Roland Bauer CDU 805.0-08 Salzburg PIEMONTESISCH IM AOSTATAL 1 Das Piemontesische ziihlt neben dem Frankoprovenzalishcen, dem Franzosischen, dem Jtalieni­schen und dem Walserdeutschen zu den heute noch im Aostatal vertreten Sprachen. Der Beitrag dokumentiert einerseits die sprachgescichtliche Bedeutung des Piemontesischen seit etwa 1850 und skizziert andererseits seinen heutigen Status und seine innerhalb der valdostanischen Sprachland­schaft verbliebenen Funktionen aus sprachsoziologischer Sicht. Der sprachliche Varietatenreichtum des Aostatals wird gemeinhin anhand der drei dominierenden Idiome ltalienisch, Frankoprovenzalisch (patois) und Franzosisch il­lustriert. Die Mehrsprachigkeit unserer Grenzregion im auBersten Nordwesten ltaliens stiitzt sich jedoch bekanntlich auf zwei weitere Idiome, wobei in diesem Beitrag vom Piemontesischen die Rede sein soli, dessen Prasenz bzw. Wirkung v. a. im siidostlichen Bereich der 16. Jh. mfr. barattrer "Butter machen" > mfr., nfr. baratte "Butterfa/3" (FEW IX, 330-333). W. v. Wartburg fiigt hinzu, da/3 Worter, bei denen eine Kampfhandlung im Vordergrund steht, wohl aus anord. BARATTA ("Kampf', REW 943) entlehnt sind (vgl. auch FEW XXII/1, 304-306). Die unsicheren Angaben des EWFS (1928, 78) bringen arab. BARRADA [?] "Gefa/3" ins Spiel. 6 < griech. BUrYRUM/BUrURUM "Butter" (FEW I, 663-665, REW 1429). 7 < *BUTTIA "Fa/3", REW 1425, vgl. vogesisch (Urimenil) beusse "baratte" (FEW I, 658-660). Einflilsse auf den patois wie folgt: "[ ... ] les formes piemontaises penetrent de plus en plus et le patois est Souvent fort melange de traits piemontais."8 In auf3er-oder soziolinguistischer Hinsicht jedoch gibt es bislang kaum systematische Betrachtungen zum Status und zu allfalligen Funktionen des Piemontesischen in seiner nordlichen Grenzregion. lm vorliegenden Beitrag soll versucht werden, folgende Fragen, die uns in diesem Zusammenhang von Interesse scheinen, zu beleuchten: Welche Rolle spielte das Piemontesische im Rahmen der historischen Entwicklung der valdostanischen Mehrsprachigkeit? Seit wann sind piemontesische Einflilsse belegt? Von wem/mit wem und in welchen Anwendungsbereichen wird heute noch Piemontesisch gesprochen?9 Wie sehen etwaige Zukunftsperspektiven des Piemontesischen im Aostatal aus? Schon 1845 hatte der Stadtsekretl:ir von Aosta, Laurent Pleoz explizit darauf ver­wiesen, daf3 die Sprechergemeinschaften jener Siedlungen des Haupttales, die zwi­schen Chatillon IO und der piemontesischen Grenze vor lvrea liegen, u.a. auf Grund ihrer Handelskontakte mit den siidlichen Nachbam des Piemontesischen gemeinhin mi:ichtig wl:iren. II Attilio Zuccagni-Orlandini wiederum ging 1864, also wenige Jahre nach vollzogener Einigung ltaliens, auf die Stellung des Piemontesischen innerhalb der valdostanischen Sprachlandschaft ein, wobei seine Ausfiihrungen, was zunl:ichst ilberraschen mag, nicht nur den siidostlichen Talbereich 12, sondem auch die Haupt­stadt Aosta und die westlich davon gelegene Haute Vallee 13 betrafen: [. . .] a Cormayeur poi si parla una lingua, che partecipa del francese, dell 'italiano e del piemontese, originata manifestamente da/la promiscuanza dei forestieri che vi dimora­no nei mesi estivi, e provenienti da/le precitate contrade. {. . .] Nel Mandamento di Verres odesi il consueto amalgama di latino borgognone e piemontese [. . .] Fermiamoci finalmente ne! centra del Circondario, ove appunto siede Aosta suo capoluogo, e cosi in quella citta come nei circonvicini paesi il popolo rispondera alle nostre domande o con gergo impastato di voci galliche latine e piemontesi, o con impuro francese. 