freiheit erscheint in der Urteilskraft als ein Prädikat der Einbildungskraft, nicht des Willens, und die Einbildungskraft hängt aufs engste mit jener erweiterten Denkungsart zusammen, welche die politische par excellence ist, weil wir durch sie die Möglichkeit haben, an der Stelle jedes anderen zu denken Hannah Arendt wußte nur zu gut, daß für Kant selbst die Kritik der ästhetischen Urteilskraft es überhaupt nicht mit dem Politischen zu tun hatte, sondern mit dem Schönen, beziehungsweise dem Urteil über das Schöne, dem Geschmacksurteil. Für sie aber sind das Schöne und das Politische durch gemeinsame Merkmale miteinander verbunden. »Kultur und Politik ... sind aufeinander angewiesen, und sie haben gemeinsam, daß sie Phänomene der öffentlichen Welt sind«.14 Der texthermeneutisch vorgetragene Einwand gegen ihre Lektüre der Kritik der Urteilskraft, diese habe es doch gar nicht mit dem Politischen zu tun, verschlägt also nicht. Hannah Arendt liest die Kritik der Urteilskraft als eine Theorie der politisch qualifizierten Weltlichkeit der Welt, und der dabei zugrundegelegte Weltbegriff läßt sich am besten mit einer 12. Was bleibt? Es bleibt die Muttersprache, in: Günther Gaus: Zur Person, Portraits in Frage und Antwort, München 1965, 12. 13. »Freiheit und Politik,« in: Die neue Rundschau 69/4 (1958), 685. 14 . »Kultur und Politik« (wie Anm. 6), 1140. Deutlicher heißt es in der amerikanischen Fassung: »The common element connecting art and politics is that they are phenomena of the public world«, »The Crisis in Culture«, in: Between Fast and Future, Eight Exercises in Politica/ Thought, New York 1961, 218. 188 Ernst Vollrath Kantischen, jedoch nicht transzendentalen Bestimmung, als »das Dasein eines Ganzen mit mir in Gemeinschaft stehender Wesen« festlegen.15 Die Weltlichkeit dieser Welt - ta anthropina pragmata - konstituiert sich für sie als phänomenaler Erscheinungsraum von Personen in ihren Aktionen, Apperzeptionen (Meinungen) und Institutionen, und die Urteilskraft als die reflektierende ist der Sinn für diese Gemeinschaftlichkeit der menschlich-weltlichen Angelegenheiten. Es ist der Sinn für einen Bereich, der weder objektiv vorhanden ist noch subjektiv eingefühlt werden kann, eine personal-interpersonale und weltliche Vernunft. Der Verlust dieses Sinnes ist es, was sie als das gefährliche Signum der Moderne herausstellt: »Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung ... ist das Kennzeichen der Neuzeit«.16 Und das begründet sie so: »Denn dieser Gemeinsinn, der ursprünglich der Sinn ist, durch den alle anderen Sinne, die von sich aus rein subjektiv und privat sind, in eine gemeinsame Welt gefügt und auf eine Mitwelt zugeschnitten werden, der also das Vermögen ist, durch das die Gemeinsamkeit der Welt sich dem Menschen so erschließt, wie ihre Sichtbarkeit sich ihm durch das Sehvermögen erschließt, dieser Gemeinsinn gerade wurde jetzt (im Beginn der der Neuzeit, E .V. ) als gesunder Menschenverstand zu einem inneren Vermögen ohne allen Weltbezug. Die Gemeinsamkeit, die sich in ihm kundgab, war nun nicht mehr die dem Gemeinsinn zugängliche Gemeinsamkeit einer Außenwelt, sondern lediglich die Tatsache, daß er als Räsonnement in allen Menschen gleich funktionierte; was die Menschen des gesunden Menschenverstandes miteinander gemein haben, ist keine Welt, sondern lediglich eine Verstandestruktur, die sie zudem genau genommen gar nicht gemein haben können, es kann sich höchstens herausstellen, daß sie in jedem Exemplar der Gattung des Menschengeschlechts gleich funktioniert«.17 Über diese kulturtheoretischen Einsichten hinaus war sie in ihrer Totalitarismus-Theorie zu der Erkenntnis gelangt, daß das Phänomen des Totalitarismus, also seine Realität, aufs engste zusammenhängt mit der kompletten Destruktion der Urteilskraft als des Vermögens, Handlungen und Meinungen von Menschen zu beurteilen, ja in ihrer konstitutiven weltlichen Bedeutsamkeit gelten zu lassen und überhaupt wahrzunehmen - und zwar sowohl bei den Un-Tätern als auch bei den Opfern,18 vielmehr dieses Vermögen zu ersetzen durch jene abstrakte Logizität der Ideologien. Weltverlust und Handlungsunfähigkeit waren damit universal geworden. Lange Zeit hat Hannah Arendt diesen verlorengegangenen Gemeinsinn mit dem Aristotelischen Konzept der Phronesis verbunden. Und einige der 15. Anthropologie in pragmatischer Absicht, Akademie-Ausgabe Bd. VII, 130. 16 . Vita activa - Oder vom tätigen Leben (1960),"München 1985, 249. 17 . Ibid., 275f. 18. Elemente und Ursprünge totaler Herschaft (1955), München 1986, 539, 572, 601 u. ö. Handeln und Urteilen 189 Zweideutigkeiten in ihrem Verständnis der politischen Funktion der Urteilskraft hängen mit dieser Ambivalenz zusammen. Das Phronesis-Konzept hat mit einer ganzen Reihe von zugehörigen Konzepten - Gemeinsinn, Klugheit, etc. - in der topisch-rhetorischen Tradition der okzidentalen Denkungsart eine gerade für die Bestimmung des Politischen überragende Rolle gespielt, übrigens in Konkurrenz zu dem Wissenschaftskonzept, so daß man geradezu von zwei Rationalitätskonzepten sprechen kann, einem prudentiellen und einem szientistischen. Es war konstitutiv für den politischen Bereich und das ihm zugehörige Wissen. Aber gerade Kant hatte in seinem transzendentalen Prinzipienwissen dieses Konzept der alten Klugheit gründlich destruiert." Auf sie, die zudem an ein existierendes Paradigma - im antiken Fall: die Polis - angewiesen ist, läßt sich nach dem Traditionsbruch die Rationalität des Politischen und seines Wissens nicht mehr gründen. So nähert sich Hannah Arendt am Ende ihres Lebens der Einsicht, daß in der reflektierenden Urteilskraft im Sinne Kants ein Vermögen gefunden ist, das bei aller möglichen Anbindung an das Konzept der alten Klugheit doch etwas ganz Neuartiges darstellt, und diese Neuartigkeit ist mit dem Reflexionscharakter der Urteilskraft (im Sinne Kants) verbunden; während die alte Klugheit reflexionslos und der Reflexion unbedürftig gewesen ist. Die Unbedürftigkeit der alten Klugheit an Reflexivität hängt mit