Vom Nutzen des Einzelfalls. Archive als Wissensspeicher für die Gesellschaft von heute Christian Kruse, Dr. Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, Abteilungsleiter, Schönfeldstraße 5, 80539 München, Deutschland e-mail: christian.kruse@gda.bayern.de. The Useful Detail. Archives as Stores of Information in Present-day Society ABSTRACT Archives are often called treasure chambers of history. This aspect of archives has not to be discussed anymore. But the main public often doesn't know that archives are important for contemporary society too.Taking the situation in Bavaria as an example I start with a look to administration as a part of society. Then I aim to show that archives are very useful for everybody and for many current projects. Archives keep files about all human situations from birth to death, e.g. about inheritance, personal property and special rights. Also one should study files concerning rubbish heaps, former factories and bombed areas before starting a building, because the area might be polluted. The details make archival information important.All these things are well known to archivists but not to society: So we have to change our public relations work. L'utile dettaglio. Gli archivi come depositi di informazioni nella societa contemporanea SINTESI Gli archivi vengono spesso definiti la camera del tesoro della storia. Tale aspetto non e piu da mettere in discus-sione. Ma il grande pubblico spesso non sa che gli archivi sono importanti anche per la societa contemporanea. Prendendo ad esempio la situazione in Baviera, inizio con uno sguardo all'amministrazione come parte della societa. Quindi provo a far vedere che gli archivi sono molto utili per tutti e per molti progetti in via di esecu-zione. Gli archivi conservano informazioni su tutte le situazioni umane dalla nascita alla morte, come ad esem-pio eredita, proprieta private e diritti particolari. Si potrebbero anche studiare gli incartamenti riguardanti i mucchi della spazzatura, le vecchie fabbriche o le aree bombardate prima di iniziare a costruire un edificio, dato che l'area potrebbe essere inquinata. I dettagli rendono importanti le informazioni archivistiche. Tutte queste cose sono ben note agli archivisti ma non alla societa. E cosi, dobbiamo cambiare il nostro lavoro di pubbliche relazioni. Uporaben detajl. Arhivi v današnji družbi kot shrambe informacij IZV^LEČEK Za arhive pogosto uporabljamo tudi izraz „zakladnice zgodovine" in o tem aspektu danes ni potrebno več razpravljati. Toda velika večina javnosti pogosto ne ve, da so arhivi in arhivsko gradivo pomembni tudi za sodobno družbo. Na primeru Bavarske, avtor pričenja svoj prispevek s pogledom na upravo kot del družbe. V nadaljevanju poskuša prikazati, da je arhivsko gradivo koristno in uporabno za vsakogar in za mnoge tekoče projekte. Arhivi hranijo zapise o vseh človeških aktivnostih, vse od rojstva do smrti, npr. o dedovanju, osebnem premoženjskem stanju in posebnih pravicah. Prav tako bi bilo potrebno pred pričetkom gradnje preučiti arhivsko gradivo o npr. odlagališčih smeti, nekdanjih tovarnah in bombardiranih področjih, saj je okolje lahko onesnaženo. Vsi ti detajli so tisti, ki dajejo arhivskim informacijam velik pomen. Vsi to je arhivistom dobro znano, ne pa tudi širši družbi, kar pomeni, da je potrebno spremeniti naš odnos do javnosti. Vom Nutzen des Einzelfalls. Archive als Wissensspeicher für die Gesellschaft von heute ABRISS Archive werden häufig Schatzkammern der Geschichte genannt. Diese Bedeutung der Archive muss nicht mehr diskutiert werden. Die Öffentlichkeit weiß aber oft nicht, dass Archive für die Gesellschaft von heute ebenfalls wichtig sind.Am Beispiel Bayerns behandle ich die öffentliche Verwaltung als einen Teil der Gesellschaft. An- Christian KRUSE: Vom Nutzen des Einzelfalls. Archive als Wissensspeicher für die Gesellschaft von heute, 197-204 schließend schildere ich den Nutzen der Archive für uns alle und für viele Projekte. Archive verwahren Unterlagen über alle Bereiche menschlichen Lebens von der Geburt bis zum Tod, z.B. über Erbschaft, Privatbesitz