14 Der sprachliche Einfluf3 (nord-)westlich der Basse Vallee erkli:irt sich v.a. aus der seit dem 18. Jahrhundert stetig steigenden Immigration von Piemontesen in die Hauptstadt Aosta sowie in die kleineren Handelszentren im Haupttal. Schon um 1830 stammte rund ein Filnftel der stadt-aostanischen Familien aus dem Piemont, wi:ihrend das lokale Periodikum Le Valdotain im Jahr 1892 ein ganz und gar von den siidlichen Nachbam dominiertes Zukunftsszenario der Region zeichnete: "Se l'immigrazione 8 Perron 1995, 14; fur weitere innerlinguistische Kontaktphanomene vgl. Favre im Druck und Grassi 1995. 9 In Anlehnung an die "beriihmte" Fishman-Formel "Who speaks what Language to whom and when?" (1965). 1ODer Ortsdialekt von Chatillon (Abb. 1, P. 18) selbst ist iibrigens nach Keller ( 1958, 142) eher vom Stadt- Aostanischen (Abb. !, P. 10) als vom Piemontesischen gepriigt. 11 Vgl. den Abdruck des entsprechenden Zitats in Bauer 1997, 5; Vorlage: RAJ 1993, 19. 12 Im Zitat wird die Ortschaft Verres genannt, siehe Abb. 1, P. 23. 13 Jm Zitat mit Courmayeur angesprochen, siehe Abb. 1, P. 51. 14 Zuccagni-Orlandini 1864, 30-31. piemontese, che ha gia invaso tutte le borgate, avanza verso le montagne [ ... ) tra cin­quant'anni non rimarra piu nulla della Valle d'Aosta di un tempo."15 Rund 40 Jahre spater skizzierte Wemer Walser ( ebenfalls mit Blick auf die Immigrationsstrome aus dem Piemont) das sprachliche Verhaltnis der Valdostaner zum Piemontesischen fol­gendermaBen, wobei hier besonders auf den im SchluBsatz des Zitats angesprochenen, offensichtlich so empfundenen Prestige-Unterschied zwischen Piemontesisch und Frankoprovenzalisch hingewiesen sei: Leichter jedoch als den Gebrauch der italienischen Schriftsprache erwirbt sich der Valdostaner die Kenntnis des Piemontesischen. Mit piemontesischen Einwanderern unterhiilt er sich meist ohne Schwierigkeit. Je hiiufiger die Einwanderung aus den Provinzen piemontesischer Zunge und je enger der Kontakt mit diesen benachbarten Gegenden wird, desto groj3er wird auch die Gefahr, die dem 'patois' von dieser Seite droht. Man gewinnt auch, besonders bei jungen Leuten, mehr und mehr den Eindruck, daj3 sie das Piemontesische dem 'patois' gegenilber als ilberwertig empfinden. 16 Heute sind librigens rund 40% der valdostanischen Bevolkerung auBerhalb der Region geboren, ein Drittel davon stammt aus dem Piemont. Spitzenwerte piemonte­sischer Einwanderung sind, abgesehen von Aosta Stadt, erwartungsgemliB in der Basse Vallee zu finden, wobei der Grenzort Pont-Saint-Martin 17, der von der Hauptstadt Aosta bereits 52 km, von der nordwest-piemontesischen Industriestadt lvrea jedoch lediglich 17 km entfemt liegt, mit 56,3% Zuwanderem (Stand Volkszahlung 1981) den absoluten Maximalwert verbucht.18 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, also zu einer Zeit, als die Staatssprache ltalie­nisch (als Dach-bzw. Schriftsprache) das Franzosische aus den wichtigsten offentli­chen Bereichen wie Schulen, Gericht, Verwaltung und Presse bereits verdrlingt hatte, wurde nun auch das Piemontesische als Gefahr fiir die historisch gewachsenen Regio­nalidiome Franzosisch und Frankoprovenzalisch, aber auch fiir das Italienische selbst angesehen. Tullio Omezzoli erwahnt in diesem Zusammenhang [. . .