ihrer Traditionsgebundenheit zusammen, und für Hannah Arendt hatte das Phänomen des Totalitarismus alle reflexionslose Anbindung an die Tradition vollkommen zerstört. Wir wissen aber eben nicht, wie sie in dem unvollendet gebliebenen dritten Teil Urteilen ihres letzten Werkes Vom Leben des Geistes dieser Problematik begegnet wäre. III. Was Hannah Arendt bewogen hat, das Handeln und das Urteilen in eine so intensive Beziehung zu setzen, daß ohne die Urteilskraft das Handeln aller Vernünftigkeit ermangeln würde, ist - über die bislang diskutierten Erwägungen hinaus - vor allem ihr emphatisches Verständnis des Handelns selbst. Bekanntlich unterscheidet sie innerhalb der Vita Activa drei Tätigkeitsweisen: das Arbeiten, das Herstellen und das eigentliche Handeln. Allerdings sind diese Unterscheidungen, worüber sich Hannah Arendt täuschte, nur analytisch brauchbar,20 und Hannah Arendt erkennt dies auch bis zu einem gewissen Grad an, wenn sie an der gleichen Stelle, an der sie die drei Tätigkeitsweisen vorlegt, fortfährt: »Im Sinne von Initiative - ein initium setzen - steckt ein Element von Handeln in allen menschlichen Tätigkeiten«.21 19. P. Aubenque, »La prudence chez Kant«, in: Revue de métaphysique et de morale 80 (1973), 155ff.; R. Beiner, Politica! Judgment, London 1983, passim. 2 0 . Verf., »Überlegungen zur neueren Diskussion über das Verhältnis von Praxis und Poiesis,« in: Allgemeine Zeitschrift t'ür Philosophie 14/1 (1989), l f f . 2 1 . Vita activa - Oder vom tätigen Leben (1960), (wie Anm. 16), 15ff. S. a.: es gibt »ein Element 190 Ernst Vollrath Hätte sie sich an diese Einsicht gehalten, dann hätte sie sich eine Menge Schwierigkeiten und Unklarheiten ersparen können. So ist es ihr nie gelungen, die von ihr strikt durchgehaltene Differenzierung der Bereiche des Gesellschaftlich-Ökonomischen und des Politischen vollkommen einsichtig zu machen, die sie auf den Unterschied von Arbeiten-Herstellen und Handeln gründet.22 Man kann sagen, daß sie bei dieser Differenzierung der traditionellen Annahme über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der deutschen politischen Wahrnehmung gefolgt ist, die doch auch zu den erschütterten Schemata gehören könnte, die nicht länger mehr anwendbar sind. Aber diese Problematik soll hier nicht erörtert werden. Es mag nur noch darauf hingewiesen werden, daß eine Verfassungsgebung, die doch für Hannah Arendt von der größten politischen Bedeutung ist, eine Art von Herstellen bedeutet - to frame a constitution! Für Hannah Arendt ist das Handeln, jedenfalls das authentische, vor allen anderen Tätigkeiten durch drei Momente ausgezeichnet, die aus seiner Grundbedingung, der Natalität, der Gebürtlichkeit hervorgehen. Sie lassen sich als interpersonale Pluralität, Initiativität (Originalität) und phänomenale Weltlichkeit (öffentliche Sichtbarkeit) benennen. Dabei stellt sie besonders intensiv den Pluralitätscharakter heraus: Handeln ist einerseits stets Handeln unter (mehreren oder vielen) Menschen, andererseits bedarf es zu seinem Vollzug nur der Menschen und nicht, wie beim Herstellen, auch der Materialien (Hannah Arendt überzeichnet dieses Moment, aber kategorial hat sie zweifellos recht). Die anderen Momente der originären Initiativität - des Anfangen-Könnens - und der phänomenalen Sichtbarkeit - der Weltlichkeit - hängen unmittelbar mit der Pluralität zusammen: Sie qualifizieren ein einheitliches Phänomen, das des Handelns. Ineins damit sind für Hannah Arendt zwei weitere Grundzüge des pluralen, initiativen und mundanen Handelns gegeben: Sein politischer Charakter und seine freiheitliche Qualität, und zwar für sie in ihrer wechselseitigen Verkettung. »Ursprünglich erfahre ich Freiheit und Unfreiheit im Verkehr mit anderen und nicht im Verkehr mit mir selbst. Frei sein können Menschen nur in Bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen; nur dort erfahren sie, was Freiheit positiv ist und daß sie mehr ist als Nichtgezwungen-werden«." In der amerikanischen Fassung heißt es noch deutlicher: »The raison d'être of politics is freedom, and its field of experience is action«.24 Hinzuzufügen wäre ein weiterer Grundzug alles Handelns, der aus dem bisher Gesagten folgt. Alles Handeln ist an Umstände gebunden; das ist des Handelns in allen menschlichen Tätigkeiten, die mehr sind als bloße Reaktion«, in: Freiheit und Politik (wie Anm. 13), 690f. 2 2 . Siehe ihre Äußerungen in: M. A. Hill (ed.), Hannah Arendt: The Recovery of the Public World, New York 1979, 316ff. 2 3 . Freiheit und Politik (wie Anm. 13), 670. 2 4 . »What is Freedom?«, in: Between Past and Future (wie Anm. 14), 146. Handeln und Urteilen 191 seine Situativität, und es gibt keine Situation der Situationen, sodaß die Situativität in einer weltlosen Universalität verschwinden könnte. Auf Grund aller dieser Momente läßt sich sagen, daß Handeln, und damit Politik, ein Kontingenzphänomen ist. Das alteuropäische Verständnis des Politischen hat dies stets beachtet. Dafür ist die Aristotelische Bestimmung von Praxis als dem Bereich dessen zugehörig, was auch anders und sogar nicht zu sein vermag, das bekannteste Paradigma, und verschiedene Modelle versuchen, damit zu Rande zu kommen. (Im Politischen stellt sich die Problematik so dar, daß in der Zeit etwas eingerichtet werden muß, was zumindest für eine gewisse Zeit Dauerhaftigkeit, also Zeitunabhängigkeit, aufweist). Es handelt sich um den ganzen Komplex der topisch-rhetorischen Tradition des Meinungswissens mit den zugehörigen Konzepten. Erst der neuzeitliche szientistische Theoriebegriff sucht alle Momente der Kontingenz aus dem Handlungsphänomen zu entfernen. Der Preis ist die Eliminierung der authentische Freiheitsqualität des Handelns. Die Schwäche des traditionellen - Aristotelischen - Kontingenzkonzepts beruht darauf, daß es ontologisch negativ, nämlich als inferior gegenüber dem ontologisch primären Substanzkonzept, bestimmt ist. Worauf es also in Wahrung der Freiheitsqualität des Handelns ankäme, wäre eine Umformulierung des Kontingenzkonzepts: dieser Charakter