und besondere Rechte. Jeder sollte Akten über Mülldeponien, aufgelassene Fabriken und Bombardierungen einsehen, bevor er zu bauen beginnt, denn der Baugrund könnte verseucht sein. Der besondere Wert archivischer Information liegt in den vielen Einzelfällen. Ein Archivar weiß dies, die Gesellschaft jedoch nur unzureichend. Wir müssen daher unsere Öffentlichkeitsarbeit ändern. Archive werden häufig Schatzkammern der Geschichte genannt. Diese Bedeutung der Archive muss - denke ich - nicht mehr diskutiert werden. In weiten Teilen der interessierten Öffentlichkeit ist bekannt, dass historische Darstellungen vor allem auf einer schriftlichen Überlieferung beruhen. Ein nicht ganz so großer Teil der Öffentlichkeit weiß, wo sich diese historischen Quellen befinden: in den Archiven der unterschiedlichen Archivträger. Die Öffentlichkeit weiß aber meist nicht, dass Archive für die Gesellschaft von heute ebenfalls wichtig sind. Diesen Aspekt möchte ich Ihnen im Folgenden am Beispiel Bayerns darlegen. 1 Der Nutzen für die Gesellschaft als Ganzes Archive sind Wissensspeicher für die Gesellschaft von heute. Sie unterscheiden sich von anderen Wissensspeichern dadurch, dass der besondere Wert ihrer Informationen in der Regel in der großen Zahl der Einzelfälle und der Einzelfallinformationen liegt. Dies soll an zwei Beispielen erläutert werden. 1.1 Die Untersuchung der Bodenbelastung Will man sich beispielsweise über den aktuellen Stand der Abfallwirtschaft insgesamt oder auch über Spezialthemen der Abfallwirtschaft informieren, wird man in Bibliotheken und im Internet fündig. In Archiven sind dagegen kaum aktuelle Informationen zu erwarten. Benötigt man dagegen Detailinformationen zu einzelnen Mülldeponien, ist man in den staatlichen und kommunalen Archiven an der richtigen Adresse. Sie verwahren die Akten über sämtliche Mülldeponien der Vergangenheit und Gegenwart eines Landkreises oder einer Kommune, soweit sie bereits von den Behörden an die Archive abgegeben wurden. Die Akten enthalten unter anderem Informationen über die Genehmigung, die räumliche Ausdehnung, den Zeitraum des Betriebs, den dort gelagerten Abfall, die regelmäßigen Kontrollen und mögliche Störfälle wie die Verunreinigung von nahegelegenen Brunnen. Derartige Informationen sind in dieser Breite in Bibliotheken nicht vorhanden, weil dort verwahrte Zeitungen nicht über den Regelbetrieb einer Mülldeponie berichten, sondern nur über einen Störfall. Akten zu Mülldeponien liegen flächendeckend für ale 71 bayerischen Landkreise vor: Es handelt sich somit um eine Großzahl von Einzelfallakten mit entsprechenden Informationen, die anderswo nicht gewonnen werden können. Vergleichbare Akten liegen über existierende und nicht mehr existierende Fabriken und deren mögliche chemische Altlasten vor, ebenso über den Abwurf von Bomben im Zweiten Weltkrieg und das Auffinden und Entschärfen dieser Bomben oder auch über die Minen an der Westgrenze der Deutschen Demokratischen Republik und das Wegspülen eines Teils der Minen durch Hochwasser auf das Territorium der Bundesrepublik Deutschland. Archive haben in diesen Bereichen einen unmittelbaren Nutzen für die gesamte heutige Gesellschaft: Die Gesellschaft kann es sich nicht leisten, dass die Schülerinnen und Schüler einer Schule wegen chemischer Altlasten erkranken. Daher sollte jeder, der den Bau von Wohnungen, Kindergärten und Schulen plant, ob öffentliche Hand oder Privatperson, die entsprechenden Akten über Mülldeponien, aufgelassene Fabriken und Bombardierungen einsehen, bevor er zu bauen beginnt, denn der Baugrund könnte verseucht sein. Hier wird augenfällig deutlich, dass die Einzelfallinformationen der Archive für die Gesellschaft einen besonderen Wert darstellen: Für den Bau eines konkreten Projektes sind die Informationen zu dem konkreten Baugrund erforderlich. Informationen zu einem anderen Grundstück in einer anderen Christian KRUSE: Vom Nutzen des Einzelfalls. Archive als Wissensspeicher für die Gesellschaft von heute, 197-204 Gemeinde helfen nicht weiter, weshalb sich eine Teilkassation der Akten, ein bloßes Archivieren