(Wie) läßt sich Recht legitimieren?* (Habermas, Rawls, Dworkin) Ludwig Nagl 1. Das Habermassche Problemexpose Daß das Recht, anders als dies der rechtspositivistische und der system-theoretische »Objektivismus« glauben, auch in posttraditionalen Gesell- schaften legitimationsbedürftig, d.h. abhängig vom Diskurs der Moral bleibt, selbst wenn keine naturrechtliche Metaphysik dieses Desiderat einlöst: davon geht die Habermassche Rechtstheorie ebenso aus wie von der These, daß weder der Rekurs auf die klassische Subjektphilosophie noch eine Konzeption »entschränkter Kommunikation« die notwendige Legitimation erbringen können. Dieses Grunddilemma konstituiert in Faktizität und Geltung (1992)' jene Problemlage, auf die eine »Diskurstheorie des Rechts« die Antwort sucht. Die Lage ist, so Habermas, »paradox« (FG 56): denn unter modernen Bedingungen unterliegt das Recht einerseits, soll es als gerecht gelten können, nicht nur der Kondition »legaler Rechtssetzung«, sondern überdies - mit Kant gesprochen - auch der »Idee der Selbstgesetzgebung«: Legitimes Recht unterstellt somit die »politischen Autonomie der vereinigten Staatsbürger, die den Legitimitätsanspruch der Regeln... einlöst und rational akzeptabel macht« (FG 58). Damit legales Recht als gerecht gelten kann, bedarf es nicht nur der »prozedural stimmigen« Einführung, sondern auch der legitimitätssichernden Zustimmung. Denn der Zwang, den jedes Recht mit einschließt, kann erst dann als nicht bloß gewaltförmig erfahren werden, wenn er auf Prinzipien beruht, die jeder »gegen sich gelten lassen muß«, wenn also die rechtsgaran- tierenden Grundsätze - aus einsichtigen Gründen - zustimmungsfahig sind. Diese Zustimmung kann aber - und das macht die Situation »paradox« - nicht realiter empirisch, d.h. nicht in dauernder »entgrenzter« Kommunikation eingeholt werden. Denn das zu erwarten hieße, dem Dissenspotential öffentlicher Diskurse zu wenig Rechnung tragen und die deliberative Kapazität der Staats- bürger massiv überfordern. Sucht die Legitimationstheorie also unmittelbar *Eine englischsprachige Fassung dieser Arbeit erschien unter dem Titel »(How) Can Law be Legitimated? Habermas, Rawls, Dworkin« in Norms, Vahles, and Society. Vienna Circle Institute Yearbook2, Edited by Herlinde Pauer-Studer, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/ Boston/London 1994, p. 131-142. 1 Im folgenden zitiert als FG. Fil. vest. /Acta Phil., XVI (2/1995), 145-133. 146 Ludwig Nagi auf »kommunikatives Handeln« zurückzugreifen, dann steht sie vor einem Dilemma: denn »entschränktes kommunikative Handeln« kann, wie Habermas sagt, »die ihm zufallende Bürde der sozialen Integration... weder abwälzen noch ernstlich tragen.« (FG 56) Das moderne Recht sucht dieser Paradoxic durch charakteristische Qualitäten zu entgehen, die, so Habermas, nicht nur jenseits dessen liegen, was ein bloßer Rechts»objektivismus« für Rechtsfaktizität hält, sondern auch jenseits des freigesetzten normenreflektierenden und normengenerierenden Potentials der »entgrenzten Kommunikation«. Modernes Recht operiert auf einer eigentümlich strukturierten Zwischenebene zwischen Faktizität und Geltung. Habermas bestimmt diese Zwischenebene, in partiellem Rückgriff auf Kants Rechtsbe- griff, als die Ebene der »auf Dauer gestellte[n], positivierte[n] Diskursivität« (FG 56?); Recht fungiert »als Transformator im gesellschaftlichen Kommuni- kationskreislauf zwischen System und Lebenswelt« (FG 108). Alles gesatzte, Rechtssicherheit garantierende moderne Recht ist demnach vom »lebens- weltlichen« Modus »moralischen« Kommunikation dadurch unterschieden, daß es eine äußerliche Dauerhaftigkeit hat, die sonst im weichen Medium des Diskurses nicht gegeben ist. Trotz seiner positiven Gesatztheit bleibt das moderne Recht freilich zugleich auf die moralische Reflexion hin offen: denn es ist einerseits ein »artifizielles Normengefüge«, ein faktisches Gesetz, das zwangsbewehrt ist und unabhängig von den Intentionen seiner Adressaten gilt; zugleich existiert dieses objektive Gesetz jedoch nicht wirklich als ein Faktum, sondern vielmehr bloß »auf Widerruf«, d.h. diskursiv. Die faktisch-systemische Struktur des Rechts geht ein Bündnis ein mit dem - umgangssprachlich z.B. im Rechtsprotest und in der Zustimmung zum Recht artikulierbaren - Anspruch auf »Legitimität«: das posttraditionale Recht stellt sich so als ein »Mechanis- mus« dar, der einerseits »die überforderten Verständigungsleistungen der kommunikativ Handelnden von Aufgaben der sozialen Integration entlastet«, ohne andererseits »im Prinzip die Entschränkung der Kommunikations- spielräume rückgängig zu machen.« D.h., so Habermas, »das Recht entlehnt seine bindende Kraft...dem Bündnis, das die Positivität des Rechts mit dem Anspruch auf Legitimität eingeht.