ist gerade die Bedingung der Wirklichkeit des Handelns als eines Könnens in Freiheit.25 Das wiederum ist nur möglich auf Grund der Ansetzung der Urteilskraft als des hier einschlägigen Prinzipienwissens. Theoretisch - und zwar in einer Weise, die mit dem Handlungsphänomen befreundet bleibt - mit dem engen Bezug von Politik und Freiheit zu Rande zu kommen, bereitet große Schwierigkeiten, und dies für Hannah Arendt deshalb, weil zwischen der Theorie, zumal in ihrer höchsten, der philosophischen Gestalt, und dem Politischen jene von der Theorie nicht zu überwindende Kluft bestehen bleibt, und dies wiederum deshalb, weil Theorie von ihren Erfahrungen mit sich und nicht von solchen Erfahrungen ausgeht, die in der Welt pluraler Menschen zu machen sind. Dort hat alles Wissen Meinungscharakter, und das Eigenverständnis von Theorie und Wissenschaft besteht gerade darin, alles bloß Meinungshafte aus sich auszuschließen. Was das reine Denken anbelangt, so ist seine weltliche Bedeutung für Hannah Arendt nur negativ: Es vermag in seinem Vollzug die fixierten Meinungen aufzulösen. Werden seine Ergebnisse dagegen im Sinne positiver Objektivität genommen, dann trifft auf es der Einwand zu, den sie gegenüber allem Szientismus vorbringt: Das szientistische Theoriemodell scheidet deshalb aus, weil es mit der unabsehbaren Freiheitsqualität des politischen Handelns überhaupt nicht - oder sagt man nicht besser: zu leicht? - fertig wird. 2 5 . Verf., »Neue Wege der Klugheit«, Zum methodischen Prinzip der Theorie des Handelns bei Clausewitz, in: Zeitschrift für Politik 31/t (1984), 53ff. 192 Ernst Vollrath Noch deutlicher wendet sich Hannah Arendt dagegen, das Vermögen des Willens zum Bestimmungsgrund des Handelns und des Politischen zu machen. Diesem Komplex ist u. A. der zweite Band Wollen ihres unvollendeten Werks Vom Leben des Geistes gewidmet, ein Text übrigens, der bislang so gut wie unbeachtet geblieben ist, obwohl er von großer Bedeutung für die Auslegung von Hannah Arendts politischem Denken ist. Die Schwierigkeit besteht darin, daß vor allem die philosophische Reflexion die politische Handlungsfreiheit mit der Willensfreiheit in eins gesetzt hat - auch dies ein Indiz für die Kluft, die zwischen Denken und Handeln, Philosophie und Politik, sich aufgetan hat. Denn der Wille ist die Art, wie das Denken sich dem Zukünftigen zuzuwenden glauben kann. Wiederum ist der die eindringlichen Analysen der Stadien der Philosophie des Willens tragende Einwand Hannah Arendts der, daß die Selbstbezüglichkeit des Willens - alles Wollen ist ein Sich-Wollen - der weltlichen R e l a t i o n a l s t des Handelns nicht Rechnung trägt. Und sie wendet sich dem einzigen Denker zu, der die Freiheit nicht vom Willen, sondern vom Können her, also politisch, bestimmt hat: Montesquieu.26 Bei diesem ist die (philosophische) Willensfreiheit, sofern sie im politischen Bereich auftritt, das Kennzeichen der Despotie, gerade der unpolitischen Gestalt des Politischen. Man wird nicht sagen können, daß Denken und Wollen für den politischen Bereich und das Handeln in ihm theoretisch wie praktisch keinen Belang haben. Auch für Hannah Arendt ist das nicht der Fall. Man braucht nur an die Gedankenlosigkeit zu erinnern, die sie als Merkmal des Adolf Eichmann herausgestellt hat! Worauf sie allerdings zu Recht besteht, ist, daß weder das (reine) Denken noch das Wollen diejenigen Prinzipien bereitstellen können, die das Politische als solches zu verstehen und zu ordnen imstande sind. Der Versuch, dies doch zu tun, führt in diverse Formen der A-Politie. So bleibt unter den Vermögen des Geistes allein die Urteilskraft als weltliche Vernunft übrig. Man kann sagen, daß die gleiche Emphase, die Hannah Arendt auf das Urteilen wie auf das Handeln legt, darin gerechfertigt ist, daß auch noch die ungeheure Initiativität des Handelns wie alles politisch qualifiziert begrenzt werden muß, weil sie sonst in purer spontaneistischen Potentialität alles überwältigen würde, eine Begrenzung allerdings, die den Originalitätscharakter des politischen Handelns, also seine politische Qualität, nicht zerstört. Das vermag allein die politische Urteilskraft gemäß ihren Charakteren, und nur so sind Handeln und Urteilen politisch komplementär - befreundet - zu haben! Die Qualifikation der Urteilskraft zur vernünftigen Organisation des menschlichen Handelns in politischer Hinsicht läßt sich mit einem Argument stützen, das bei Hannah Arendt zwar nicht explizit ausgesprochen ist, jedoch 2 6 . Vom Leben des Geistes, Bd. II, Wollen, München/Zürich 1985: Der Abgrund der Freiheit und der novus ordo saeclorum, 185ff. Handeln und Urteilen 193 in der Konsequenz ihres Ansatzes liegt. Das Argument lautet so: Aus der kontingent-pluralen Freiheitsqualität erwachsen nach Hannah Arendt zwei Charaktere, in Bezug auf die Vergangenheit die Unwiderruflichkeit des Getanen und in Bezug auf die Zukunft die Unvorhersehbarkeit der Taten. Diese beiden Charaktere sind mit der Freiheitsqualität des Handelns so verbunden, daß der - für Hannah Arendt in der Tradition des politischen Denkens immer wieder, und natürlich vergeblich, unternommene - Versuch, sich ihrer zu entledigen, sowohl zur Abschaffung der Freiheit als auch des Handelns führen würde. Gleichwohl ist es gerade die Aufgabe des politischen Handelns, mit ihnen zu Rande zu kommen, weil sonst die Freiheit als Möglichkeit, etwas Neues anzufangen, zerstört werden würde, entweder durch die fatalistische Folgelast des Getanen oder wegen der Unabsehbarkeit und Unermeßlichkeit des Tuns (Im übrigen besagt dies, daß Freiheit zwar der Boden des Politischen, nicht aber das Prinzip seiner Ordnung sein kann. Das würde zu einem Spontaneismus führen, dem auch Hannah Arendt nicht immer entgangen ist). Für Hannah Arendt kann diesen unausweichlich mit dem Handeln verbundenen Phänomenen nicht von außerhalb des Handelns begegnet werden, weil dies wiederum die Freiheitsqualität des Handelns zerstören würde, sondern nur durch etwas, was selbst von der Art des Handelns ist. Das sind für sie