einer Auswahlüberlieferung hier verbietet. In den Archiven liegen zu diesem Thema zahlreiche Informationen vor. Man darf aber nicht erwarten, dass die Informationen vollständig sind: Akten können in früherer Zeit durch Unwissenheit oder eine Fehlentscheidung als nicht archivwürdig bewertet und vernichtet worden sein. Sie können im Zweiten Weltkrieg zerstört worden sein wie ein beträchtlicher Teil der Akten der Regierung von Schwaben. Und es wurde nicht alles schriftlich festgehalten: Ein Fabrikbesitzer, der unerlaubt giftige Stoffe verwendete, herstellte oder entsorgte, wird dies weder schriftlich festgehalten noch der zuständigen Behörde mitgeteilt haben. Beispielsweise stellte sich im Zuge der Planung des Neubaus des Staatsarchivs Landshut erst bei der Baugrunduntersuchung heraus, dass die Bombentrichter des Zweiten Weltkrieges nach 1945 mit Industrieschlacke verfüllt wurden, die mit Schwermetallen belastet ist und vor dem Baubeginn als Sondermüll entsorgt werden muss. Auf dem Grundstück befanden bis 2010 Schrebergärten. Vermutlich wird auch den Gärtnern die Bodenbeschaffenheit nicht bewusst gewesen sein. 1.2 Das Informationsfreiheitsgesetz Im Gegensatz zum angelsächsischen Rechtsbereich waren Verwaltungsakten bis vor kurzem in Deutschland nicht frei zugänglich. Dies hat sich durch das Informationsfreiheitsgesetz des Bundes geändert, das am 1. Januar 2006 in Kraft getreten ist1. Durch das Gesetz besitzt jeder, nicht nur der Betroffene, „gegenüber den Behörden des Bundes einen Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen" (§ 1, Absatz 1). Anders als in etlichen deutschen Bundesländern wurde in Bayern bisher noch kein Informationsfreiheitsgesetz verabschiedet. Zumindest mittelfristig wird es nach meiner Einschätzung auch zu einem bayerischen Informationsfreiheitsgesetz kommen, weil sich der Freistaat der Entwicklung in der übrigen Bundesrepublik nicht wird entziehen können. Jeder wird dann auch in Bayern amtliche Informationen einsehen können, die bisher nicht zugänglich sind, sowohl in den Behörden und Gerichten als auch in den staatlichen Archiven. Angesichts der bisherigen Praxis der Verwaltung in Deutschland ist es verständlich, dass mit den künftig von jedermann einzusehenden „amtlichen Informationen" nicht sämtliche amtlichen Informationen gemeint sind. In Paragraph 3 werden die öffentlichen Belange aufgeführt, die einem besonderen Schutz unterstehen: Beispielsweise darf das Bekanntwerden der Information keine nachteiligen Auswirkungen auf internationale Beziehungen, militärische Belange oder Belange der inneren und äußeren Sicherheit haben. Hinzu kommt als Grund für die Ablehnung einer Einsichtnahme der Schutz des behördlichen Entscheidungsprozesses (§ 4), der Schutz personenbezogener Daten (§ 5) sowie der Schutz des geistigen Eigentums und der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (§ 6). Durch das Informationsfreiheitsgesetz werden trotz der genannten Einschränkungen auch den Archiven neue Aufgaben zugewiesen, die für die gegenwärtige Gesellschaft von Bedeutung sind. Bürgerinnen und Bürger können künftig Entscheidungen von Politik und Verwaltung überprüfen, vom Großprojekt bis zur Vergabeentscheidung von Materialbeschaffungen oder Handwerkerarbeiten. Sie werden dies vermutlich insbesondere bei umstrittenen Projekten oder Entscheidungen tun, ob nun auf der kommunalen Ebene, landes- oder bundesweit. Man wird in der Praxis sehen, in welchem Umfang die Einsichtnahme auch bei politisch sensibleren Themen umgesetzt wird. Bei aktuellen Projekten werden selbstverständlich stärker die Behörden herangezogen. Insbesondere bei lang andauernden Planungsverfahren, z.B. von Flughäfen, Kraftwerken und Atommülllagern, werden auch Bestände der Archive von Bedeutung sein. Weil durch das Informationsfreiheitsgesetz Entscheidungen von Politik und Verwaltung überprüft werden können und sie somit günstigstenfalls transparent werden, ist die Nutzung des Einsichtrechtes möglicherweise ein Mittel, um einer wachsenden „Politikverdrossenheit" zu begegnen. Denn weite Teile der Öffentlichkeit haben im Zuge eines Entfremdungsprozesses verdrängt oder sogar vergessen, dass Politik und Verwaltung - und damit auch die Archive - ein Teil der Gesellschaft sind, 1. Informationsfreiheitsgesetz vom 5.9.2005. In: http://bundesrecht.juris.de/ifg/ (letzter Besuch am 11. Juli 2011). Christian KRUSE: Vom Nutzen des Einzelfalls. Archive als Wissensspeicher für die Gesellschaft von heute, 197-204 tätig zum Nutzen aller. Man kann auf die Entwicklung gespannt sein, an der auch die Archive beteiligt sein werden. 