« (FG 57 f.) Dieses Bündnis ist jedoch nicht stabil, sondern bleibt gefährdet, denn das moderne Recht ist, eben weil es Faktizität und Geltung auf die erwähnte Weise aneinanderbindet, für Habermas »ein zutiefst zweideutiges Medium der gesell- schaftlichen Integration«: steht es doch einerseits »unter dem profanen Druck der Funktionsimperative der gesellschaftlichen Reproduktion«, gleichzeitig aber »unter der »idealistischen Nötigung, diese zu legitimieren.« (FG 59 f.) Beim Versuch, die Frage zu beantworten, wie das zweite, nicht-instrumentelle Potential des modernen Rechts zu denken und zu begründen sei (die in meinen (Wie) läßt sich Recht legitimieren? 147 Erwägungen analytisch separiert werden soll von der Habermaschen Grundfrage, auf welche Weise die internen Legitimitätsbedingungen des Rechts in der Auseinandersetzung mit den eher ernüchternden sozialwissenschaftlichen Einsichten über die Rechtsrea/zYäi plausibel gemacht werden können), grenzt Habermas seine eigene diskurstheoretische Option von anderen kantianisch (und postanalytisch) inspirierten Theorien ab. Er bezieht sich kritisch erstens auf John Rawls" »Theorie der Gerechtigkeit« (die bei der »original position« ansetzt, methodologisch durch ein »reflective equilibrium« stabilisiert wird und in einem Theorem des »overlapping consensus« Stützung sucht); und zweitens grenzt er sich ab von Dworkins Rechtskonzeption (welche auf der den Rechtspositivismus [H.L.A.] Harts distanzierenden Prämisse beruht, »daß in der Rechtssprechung moralische Gesichtspunkte eine Rolle spielen, weil das positive Recht unvermeidlicherweise moralische Gehalte assimiliert hat.« (FG 250) Vor diesem Hintergrund wird uns zunächst die Frage beschäftigen, wie Rawls und Dworkin selbst die (auf Gerechtigkeit bezogene) Begründung des Rechts denken. (Abschnitte 1.2 und 1.3) Wir werden dabei auch einen kurzen Blick darauf werfen, wie Rawls sich von jenen Rechtstheorien abgrenzen, in denen gesatztes Recht - seinen rationalen Komponenten nach - primär auf die »objektive« Kalkülsphäre des Faktisch-Instrumentellen limitiert werden soll (ein Anspruch, der rechtspositivistische Theorien ebenso wie Machttheo- rien oder auch die Luhmannsche Systemtheorie bestimmt). Sodann werden wir fragen, wie schlüssig der Habermassche Versuch ist, Rechtsnormativität diskurstheoretisch, d.h. unter »Aufhebung« der »categorical force« einer »praktischen Vernunft im Singular«, grundzulegen. 1.2 Der Versuch, gerechte Rechtsprinzipien aus dem » Urzustand« zu gewinnen und im Rekurs auf das »Uberlegungsgleichgewicht« plausibel zu machen (Rawls 1) Rawls unternimmt in der »Theory of Justice« den Versuch, die Grundsätze der Gerechtigkeit, die Recht legitimieren können, durch das Gedankenexperiment einer hypothetischen Wahl im »Urzustand« festzulegen. Bei dieser Wahl wird einerseits das (auf material-partikularen Egoismus bezogene) kalküllogische Modell des »Nutzenmaximierens« durch die Einfüh- rung eines Informationsdefizits, das ein »Schleier der Unwissenheit« sicherstellt, systemisch verunmöglicht. Zugleich aber trägt die Entscheidung in der »origi- nal position« Züge einer »rationalen Klugheitsdezision«. Denn die obersten Gerechtigkeitsprinzipien, so Rawls, lassen sich in der »orginal position« ohne direkten Appell ans Ethische, d.h. aus formal-rationalem Selbstinteresse ableiten: »The aim is to replace moral judgments by those of rational pru- dence.« (ToJ 94) Rawls versucht, in einem darüber hinausgehenden Schritt, die im Urzustand gewählten Prinzipien (und die vorgängige Wahl, in den Urzustand überhaupt einzutreten) durch ein methodologisches Vorgehen, das er »Überlegungsgleichgewicht« nennt, zu rechtfertigen (TOJ 19), d.h. durch 148 Ludwig Nagi einen Prozeß der wechselseitigen Anpassung wohlüberlegter normativer Urteile an normative Grundsätze und umgekehrt. Obwohl Rawls seine Theorie als kantianisch und antiutilitaristisch konzipiert [denn der Urzustand kann ja, wie Rawls im Paragraph 40 der TdG schreibt, gesehen werden »as a procedural interpretation of Kant's conception of autonomy and the categorical impera- tive«] bleibt die ToJ methodisch zugleich in manchem der - von Rawls distanzierten - Tradition des Utilitarismus verpflichtet. Kritische Rawlsleser wie Ernst Tugendhat und Otfried Höffe haben schon früh daraufhingewiesen, daß aufgrund dieser Ambivalenz die Kraft der Rawlschen Rechtfertigungsargu- mentationen an Schlüsselstellen zu versagen droht. Schwierigkeiten macht nicht nur die Abklärung des Status des »Urzustandes« selbst (sowie der Vorteile, die dieses Modell im Vergleich mit der alltäglichen moralischen Urteilsbildung bietet), sondern auch das Konzept des »Überlegungsgleichge- wichts« (vor dem das im »Urzustand« Gewählte zuletzt bestehen soll). Rawls versteht das »reflective equilibrium« als einen