zwei Vermögen: das Verzeihen (in Bezug auf die Vergangenheit) und das Versprechen (in Bezug auf die Zukunft). Und sie erklärt ausdrücklich, daß diese Heilmittel für die aus dem Handeln selbst auftretenden Gefährdungen des Handelns »aus der Möglichkeit des Handelns selbst erwachsen«.27 Verzeihen und Versprechen sind von der Art des Handelns selbst und tragen »daher an das Handeln nicht Maßstäbe und Regeln heran, die außerhalb seiner gewonnen und von einem angeblich höheren Vermögen oder von Erfahrungen mit vorgeblich höheren Dingen abgeleitet sind. Sie entspringen vielmehr direkt aus dem Miteinander der Menschen, sofern dieses sich auf Handeln und Sprechen überhaupt eingelassen hat, als seien sie die Kontrollorgane, welche in das Vermögen, neue und an sich endlose Prozesse zu beginnen und loszulassen, eingebaut sind. So wie wir, ohne zu handeln und zu sprechen, also ohne das Faktum der Natalität zu realisieren und zu artikulieren, für immer dazu verdammt wären, im Kreise der ewigen Wiederkehr eines in sich geschlossenen Werdens zu schwingen, so wären wir ohne das Vermögen, Getanes ungetan zu machen und die von uns entfesselten Prozesse wenigstens teilweise zu regulieren und zu kontrollieren, die sicheren Opfer einer automatischen Notwendigkeit, deren Gang den gleichen unerbittlichen Gesetzen unterworfen wäre, welche die Naturwissenschaften ehemals allen natürlichen Vorgängen zuschrieben«.28 Handeln wäre unmöglich. 2 7 . Vita activa (wie Anm. 16), 231. 2 8 . Ibid., im. 194 Ernst Vollrath Von dieser tätig-aktiven Art ist nun gleichfalls das Urteilen - daher wird eben sein Vermögen in der deutschen Sprache als Urteilsjtra/i bezeichnet; ebenso steht es mit der EinbildungsXr/a//, die ein wesentliches Moment der Urteilskraft bildet. Das Urteilen ist eine eigene Art des Handelns. Und es ist dasjenige Handeln, welches dem Verzeihen und dem Versprechen zugrundeliegt und ihren Handlungscharakter bestimmt. Erst das Urteil führt zu einer Entscheidung, dies oder das zu tun oder zu lassen, z. B. die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen, weil man der Person verzeiht, oder mit anderen Menschen die Zukunft zu gestalten, sofern man ein Versprechen abgibt: Handeln und Sprechen. Negativ besagt das: Es ist nicht der Wille, der solches vermag, weil er als solcher in seiner Selbstbezüglichkeit - stumm! - verharrt und geradezu handlungsunfähig macht, sofern er als reiner stets nur Wille zu sich selbst, Wille zum Willen ist. Natürlich spielt der Wille, sofern er das auf die Zukunft gerichtete Vermögen des Geistes ist, in weltlichen Dingen eine bedeutende Rolle. Aber als solcher ist er unfähig, in der Welt etwas auzurichten, schon gar nicht etwas Vernünftiges: Man kann bekanntlich, wie des Fischers Frau im Märchen, etwas Unmögliches wollen! Erst das Urteilen, d. h. die Einschränkung des Willens in seiner Selbstbezüglichkeit, und die urteilende Beachtung der anderen Menschen, die zu einer Unterbrechung des auf sich gerichteten Willens und eine Ausrichtung auf etwas anderes, die Welt der anderen Menschen, führt, ist dazu imstande. Hannah Arendt weist daher auf das mit dem Urteilen verbundene Phänomen des Entscheidens (des Ur-teilens) hin: »... in dem gesamten Bereich des öffentlichen Lebens geht es weder um Erkenntnis noch um Wahrheit, sondern um Urteilen und Entscheiden, um das urteilende Begutachten und Bereden der gemeinsamen Welt und die Entscheidung darüber, wie sie weiter angesehen und auf welche Art und Weise in ihr gehandelt werden soll«.29 In Verzeihen und Versprechen entscheide ich darüber, mit welchen Menschen ich in einer gemeinsamen Welt Zusammensein möchte, und dazu ist ein Urteilen erforderlich, welches zu seinem Prinzip die mit anderen Wesen gemeinsame Welt hat. Hannah Arendt ist - horribile dictu - eine Dezisionistiv! Aber natürlich ist sie keine existentielle Romantikerin der Dezision wie Carl Schmitt; dazu war ihr der unpolitische Charakter des Existentialismus nur zu gut bekannt. Zur Entscheidung kommt es, weil und sofern etwas getan wird, und dazu ist Ur-teilen als ein Tun erforderlich. Mit dem Handeln und dem Urteilen steht es so, wie Montesquieu in Bezug auf die Macht gesagt hat: le pouvoir arrête le pouvoir.30 Der bleibende Beitrag von Hannah Arendt zum Verständnis des Politischen besteht darin, daß sie mit aller Eindringlichkeit auf die konstitutive Leistung der Urteilskraft aufmerksam gemacht hat. Die Urteilskraft, so wie sie 2 9 . »Kultur und Politik« (wie Anm. 6), 1143f. 30 . De l'esprit des lois X I 4. Handeln und Urteilen 195 sie im Ausgang von Kants Theorie der reflektierenden Urteilskraft bestimmt, ist handlungsbefähigend, weil sie selbst ein Tun und ohne logischen Zwang mit dem Handeln befreundet ist. IV. In Hannah Arendts Konzeption der politischen Urteilskraft und in ihrer Beanspruchung von Kants dritter Kritik bleiben eine ganze Reihe von Unklarheiten und Unausgeglichenheiten bestehen. Es gibt eine ausführliche Diskussion dieser Problematik in der anglo-amerikanischen31 und italienischen32 politiktheoretischen Literatur. Das Ergebnis der Diskussion ist allerdings unbefriedigend. So wie Hannah Arendt das Vermögen der Urteilskraft in politischer Perspektive bestimmt, sind Brüche und Unklarheiten vorhanden, die sich nicht beseitigen lassen. Über alles andere hinaus, so über die lange festgehaltene Identifikation der reflektierenden Urteilskraft mit der Phronesis und der Prudentia der alten Klugheit hinaus, spricht sich der entscheidende Bruch in einem Abschnitt des letzten von ihr selbst vollendeten Buches Das Denken aus der beabsichtigten Trilogie Vom Leben des Geistes aus. Dort spricht sie das Vermögen des Urteilens nicht dem Handelnden, sondern dem Zuschauer, also dem Theoretiker zu. Nur der Zuschauer vermag - bei einem Schau-spiel - den Sinn des Ganzen gewahr zu werden, und nicht der Aktor, der immer nur einen Teil, nämlich seinen Part, zu erblicken vermag.33 Der Zuschauer, beziehungsweise die Zuschauer vermögen den Sinn des Ganzen zu überblicken und einzusehen, weil und sofern sie nicht als 