2 Der Nutzen für Teile der Gesellschaft Bei den beiden angeführten Beispielen bezog sich der Nutzen der Archive auf die gesamte Gesellschaft. Archive sind aber ebenso für Teile der Gesellschaft von Nutzen. Ich greife die folgenden fünf Beispiele heraus: 2.1 Das Individuum als Teil der Gesellschaft Die öffentliche Verwaltung erfasst von allen Staatsbürgern eine Unmenge von Daten, über die gesamte Lebenszeit, zum Teil auch darüber hinaus. Ein Teil dieser Daten wird von der Verwaltung wegen des Datenschutzes nach vorgeschriebenen Fristen gelöscht. Weitere Teile werden von den Behörden zwar zur Abgabe an die Archive angeboten, von diesen aber als nicht archivwürdig bewertet und somit vernichtet oder gelöscht, beispielsweise Unterlagen über die Zulassung von Kraftfahrzeugen oder über den Bezug von Sozialhilfe oder Ausbildungsförderung. Die restlichen einzelfallbezogenen Daten werden an die öffentlichen Archive abgegeben und dort auf Dauer archiviert. Archive verwahren somit Unterlagen über alle Bereiche menschlichen Lebens von der Geburt bis zum Tod. Diese Unterlagen werden von zahlreichen Benützerinnen und Benützern eingesehen, die diese Informationen über sie selbst für ihre persönlichen Zwecke benötigen. Für diese Menschen hat das zuständige Archiv somit durchaus eine aktuelle gesellschaftliche Bedeutung. Einzelpersonen suchen in den Staatsarchiven häufig nach Unterlagen über ihre Person, die ihnen aus verschiedenen Gründen abhanden gekommen sind: vor allem Schulzeugnisse als Nachweis der Ausbildungszeit oder - weitaus seltener - für Bewerbungen sowie Unterlagen über die Beschäftigungszeit im öffentlichen Dienst, Arbeitsnachweise, Nachweise über Zeiten der Arbeitslosigkeit und/ oder den Bezug von Sozialhilfe bzw. Hartz IV für die Rentenversicherung. Sie suchen auch nach Unterlagen, über die sie möglicherweise nie verfügt haben, beispielsweise Nachweise über die Adoption oder die Pflegschaft als Kind, aus denen sie die Umstände der Adoption bzw. der Pflegschaft und die Namen ihrer leiblichen Eltern erfahren können. Hier gilt es, nach den geltenden rechtlichen Bestimmungen sensibel zwischen den Interessen der Kinder und der Eltern abzuwägen. Ebenso werden häufig von Einzelpersonen, aber auch von Firmen, die in diesem Bereich tätig sind, Nachlassakten der Amtsgerichte, soweit sie sich bereits in den Staatsarchiven befinden, eingesehen, um Erbansprüche zu klären. Regelmäßig werden in den Staatsarchiven auch die Unterlagen der Notare benutzt. Notare sind in Bayern seit 1861 im Bereich der sogenannten freiwilligen Gerichtsbarkeit tätig und geben ihre älteren Unterlagen an die Staatsarchive ab. Inhaltlich sind vor allem Unterlagen aus dem Privatrecht (wie Urkunden zu Grundstücksverkäufen, Testamente, Eheverträge) und aus dem Handels- und Gesellschaftsrecht von Belang. Eine größere Benützerzahl sieht in den Archiven Unterlagen über ihr Grundeigentum oder über damit verbundene Rechte ein. Das Grundeigentum ist in den Grundbüchern festgehalten, die in Bayern erstmals in den Jahren 1905 bis 1910 angelegt wurden. Deren Vorgänger, die Hypothekenbücher des 19. Jahrhunderts, sind ebenfalls heranzuziehen. In sehr großem Umfang werden außerdem die Baugenehmigungsakten der Landratsämter eingesehen. Sie sind in sämtlichen bayerischen Landratsämtern für alle privaten Bauten in allen Städten und Gemeinden vorhanden, die nicht kreisfrei sind oder durch Verordnung die Berechtigung zur eigenen Aktenführung bekamen. In diesen Fällen sind die Akten in den Stadtarchiven zu erwarten. In den bayerischen Staatsarchiven liegen die Akten fast durchgängig bis zum