Prozeß des Sicheinpendeins, d.h als eine wechselseitige Anpassung von »wohlüberlegten Urteilen« und »Grundsätzen«. Er wählt dabei den Einstieg beim »moralischen Urteil«, d.h. - wie man mit Blick auf Kants »Grundlegung« sagen könnte - bei der »populären sittlichen Weltweisheit«, versteht diesen jedoch, anders als Kant, nicht als einen bloß heuristischer Zugang, der in einer begrifflich vorgeordneten Theorie der »guten Handlung« seine Dimensionierung und Gültigkeit erst erfahren muß. Für Rawls wird, ganz umgekehrt, das »moralische Urteil« selbst (im »Überlegungsgleichgewicht«) immer aufs neue zur Appellationsinstanz gegen die »Theorien« und Prinzipien der Moral. Das ist in einiger Hinsicht sympa- thisch. Denn zweifellos gibt es rigide Moralkonzepte, die relativiert werden müssen an den Intutionen der moralischen Alltagspraxis. Dennoch bleibt Rawl's Versuch, die im Urzustand gewählten obersten Rechtsgrundsätze in einem »reflective equilibrium« zu rechtfertigen, problematisch. Denn Rawls gleicht in seiner Strukturbeschreibung des »Überlegungsgleichgewichts«, wie Tugendhat zeigt2, die Moraltheorie, aus der die Grundsätze der Gerechtigkeit ihre Rechtfertigung erfahren können, auf fragliche Weise anderen Theorien an, in denen Meinungen über Tatsachen (Theorien) sich durch den Rekurs auf Beobachtungen als richtig erweisen lassen: »Moralische Urteile« können aber, so Tugendhat, »wenn sie überhaupt gerechtfertigt werden können - und sie geben zumindest vor, einer Rechtfertigung fähig zu sein nur durch Grund- sätze« (nicht aber durch ein offenes Hin-und Hergehen zwischen Tatsachen- vermutungen und Beobachtungen) gerechtfertigt werden. (Ebd.) Rawls sucht dieses - auf stärkere Abklärung drängende - Fundierungsproblem pragmati- stisch zu umgehen, d.h. er streicht die Frage nach einer rationalen Rechtfer- 2 Ernst Tugendhat, »Bemerkungen zu einigen methodischen Aspekten von Rawl's Eine Theorie der Gerechtigkeit«, Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, S.16 (= Tugendhat 1984). (Wie) läßt sich Recht legitimieren? 149 tigbarkeit jener wohlerwogenen moralischen Urteile, die die Gerechtigkeits- theorie speisen, schon in der ToJ »von der Tagesordnung«. Als Konsequenz dieser Argumentationsstrategie, die die Doppelfunktion erfüllen soll, unnötige metaphysikinduzierte Konflikte abzubauen, zugleich aber die Grundcharakte- ristika eines liberalen Personenbegriffs außerhalb, ja oberhalb des möglichen Streits anzusiedeln, öffnet sich in der Rawlsschen Theoriebildung eine Schere. Denn einerseits enthält Rawl's Kritik am utilitaristischen Nutzenkalkül viele der Motive, die für eine von Kant inspirierte Prinzipientheorie der Verfassung zentral sind. Andererseits schreckt Rawls aber zurück vor einer begriffsanaly- tischen oder gar »transzendentalen« Explikation (bzw. »defensio«) dieses Impliziten. Werfen wir einen kurzen Blick aufsein Dilemma: Rawl's Einspüche gegen jene utilitaristischen Gerechtigkeitskonzeptionen, die das Gerechte im Blick auf die Summe des Wohlergehens aller Betroffenen durch ein Theorem des maximalen Gesamtnutzens zu bestimmen suchen, setzen einerseits substanzielle, auf den Begriff der Person bezogene Annahmen (wie sie beispielsweise im Paragraphen 40, ToJ, genannt werden) voraus. Sein Einspruch gegen jeden Verabsolutierungsversuch des Nutzenkalküls sind bestimmt von der Einsicht, daß Gerechtigkeit unverzichtbar miteinschließt, daß die Grund- rechte einer jeder einzelnen Person unverletzbar sind. Gerechtigkeit impliziert für Rawls das Konzept individueller Autonomie, über die nicht aus externen Gründen »funktionell« verfügt werden darf. Seine Distanznahme vom Utilitarismus kreist also dauerhaft, aber doch nur auf implizite Weise, um jene »Selbstzweckformel«, die seit Kant das unentfaltete Zentrum posttraditionaler ethischer Reflexion bildet. Rawls, so könnte man - ihn systematisch überinterpretierend - sagen, unterstellt in allen Modi seiner Utilitarismuskri- tik, daß nur derjenige gut handelt (bzw. - auf die Zwischenebene des Rechts projiziert - nur derjenige eine gerechte Verfassung wählt), der dabei »die Menschheit sowohl in seiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel« gebraucht.3 O. Höffe brachte dieses latente Motiv der Rawlschen Utilitarismuskritik auf die knappe Formel: »Der Utilitarismus läßt sich [von Rawls her gesehen] als ein Kollek- tiv-Egoismus interpretieren, der seiner Tendenz nach einzelne oder Gruppen zu Mitteln der anderen degradiert.«4 Rawls erörtert jedoch, zweitens, diese - seine Theorie bestimmende - Hintergrunddannahme weder sprachanalytisch noch transzendental (um zwei der möglichen Optionen zu nennen), sondern bleibt - auf eigentümliche Weise - an einer genaueren philosophischen Erkundung derjenigen Prinzipien, die seine Utilitarismusdistanz motivieren, uninteressiert. Daraus resultieren Schwierigkeiten und Ambivalenzen. Zwar 3 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart 1967, S.79. 