31 . R. Beiner, Political Judgment, London 1983; ders., »Judging in a World of Appearances, A Commentary on Hannah Arendts Unwritten Finale«, in: History of Political Thought 1 (1980), 117ff.; ders., »Interpretative Essay«, in: ders., Hannah Arendt, Lectures on Kant's Political Philosophie (wie Anm. 6); J . S. Nelson, »Politics and Truth, Arendt's Problematic«, in: American Journal of Political Science 22/1 (1978), 270ff.; R. J . Dostal, »Judging Human Action, Arendt's Appropriation of Kant«, in: Review of Metaphysics 37 (1984), 725ff.; D. Ingram, »The Postmodern Kantianism of Arendt and Lyotard«, in: Review of Metaphysics 42 (1988), 5Iff. ; R. J . Bernstein, »Hannah Arendt, The Ambiguities of Theory and Practice«, in: T. Ball (ed.), Political Theory and Practice. New Perspetives, Minneapolis 1977, 141 ff.; ders., »Judging - The Actor and the Spectator«, in: ders., Philosophical Profiles, Cambridge 1986, 221 ff^ S. Benhabib. »Judgment and the Moral Foundation of Politics in Arendt's Thought«, in: Political Theory 16/1 (1988), 29ff. (dt. »Urteilskraft und die moralischen Grundlagen der Politik im Werk Hannah Arendts«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 41 (1987), 52 Iff.); Ch. Lamore, »Moral Judgment«, in: Review of Metaphysics 31 (1981), 275ff. 3 2 . E. Greblo, »La politica del giudizio, Aspetti della filosofia pratica in Germania e in Francia«, in: Aut aut 220/221 (1987), 113ff:, F. Focher, »Sul giudizio politico«, in: II Politico 51 (1986), 43ff.; B. Henry, II problema del giudizio politica fra criticismo ed hermeneutica, Neapel/Mailand 1992; M. Passerin d'Entrövcs, »Thinking without a Ground, Hannah Arendt's Theory of Judgement«, in: ders., Modernity, Justice, and Community, Mailand 1990, 143ff. Das Interesse in der italienischen Politiktheorie hängt offensichtlich mit der Tradition des Prudentia-Konzepts - Machiavelli! - zusammen. 33 . Vom Leben des Geistes (wie Anm. 26), Bd. 1, Das Denken, 97ff. Hannah Arendt macht den ursprünglichen Sinn von »Theoria«, »Theates«, an der von Diogenes Laertes (VIII 8) von Pythagoras berichteten Parabel klar. 196 Ernst Vollrath Agenten in das Spiel verwickelt sind. Wenn dies zuträfe und wenn es dabei bliebe, dann wäre die politische Qualität der Urteilskraft allerdings gefährdet und eigentlich negiert. Zwar trifft es zu, daß die Zuschauer und ihre Urteile den Strukturmerkmalen der (reflektierenden) Urteilskraft folgen (können): Gemeinsamkeit, Öffentlichkeit, Unparteilichkeit, also politisch qualifiziert sind. Aber bei den Agenten ist das eben nicht der Fall, und es wird auch nicht davon gesprochen, daß ihre Handlungen jene Qualifikationen aufweisen können, die im Urteil der Zuschauer präsent sein können. Die Konsequenz dieser Annahmen führt letztlich dazu, daß das Urteilen der Urteilskraft vornehmlich als ein retrospektives, historischesund nicht als ein prospektives, politisches, Vermögen und Tun bestimmt wird, und Hannah Arendt ist schließlich, veranlaßt durch das von ihr herausgestellte Phänomen der Gedankenlosigkeit des Adolf Eichmann, so weit gegangen, das Urteilen doch dem einsamen Selbst des Denkenden anzuvertrauen: »Das Vermögen der Beurteilung von Einzelnem (wie Kant es herausgearbeitet hat) - daß man sagen kann: Das ist gerecht, Das ist schön, usw. - ist nicht dasselbe wie das Denkvermögen. Das Denken beschäftigt sich mit Unsichtbarem, mit Vorstellungen von Abwesendem; die Urteilskraft hat stets mit Einzeldingen und mit Zuhandenem zu tun. Doch beide hängen miteinander zusammen, wie auch Bewußtsein und Gewissen. Das Denken - das Zwei-in-einem des stummen Zwiegesprächs - aktualisiert den Unterschied in unserer Identität, wie er im Bewußtsein gegeben ist, und so entsteht als Nebenprodukt das Gewissen; die Urteilskraft, das Nebenprodukt der befreienden Wirkung des Denkens, realisiert das Denken, bringt es in der Erscheinungswelt zur Geltung, wo ich nie allein bin und immer viel zu beschäftigt, um denken zu können. Der Wind des Denkens äußert sich nicht in Erkenntnis; er ist die Fähigkeit, recht und unrecht, schön und häßlich zu unterscheiden. Und diese kann - in den seltenen Augenblicken, da die Einsätze gemacht sind - in der Tat Katastrophen verhindern, mindestens für das Selbst«.35 Wie soll dann noch ihre Behauptung aufrecht erhalten werden können, »daß die Urteilskraft eine im spezifischen Sinne politische Fähigkeit ist«.36 Das retrospektive Urteil des Historikers dagegen ist das des unbeteiligten Zuschauers, und wenn dies in den seltenen Augenblicken, da die Einsätze gemacht sind für das Selbst die Katastrophen zu verhindern vermag, dann hat dieses Selbst sich aus der Gemeinschaft mit anderen ausgeschlossen, und es tut 3 4 . Die Urteilskraft ist »unser Vermögen, mit der Vergangenheit umzugehen«: Das Denken (wie vorige Anmerkung), 212. 3 5 . Das Denken (wie Anm. 33), 191 ff. In einer Vorlesung, in der Hannah Arendt diese Argumentation vorformuliert hat, heißt es sogar for myse/f (meine Hervorhebung): »Thinking and Moral Consideration«, A Lecture, in: Social Research 38 (1971), 446. 3 6 . »Kultur und Politik« (wie Anm. 6), 1142. In der amerikanischen Fassung heißt es: »Judging is one, if not the most, important activity in which Ulis sharing-the-world-with-others comes to pass«: The Crisis in Culture(wie Anm. 14), 221. Handeln und Urteilen 197 möglicherweise recht daran, um seine moralische Integrität zu bewahren. Man könnte noch argumentieren, daß in diesem Fall Moral einmal eine authentisch politische Bedeutung hat. Aber für Hannah Arendt sind und bleiben die Moral und das Politische stets geschieden. Die Spannung dieser Momente ist im Denken von Hannah Arendt nicht aufgelöst, und wenn das überhaupt gelingen soll, dann muß, allerdings geleitet von ihren primären Einsichten in die politische Qualifikation der Urteilskraft, über den Horizont ihres Denkens hinausgegangen werden. Das soll nun versucht werden. Dazu muß, wie Hannah Arendt das getan hat, auf Kants Kritik der Urteilskraft unter einer politischen Perspektive zurückgegangen werden. Aus einer