Jahrgang 1972 vor, zum nicht geringen Teil bereits bis in die 1980er Jahre. Ein Bauantrag ist nicht nur zu stellen, wenn ein Haus neu gebaut wird, sondern bis vor wenigen Jahren auch, wenn kleinere Veränderungen an einem bestehenden Haus vorgenommen wurden, z.B. beim Anbau eines Wintergartens oder beim Bau eines Carports. Christian KRUSE: Vom Nutzen des Einzelfalls. Archive als Wissensspeicher für die Gesellschaft von heute, 197-204 Ein Exemplar des Baugenehmigungsaktes erhält das Landratsamt, eines die Gemeinde und eines der Bauherr. Beim Hausbesitzer oder dessen Erben geht der Akt jedoch nicht selten verloren oder der Akt wird beim Verkauf des Hauses nicht an den Käufer weitergegeben. In diesem Fall können Privatleute auf den Akt des Landratsamtes im zuständigen Staatsarchiv zugreifen und sich gegen Gebühr die benötigten Informationen kopieren lassen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Gesellschaft über Steuermittel das dauernde Aufbewahren der Akten, deren Lagerung wegen der großen Menge hohe Kosten verursacht, finanzieren sollte nur für den Fall, dass ein Bauherr mit seinen schriftlichen Unterlagen nachlässig umgeht. Die Frage stellt sich insbesondere beim Standardeinfamilienhaus, von dem kaum eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgehen wird, wenn man auf das öffentliche Verwahren der Akten verzichtet. Diesbezügliche Verhandlungen zwischen der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns und der Obersten Baubehörde des Bayerischen Staatsministeriums des Innern sind noch nicht abgeschlossen. Die Akten über private Gebäude mit einer größeren Bedeutung für die Allgemeinheit - wie größere Hallen und Fabriken oder Atomkraftwerke - werden dagegen in der Regel als archivwürdig bewertet und archiviert. Neben den Unterlagen zum Eigentum werden auch die Unterlagen zu Rechten, Berechtigungen und Belastungen häufig eingesehen, insbesondere zu Rechten wie dem Wasserrecht, dem Wegerecht, dem Fischrecht, dem Braurecht, außerdem zu Belastungen wie Hypotheken und Grunddiensten, die inzwischen in fast allen Fällen abgelöst wurden. Die hierzu einschlägigen Archivalien sind die Steuerkataster, die in Bayern zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingeführt wurden. 2.2 Die Medien als Teil der Gesellschaft Journalistinnen und Journalisten verschiedener Medien - Tageszeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen - ziehen immer wieder die Archive für ihre Artikel heran. Gefragt sind einerseits Archivalien, andererseits der fachliche Rat des Archivpersonals. Archivalien werden selbstverständlich immer wieder für historische Themen herangezogen, insbesondere zur Bebilderung. Daneben werden auch Unterlagen zur näheren Vorgeschichte momentan aktueller Themen eingesehen, wie z.B. bei der Erweiterung von Flughäfen die Vorstufen der Planungen oder bei Jahrestagen relativ nah zurückliegender Anschläge und Attentate. In diesen Fällen ist meist ein Antrag auf Verkürzung der Schutzfrist von 30 Jahren erforderlich. Hierüber wird gemäß Art. 10, Absatz 4 des Bayerischen Archivgesetzes2 mit Zustimmung der abgebenden Stelle im Einzelfall entschieden. Daneben werden Archivarinnen und Archivare häufig angerufen, um zu aktuellen Fragen des Archivwesens, der Bestandserhaltung, aber auch der Zeitgeschichte Stellung zu nehmen. Beispielsweise wurde ich kurz nach dem Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln von einer Boulevardzeitung gefragt, wie man als Privatmann seine eigenen Unterlagen möglichst sicher und schonend verwahrt. Anlass war eine nationale Katastrophe, erfragt wurde eine Information für die Ratgeberecke. Fast alle Anfragen von Journalisten zeichnet aus, dass die Informationen meist binnen weniger Stunden benötigen werden. Die Journalisten sind irritiert, wenn dies - insbesondere bei der Notwendigkeit eines Antrags auf Schutzfristverkürzung - nicht immer möglich ist und vermuten häufig bürokratische Hürden. Das rasche Anfragen und Verwerten meist in Form von Kurzinformationen birgt die Gefahr der falschen oder zumindest der verkürzten Darstellung in sich. An diesem gesamtgesellschaftlichen Phänomen werden wir Archivare aber kaum etwas ändern können. 