4 Otfried Höffe, »Kritische Einführung in Rawl's Theorie der Gerechtigkeit«, Ethik und Politik, Frankfurt 1979, S. 171. 150 Ludwig Nagi geht Rawls - wie alle postmetaphysischen Denker - davon aus, daß uns die Grundsätze des Guten und Gerechten nicht einfachhin intuitiv »gegeben« sind, sondern erst »konstruiert« werden müssen. Dies, so Rawls, geschieht in einer rationalen Wahl, die im reflektierenden Prozedere des »Überlegungsgleich- gewichts« plausibel werden soll. In jedem dieser Rechtfertigungsschritte wird zwischen »vernünftigeren« und »weniger vernünftigen« Optionen unterschie- den. Die positive Entfaltung der Kriterien für die Distinktion »vernünftig/ weniger vernünftig« freilich (für jene Unterscheidung also, die nicht nur die Wahl von Grundsätzen aus der - historisch aufgerafften - Optionenliste in der »orginal position« bestimmt, sondern bereits die vorgelagerte Wahl auf der - von Tugendhat sogenannten - »O-Stufe«, d.h. auf jener Reflexiousebene, auf der entschieden wird, in die »original position« überhaupt einzutreten) wird im Einpendelungsprozeß des »Überlegungsgleichgewichts« nirgendwo explizit thematisch. Was Kant z.B. in seiner »Grundlegung« beim Versuch, von der »populären Weltweisheit« zu einer »Metaphysik der Sitten« überzugehen, unternahm: Begriffe wie Autonomie, Achtung, Würde im Unterschied von Preis, die Selbstzweckstruktur des Subjekts und ihren Bezug auf ein »Reich der Zwecke« abzuklären, sowie die Strukturlogik derjenigen Imperative zu erkunden, die es erlauben, Klugheit stimmig von Moral zu unterscheiden: all das wird bei Rawls zwar immer wieder zum Gegenstand kürzerer historischer Exkurse oder psychologischer Reflexionen, bleibt zugleich aber - wohl als allzu metaphysikgefahrdet - seiner Tiefenstruktur und seinem Zusammenhang nach unerörtert. Dieser Argumentationsverzicht leitet sich letzlich her von Rawl's Entschluß, trotz der allseitigen kantianischen Grundinspiration seiner Theorie einem »methodischen Utilitarismus« anzuhängen, d.h., wie Höffe sagt5, der »Klugheitswahl« vor der »Vernunftwahl« in jenem Spiel um die Verfassungsregeln, das in der »original position« gespielt wird, Priorität einräumt. Auch Tugendhat sieht hier Probleme: »Ich glaube«, so schreibt er, »daß die Verlagerung der ursprünglichen moralischen Wahlsituation in eine eigennützige Wahlsituation... Konsequenzen hat, die zeigen, daß [in der Rawlschen Theorie (L.N.)] etwas von der moralischen Substanz verlorengeht« (1984, 32). Beispielsweise wird Rawl's Argumentation für die Gewissensfrei- heit durch die Entscheidung problematisch, die Begründung basaler Rechte in einem Verfahren anzusiedeln, das von alltäglicher moralischer Reflexion dadurch unterschieden ist, daß es diese in zwei Komponenten zerlegt: a) in eine eigennützige Entscheidung und b) in die Unkenntnis der eigenen Identi- tät. Denn »warum sollen Leute, die nur eigennützig sind«, fragt Tugendhat, »überhaupt so etwas wie ein moralisches Gewissen schätzen?« (Ebd.) 1.2.1 Rechtfertigung der grundlegenden Rechtsstrukturen durch einen »over- 5 Höffe, »Kritische Einfuhrung«, Abschnitt V, »Klugheitswahl oder Vernunftwahl«, a.a.O., S. 185-189. (Wie) läßt sich Recht legitimieren? 151 lapping consensus« (Rawls 2) Der Vorwurf, daß die ToJ methodologisch und begriffsanalytisch instabil sei, hat Rawls nicht dazu bewogen, den latenten Kantianismus seiner Theorie stärker zu extrapolieren, im Gegenteil. Seine neueren Schriften suchen dem Begründungsproblem anders zu Leibe zu rücken. Rawls hält aus gutem Grund den Pluralismus divergenter »Konzeptionen des guten Lebens« in posttraditionalen Gesellschaften für unverabschiedbar und versucht, die Minimalstruktur jener gerechten Verfasssungform, die einen solchen Pluralismus allseitig garantiert (und den die ToJ »freistehend« zu etablieren suchte), durch einen »overlapping consensus« abzusichern, dessen Struktur in einiger Hinsicht durch Wittgensteins Konzept der »Familienähn- lichkeit« inspiriert sein dürfte. Kants Philosophie wird im Rahmen dieses modifizierten Ansatzes selbst nunmehr insgesamt den »umfassenden religiö- sen, philosophischen oder moralischen Lehren« zugeordnet, die in Konkurrenz zu anderen religiösen oder metaphysischen Weltbildern stehen und somit nicht den neutralen Bezugspunkt bilden können, in dem Rechtslegitimierung terminiert. Rawls schlägt in seinen Aufsätzen der 80er Jahre den Weg ein, die Rechtsgrundsätze einer »Justice as Fairness« (die inhaltlich überwiegend mit jenen der ToJ übereinstimmen) methodologisch »bescheidener« als in der ToJ zu fassen. Diese Selbstbescheidung äußert sich in mindestens zweifacher Weise: erstens dürfen sich die in einer