erneuten Analyse der Praktik der reflektierenden Urteilskraft werden die Momente herausgehoben, die sich konzeptuell zu einer Charakteristik der politischen Modalität und der politischen Qualität als solche zusammenstellen lassen. Es handelt sich um einen Verfassungsbegriff des Politischen, d. h. um einen solchen Begriff, von dem her sich die politische Verfaßtheit von etwas, beziehungsweise das Abweichen von ihr - auch in seinem Ausmaß - modal und qualitativ beurteilen läßt. Nach einem solchen »reinen Begriff des Politischen« war Hannah Arendt auf der Suche, weil alles bisherige Verständnis des Politischen, in welchem allerhöchstens implizit ein solcher Begriff enthalten war, durch das reale Phänomen des Totalitarismus als einer absolut unpolitischen Politik vollkommen erschüttert war.37 Zugleich besagt dies, daß in der Bestimmung des Politischen sein modaler und qualitativer Verfassungscharakter den Vorrang vor allen anderen haben muß, die in dieser Hinischt nur von ihm her modal so qualifiziert werden können. Denn es kommt darauf an, ein Kriterium für die politische Differenz, den politisch prinzipiellen Unterschied zwischen einer authentisch politisch qualifizierten Politik und einer pervertierten politischen Unpolitik qua unpolitischer Politik, zu gewinnen. Es handelt sich bei diesem Begriff des Politischen daher nicht um einen inhaltlich-objektiven, der einen bestimmten Sachbereich Politik von anderen unterscheidet, sondern um einen qualitativen Modalbegriff, der ein Kriterium bereitzustellen vermag, ihm gemäß alle möglichen Sachverhalte authentischerweise in politischer Modalität und Qualität vorliegend, d. h. so verfaßt, beziehungsweise in ihrem Anspruch darauf als pervertiert zu beurteilen. Ein solcher Modalbegriff des Politischen ist in der gegenwärtigen Situation unausweichlich, weil alles, darunter, wie das Phänomen des Totalitarismus zeigt, auch das absolut Unpolitische, mit dem Anspruch auf die politisch qualifizierte Modalität aufzutreten vermag, dies aber gerade die Authentizität des Politischen zu vernichten droht. Der Verfassungsbegriff des Politischen enthält sowohl einen politischen Urteilsmaßstab als er sich auch, wenn auch nur indirekt, zu einer 3 7 . Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel (wie Anm. 1), 203. 198 Ernst Vollrath Handlungsmaxime im Politischen umgestalten läßt. Es handelt sich um die politische Verfaßtheit als eine solche. In Bezug auf sie lassen sich dann auch die Momente angeben, die den qualifiziert politischen Charakter einer realen Verfassung im sozusagen technischen Sinn zu bestimmen vermögen, und deren Idee wiederum kann in Konstitution und Bewahrung handlungsanleitend sein. Damit wird zugleich ein eminentes Problem einer Lösung näher gebracht werden können, das bei Hannah Arendt angesprochen, aber nicht zureichend erörtert worden ist: Die konstitutive Begründung des Politischen auf Meinung und das politisch qualifizierte Verhältnis von Meinung und Urteilskraft. Die Maxime der reflektierenden Urteilskraft als der »erweiterten Denkungsart« lautet in der Kritik der Urteilskraft: »An der Stelle jedes anderen denken«.38 In der Anthropologie heißt es: »Sich (in der Mitteilung mit Menschen) in die Stelle jedes Anderen zu denken«.39 Um eine Maxime handelt es sich, sofern darin die Vorgehensweise, die Praktik der Urteilskraft angesprochen ist und zugleich deren Charaktere angegeben werden. Diese Maxime spricht aus, gemäß welchem Verfahren das Urteil und der Urteilende einen Standort erlangen, welcher der der Welt im Sinne ihrer anthropologischen Bestimmung als eines Ganzen mit mir in Gemeinschaft stehender Wesen ist. Es handelt sich um die Konstitution eines reflektierten, weil reflektierenden Gemeinsinns. Die Maxime faßt den mundanen Pluralitätscharakter der Welt der Menschen als einen für Menschen gemeinsamen, und zwar praktisch, als tätige Praktik, und das wiederum so, daß das Urteil und damit eigentlich seine weltliche, humane und plurale Gemeinsamkeit anderen Menschen angesonnen, zugemutet werden kann. Die Maxime ist ferner die der reflektierenden, nicht die der bestimmenden Urteilskraft. Diese hat keine eigene Maxime, d. h. keine eigene Praktik (sie ist nichts anderes als die Praktik des Verstandes in objektiver Hinsicht, und dessen Praktik isi rein theoretisch, nämlich subsumierend). Reflektierend heißt die Praktik derjenigen Urteilskraft, die das situativ Zufällige und Partikulare - und um solches ist es beim Handeln immer zu tun - nicht unter ein ihr schon - vom Verstand - gegebenes Allgemeines als dessen Fall subsumiert, sondern die dieses Allgemeine erst von sich aus und d. h. heißt: aus ihrer eigenen Praktik findet, bildet und entwirft.40 Sie bildet es gemäß ihrer Operation der Reflexion, indem sie sich in ihrer reflektierenden Tätigkeit, in der Praktik ihres Urteilens, an ihre Maxime und an die darin vorgesehenen Charaktere, hält.41 Das so Entworfene weist daher gleichfalls diejenigen Charaktere auf, die aus der Praktik der reflektierenden Urteilskraft stammen. Es ist dies das 38 . Kritik der Urteilskraft, § 40, Akademie-Ausgabe V, 294. 39 . Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akademie-Ausgabe VII, 228. 4 0 . Kritik der Urteilskraft. 2. Einleitung IV, Akademie-Ausgabe V, 179. 