} la tendenza del piemontese a sostituirsi, ne/le relazioni interpersonali, al francese (o/tre che al patois) e a rivendicare /o spazio che i valdostani avrebbero volentieri conces­so all'italiano. [ . .} E curioso come, nei decenni in cui estato piu vivo l'allarme-piemon­tese, nessuno in valle d 'Aosta abbia espresso il timore che questo dialetto favorisse sur­rettiziamente l 'italiano, o abbia pensato che esso fosse integrato in un sistema piemon­tese-italiano, al modo in cui si andava profilando [ . .} un sistema patois-francese. II pie­montese si conjigurava come os tile contemporaneamente ali' italiano e al francese. 19 15 Vgl. Omezzoli 1995b, 142-143, 176. 16 Walser 1937, 4. 17 Siehe Abb. l, P. 24. l8 Fiir weitere demographische Details vgl. Bauer 1999a, 238-268. 19 Omezzoli 1995c, 50-52. Die von Kreisen valdostanischer Klerikal-Intellektueller um die Jahrhundertwende manifestierte Angst vor einer Vereinnahmung des patois und des als damit verbiindet empfundenen Franzosischen durch das Piemontesische kommt auch in den folgenden Belegen zum Ausdruck. Abbe Frutaz riefim Jahr 1897 als Redakteur des Kirchenblat­tes Duche d'Aoste seine Landsleute , ne soit envahi lui-meme par le piemontais, qui tend ase popu­lariser dans natre vallee. Et alors nous perdrions, ensemble avec le , CE que tout vrai vald6tain a toujours eu de plus cher: la langue franr;aise. 21 Die Tatsache schlieBlich, da13 die Sprachgewohnheiten der Valdostaner zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar domanenspezifisch differenziert, die aktiven wie passiven Sprachkompetenzen jedoch bisweilen zumindest vierstufig ausgepragt waren und ne­ben Franzosisch, ltalienisch und Frankoprovenzalisch je nach Einsatzbereich auch das Piemontesische umfassten, kann durch ein Zitat von Abbe Petigat belegt werden, der die sprachlichen Usancen seiner Ministranten im Jahr 1911 wie folgt beschreibt: "Les gamins qui me servent la messe se disputent entre eux en piemontais, me repondent en fran\:ais, puis a l'ecole reciteront en italien et, en famille, causeront patois."22 In den walserdeutschen Gemeinden des ebenfalls im Einzugsgebiet der piemontesischen Ver­kehrssprache gelegenen Lystales 23 ist fiir diese Zeit von einer Vier-bis Fiinfsprachig­keit Deutsch-Piemontesisch-Franzosisch-Italienisch und mit Einschrankungen Fran­koprovenzalisch auszugehen: "A Issime, gli abitanti, fra di loro parlano gia un gergo intedescato; ma tutti parlano il dialetto piemontese, il francese-valdostano, e non trop­po attempati bastanamente l'italiano."24 Die heutige Situation des Piemontesischen im Aostatal ist mit der soeben doku­mentierten "Hochkonjunktur" der Jahrhundertwende freilich nicht mehr vergleichbar. In Nachwirkung der faschistischen Sprachpolitik, die v.a. auf die Eliminierung des 20Zitiert nach Omezzoli 1995a, 59-60; [Anmerkung RB]. 21Cerlogne1907, zitiert nach dem Neudruck 1995, 6. 22 Auszug aus Le Duche d 'Aoste vom 26.4.1911, zitiert nach RAi 1993, 34. 23 Siehe wiederum Abb. 1, PP. 52-54. 24 Aus einem Reisefiihrer von 1904, zitiert nach Ziirrer 1999, 98; zum individuellen Mehrsprachigkeitsgrad val­ dostanischer Sprecher siehe die Farbgraphik in Bauer l 999a, 442. Franzosischen und auf die Zuriickdrangung 65 Jahre alt 50% 50% 0 Abbildung 4 Beim Einkaufin Ivrea verwendete Sprache(n). (Mischantworten unter 5% Gesamtaufkommen nicht berticksichtigt)