Gerechtigkeitstheorie gewählten Grundsätze nicht auf eine »umfängliche« Version von Moral beziehen, sondern nur die basalen Gesellschaftsstrukturen betreffen (in diesem Punkt, meint Rawls, war die ToJ nicht immer eindeutig); und zweitens darf die gesuchte Begründung von Gerechtigkeit nicht als ein seinem Wesen nach wahrheitsbe- zogener Prozeß, sondern bloß als ein Prozeß der »pragmatischen Stützung« verstanden werden: diese Stützung erfolgt durch einen »overlapping consen- sus«. Der Idee dieses Überlappungskonsenses zufolge werden die Grundkonzeptionen politischer Gerechtigkeit, die die Verfassungsgerechtigkeit definieren, durch die pluralen, einander widersprechenden religiösen, philosophischen und moralischen Doktrinen, welche die modernen Gesellschaften prägen, bei aller Differenz affirmiert. Inhaltlich betrachtet trägt dieser Konsens jene Züge, die schon fur die Prinzipien der ToJ charakte- ristisch waren: er besteht in der Übereinstimmung darüber, daß Freiheit und Gleichheit die Grundwerte einer modernen Gesellschaft sind, und dies obwohl tiefe Uneinigkeit darüber herrscht, wie diese Werte in der Grundstruktur der Gesellschaft am besten verwirklicht werden können. (PJ 227) Trotz der »rea- sonable disagreements«, die für den Pluralismus moderner Gesellschaften charakteristisch sind (Rawls erörtert die Struktur dieses unaufhebbaren und tiefen vernünftigen Dissenses eindrucksvoll unter dem Titel »The burdens of reason«) konvergiert der »overlapping consensus« in einem liberalen Personenkonzept, das u.a. durch jene Charakteristika gekennzeichnet ist, die Kants »Selbstzweckformel« zum Ausdruck bringt. »Auf die Tagesordnung« 152 Ludwig Nagi einer analytischen Begriffsklärung oder einer begründungstheoretischen philosophischen Reflexion kommen diese inhaltlichen Bestimmungen freilich auch diesmal nicht, im Gegenteil. Rawls richtet gegen die Forderung, Erörterung dieser Art durchzuführen, Sperrprämissen auf, die über diejenigen der ToJ hinausgehen. Das geschieht einerseits unter dem Prätext, alle »metaphysi- schen« Ideen seien zu vermeiden, weil sie unnötigerweise Dissens generieren, andererseits durch den eher unvermittelt wirkenden Rückgriff auf die in der modernen Moral gut verankerten Toleranzintuitionen, die - obzwar erst mühsam historisch errungen - in unseren Gesellschaften, wie Rawls hofft, weitgehend außer Streit stehen. Diese neue, »weiche« Argumentation zur Stützung der basalen Verfassungsgrundsätze (in der die methodologische Denkfigur der ToJ, das Überlegungsgleichgewicht, durch Elemente einer praktisch-politisch gedeuteten Familienähnlichkeitstheorie pluraler »Ideen des guten Lebens« substituiert wird) sieht sich Einwänden u.a. aus zwei Richtungen ausgesetzt: Erstens scheint fraglich, wie plausibel empirisch (und historisch) in modernen Gesellschaften - die ja manche Identitäts- und Lebensformen einschließen, für die Toleranz kein absolut vorrangiger Wert ist - ein »overlapping consensus«, der den liberalen Personenbegriff affirmiert, wirklich ist. Manche Gruppie- rungen, die sich auch gegenwärtig zu Wort melden, sind, wie es scheint, wenig gewillt, all jenen rigiden Ansprüchen, die sich aus religiösen, philosophischen oder wissenschaftlichen Überzeugungen ergeben können, auf der Linie des Toleranzgedankens der Aufklärung abzuschwören. Angesichts des »funda- mentalistischen« Potentials, das auch in modernen Gesellschaften schlum- mert, kann zweitens gefragt werden, ob Rawl's Selbstbescheidung auf einen »overlapping consensus« - dessen Leistung es sein soll, alle »stärkeren moral- philosophischen und metaphysischen Annahmen und Diskurse«, die komplexere Rechtfertigungen der Grundstruktur versuchen, von der Tagesordnung zu nehmen - wegen der nicht gänzlich auszuschließenden, gefährlichen Möglich- keit von Dissensen selbst über die basale Rechtsstruktur, in der Tat das ge- eignete Mittel ist, legitimes Recht öffentlich argumentativ zu sichern. Ist die Rawlsche Position, wie Habermas in »Faktizität und Geltung« fragt, nicht nur sehr weit entfernt von den ernüchternden sozialwissenschaftlichen Einsichten in die empirische Rechtsrealität, sondern auch auf eine Weise theorie- und argumentationsdistant, die Rawl's als »politisch« konzipierten Begriff der Gerechtigkeit »political in the wrong sense« werden lassen könnte? 1.3 Rechtsfundierung im Rekurs auf die »categorical force« einer liberalen Ethik (Dworkin) Ronald Dworkin versucht, einen anderen Weg zu gehen. Seine Erwägungen zum Rechtsbegriff erkunden - riskanter als diejenigen von Rawls - den kantianischen Hintergrund der Legitimationstheorie des Rechts. Dworkin will die Frage der moralischen Rechtfertigbarkeit des modernen Verfassungsstaats nicht jenen, wie Habermas (FG 86) sagt, »kontingenten (Wie) läßt sich Recht legitimieren? 