41 . Zur näheren Ausführung dieser »Operation der Reflexion«: Verf., »Die Rationalität der Urteilskraft«, in: Verf., Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen, Würzburg 1987, 253ff. Handeln und Urteilen 199 Projekt einer »gleichsam öffentlichen«42 Gemeinsamkeit einer Menge von Menschen in einer mundanen Pluralität. An sie als einen projektierten Horizont vermag sich der so Urteilende zu binden und ihn dadurch für sich verbindlich zu machen, sofern dieser Entwurf ja aus seiner eigenen urteilenden Tätigkeit und gemäß deren Charakteren stammt. Er bindet sich dabei aber an mehr als bloß an seine eigene Egoität, weil es sich bei dem Entworfenen um die gemeinsame Teilhabe an der Welt handelt. Die reflektierende Praktik der Urteilskraft ist also nicht ai//o-reflexiv tätig, sondern im bildenden Projekt eines pluralen und mundanen Horizontes der Gemeinsamkeit einer Menge von Menschen. Indem die Urteilskraft eine solche humane Gemeinsamkeit bildend projektiert, bietet sie ihre Idee als Verfassung an, sofern der Bereich der menschlichen Angelegenheiten in seiner mudanen Pluralität gemäß den aus ihr zu entfaltenden Charakteren geordnet und verfaßt werden kann. Die Charaktere dieser Verfassungsbegriffs des Politischen lassen sich in Analogie zu den von Kant in Bezug auf das Schöne herausgearbeiteten vier Momenten bestimmen. Dabei wird gerade ihre politische Qualifikation sicht- bar. Das Projekt enthält die Idee eines am privaten Selbst uninteressierten Wohlgefallens (1. Moment), eines Interesses also für das weltlich Gemein- same. Dieses bestimmt sich als mundan-plurale Interpersonalität (2. Moment), die nicht als solche, d. h. als unmittelbar intendierter Zweck gewollt werden kann (3. Moment), sondern vielmehr reflektierend als horizontmäßiges Projekt vorgestellt wird. Ausgeführt besagt das, daß innerhalb dieser projek- tierten Idee Zwecke so gewollt und ausgeführt werden können, daß ihre Zweckmäßigkeit von der horizonthaften Idee her und als ihr gemäß sich bestimmen läßt. Die Idee fungiert dann als die einer Verbindlichkeit, an deren freie, weder nooumenal notwendige noch willkürliche, daher politisch qualifi- zierbare Gesetzmäßigkeit (4. Moment) der Urteilende und der Handelnde sich so bindet, daß sie jedermann gleichfalls als verbindlich zugemutet werden kann. In der Idee einer solchen freien Verbindlichkeit, die jedermann ansin- nbar ist, beruht der Verfassungscharakter dieses projektierten horizonthaften Begriffs des Politischen. Er ist politisch qualifiziert, sofern von ihm her und auf ihn hin alle politischen Modalitäten qualifiziert beurteilt werden können. Indem die reflektierende Urteilskraft zugleich frei und verbindlich die Idee einer Gemeinsamkeit als mundan-plurale Allgemeinheit verfassungsmäßig entwirft, läßt sie sich als politische Urteilskraft bestimmen. Dabei wird das Politische nicht von etwas anderem, Höheren oder (ihm) Äußerlichen, her verfaßt, sondern eben von einer Praktik her, die die qualifiziert politischen Charaktere der pluralen Gemeinsamkeit und mundanen Phänomenalität selbst an sich hat, und zwar entwerfend-bildend-tätigend. Es handelt sich um eine politische Selbstbestimmung des Politischen. 4 2 . Anthropologie in pragmatischer Absicht, Akademie-Ausgabe VII, 219. 200 Ernst Vollrath Wird dieses Selbst-Projekt des Politischen zur Bestimmung seiner Verfaßtheit gemacht, dann läßt sich daraus ein Urteilsmaßstab für eines der kritischsten Probleme des Politischen gewinnen: sein Meinungscharakter. Hannah Arendt hat den Meinungscharakter des Politischen mehrfach und in engem Zusammenhang mit dem Konzept der Urteilskraft angesprochen, vor allem in zwei Schriften: Wahrheit und Politik43 und Über die Revolution." Sie bezieht sich dabei auf James Madisons berühmte Formel: »that all governments rest on opinion«.45 Für Hannah Arendt nehmen selbst die objektiven Erkenntnisse der Wissenschaften und die philosophischen Theorie-Gedanken im politischen Bereich den Charakter von Meinungen an. Die Meinungsbestimmtheit des Politischen ist eine unvermeidbare Konsequenz seiner pluralen Mundaneität und interpersonalen Phänomenalität, d. h. seiner Politizität selbst. Sie macht ein prinzipielles Moment seines Öffentlichkeitscharakters aus, und ihre Vernachlässigung in der Bestimmung des Öffentlichkeitsmoments des Politischen würde dessen Politizität zerstören und zur A-Politie führen. Aber mit dem Meinungscharakter des Politischen sind erhebliche Probleme gesetzt, denn schließlich ist nicht jede Meinung akzeptabel, ansinnbar. Könnte zudem alles und jedes in Meinung umgewandelt werden, dann ergäbe sich jene Beliebigkeit, die in dem altehrwürdigen Kampf der (einen!) philosophischen Wahrheit der Meinung, d. h. der schwankenden Pluralität der Meinungen, vorgehalten worden ist. Hannah Arendt weist darauf hin, daß das Schwanken der Meinungen an den Tatsachen einen Halt finden kann, aber sie ist sich auch im klaren darüber, daß vor allem die totalitären Regime den Versuch gemacht haben, Tatsachen in bloße Meinungen zu verwandeln und notiert eine gefährliche Neigung auch der modernen Massen- und Fernsehdemokratien, dieser Versuchung nachzugeben.46 Es ist also eine Regel erforderlich, dergemäß im Politischen Meinungen daraufhin beurteilt werden können, ob und inwiefern sie interpersonal ansinnbar sind und zu ihnen Beistimmung allgemein zugemutet werden kann, und diese Regel ist in der praktischen Maxime der reflektierenden Urteilskraft ausgesprochen. Gemäß dieser Regel läßt sich gerade das Meinungsmoment des Politischen politisch qualifiziert verfassen! Aus diesem Verfassungsbegriff des Politischen läßt sich der politische Verfassungsbegriff gewinnen, indem seine Charaktere dazu genommen 43 . in: Wahrheit und Lüge in der Politik. München 1972, 44ff. 4 4 . München 1965 u. ö., 293ff . Siehe den in Anm. 5 zitierten Aufsatz des Verf. »Hannah Arendt über Meinung und Urteilskraft«. 4 5 . The Federalist, ed. J. E. Cooke, Middletown, Connecticut 1961, 340 (No. 49). Die Formel geht auf David Hume zurück: Verf., »That all governments rest on opinion«, in: Social Research 43/3 (1976), 46ff. Man kann sagen, daß sich in dieser Formel der Grund-Satz des anglo-amerikanischen politischen Denkens ausspricht. 