2.3 Die Politik als Teil der Gesellschaft Es empfiehlt sich, Politikerinnen und Politikern immer wieder die Bedeutung der Archive für das kulturelle und historische Erbe in Erinnerung zu rufen, damit genügend Haushaltmittel für die Erhaltung der anvertrauten Archivalien bewilligt werden. 2. Bayerisches Archivgesetz vom 22.12.1989. In: http://www.gda.bayem.de/aufgaben/archivgesetz.php (letzter Besuch am 11. Juli 2011). Christian KRUSE: Vom Nutzen des Einzelfalls. Archive als Wissensspeicher für die Gesellschaft von heute, 197-204 Daneben sollte verstärkt auf den oben geschilderten Nutzen der Archive für die gegenwärtige Gesellschaft hingewiesen werden, der auch im Bereich der Politik noch zu wenig bekannt ist. 2.4 Die Verwaltung als Teil der Gesellschaft Auch die Verwaltung ist ein Teil der Gesellschaft, finanziert von den Steuerzahlern, um bestimmte öffentliche Aufgaben zu erledigen. Für den Bereich der Verwaltung sind die staatlichen Archive seit langem von großem Nutzen. Die Archive entlasten die Behörden und Gerichte von den Akten, die nicht mehr benötigt werden, und helfen ihnen mit ihren Spezialkenntnissen, zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, zwischen Archivwürdigem und nicht Archivwürdigem zu unterscheiden. Falls die abgegebenen Akten erneut benötigt werden, leihen die Archive sie an die abgebende Stelle aus, etwa wenn ältere Prozessunterlagen für ein Wiederaufnahmeverfahren oder ein Gnadensgesuch erneut benötigt werden. Daneben schulen Archivarinnen und Archivare in Bayern seit Jahrzehnten staatliche und kommunale Registratorinnen und Registratoren an der Bayerischen Verwaltungsschule. Sie beraten sie telefonisch, außerdem bei Registraturbesuchen. Sehr bewährt haben sich Registratorentreffen einzelner Verwaltungssparten, zu denen die Staatsarchive regelmäßig einladen. Diese Aktivitäten haben Rückwirkungen auf die gesamte Gesellschaft: Die Archive tragen unter anderem dazu bei, - dass in Behörden die Akten besser und gleichförmiger geführt werden, - dass bei der Einführung einer elektronischen Aktenführung in Behörden und Gerichten die Notwendigkeit der Abgabe der archivwürdigen elektronischen Akten an die Archive und der Löschung der nicht mehr benötigten Akten berücksichtigt werden, - dass die Registraturen und Altregistraturen durch die Aktenabgaben entlastet werden und weniger Lagerplatz benötigen, wodurch Haushaltsmittel für Erweiterungsbauten der Behörden und Gerichte oder für Anmietungen gespart werden. 2.5 Die Internetnutzer als Teil der Gesellschaft Die Archive sind für die aufgeführten, relativ klar umrissenen Teile der Gesellschaft von Nutzen. In zunehmendem Maße erreichen Archive daneben auch einen unbestimmten und den Archiven im Wesentlichen auch unbekannt bleibenden Teil der Öffentlichkeit, die Nutzerinnen und Nutzer des Internets, die sich den Internetauftritt eines Archivs ansehen. Weil die Staatlichen Archive Bayerns - wie alle anderen Betreiber auch - nicht wissen, wen sie durch ihren Internetauftritt http://www.gda.bayern.de erreichen, wären nur ungenaue Aussagen darüber möglich, in welcher Form sie in diesem Bereich der Gesellschaft nützen. Geht man von den Zugriffszahlen aus, die das einfachste Mittel zur Messung der Resonanz eines Internetauftritts sind, so bewirken vor allem ins Netz gestellte Findmittel und kleinere Bestände eine zum Teil deutliche Erhöhung der Zugriffszahlen. Durch das Einstellen von Luftaufnahmen, die bayerische Militärflieger im Ersten Weltkrieg in Palästina gemacht hatten, stieg beispielsweise die Zahl der Zugriffe fast explosionsartig auf 3,5 Millionen Zugriff^ allein im Dezember 20103. Die Zugriffe galten aber historischen Fotos und nicht aktuellen Bedürfnissen der Gesellschaft. Wie diese mit dem Auftritt befriedigt werden, dürfte nur mit hohem Aufwand zu ermitteln sein. 3 Was können wir tun? Weiterhin muss auf die Bedeutung der Archive für die historische Identität, die historische Forschung und das kulturelle Erbe hingewiesen werden. Daneben sollten wir stärker als bisher in der Öffentlichkeitsarbeit die oben geschilderte Bedeutung der Archive für die gegenwärtige Gesellschaft betonen. Hierzu eignen sich insbesondere Archivführungen, ob nun an den in Deutschland im zwei- 3. Margit Ksoll-Marcon, Jahresbericht2010, „Nachrichten aus den Staatlichen Archiven Bayerns", 2011, n. 60. 