153 Einbettungen« überlassen, die in einem »overlapping consensus« artikuliert werden können. Er möchte »die Wirksamkeit liberaler Prinzipien auf keinen Fall« [ - etwa entlang der Linie von Rortys Rawlsinterpretation, in der die weiche Rawlsche Position nochmals dekonstruktiv aufgeweicht wird - ] »von latenten Potentialen abhängig machen, die wir aus glücklicherweise angetroffe- nen Traditionen erwecken können.« (Ebd.) Eine schlüssige Theorie des Rechts muß, so Dworkin, ihre moralischen Grundsätze präzis zu artikulieren suchen. Dworkin »mutet deshalb der Theorie nicht nur die Begründungslast für abstrakte, gleichsam in der Luft hängende Gerechtigkeitsprinzipien zu, sondern stellt ihr die Aufgabe einer ethischen Fundierung dieser Grundsätze.« (Habermas, Ebd.) Darum wendet er sich gegen die - für das Rawlssche Projekt zentrale - Ent- koppelung der (rechtstheoretischen) Sphäre des Gerechten von der (moral- philosophischen) Sphäre des Guten: denn die Sphäre des Rechts kann ja, so Dworkin, bei allem Unterschied, der zwischen Moral und Recht besteht, nicht zur Gänze von den Entwürfen eines »gelungenen« Lebens abgetrennt werden. Dworkin vertraut im Unterschied zur Rawls darauf, daß auch unter postme- taphysischen Konditionen eine Ethik entwickelt werden kann, die dem Liberalis- mus Genüge tut und zugleich »categorical force« besitzt. In seiner »Tanner Lecture« artikuliert er dieses starke, von der methodologischen Selbstbe- scheidung des späten Rawls strikt unterschiedene Begründungsprogramm wie folgt: »Liberal philosophers who... adopt the restricted view that liberalism is a theory of the right but not the good face the problem of explaining what reasons people have to be liberals...« Die Antworten, die auf diese Frage dann gegeben werden, wenn man mit Rawls zwischen Gerechtem und Gutem strikt unterscheidet, sind für Dworkin unbefriedigend. Er schlägt einen anderen Zugang vor: »I argue that liberals should reject this restricted view of their theory. They should try on the contrary to connect ethics and politics by constructing a view about the nature of the good life that makes liberal poli- tical morality seem continuous rather than discontinuous with appealing philo- sophical views about the good life.« Und mit Blick auf den Rawlschen »over- lapping consensus« fügt er hinzu: »We need more from a theory of justice than consensual promise; we need categorical force. Liberals insist that political decisions be made on liberal principles now, even before liberal principles come to be embraced by everyone, if they ever will be.« (Tanner Lectures, p.17). Wie aber, so wendet Habermas hier ein, kann dieses regulative Potential einer liberalen Ethik, die, Dworkin zufolge, jede konsistente Rechtsinterpretation in letzter Instanz stützen soll, heute noch artikuliert und verteidigt werden? Habermas sieht ein Dilemma enstehen: Solange Dworkins liberale Ethik »substantielle Aussagen macht, bleiben ihre Prämissen dem Entstehungskon- text bestimmter historischer oder gar persönlicher Selbst- und Weltdeutungen 154 Ludwig Nagi verhaftet«; sobald sie aber »hinreichend formal ist, besteht ihre Substanz... nur noch darin, das Verfahren ethischer Selbstverständigungsdiskurse zu erläutern.« Führt somit Dworkins Versuch, eine Theorie des Guten und Legitimen »aus einem Guß« zu entwerfen - gegen seine Absicht - bei genauerer Betrachtung direkt in den Formalismus einer »Diskurstheorie des Rechts«, die alle substanzielle »categorical force« in das Verfahren der Verständigung einarbeitet und dadurch die »praktischen Vernunft im Singular« überwindet? Dworkin, so scheint es, würde dieser Habermasschen Lesart seiner Theorie kaum zustimmen. Er könnte versuchen, angesichts des interpretativen Zugriffs der Diskurstheorie den Spieß umzudrehen und gegen Habermas geltend zu machen, daß auch ein »prozedural« gedeuteter Kantianismus - im Rekurs auf jenes regulative Poten- tial, das die defekten empirischen Diskurse kritisierbar macht - eine residuale »categorical force« beanspruchen muß, deren - letzlich individuumsbezogene - Geltungslogik in der Diskurstheorie freilich - aufgrund ihres theorienstra- tegisch motivierten Abschieds von der Subjektphilosophie - Anathema bleibt. Habermas hofft, daß, nolens volens, alle Wege der post-analytischen Rechts- theorie auf eine Theorie der diskursiven Prozeduralität zulaufen. Hat hier aber nicht doch eher Dworkin recht, wenn er - ähnlich wie Rawls dies aufgrund der dissensproduzierenden »burdens of reason« tut - der inhaltlichen Leistungskraft des Konsenses in vieler Hinsicht mißtraut, und deshalb - anders als Rawls - die Konstruierbarkeit »kategorischer Prinzipien des Liberalismus« postuliert? Diese Frage nötigt uns - zum Schluß - nochmals einige Erwägungen zur Habermasschen Theorie des Rechts anzustellen. 