46 . Wahrheit und Lüge in der Politik (wie Anm. 41). Handeln und Urteilen 201 werden, die politischen Momente einer realen, existierenden oder intendierten, Verfassung zu konstitutieren. Unter den Bedingungen des gegenwärtigen Zeitalters - des Zeitalters des Post-Totalitarismus - kann kein Zweifel daran bestehen, daß es der einer zivilpolitisch qualifizierten Verfassungsdemokratie ist. Das ist die Gestalt, unter der gemäß diesen Bedingungen das Aristotelische Modell der Politie erneuert werden kann, ohne an die nicht mehr aufrechtzuerhaltenden Momente des alten Modells gebunden zu sein.47 Man kann den Verfassungsbegriff des Politischen einem Test aussetzen, indem man ihn mit dem existentiellen Begriff des Politischen konfrontiert, den Carl Schmitt entwickelt hat. Aber gerade von diesem läßt sich zeigen, daß er gegenüber einer politischen Differenz vollkommen neutral und sogar aktiv hilflos ist, die sich von dem in Bezug auf die reflektierende Urteilskraft konstituierten her sehr wohl begreifen läßt.48 Wie gesagt, faßt der Verfassungsbegriff des Politischen die politische Qualität und Modalität selbst. Er macht daher die modale Differenz zwischen einer politisch qualifizierten Politik und einer politischen Unpolitik qua unpolitischer Politik verständlich und beurteilbar. Für Hannah Arendt lag der äußerste Fall einer solchen unpolitischen Politik in der totalen Herrschaft vor, und ihr Denken war davon ausgegangen, diesen Fall zu begreifen. Niemand wird sagen können, daß der existentielle Begriff des Politischen, so wie ihn Carl Schmitt aufgestellt hat, diesen Fall auch nur in Erwägung gezogen hätte: gerade die absolute Perversion des Politischen in Gestalt des Hitlerischen Rasse- und Raumimperialismus fällt noch unter seinen Begriff des Politischen.49 Der existentielle Test kann noch weiter vorangetrieben werden. Der Verfassungsbegriff des Politischen hat als horizonthaftes Projekt, an das sich Menschen frei binden können, den Charakter eines Als Ob in dem Sinne, in dem Kant im zweiten, von Hannah Arendt niemals unter einer politischen Perspektive in Betracht gezogenen Teil der Kritik der Urteilskraft, in der 47 . In diesem Sinn hat Dolf Sternberger, der zunächst den Hellenismus von Hannah Arendt gerügt hatte, ihr Konzept positiv aufgenommen: ders, »Die neue Politie, Vorschläge zu einer Revision der Lehre vom Verfassungsstaat«, und: »Politie und Levialhan, Ein Streit um den antiken und den modernen Staat«, in: ders., Verfassungspatriotismus, Schriften X, Frankfurt am Main 1990, 156ff. und 232ff. G. Stourzh wiederum hat darauf hingewiesen, daß der Verfassungsbegriff, so wie er in den vielbeschworenen westlichen politischen Kulturen entwickelt worden ist, mit dem Aristotelischen Konzept der Politie in Verbindung gebracht werden muß: Ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie, Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates (=Studien zu Politk und Verwaltung Bd. 29), Wien/Köln 1989, passim. 4 8 . Verf., »Wie ist Carl Schmitt an seinen Begriff des Politischen gekommen?«, in: Zeitschrift für Politik 36/2 (1989), 151ff.; ders., »Politik und Existenz«, in: Politisches Denken, Jahrbuch 1991, Stuttgart 1992, 156ff. 49 . Hannah Arendt hat den unpolitischen Charakter der Totalitarismen, die doch in Gestalt einer absoluten Politisierung von allem und jedem auftreten, selbst angesprochen: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (wie Anm. 18), 730. 202 Ernst Vollrath Kritik der teleologischen Urteilskraft, von ihm spricht: Wir betrachten Naturerscheinungen, die nicht kausal erklärt werden können, so, als ob ihnen von einem unbekannten Schöpfer eine Zweckmäßigkeit beigelegt wäre, die selbst nicht objektiv ausweisbar ist. Wir entwerfen dabei frei, d. h. ohne an eine objektive Notwendigkeit gebunden zu sein, eine Verbindlichkeitsstruktur, die unser Verständnis überhaupt erst möglich macht. Bezieht man diese Bestimmung nicht, wie Kant, auf Naturerscheinungen, sondern gerade auf das Politische in diesem verfassungsmäßigen Sinn, dann ergibt sich anscheinend aus seinem Ideencharakter seine bloß fiktive Natur. Carl Schmitt hatte aus dem fiktiven Charakter aller bloß ausgedachten Ideen im Politischen, ohne die wiederum um willen der Rationalität des Politischen nicht auszukommen ist, auf deren Irrationalität und Irrealität geschlossen, weil sie der Entscheidung zur eigenen Existenz unfähig und daher dieser Existenz auch unwürdig sind: Das ist sein Begriff der Dezision. Trifft dieser Einwand nicht gerade auch für die anspruchsvolle Idee einer freien Verbindlichkeit der politischen Verfassung zu? Aber gerade der so gekennzeichnete Projektcharakter dieses politischen Verfassungskonzepts macht seine Existenzwürdigkeit zugleich mit seiner Existenzfähigkeit aus. Die Existenzwürdigkeit einer solchen Idee geht aus dem Charakter ihrer freien Verbindlichkeit hervor, der ihre politische Verfassungsmäßigkeit konstituiert. In ihr ist eine interpersonale Universalität angezeigt, die über die nur private Subjektivität, in der auch alle InterSubjektivität verbleibt, hinausgeht, weil sie auf der plural-differenten Gemeinsamkeit einer Teilhabe an der Welt beruht. Nehmen Menschen sie an, dann gewinnen sie durch die politische Qualifikation ihrer dadurch sich gerade konstituierenden Welt ein Mehr: Politischer Mehrwert als das Mehr des so verfaßten Politischen. Durch ihn konstituiert sich in gleichem Maße auch die Existenzfähigkeit des Verfassungsbegriffs des Politischen. Denn dadurch, daß sich Menschen an ihn in freier Verbindlichkeit binden und darin ihre gemeinsame Welt ihm gemäß verfassen, konstituiert er sich als verbindend-verbindlicher. Der politische Mehrwert, von dem Carl Schmitt so gerne spricht, besteht in nichts anderem als im Mehrwert des so verfaßten Politischen. Wem aber diese ganze Konstruktion zu abstrakt zu sein scheint, der sollte sich an ein Wort Kants erinnern, welches er genau dort vorbringt, wo er die Praktik der reflektierenden Urteilskraft erörtert: »Nun scheint diese Operation der Reflexion vielleicht allzu künstlich zu sein, um sie dem Vermögen, welches wir den gemeinen Sinn nennen, beizulegen; allein sie sieht auch nur so aus, wenn man sie in abstrakten Formeln ausdrückt; an sich ist nicht natürlicher..., wenn man ein Urteil sucht, welches zur allgemeinen Regel dienen soll«.50 Ist 5 0 . Kritik der Urteilskraft, § 40, Akademie-Ausgabe V, 294. Handeln und Urteilen 203 die Idee der Verfassungsdemokratie gemäß den Momenten der reflektierenden und politisch qualifizierten Urteilskraft einmal gefaßt, dann ist tatsächlich im Politischen nichts natürlicher, nämlich nichts qualifiziert politischer!