202 Christian KRUSE: Vom Nutzen des Einzelfalls. Archive als Wissensspeicher für die Gesellschaft von heute, 197-204 jährlichen Turnus stattfindenden „Tagen der Archive" oder bei den vielen Führungen zwischendurch. Man sollte bei diesen Gelegenheiten, bei denen eine relativ breite Öffentlichkeit erreicht wird, nicht nur Zimelien zeigen, sondern auch Archivalien beispielsweise über Umweltthemen. Bei den bisherigen Führungen wurde bereits immer wieder auf die Unterlagen hingewiesen, die Einzelpersonen bzw. deren Besitz betreffen. Dies sollte beibehalten werden. Ebenso könnten Archive darauf verzichten, ausschließlich Ausstellungen zu historischen Themen zu zeigen, sondern daneben Ausstellungen gestalten, aus denen ihre aktuelle gesellschaftliche Relevanz deutlich wird, wie zur Genese von Großbauprojekten der letzten Jahrzehnte. Hinzu können kleine Ausstellungen aus archivfachlicher Sicht kommen, etwa zur Bestandserhaltung, zur Bewertung oder zur Familienforschung. Man wird einige Mühe darauf verwenden müssen, eine solche Themenänderung auch amtsintern durchzusetzen. Denn als ausgebildete Historiker erliegen wissenschaftliche Archivare oft der Versuchung und der Freude, im Rahmen einer Ausstellung endlich einmal wieder historisch arbeiten zu dürfen. Bei Ausstellungen besteht zudem die Gefahr durch die Prägung der Themen durch Jubiläen, oft von Behörden oder Verbänden. Man sollte bedenken: Chemische Altlasten haben kein Jubiläum. Eine Ausstellung über ein solches Thema hat weder eine Lobby noch potentielle Geldgeber. Trotzdem wären derartige Ausstellungen eine guter Anlass, um auf die Bedeutung der Archive für die gegenwärtige Gesellschaft hinzuweisen. Ein Rückzug auf Zimelienausstellungen, wie zum Teil Bibliotheken dies pflegen, kann dagegen nicht die Lösung sein, zumal wir mit den großen Bibliotheken und Handschriftensammlungen im Bereich der prächtig illustrierten Handschriften des Mittelalters nicht mithalten können. Schöne Bilder suggerieren eine heile Welt. Wir würden mit zu dem Klischee des Arbeitens der Archivare im Elfenbeinturm beitragen und uns damit letztlich selbst ein Bein stellen. Große Ausstellungen, für die man größere Summen und somit meist Förderer oder mitfinanzierende Mitveranstalter benötigt, werden überwiegend historische Ausstellungen bleiben. Es wäre auch kontraproduktiv, die Rolle des Archivars als Dolmetsch für alte schriftliche Zeugnisse aufzugeben. Wie Historiker können Archivarinnen und Archivare die Quellentexte inhaltlich für ein breiteres Publikum aufbereiten. Aufgrund ihres meist intensiven Umgangs mit originalen Quellen und ihres Spezialwissens über Verwaltungsstrukturen und den behördlichen Geschäftsablauf können sie zugleich, meist genauer als Historiker, das einzelne Archivale auch formal erläutern und in einen verwaltungsgeschichtlichen Zusammenhang stellen. Zu einer Änderung der Ausstellungen in Richtung auf die genannten neuen Themen kann man kleine Ausstellungen mit nur wenigen Vitrinen oder Stellwänden nutzen. Dadurch hält sich der Aufwand deutlich in Grenzen. Wenn man trotzdem eine intensive Pressearbeit betreibt, wird man - so ist zu hoffen - nach einiger Zeit auch eine Wirkung erzielen und ein verändertes Image gewinnen. Über die kleinen Ausstellungen in den Archiven hinaus sollte man die Möglichkeiten von kleineren Tafel-Wanderausstellungen mit Reproduktionen von Archivalien nutzen, die auch außerhalb der Archive gezeigt werden können. Beispielsweise wird zurzeit eine Wanderausstellung über den Ru-pertiwinkel in den Jahren von 1810 bis 2010 erarbeitet, die ein Kondensat der Ausstellung „Grenzen überschreiten. Bayern und Salzburg 1810 bis 2010" ist, die im Jahr 2010 in zwei Teilen im Salzburg Museum in Salzburg und im Alten Rathaus in Laufen gezeigt