2. Schwierigkeiten beim Versuch, die Gerechtigkeit des Rechts aus den »diskursiven Praktiken der staatsbürgerlichen Kommunikationen« zu rechtfertigen (Habermas) Auch wenn Recht und Moral, »the right« and »the good«, nicht strikt voneinander separierten werden können (Habermas stimmt Dworkin - belehrt durch Kant - in diesem anti-Rawlschen Punkt zu), ist ihre Verknüpfung unter postmetaphysischen Konditionen nicht so dicht wie Dworkin das hofft. Denn die Ethik nach Kant sieht sich, so Habermas, - aufgrund der modernen, durch Expertenkulturen vorangetriebenen Ausdifferenzierung der Vernunft in unterschiedliche Rationalitätsformen oder »Vernünfte« - , vor gravierende Probleme gestellt. Die »Einheit der praktischen Vernunft« ist in der Moderne irreparabel zerfallen. Schon das Vernunftrecht der Neuzeit hat auf diese Situation reagiert, dabei aber, wie Habermas meint, die intersubjek- tive Natur der modernen kollektiven Willensbildung verkannt. Die Diskurs- theorie des Rechts will deshalb »die subjektphilosophischen Prämissen des Vernunftrechts aufgeben.«6 Denn erst eine nicht mehr subjektphilosophisch 6 J. Habermas, »Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der Vernunft« (= GV), Erläuerungen zur Diskursethik, Frankfurt 1991, S. 117 (Wie) läßt sich Recht legitimieren? 155 argumentierende Kommunikationstheorie des Rechts und der Politik greift die Frage nach der rechtslegitimierenden »praktischen Vernunft« auf sophisti- zierte Weise auf. Erst sie nämlich stellt sich jener Frage, die der Frankfurter »Intersubjektivismus« ins Zentrum rückt, ob wir heute »von der praktischen Vernunft noch im Singular sprechen dürfen, nachdem sie unter Aspekten des Zweckmäßigen, des Guten und des Gerechten in verschiedene Formen der Argumentation zerfallen ist?« (GV 117) Habermas erläutert die Grund- konstellation der Moderne, die durch einen unaufhaltsamen Dezentrierungs- prozeß, aus dem sich u.a. gravierende Auswirkungen für die moralische Legitimierbarkeit des Rechts ergeben, gekennzeichnet ist, wie folgt: Zwar beziehen sich - selbst unter den Konditionen der Moderne - die Argumente für das Zweckmäßige, das Gute und das Gerechte weiterhin »auf den Willen von möglichen Aktoren; aber ... mit dem Typus der Fragen und Antworten [verändern] sich auch die Konzepte des Willens ... Die Einheit der praktischen Vernunft läßt sich nicht mehr nach dem Kantischen Vorbild der Einheit des tranzendentalen Bewußtseins in der Einheit der moralischen Argumentation begründen. Es gibt nämlich keinen Metadiskurs, auf den wir uns zurückziehen könnten, um die Wahl zwischen verschiedenen Formen der Argumentation zu begründen. Bleibt es dann nicht«, so fragt Habermas, »dem Belieben, bestenfalls eine prädiskursiven Urteilskraft des Einzelnen anheimgestellt, ob wir ein gegebenes Problem unter Gesichtspunkten des Zweckmäßigen, des Guten oder des Gerechten auffassen und behandeln möchten? Der Rückgriff auf eine Urteilskraft, die es den Problemen 'ansieht', ob sie eher ästhetischer oder öko- nomischer, eher theoretischer oder praktischer, eher ethischer oder moralischer, politischer oder juristischer Natur sind, muß für jeden unbefriedigend sein, der mit Kant gute Gründe hat, das unklare Aristotelische Konzept der Urteilskraft fallen zu lassen.« (GV 118) Habermas will diese offene Grundfrage der Moraltheorie, wie er im folgenden sagt, »an die Rechtsphilosophie weiterreichen«. Denn »auf unmißverständliche Weise«, so argumentiert er, »kann sich die Einheit der praktischen Vernunft nur im Netzwerk jener staatsbürgerlichen Kommunikationsformen und Praktiken zur Geltung bringen, in denen die Bedingungen vernünftiger kollektiver Willensbildung institutionelle Festigkeit gewonnen haben.« Dieser offenkundig vom Institutionenbegriff Hegels inspirierten, objektivistischen Tieferlegung der Legitimation des Rechts könnten Rawls und Dworkin vielleicht sogar über einige Strecken zustimmen: denn auch bei ihnen geht es ja - zumindest in Teilen ihrer Theorie - um das Gewicht der Institutionen. Dennoch bleibt in der Habermasschen, neohegelianischen Transformation der »diskursi- ven Moraltheorie« in die »diskursive Rechtsphilosophie« die Frage unerörtert, ob nicht auch im Zentrum der kommunikativ dimensionierten staatsbürgerli- cher Praktiken (vor allem, wenn man die »Logik des staatsbürgerlichen Wider- 156 Ludwig Nagi stands« zu erkunden sucht) das Problem des - zuletzt aufs Individuum bezogenen - »Kategorischen« wiederkehrt. In keiner Institution, so scheint es, ist nämlich die Nötigung, das Recht unter Rekurs auf das Gerechte immer aufs neue zu reflektieren, in einem sicheren, empirisch-institutionell befestigten Modus, und seis auch der Intersubjektivität, »aufgehoben«. Gerade das Beispiel der Hegeischen Rechtsphilosophie lehrt (aufgrund der schweren Defizite, die