wurde. Sie soll nach Möglichkeit in Rathäusern, Gemeindeverwaltungen, Sparkassen, Pfarrämtern und Schulen aufgestellt werden und damit ein möglichst breites Publikum erreichen. Es wird jedoch einige Geduld brauchen, um das Bild der Archive in der Öffentlichkeit um den Aspekt des Nutzens der Archive für die gegenwärtige Gesellschaft zu erweitern. Aber wir Archivarinnen und Archivare sind es ja gewohnt, in langen Zeiträumen zu denken. Wir werden weiterhin versuchen, auf die Politik einzuwirken und um Haushaltsmittel für langfristige Projekte wie die Erhaltung der uns anvertrauten Archivalien zu werben, auch wenn die Politik aus verschiedenen Gründen meist nur kürzere Zeiträume im Blick hat. Wir sollten uns auch nicht davon entmutigen lassen, dass bei Tageszeitungen, zumindest in Christian KRUSE: Vom Nutzen des Einzelfalls. Archive als Wissensspeicher für die Gesellschaft von heute, 197-204 Deutschland, zunehmend der Wunsch der Eigner nach hoher Rendite in den Vordergrund tritt. Mit Werbung und verlagseigenen Kaufangeboten wie Büchern, Filmen oder Wein lassen sich wesentlich höhere Gewinne erzielen als mit der Weitergabe von Informationen. Aus denselben Gründen wurde und wird häufig die Zahl der festangestellten Journalisten deutlich verringert. Anders als früher ist es inzwischen nicht mehr selbstverständlich, dass Hinweise der Archive auf ihre Ausstellungen, Führungen und Vorträge auch im Veranstaltungsteil der Tageszeitungen abgedruckt und damit öffentlich gemacht werden. Auf diese neuen Bedingungen müssen wir uns einstellen. In zunehmendem Maße kommen die neuen Möglichkeiten hinzu, die das Internet bietet. Neben dem eigenen Internetauftritt4, der vermutlich mehr von Kennern regelmäßig aufgesucht wird, treten Portale, in kleinem Rahmen wie bei dem Münchner Museumsportal5, über das ich im letzten Jahr bereits berichtet habe, oder auch im größeren, wie z.B. bei dem immer noch nicht fertig gestellten „Archivportal D". Insgesamt gilt es, nicht den Mut zu verlieren. Ich schließe deshalb mit den Worten des Esels an den Hahn im Märchen „Die Bremer Stadtmusikanten", das Jacob und Wilhelm Grimm erstmals 1819 veröffentlicht haben6: „[...], etwas besseres als den Tod findest du überall[...]"! SUMMARY Archives are contemporary society's stores of knowledge. They are distinguished from other stores of knowledge by the fact that the particular value of the knowledge they store lies in the large number of individual cases and information on these individual cases they contain. The present article uses the example of Bavaria to illustrate the importance of archives for contemporary society. The use of archives for society as a whole is illustrated with reference to two examples, on various documents dealing with contamination of the soil and the Freedom of Information Law that came into force in Germany on 1.1.2006 and will in the medium term assign archives new tasks. Moreover, the archives are relevant for, amongst others, the following sections of society: for individuals about whom the archives safeguard documents from their birth until they die as well as for the media, politics, the administration and Internet users. We have to change our public relations activities in order to attract attention to the use of archives for today's society more strongly than has hitherto been the case. We should also show examples during tours of archives that make clear the direct benefits for everyone. In addition to exhibitions on historical subjects, we should also hold smaller exhibitions dealing with subjects such as conserving what we have, valuation or environmental contamination. We must adjust to the changed news coverage of German newspapers. We can use the new opportunities provided by the Internet. Overall, the key thing is not to give up the struggle. Original scientific article Submitting date: 06.06.2011 Acceptance date: 11.06.2011 4. www.gda.bayern.de 5. www.museen-in-muenchen.de 6. Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm, Herausgeber Heinz Rölleke, Darmstadt 1999, S. 137140 (Zitat S. 138) sowie S. 908-915 und 1209.