sich dort einstellen, wo Hegel den Versuch unternimmt, »Moralität« in »Sittlich- keit« aufhebend zu überwinden), daß eine - mit Blick auf die Realität der Institutionen erfolgende - Dekonstruktion der »praktischen Vernunft im Sin- gular« (des »individuellen Gewissens«, in Hegels Terminologie), und seine Abwertung als »bloß« moralisch, das heißt, wie Hegel schreibt, als »auf dem Sprung, ins Böse umzuschlagen«, sowie die Delegation des objektiven »guten Gewissens« an das funktionierende Netzwerk der institutionellen Praktiken, bei genauerer Überlegung nicht nur nicht befriedigt, sondern - zumindest in bestimmten Lesarten - auch gefährlich ist. Die Verantwortung fürs Handeln, die im alltäglichen Verständnis dem Individuum zugeschrieben wird, kann nicht durch den Rekurs auf diskursive Praktiken quasi»objektivistisch« »auf- gehoben« werden. Wie wir alle (die Diskurtheoretiker inclusive!) wissen, enden viele der öffentlichen Diskurse unbefriedend: nicht selten werden sie in der Folge extradiskursiv, d.h. durch die Einzelnen, die privat und »monologisch« weiter- und »nach«-denken, zuende gebracht (wofür diesen dann auch die Verantwortung zugeschrieben wird): dieses antizipatorische Ausphantasieren, Zuendedenken und verantwortende Entscheiden praktischer Fragen geschieht, wenn es rational geschieht, im Rekurs auf die - im Individuum beheimatete - moralischen Urteilskraft. Solch ein Rückgriff aufs »Monologische« impliziert jedoch keineswegs jene Art von aristotelischer »Beliebigkeit«, gegen die sich Habermas verwehrt. Denn, so kann man mit Kant sagen: wir sind auch als einzelne, und nicht bloß aufgrund glückender intersubjektive Beratung, der praktisch-vernünftigen Allgemeinheit fähig. Zwar ist der Diskurs, die »mora- lische Freundschaft«, wie Kant ihn nennt, erstrebenswert, ja in gewisser Weise selbst ein moralisches Ziel, weil er unserer Motivendifferenzierung dienen kann (nicht freilich: muß); er ist, wie schon diese letzte Erwägung zeigt, zu- gleich aber nicht unverzichtbar. In vielen Situationen und nahezu allen Grenz- situation sind wir gezwungen, »monologisch« zu entscheiden. Ja, so könnte man im Anschluß an Kant fragen (und dabei die Prioritätsansprüche der Dis- kurstheorie umkehren), ist zuletzt nicht jene vernünftige Allgemeinheit, die zu erkennen ich auch als einzelner fähig bin, das, wodurch ich - im glückenden Fall des moralisch-praktischen (wie auch des die Grundrechte erwägenden rechtlichen Diskurses) - die Ergebnisse einer Beratung »akzeptabel« finde? Wenn dem aber so ist, dann kann es nicht ganz aussichtslos sein, die diversifi- zierten, institutionell ausgefächerten »Vernunftansprüche« der Moderne u.a. (Wie) läßt sich Recht legitimieren? 157 im Rückgriff auf die »categorical force« einer »praktischen Vernunft im Singular« kritisch zu reflektieren. Wahrscheinlich gelingt es dabei nicht, die diversiflzierten Vernunftformen dauerhaft zu »synthetisieren«. Jeder kritische Versuch, die »Vernünfte« in ihrem jeweiligen Geltungsbereich zu re-evaluieren, wird freilich Momente der Imperativenhierarchie Kant reaktivieren, derzufolge die hypothetischen (d.h. technisch-instrumentellen, ökonomischen, kalkulato- rischen, klugen, Lust-Unlust-bezogenen) Imperative, wenn sie mit jenen Imperativen kollidieren, die kategorisch-praktisch sind, d.h. um die Selbstzweckformel kreisen, einen nachrangigen Status zugewiesen erhalten. Hat somit Dworkin, zumindest in einigen Hinsichten, einen spannenderen Ansatz als Habermas, weil er im Zentrum der Legitimationsfrage des Rechts vor dem expliziten Rekurs auf die »categorical force« einer liberalen Ethik nicht zurückschreckt (einer Ethik also, deren Prinzipien sich 1. herleiten von einer - die kantische Selbstzweckformel ausdifferenzierenden - »praktischen Vernunft im Singular«, die 2. versucht, die »Sphäre des guten Lebens« - liberalen Prinzipien folgend - im Rekurs auf inhaltlich weiter »konstruierte« Grundrechte neu zu organisieren und dabei 3. zu den zeitgebundenen »Moralurteilen« des historischen Kant die gebotene Distanz hält)? Mir scheint, daß das neohegelianisch dimensionierte Projekt von »Faktizität und Geltung« - ein Projekt, in dem Habermas aufgrund seiner »objektiv- institutionellen« Lesart der Diskursivität dem entrinnen möchte, was er als die bloßen Fallen der »Subjektphilosophie« qualifiziert - jenem »experimentum crucis« aus dem Weg geht, das darin bestünde, die zuletzt im Individuum verankerte Kapazität zu denjenigen »idealen Präsuppositionen« zu erkunden, die das Ungenügen an den »schlechten« empirischen Übereinkünften dauerhaft speist. Dworkin ist, zumindest was diese Frage betrifft, konsequenter als Habermas: denn er blockt jene rechtsphilosophischen Erwägungen, die die Leistungskraft der Diskurstheorie selbst nochmals problematisieren, nicht ab.